1 Bisherige Therapieformen (z. B. SMOL und BMOL) im Vergleich zu Zell- und Gentherapie: Ein kurzer Überblick

Ihren Ursprung nahm die moderne Pharmaindustrie in Apotheken, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen, ihre Produkte im industriellen Maßstab herzustellen und zu verkaufen. Zu Beginn lag der überwiegende Fokus der Industrie stark auf kleinen Molekülen (kurz SMOLs, „small molecules“), klassische pharmazeutisch aktive Chemikalien. In Kombination mit Hochdurchsatzscreeningverfahren ließen sich aktive SMOLs für viele Krankheiten identifizieren, die dann im industriellen Maßstab produziert wurden. In ihrer Wirkungsweise sind SMOLs meist symptomatisch, das heißt sie sind in der Lage, Symptome von Krankheiten zu behandeln. Die zugrundeliegenden Ursachen der Erkrankung können jedoch in den überwiegenden Fällen nicht behandelt werden. Seit etwa den 1990er-Jahren ist eine weitere Klasse von Wirkstoffen, die großen Moleküle, hinzugekommen, die auch Biologika (Proteine, Peptide, Antikörper, kurz BMOLs, „biological molecules“) genannt werden. Im Gegensatz zu SMOLs lassen sich für BMOLs erweiterte therapeutische Ansätze verfolgen. Ähnlich wie SMOLs können auch BMOLs weitestgehend ausschließlich symptomatisch angewendet werden.

Seit etwa den 2000er-Jahren beschäftigt sich das akademische sowie industrielle Umfeld zunehmend intensiver mit Zell- und Gentherapien, die häufig auch als Arzneimittel für neuartige Therapien („Advanced Therapy Medicinal Product“, ATMP) bezeichnet werden. In Abgrenzung zu den BMOLs und SMOLs handelt es sich hierbei um komplexere Therapien mit dem Potenzial, die Behandlungsoptionen von Krankheiten zu erweitern. Bei der Zelltherapie (ZT) werden dem Patienten/der Patientin lebende therapeutische Zellen zugeführt. Bei der Gentherapie (GT) kommt genetisches Material zur therapeutischen Anwendung. Im Unterschied zu klassischen Therapieformen (SMOLs, BMOLs) besteht bei Zell- und Gentherapie (ZGT) die Möglichkeit, Krankheiten ursächlich zu behandeln und damit den weiteren Verlauf der Krankheit zu revidieren, zu stoppen oder möglicherweise ihre Entstehung zu verhindern (European Medicines Agency 2010; European Medicines Agency 2023a; Regulation (EC) 1394/2007).

