Die Form der Gesellschaft und die Form des Formulars

»Von der Wiege bis zur Bahre – Formulare, Formulare.« Dieses geflügelte Wort stellt der Rechtswissenschaftler Dirk Ehlers 2011 in einem Lehrbuch des Verwaltungsrechts seinen Ausführungen über die »Staatliche Verwaltung« voran und fährt fort:

Treffender als mit diesem Spruch kann die Einbindung des Bürgers in die Verwaltungsvorgänge nicht beschrieben werden. Ein Mensch kommt i.d.R. von der Geburt (vielleicht in einem staatlichen Krankenhaus) bis zu seinem Tod (etwa in einem kommunalen Altersheim) mit der Verwaltung in Berührung. (Ehlers 2011, 4)

Dieser Würdigung des Formulars als zentrales Medium der Inklusion des Menschen als Bürger in öffentliche Einrichtungen wie »Kindergärten, staatliche Schulen und Universitäten«, Pensions- und Rentenanstalten, »Versicherungen« oder »Friedhöfe«, »Rundfunkanstalten« und Wasserversorgung zum Trotz gehen die Autoren mit keinem einzigen Wort näher auf das Formular ein. Der Begriff fällt kein zweites Mal auf den beinahe tausend Seiten, die allein der Verwaltung gewidmet sind; ein »unverzichtbarer Teil der Verwaltungspraxis« (Becker 2009, 281) verbleibt in einem blinden Fleck, ganz als hätten Medien am Recht keinen Anteil (vgl. Vismann 2011). Das geflügelte Wort vom Lebensweg der Formulare wäre also erst einmal ernst zu nehmen.

Keine Gesellschaft ohne Formulare, ließe sich überpointiert die These formulieren, der dieser Beitrag auf dem Weg zum Formular der Moderne nachgehen möchte. Besagte »Moderne« soll mit Niklas Luhmann als spezifische Epoche in der Evolution der Gesellschaft (vgl. Luhmann 1985) aufgefasst und mit jener Ausdifferenzierung von spezifisch codierten Funktionssystemen identifiziert werden, die nach langem Vorlauf schließlich im 18. und 19. Jahrhundert die Anschlussfähigkeit von Kommunikation auf eine neue Grundlage stellt, so dass nun, was Sach-, Zeit-, Raum- und Sozialdimension der Kommunikation angeht, primär den Anforderungen der Funktionssysteme entsprochen werden muss und nicht länger den Ansprüchen einer stratifizierten Gesellschaft (Luhmann 1987 und 1997; und zusammenfassend mit Akzent auf der Ausdifferenzierung des Kunstsystems Werber 1992 oder 2008). Über die Beachtung und Reichweite, Resonanz und Konsequenz einer SelektionsofferteFootnote 1 entscheidet in der Moderne nicht mehr vor allem der Stand, etwa die qua Geburt gegebene Zugehörigkeit zur adeligen Oberschicht oder zum ›gemeinen‹ Volk (Luhmann 1980), sondern die Passung zu einem Funktionscode, der mit einem »eigenen binären Schematismus« operiert und die Kommunikation »von Implikationen für andere Präferenzen-Codes« befreit (Luhmann 2008, 16). Funktionale Äquivalenzen und strukturelle Analogien zum Formular als Medium der »Formalisierung, Spezialisierung und Standardisierung« (Becker 2009, 281) fallen ins Auge, wenn Luhmann über den »Strukturgewinn« durch »Respezifikationsregeln« der Codierung schreibt:

Etwas kann auf Grund solcher Codierung gut oder schlecht, stark oder schwach, Habe oder Nichthabe, recht oder unrecht, schön oder häßlich sein, und zwar für beide Kommunikationsteilnehmer beides. Damit wird für Interaktionen zwar kein Konsens in der Wertung, gleichwohl aber ein erster Strukturgewinn erreicht und ein Satz von Respezifikationsregeln (Kriterien) in Geltung gesetzt, über den wiederum Konsens oder Dissens bestehen kann. Jedenfalls wird durch code-spezifische Strukturierung erreicht, daß die Kommunikation unter den Gesichtspunkt zum Beispiel von Haben/Nichthaben gebracht wird, wenn man Tauschprozesse anschließen will, und nicht zugleich unter den Gesichtspunkt von gut/schlecht oder von wahr/unwahr. (Luhmann 2008, 16)