2 Zelltherapie (ZT): kurzer Überblick

Bei ZT werden therapeutische Ergebnisse durch die Verabreichung lebender Zellprodukte herbeigeführt. Konkret bedeutet das, dass körpereigene, sog. somatische ZellenFootnote 1 entweder von dem Patienten/der PatientinFootnote 2 oder von Spendern/SpenderinnenFootnote 3 isoliert und nach Modifikation und eventueller Anwendung von Gen- oder RNA-Therapien dem Patienten/der Patientin als Behandlung verabreicht werden. In einer besonderen Form der ZT können somatische Zellen in pluripotente Stammzellen umprogrammiert werden (induzierte pluripotente Stammzellen, iPSC), um diese im Anschluss dann in vitro (lateinisch ‚im Glas‘) gezielt zu bestimmten Zelltypen zu differenzieren und die Patientin/den Patienten mit den neu erhaltenen Zellen zu therapieren. IPSC, ebenso wie embryonale Stammzellen (ESC), können sich unbegrenzt vermehren und in alle Zelltypen im Körper differenzieren, was sie zum idealen Ausgangsmaterial für die Entwicklung einer Reihe von ZT macht. Ein Vorteil der allogenen gegenüber der autologen iPSC-Technologie stellt hierbei die unlimitierte Verfügbarkeit von Ausgangsmaterial für die Herstellung von therapeutischen Zellen für viele Patientinnen und Patienten dar (Takahashi et al. 2007; Yamanaka 2020; Ilic und Ogilvie 2022). Unabhängig vom Ursprung der Zellen (autologe, allogene, genetisch oder nicht genetisch modifiziert) werden diese pharmazeutisch in Folgeschritten so programmiert, dass sie einen gewünschten Effekt nach Einbringung in den Körper des Patienten/der Patientin ausführen können. Handelt es sich dabei um eine Krebstherapie, so könnten in diesem Fall beispielhaft bestimmte Immunzellen (i. d. R. T-Zellen) des Patienten gezielt isoliert und dann mit einem Protein (z. B. einem chimären Antigenrezeptor, CAR) ausgestattet werden, dass ihnen die Möglichkeit vermittelt, gezielt Krebszellen zu erkennen und zu zerstören, indem sie tumorassoziierte Antigene identifizieren. Diese, auch als CAR-T-Zelltherapien bekannte Interventionen sind bereits Realität und in klinischer Anwendung (siehe Harrer/Abken, Kap. 10). Beispiele für die Anwendung von differenzierten Zellen ausgehend von iPSC sind z. B. die Herstellung von insulinproduzierenden Zellstrukturen für die Behandlung von Typ-1-Diabetikern, um Blutzuckerregulierung zu etablieren, oder die Herstellung von bestimmten neuronalen Zelltypen für die Behandlung von Parkinsonpatientinnen und -patienten, um den weiteren Krankheitsverlauf zu verzögern oder sogar zu stoppen. Beide ZT sind in der klinischen Entwicklung (Parmar et al. 2020; Borges Silva et al. 2022; Chen et al. 2023). Für weitere Information zum Thema ZT verweisen wir auf andere Kapitel dieses Themenbandes (Zimmermann et al., Kap. 13; Besser et al., Kap. 14).

3 Gentherapie (GT)

Im Gegensatz zur ZT wird bei der GT genetisches Material zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt. Da hierbei die Krankheit am Ort ihrer Ursache adressiert wird, können GT den Krankheitsverlauf entscheidend verändern. Gleichzeitig muss klargestellt werden, dass sich nicht alle Krankheiten mittels einer GT behandeln lassen. Erstens liegt nicht bei jeder Krankheit eine bekannte genetische Ursache vor und weiterhin sind einige genetische Ursachen von Krankheiten so komplex, dass sich keine heute realisierbare GT zur Behandlung der Erkrankung anbietet. Umgekehrt gibt es eine beträchtliche Zahl von Erkrankungen, die mit herkömmlichen Therapieformen (SMOLs, BMOLs) nicht, oder nur unzureichend, behandelbar sind und die GT bietet hier eine neue Möglichkeit der medizinischen Intervention (Bulaklak und Gersbach 2020).

GT stellen damit eine ausgezeichnete Ergänzung zum klassischen Portfolio eines Pharmaunternehmens dar und ermöglichen das Behandeln von Erkrankungen, die mit bisher verfügbaren Therapieansätzen nicht adressierbar sind.

Ein entscheidender Faktor bei der GT stellt der Prozess dar, mit dem das therapeutische genetische Material zum gewünschten Gewebe im Körper geliefert wird (Delivery). In vielen Fällen bedient man sich dazu der Hilfe modifizierter Viren (virale Vektoren) die genetisch so verändert wurden, dass sie klinisch mit minimiertem Risiko angewendet werden können. Im Körper erfüllen die viralen Vektoren nach Gabe die Aufgabe eines Kuriers und liefern das therapeutisch genetische Material (meist DNA) an bestimmte Gewebe. Die Adressierbarkeit von verschiedenen Gewebetypen wird hierbei bestimmt und begrenzt durch die Auswahl und Verfügbarkeit eines bestimmten viralen Vektortyps (Tropismus). Es ist ein Feld intensiver Forschung, das Adressierbarkeitsspektrum durch die Identifizierung von neuen viralen Vektortypen zu erweitern (Wang et al. 2019; Ferrari 2021). Abb. 16.1 zeigt eine schematische Darstellung zur Unterscheidung von ZGT.