Für das Erleben und Handeln von Menschen hat dieser Trend zur »funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung« (Luhmann 2017, 351) gravierende Konsequenzen: Fremde und eigene Erwartungen an das eigene Verhalten und an das Auftreten von anderen verlieren ihre stabilen Orientierungen am Stand, die es nicht nur Adolph von Knigge erlaubt haben, die Erwartungen an den Umgang mit Menschen für alle Positionen der Gesellschaft durchzudeklinieren (vgl. Knigge 1993): Ein Domherr tritt so oder so auf, der Diener eines Handelsherrn so, ein Großbauer so, ein Handwerksmeister so, eine verheiratete Tochter der Bürgermeisters einer reichsfreien Stadt so und die unverheiratete Schwester eines Freiherrn so – und nicht anders! Auch »Rollenkombinationen in je einer Person« sind »sozial vorgeschrieben« und Rollen kaum voneinander zu trennen, während die moderne Sozialordnung »Trennbarkeit der Rollen« vorsieht, was zu »zufälliger Rollenhäufung in jeder Person« führt: »Ein Konzernpräsident kann verheiratet oder unverheiratet, Tänzer oder Nichttänzer, Kirchenmitglied oder Jäger usw. sein.« (Luhmann 2016, 12 f.) Und Tanzkarten werden anders ausgefüllt als die Standkarte für eine Drückjagd. Dass jemand eine bestimmte Rolle ausübt, erlaubt keine sicheren Vorhersagen über andere Rollen. Wer heute in der Oper in der Loge sitzt, muss kein Fürst sein.

Luhmanns Ausführungen zur Umstellung des Differenzierungsprimats der Gesellschaft von (vormoderner) Stratifikation auf (moderne) funktionale Differenzierung, die sich auch für das Verständnis für den Umbau der Semantik als überaus fruchtbar erwiesen haben (vgl. Luhmann 1980 ff.; Luhmann 1988), hat Armin Nassehi mit großer Prägnanz so reformuliert:

Vormoderne Gesellschaften folgen einem klaren Oben-Unten-Schema – alles konnte nach einem einzigen Algorithmus verarbeitet werden. Die gesamte Welt wurde in ein Oben-Unten-Schema aufgebaut – das galt für die Klassifikation von Menschen in Schichten, Familien und auch in ihren persönlichen Beziehungen, das galt für das Denken, das das Besondere stets aus allgemeinen, obersten Prinzipien ableiten musste. Das galt auch für die Form der Macht, die immer hierarchisch gebaut war. Das Besondere an diesem Modell ist seine einfache Durchschaubarkeit: Von jeder Stelle her ist die Gesamtstruktur der Gesellschaft relativ einfach zu entschlüsseln. Oben ist oben, ob ich von oben oder von unten schaue […]. (Nassehi 2019, 239)

Und zwar gleichgültig, ob »ich« vor einer Kirche oder in einer Amtsstube stehe, in der Scheune oder einem Prunksaal, auf dem Markt oder auf einem Schlachtfeld. Das Oben-Unten-Schema ordnet die Selbst- und Fremdbeschreibungen, und es wird immer, trotz aller orts- und situationsspezifischen Unterschiede, darauf ankommen, ob ego und alter sich als Ranggleiche ansehen oder Rangunterschiede zur Geltung bringen (können oder müssen). Die Inklusion in die Kommunikation der einander nicht übergeordneten, sondern sich wechselseitig voraussetzenden Funktionssysteme erfolgt dagegen nicht entlang des Oben-Unten-Schemas, sondern nach der Maßgabe ihrer spezifischen Codes (etwa wahr/falsch in der Wissenschaft oder Recht/Unrecht im Recht) und der Entscheidungsprogramme ihrer Organisationen (etwa bestimmte Methoden oder Gesetze, die wiederum ihren Niederschlag in Formularen finden, die auszufüllen der Entscheidung zuarbeitet; vgl. Becker 2009, 295). Dies alles impliziert für die Inklusion des Menschen in die Gesellschaft, dass ein und dieselbe Person völlig andere Erwartungen bedienen muss, wenn sie an wissenschaftlicher oder juristischer, ökonomischer oder politischer oder auch religiöser oder ästhetischer Kommunikation teilnimmt. Und die Resonanz und Bedeutung, die jemand in einer Organisation erreicht (erfolgreiche Managerin, Wissenschaftlerin, Politikerin oder Priesterin), lässt sich nicht von der einen in die andere Funktionsrolle mitnehmen. Der Hinweis darauf, dass man reich oder mächtig oder prominent oder gläubig sei, ›Landsmann‹, der Vorgesetzte des Klägers oder gar ›von Familie‹, ist vor Gericht kein entscheidender Grund für den Freispruch. All diese Informationen werden der Umwelt des Rechts zugeschlagen und nach Maßgabe der formalen Anforderungen des juristischen Systems verarbeitet. Was Relevanz im Verfahren findet, hängt vom Verfahren ab und nicht von Wertprämissen und Auszeichnungen anderer Funktionsbereiche (vgl. Luhmann 1983). Es kommt mehr darauf ein, die Form zu wahren, die der jeweilige Funktionszusammenhang verlangt, also ein Argument methodisch sauber zu entfalten, zu belegen, mit Zitaten aus der Forschungsliteratur zu stützen oder auf mildernde Umstände zu verweisen, Präjudizien anzuführen oder andere Möglichkeiten der Fallsubsumtion ins Spiel zu bringen etc. Im Unterschied zur frühen Neuzeit, ja noch zum 18. Jahrhundert fällt auf: Es ist nachgerade dysfunktional geworden, Reichtümer anzubieten, um mehr und zustimmend zitiert zu werden, Verwandte bei der Verteilung von Stellen vorzuziehen oder Machtausübung allein mit dem eigenen Gewaltpotenzial zu legitimieren. Nicht mehr Menschen als Angehörige von Ständen, sondern Personen in Rollen stehen sich in der Moderne gegenüber.

Rollen und Formulare

Der moderne Mensch findet sich in seiner Individualität außerhalb einer Gesellschaft vor (vgl. Luhmann 1989), die ihn nur fallweise über Rollen inkludiert. »Einfachere Gesellschaften« dagegen »sind nicht oder nur sehr unvollkommen in der Lage, Rollen zu trennen.« (Luhmann 1983, 61) Im Gegenteil: Komplexität wird gerade dadurch reduziert, dass Rollen kaum differenziert werden müssen und man fast alles über das zu erwartende Verhalten eines Menschen weiß, wenn der Stand bekannt ist.

Erst auf dem Weg der funktionalen Differenzierung, die sich über Ausdifferenzierung von Situationsarten mit besonderer Rollenprominenzen, von besonderen Rollen, von besonderen Rollensystemen und schließlich von teilsystemspezifischen Verhaltenscodes allmählich entwickelt, kommt es zu größeren und komplexeren Gesellschaftssystemen, die auch unwahrscheinliche, das heißt für Interaktionssysteme unnatürliche Leistungsvoraussetzungen gewährleisten können, zum Beispiel dauerhafte Asymmetrie in den Rollenbeziehungen. Erst bei relativ hochentwickelter funktionaler Differenzierung wird es möglich, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien auszudifferenzieren und mit spezifischen Teilsystemen zu integrieren. (Luhmann 2017, 350 f.)

In den entsprechenden Funktionssystemen wie Politik, Wissenschaft, Recht oder Wirtschaft bilden sich systemspezifische »formale Erwartungen« aus, die unbestimmte Komplexität reduzieren, aufbereiten und die spezifische Komplexität etwa einer Gesetzgebungsinitiative, eines Arguments, eines Falls oder eines Investitionsprogramms erhöhen. Die »Gemeinsamkeit wechselseitiger Erwartungen« stützt sich auf die »Formalisierung eines sozialen Systems« und umgekehrt; ohne etwa vorab einer »Meinung« zu sein, weiß jede/jeder, dass nicht alles, sondern nur bestimmtes möglich ist, wenn sie/er zur zweiten Lesung eines Gesetzes das Parlament betritt, am Peer Review einer Forschungseinrichtung teilnimmt, einen Kaufvertrag unterzeichnet oder Berufung einlegt (vgl. Luhmann 1999, 68). Die Einhaltung eines Prozedere, die Abarbeitung einer Agenda, das Führen eines Verfahrens, all dies »entlastet von persönlicher Verantwortung«. Man »braucht überhaupt keine pers. Motive zu beschaffen oder darzustellen«. (Luhmann 2010, 465) Und wo immer diese Prozeduren in Gang gesetzt werden, müssen Formulare ausgefüllt werden. »Formular, die Gestalt, Weise, Vorschrifft, Muster, und Manier, darnach man ein Ding machen oder damit handeln soll.« (Gladov 1727, 267)