Abb. 16.1
figure 1

Schematische Darstellung zur Unterscheidung von Zell- und Gentherapien

Bei Gentherapien in der Definition dieses Kapitels erfolgt der therapeutische Einsatz in Patientinnen/Patienten

Wir grenzen in diesem Kapitel GT von ZT wie folgt ab: Bei der ZT erfolgt die therapeutische Behandlung mit einem Zellprodukt. Diese Zellen können auf unterschiedlichste Weise im Labor erzeugt und vor dem Einbringen genetisch oder nicht genetisch verändert worden sein. Als GT definieren wir Technologien, bei denen genetische Sequenzen (DNA oder RNA) direkt in Patientinnen/Patienten (in vivo) zum therapeutischen Einsatz kommen. Dies kann wie oben erörtert durch eine Vielzahl von viralen und nichtviralen Vektoren erfolgen.

4 Die Grenzen der Gentherapie

Das Prinzip der GT beruht auf der Einbringung von genetischer Information. Wird diese genetische Information z. B. mithilfe von Adeno-assoziierten Viren (AAV) oder Integrations-Defizienten-Lentiviren (IDLV) in die Zellen eingebracht, verbleibt diese normalerweise überwiegend im Zellkern extrachromosomal (episomal) positioniert, also außerhalb des Genoms des Organismus. Die mithilfe solcher (episomaler) Vektoren in den Patienten/die Patientin eingebrachte genetische Information kann auf Dauer inaktiviert oder verloren gehen. Letzteres trifft insbesondere zu, wenn sich die infizierten Zellen des behandelten Organs aktiv teilen, z. B. wenn das Organ wächst oder regeneriert (Leber). Bei diesen Zellteilungen werden die episomalen Vektoren nicht mit vervielfältigt, sodass der von ihnen zu vermittelnde therapeutische Effekt sich in den Organen über die Zeit reduziert und sich darüber die Wirksamkeit der Behandlung über die Zeit vermindert (Apolonia 2020; Pupo et al. 2022).

Andere virale GT-Ansätze verwenden Kuriere, die sich nach Infektion der Zelle stabil in das Genom der Zelle integrieren wie z. B. Lentivirale Vektoren (LV). Da diese LV nach Integration Teil des Genoms werden, werden die übermittelten für den therapeutischen Effekt eingebrachten Gensequenzen zusammen mit der zellulären DNA vervielfältigt. Ein Verlust der eingebrachten genetischen Information in sich aktiv teilenden Zellen ist somit abgewendet. Eine über längere Zeiträume stabile Expression der therapeutischen Gensequenz wird somit prinzipiell möglich, auch wenn die Möglichkeit einer Inaktivierung über die Zeit weiterhin besteht. Da die Integration der viralen Vektoren in das Genom der Zelle jedoch weitestgehend zufällig erfolgt, stellen solche Therapien ebenfalls gewisse Risiken dar, insbesondere, wenn kritische Gene wie Onkogene oder Tumorsuppressorgene bei der Integration dereguliert oder inaktiviert werden. Diese Risiken müssen präklinisch und klinisch sorgfältig untersucht werden (Cavazzana et al. 2019; Poletti und Mavilio 2021; Li et al. 2002; Kustikova et al. 2005; Baum et al. 2006; Modlich et al. 2006).

5 RNA-Therapien und Geneditierung

Eine andere Methode zur Einbringung von genetischer Information als Therapieform, die insbesondere durch die COVID-19-Pandemie große Beachtung fand, ist die Gabe von mRNA mithilfe der Lipidnanopartikel(LNP)-Technologie.Footnote 4 Sie dient hierbei als Kurier für die einzubringende genetische Information, die in diesem Fall Ribonukleinsäure (RNA)Footnote 5 und nicht DNA darstellt. Im Fall der COVID-19-mRNA-basierten Vakzine wurden LNP mit mRNA, die für Anteile des SARS-CoV-2-Spike-Proteins codieren, beladen. In Muskelgewebe injiziert wird das Protein gebildet, um die körpereigenen Immunzellen zur Erkennung von SARS-CoV-2-Viren zu trainieren. Für einen nicht impfstoffbasierten Ansatz dieser neuen Technologie ist in vielen Fällen die Gabe von LNP-/RNA-Vesikeln ins Blut (systemische Gabe) und eine darauffolgende Zustellung in bestimmte Organzellen wie z. B. der Leber von Interesse. Viele Gruppen im akademischen sowie industriellen Umfeld arbeiten daran, die Gewebespezifität von LNP-Formulierungen zu erweitern. Die Zustellung von RNA in die Leber mit bestimmten LNPs als Kurier ist eine etablierte Methode und in der klinischen Anwendung. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal der LNP-/RNA-Methode zum Einbringen von genetischer Information gegenüber der von viralen Vektoren ist die kurze Verweilzeit der RNA in unseren Zellen. RNA ist im Gegensatz zu DNA kurzlebig und integriert sich nicht in das Genom der Zelle. Das Anwendungsspektrum und Behandlungsziel für die LNP-/RNA-Methode unterscheidet sich somit grundlegend von der GT mit viralen Vektoren. Geneditierung (GE) ist ein Beispiel für diese Anwendung, da insbesondere hier die zeitlich begrenzte Verfügbarkeit der RNA von Interesse ist. Kombinationen von viralen und nichtviralen Vektortechnologien sind ebenfalls möglich.

Unter dem Begriff „Geneditierung“ (siehe Fehse et al., Kap. 7) versteht man die zielgerichtete Veränderung von DNA einer Zelle durch die Verwendung von unterschiedlichen molekularbiologischen Methoden. Im Gegensatz zur oben beschriebenen GT, also dem Einbringen von therapeutischen Gensequenzen, können bei der GE funktionsgestörte Gene, die eine spezifische Erkrankung hervorrufen, im Genom selbst repariert, inaktiviert oder komplementiert werden. In diesem Kapitel beschränken wir uns auf die therapeutische GE. Allen Methoden der GE ist gemeinsam, dass die verwendete Technologie zunächst die zu editierenden Bereiche in der DNA finden muss, bevor diese verändert werden können. Die Technologien unterscheiden sich grundsätzlich darin, wie dieses Auffinden von genetischen Bereichen erbracht wird. Bei „älteren“ Technologien wie z. B. den Zinkfingernukleasen (ZFN) und den TAL-Effektor-Nukleasen („transcription activator-like effector nuclease“, TALEN) findet das Erkennen von genetischen Sequenzen über Protein-DNA Wechselwirkungen statt. Dies hat zur Folge, dass für jeden neu zu erkennenden genetischen Bereich eine eigene ZFN oder TALEN entwickelt werden muss. Bei der neueren CRISPR(„Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats“)-GE-Technologie findet die DNA-Erkennung des zu adressierenden genetischen Bereichs durch eine Wechselwirkung mit einem kurzen, komplementären RNA-Molekül statt. Die Sequenz der RNA beschreibt über seine komplementäre Bindung die zu erkennende DNA-Sequenz, während das verwendete Protein konstant bleiben kann. Zur Reprogrammierung des CRISPR-Komplexes ist somit lediglich ein Austausch der kurzen komplementären RNA nötig, was die Anwendung von CRISPR im Vergleich zu früheren Methoden sehr viel einfacher, flexibler und kostengünstiger gestaltet. Die CRISPR-Technologie hat das Feld der GE revolutioniert und seinen Anwendungsbereich massiv erweitert. Innerhalb von Wochen anstatt Monaten und Jahren können nun verschiedenste GE-Ansätze auf ihre Wirksamkeit hin in Tiefe untersucht werden, was den Auswahlprozess für die therapeutische Anwendung erleichtert (Jinek et al. 2012; Van der Oost und Patinios 2023; Wang und Doudna 2023). Generell ermöglichen GE-Methoden (z. B. Gene-Editing, Base-Editing, Prime-Editing), Mutationen oder Gendefekte in ihrer Auswirkung zu korrigieren und schaffen darüber die Möglichkeit, auf einen Krankheitsverlauf Einfluss zu nehmen.Footnote 6 Im Vergleich zur „klassischen“ GT können hier gewünschte Veränderungen gerichtet in der genomischen DNA von Zellen vorgenommen werden. Die durchgeführten Änderungen bleiben somit in der Zelle enthalten, selbst wenn sie Teil eines wachsenden oder sich regenerierenden Organs sind. Wie auch bei der GT sind insbesondere bei der GE verschiedenste sicherheitstechnische Aspekte zu beachten und in präklinischen sowie klinischen Studien im Detail zu untersuchen: Aufgrund der direkten und verbleibenden Veränderung des Genoms zur Erreichung des therapeutischen Nutzen ist die Auswahl der zu adressierenden Krankheit mittels dieser Methode nach einer sorgfältigen Risiko-Nutzen-Abschätzung vorzunehmen (Human Gene Therapy Products Incorporating Human Genome Editing/Draft Guidance for Industry 2022; Cullis und Hope 2017; Xie et al. 2021; Mendonça et al. 2023).