Wer ein Formular konzipiert oder bereitstellt, unterbreitet eine Inklusionsofferte. Und wer ein Formular ausfüllt, hat ein Inklusionsangebot angenommen. Inhaber von Funktionsrollen und Klientenrollen treten damit in ein Verfahren ein, das ganz bestimmte Entscheidungen »nach der Vorschrift des Codes« der jeweiligen Funktionssysteme (Luhmann 2017, 538 f.) vorstrukturiert – man weiß, dass man eine Baugenehmigung bekommt und keine Banklizenz, dass ein Berufungsverfahren beginnt und nicht etwa eine Dienstreise genehmigt wird, dass ein Twitterkonto eröffnet und nicht ein Hotel reserviert wird. Formulare spezifizieren Komplexität, insofern unübersehbar viele Anschlussmöglichkeiten ausgeschlossen werden, und sie strukturieren Kontingenz, insofern das, was mit dem Formular überhaupt geschehen kann, nur bestimmte Optionen offenlässt. Dem Antrag wird stattgegeben, der für die Briefwahl angeforderte Stimmzettel wird zugesendet, das Geld erstattet, die Taufe durchgeführt, das Zeugnis ausgestellt, die Unterstützung gewährt – oder eben nicht. Formulare organisieren den Grenzverkehr der Organisationen und selektieren, was im System verarbeitet wird. Sie filtern aus der Kommunikation das aus, was über einen Vorgang Rechenschaft geben und daher zu den Akten kann, um das »gefundene Ergebnis zu ratifizieren«. (Luhmann 2016, 65)

Wie ein Formular konkret ausgefüllt wird, ist ein kooperativer Prozess mit verteilter Handlungsmacht, an der die Repräsentanten der Funktions- und Leistungsrollen genauso mitwirken wie das Formular selbst. Luhmann selbst spricht hier von »Elastizität« im Grenzbereich von Organisationen im Gegensatz zur »festen Kopplung« oder auch strikten »konditionalen Programmierung« (Luhmann 1999, 291). Im Band Bürger, Formulare, Behörde, der die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Arbeitstagung zum Kommunikationsmittel »Formular«, Mannheim, Oktober 1979 sichert, wird ausdrücklich auf den »im einzelnen belassenen Spielraum von Ermessen und Beurteilen« hingewiesen, den auch das Formular in den »Verhandlungen Bürger – Behörde« eröffnet (Albrecht 1980, 80). Das ist dem ausgefüllten Formular allerdings nicht anzusehen. Es dissimuliert die Ermessensspielräume und vermittelt den Eindruck vollkommener Notwendigkeit: »Heute wird jeder Schritt des ganzen staatlichen Finanzapparates schriftlich fixiert und mehrfach nachgeprüft, jeder bewegt sich in festen Formen und Formularen, die ihn legitimieren.« (Schmoller 1900, 313)

Zwar legitimieren Formulare die Entscheidungen, zu denen sie hinführen, mit geradezu »unwiderlegbarer Sicherheit« (Luhmann 2016, 15), doch kommt zuvor das »Eigenrecht von sozialen Situationen« (Luhmann 1999, 297) zur Geltung und ermöglicht, jene Möglichkeiten zu erkunden, die ›Formen und Formulare‹ gleichwohl zulassen. Dies kann im Informellen geschehen, und findet allein schon deshalb keinen Eingang in die Schriftform (vgl. Luhmann 1999, 286). Die performative Dimension des Formulars – von der freundlichen Hilfestellung beim Ausfüllen bis hin zu interessierten Hinweisen von Experten zur Umgehung der ›festen Formen‹ – findet im ausgefertigten Formular selbst keinen Ausdruck. Das Informale, in dem sich die »Persönlichkeit« zeigen kann (Luhmann 2016, 43), bleibt unsichtbar.