6 Sicherheit in der Gentherapie: Kriterien zur Auswahl von Therapieansätzen

Da es sich bei GT um komplexe und neuartige Therapieformen handelt, stellt sich die wichtige Frage nach ihrer sicheren Anwendung. Aus Sicht eines pharmazeutischen Unternehmens ist die Sicherheit des Patienten/der Patientin bei der Anwendung oberstes Gebot. Gleichzeitig treten auch bei klassischen Therapien Nebenwirkungen auf, die es zu verstehen und zu vermeiden gilt. GT und GE stellen somit keine Ausnahme dar. Neu ist vor allem die Komplexität der Therapien sowie die Schwierigkeit, die Therapie bei behandelten Patienteninnen und Patienten bei Bedarf abzusetzen. Durch ihre Wirkungsweise und Biologie sind viele GT-Behandlungen wie z. B. mit viralen Vektoren oder nach GE nach einmaliger Verabreichung lange (mehrere Jahre) oder bis zu lebenslang wirksam. Neben dem gewünschten hohen Wirkungsgrad der Behandlung (Einmalgabe mit langer Wirkung) rückt dies natürlich insbesondere das Verständnis für die Sicherheit dieser Therapien in ein besonderes Licht. Im Mittelpunkt steht hier stets der Nutzen für den Patienten/die Patientin, der mit dem Risiko der Therapie abgeglichen werden muss.

Der Nutzen einer Therapie lässt sich vielfach bestimmen und geht oft über den primären therapeutischen Erfolg hinaus. So ermöglicht eine erfolgreiche Therapie dem Patienten/der Patientin beispielsweise, wieder aktiver am sozialen und Arbeitsleben teilzuhaben, und entlastet Angehörige emotional wie sozial. Eine ausführliche Diskussion würde jedoch über den Rahmen dieses Kapitel hinausgehen. Das Risiko wiederum lässt sich in sorgfältig geplanten klinischen Studien abschätzen (European Medicines Agency 2023b).

Gemeinsam erlaubt die Nutzen-Risiko-Abschätzung eine Entscheidung über die Sicherheit einer Therapie, die auch von der Schwere der Krankheit abhängig ist. So sind bei einer besonders schweren Krankheit ohne bestehende Therapieoptionen mehr Risiken akzeptierbar als bei einer Krankheit mit einem milderen Verlauf. In allen Fällen stehen selbstverständlich das Interesse und die Sicherheit des Patienten/der Patientin immer im Vordergrund.

7 Einstiegsstrategien für Pharmaunternehmen bei der Entwicklung neuartiger Therapien

Wie bei allen Technologien stellt sich auch bei Zell-, Gen-, und RNA-Therapie für ein pharmazeutisches Unternehmen die Frage, ob, wie und zu welchem Zeitpunkt man sich in die neuen Entwicklungen einbringen möchte. Selbstverständlich hängt die Antwort auf diese Frage sehr von der jeweiligen Unternehmensstrategie ab und lässt sich nicht allgemeingültig beantworten. Im Folgenden können wir also lediglich einige Denkanstöße präsentieren, die in die jeweilige Entscheidung mit einfließen könnten.

Ein früher Einstieg in eine neue Technologie birgt immer auch das Risiko, in einen Bereich zu investieren, der nicht zukunftsträchtig ist. In vielen Fällen lässt sich dies jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt absehen. Bewegt sich die Firma zu zögerlich in eine neue Technologieform, kann das Feld bereits so differenziert sein, dass ein Einstieg entweder nicht mehr attraktiv oder mit erheblichen finanziellen Mitteln verbunden ist. Abhängig von der Firma und den finanziellen Mitteln kann dies jedoch eine erfolgsversprechende Strategie sein, da auf diese Weise sichergestellt wird, dass die Investition erst nach Validierung der jeweiligen Technologie erfolgt. Dieser sog. späte Einstieg in validierte Technologien geht jedoch i. d. R. mit einem hohen Investitionsbedarf einher.

Erfolgt die Investition sehr früh, benötigt die Firma zudem das nötige Durchhaltevermögen, um die frühe Entwicklung der Technologie durch Erfolge und Misserfolge aktiv voranzutreiben. Das kann vielfach zum sprunghaften Ausstieg aus Technologien führen, wenn die Firma gleichzeitig finanzielle Mittel für die Entwicklung anderer Therapieformen benötigt. Eine frühe und aktive Teilhabe sorgt jedoch i. d. R. für den internen Aufbau differenzierten Wissens innerhalb der Firma und gewährt damit, ein ausgewogenes Patentportfolio zu erarbeiten. Dies wiederum sollte es der Firma im Fall des Erfolges der Technologie ermöglichen, das Feld entscheidend zu formen.

Ein Mittelweg stellt in diesem Fall eine begrenzte und auf lange Sicht ausgerichtete interne Investition dar, die mit externen Investitionen in Biotechnologieunternehmen und Partnerschaften balanciert wird. In diesem Fall kann die Firma kurzfristig und schnell in ein Feld einsteigen und gleichzeitig mittel- bis langfristig die zusätzlichen Investitionen limitieren, da interne Aktivitäten den Bedarf an zusätzlichen größeren externen Investitionen minimieren. Im Zell-, RNA- und GT-Bereich lassen sich all diese und weitere Firmenstrategien beobachten (Schuhmacher et al. 2021, 2022).

8 Zugelassene In-vivo-Gentherapien und Ausblick

Im Jahr 2012 wurde mit Glybera® in der Europäischen Union (EU) die erste GT zugelassen. Glybera® behandelt die äußerst seltene Erbkrankheit Lipoprotein-Lipase-Defizienz, bei der eine Genmutation den Abbau von Fettmolekülen aus dem Blut verhindert. Mithilfe von AAV-Vektoren wird bei Glybera® durch Einmalgabe das fehlende Enzym substituiert. Aufgrund der Seltenheit dieser Erbkrankheit wurde das Medikament allerdings nach fünf Jahren vom Anbieter wieder vom Markt genommen. Heutzutage haben acht In-vivo-Gentherapien die Marktzulassung in der EU (durch die EMA) und/oder in den USA (durch die FDA) erhalten, vier davon allein im Jahr 2022, was zusammen mit der Anzahl der klinischen Kandidaten die Zunahme dieser Therapieformen unterstreicht. Die gewählte Modalität zum Einbringen der genetischen Information sind in den meisten Fällen AAV-Vektoren (siehe Tab. 16.1).

Tab. 16.1 Zugelassene In-vivo-Gentherapien in der EU und den USA (Januar 2023)

Zwei der zugelassenen In-vivo-Gentherapien adressieren Tumorerkrankungen. Bei Adstiladrin® handelt es sich um eine nicht replizierende Adenovirus-Vektor-basierte GT mit dem Gen Interferon alfa-2b. Das Ziel ist hier, eine Verbesserung der natürlichen Abwehrkräfte des Körpers zur Bekämpfung eines bestimmten Blasenkrebses zu erreichen. Bei Imlygic® handelt es sich um ein abgeschwächtes Herpes-simplex-Virus Typ 1, das Tumorzellen zerstört und das Immunsystem unterstützt, Tumorzellen im ganzen Körper zu bekämpfen (onkolytische Immuntherapie).

Bei den übrigen sechs zugelassenen GT wird mithilfe von AAV-Vektoren die Wirkung von Genmutanten durch das Einbringen normaler Gensequenzen abgeschwächt bzw. korrigiert. Luxturna® ist eine Therapie zur Behandlung von zwei seltenen erblichen Formen des Sehverlustes, die durch mutierte Formen des Gens RPE65 ausgelöst werden (Retinitis pigmentosa, Lebersche kongenitale Amaurose). Im Fall von Luxturna® wird eine korrekte Form des RPE65-Gens in die Zellen des retinalen Pigmentepithels eingefügt, um den Verfall des Gewebes zu stoppen und die Sehfähigkeit bei frühkindlicher Erblindung zu verbessern. Zolgensma® ist eine GT zur Behandlung einer infantilen spinalen Muskelatrophie (SMA), die durch ein mutiertes SMN1-Gen ausgelöst wird. SMA ist eine schwere motoneurale Erkrankung, bei der die betroffenen Nervenzellen Signale nicht korrekt weitergeben, was zu schweren motorischen Lähmungen bis hin zum Tod durch Ateminsuffizienz führen kann. Mit Zolgensma® wird eine korrekte Form des SMN1-Gens verabreicht und in Folge in den betroffenen Motoneuronen hergestellt, um den Krankheitsverlauf zu stoppen. Zolgensma® wird als Einmalgabe in den Blutkreislauf injiziert. Bei Roctavian® handelt es sich um eine Therapie zur Behandlung von Hämophilie A. Hämophilie A wird durch einen defekten Gerinnungsfaktor (Faktor VIII) ausgelöst, was abhängig von der Schwere der Krankheitsform zu verstärkten bis sehr starken und anhaltenden Blutungen führt. Im Fall von Roctavian® wird eine korrekte Form des Faktor-VIII-Gens mittels eines AAV-Vektors in die Leber geschleust, wo es von Leberzellen produziert und ins Blut abgegeben wird, um den Krankheitsverlauf zu stoppen. Upstaza® wird zur Behandlung von AADC-Defizienz, einer sehr seltenen Erkrankung, die u. a. die Muskel- und Nervenentwicklung betrifft, eingesetzt. Upstaza® wird intraputaminal (in das Putamen, einen Bereich des Gehirns) verabreicht. Dort wird in der Folge eine korrekte Form des defekten DDC-Gens hergestellt. Bei Hemgenix® handelt es sich um eine GT zur Behandlung von Faktor-IX-abhängiger Hämophilie (Hämophilie B). Analog zu Roctavian® wird bei Hemgenix® eine korrekte Form des Faktor-IX-Gens in die Leber überführt, um den Krankheitsverlauf zu stoppen.

Im Jahr 2022 nahm die Pipeline an Gen-, Zell- und RNA-Therapien von der Präklinik bis zur Vorregistrierung um 7 % zu, was die Gesamtanzahl der Therapien in der Entwicklung heute auf 3.726 Projekte bringt, und u. a. deutlich macht, um was für einen rasant wachsenden Markt es sich hier handelt. Von den 3.726 Entwicklungsprojekten sind mehr als die Hälfte (n = 2.053, 55 %) GT einschließlich genetisch bedingter modifizierter Ex-vivo-Therapien (z. B. CAR-T-Zelltherapien), die ca. 75 % ausmachen. RNA-Therapien stellen 23 % und nicht genetisch veränderte ZT 22 % dar. Die GT-Pipeline wuchs im Jahr 2022 um 6 %, und seltene Krankheiten und Onkologie sind nach wie vor die Topentwicklungsbereiche und -produkte in der Klinik. Längerfristig ist durch die Technologieerfahrung aber zu erwarten, dass auch komplexere und chronische Krankheiten mehr adressierbar werden. Den größten Anstieg an Entwicklungsprojekten verzeichnete 2022 die RNA-Therapie-Pipeline, die um 17 % wuchs. Zugelassen sind bisher 20 Produkte (ASGCT Q4 2022) (siehe Fehse, Kap. 2).

9 Ethische Aspekte aus Sicht eines Pharmaunternehmens

Die Geschwindigkeit, mit der die Wissenschaft voranschreitet, und die Möglichkeiten, neue Technologien zu schaffen, werfen jedoch auch komplexe ethische Fragen auf. GT wie GE oder Genaddition verändern unser Verständnis der menschlichen Gesundheit und eröffnen neue Lösungen, die wir nie für möglich gehalten hätten. Sie haben das Potenzial, Patienteninnen und Patienten, die an Krankheiten genetischer Ursache leiden, einen enormen Nutzen zu bringen.

Forschende Pharmaunternehmen sind sich der damit verbundenen sozialen Verantwortung bewusst und betreiben Innovation innerhalb von gesetzlichen und regulatorischen Rahmen sowie internationalen und nationalen Konventionen. Darüber hinaus definiert man sich in der Branche mit unternehmensweiten Richtlinien an allgemeingültigen ethischen Standards und Prinzipien, die entsprechend dem wissenschaftlichen Fortschritt und im Austausch mit externen Experten kontinuierlich weiterentwickelt werden.

Die Entwicklung von ZGT bedarf für jeden Anwendungsfall einer gründlichen Bewertung der ethischen Auswirkungen auf den Menschen und die Umwelt. Alle Risiken und Vorteile therapeutischer Anwendungen werden sorgfältig geprüft, besonders darauf, dass der gewünschte Nutzen überwiegt und die mit der Behandlungsmethode verbundenen Risiken verstanden werden.

Ein aktiver Dialog mit einer Vielzahl von Interessengruppen ist zudem eine wichtige Grundlage, um das Vertrauen in die neuen wissenschaftlichen Methoden zu erhöhen. Aus der Sicht des forschenden Pharmaunternehmens Bayer ist es essenziell, Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im Bereich ZGT transparent und in einfacher Sprache darzustellen, um Vertrauen in die Wissenschaft und Innovation zu stärken. Ebenso wichtig ist es, die jetzigen wissenschaftlichen Grenzen aufzuzeigen, um eine Diskussion auf Grundlage des Möglichen zu führen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit neuen Behandlungsmethoden beinhaltet ebenso eine klare Positionierung zu den Grenzen ihrer Anwendung. Zum Beispiel bekennen wir uns eindeutig dazu, keine Modifikationen des menschlichen Genoms mit der Absicht durchzuführen, sie an künftige Generationen beim Menschen weiterzugeben. Wir führen keine menschliche Keimbahnbearbeitung durch und werden dies auch nicht tun und unterstützen die Empfehlungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Jahr 2015 und den Ethikbericht aus dem Jahr 2020, um einen verantwortungsvollen Weg nach vorn zu definieren (National Academy of Medicine et al. 2020).