Formularbücher. Formulare und Stratifikation

1717 definiert der Kameralist und Kommerzienrat Paul Jacob Marperger, Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften: »Formular, ist eine Vorschrifft eines Briefes oder einer Schrifft / nach welcher man mutatis mutandis, (das ist / indem man verändert / was zu verändern stehet) ein anders nach dessen Art und Weise einrichten / und formiren kan.« (Marperger 1717, 101)

Dies ist eine sehr funktionale Definition, die sich nicht weiter darum kümmert, was formiert wird, wenn den Vorgaben eines Formulars entsprochen wird. Dies ist insofern modern, weil von konkreten Personen, Situationen und Ressorts abstrahiert wird. Es meint nun eher eine Formel, deren konkrete Form variiert, wenn die Variablen sich ändern, mutatis mutandis. Zuvor sind mit Formularen feststehende verbale Wendungen gemeint, die an bestimmten Orten in juristischen Verfahren Verwendung finden.Footnote 2 In Zedlers Universal-Lexikon (1731–1754) wird das »Formular« als Vorschrift im Wortlaut definiert, als konkrete Formulierung, die nachzusprechen oder nachzuschreiben, nicht aber auszufüllen ist (Zedler 1735, 781).Verwiesen wird hier auch auf »grosse Bücher«, in denen diese »Formula« nachzuschlagen seien:

In Köln erscheint im Jahr 1577 ein solches Buch mit dem Titel Ein Schön Cantzeleisch formular Titelbuch: Wie man einem jedem Geistlichs oder Weltlichs seinen gebürlichen Titel geben soll. Dieses formular Titelbuch schreibt in schönster Kanzleischrift vor, was getrost Wort für Wort abzuschreiben ist, wenn ein Schreiben überhaupt einige Aussichten darauf haben soll, zugestellt und gelesen zu werden. Wer an seine Eltern oder seinen Bruder schreiben möchte, an einen Doktor der Rechte oder gar an den Papst, der kann hier nachlesen und nachschreiben, wie er in Anrede und Abschied die Form wahren kann. Die Formulare, die das Buch zur Verfügung stellt, werden nicht ausgefüllt, sie müssen vielmehr als Vorschriften verstanden werden, die abzuschreiben sind. Entscheidendes Kriterium zur Auswahl der passenden Vorlage ist der Stand: der Stand des Adressaten und der Stand des Absenders eines Briefs.

Wer einem geistlichen Fürsten schreiben will, der zugleich ein regierender Herr ist, der verwendet die Formel »Dem hochwürdigen Fürsten und Herren«. Dies gilt für den Fall, dass man dem »hochwürdigen Fürsten und Herren von Würzburg« schreibt, dem »hochwürdigen Fürsten und Herren von Worms«, dem »hochwürdigen Fürsten und Herren von Bamberg« oder auch dem »hochwürdigen Fürsten und Herren von Minden«. Das Schön Cantzeleisch formular Titelbuch zählt alle Fälle auf und wiederholt die Anredeformel jedes Mal. Es kommt nicht zur Ausprägung einer funktionalen Anweisung, die den Bischofssitz als Variable führt, die der Anrede »Dem hochwürdigen Fürsten und Herren« hinzufügen wäre. Etwa: ›Dem hochwürdigen Fürsten und Herren von [Ort]‹. Das Formular ist hier sozusagen immer ein Einzelfall. Dies gilt auch für Heinrich Geßlers Formulare und tütsch rhetorica, ein Buch, das 1502 bei Prüß in Straßburg gedruckt wurde. Die »Formulary«, die Geßler druckt, um Orientierung darüber zu geben, wie man wen schriftlich oder mündlich adressiert, werden nicht abstrakt formuliert, sondern exemplarisch und sehr konkret. Ein Beispiel führt vor, wie wir »von Gottes Gnaden Christoffel Markgraff zu Baden« unseren »günstlichen Gruß« erbieten (Geßler 1502, unpag. [8. Blatt, b]).

Geßler dekliniert alle Stände und ihre möglichen Verhältnisse zueinander, um jedem die richtige Anrede zu empfehlen, die die eigene Position und die des anderen berücksichtigt, also die Wendung an Menschen gleichen, niederen oder höheren Ranges, Eltern, Geschwister, Kinder und sonstige Verwandte, Männer und Frauen. Das kann kompliziert werden, und die Komplexität wird nicht reduziert, sondern Relation für Relation nachgebildet. Deshalb ist die Schrift so umfangreich. Wie redet man Väter und Mütter niederen Standes an, wenn die Tochter Priorin geworden ist? Wie schreibt ein adeliger Sohn seinem Vater, wie ein bürgerliches Kind seiner Mutter? Wie grüßt ein Edelmann einen zum Doktor promovierten, aber bürgerlichen Gelehrten? Geßlers Buch listet alle diese Relationen auf und nennt für alle Fälle die rechte Form. Die kann man wiederum einfach Wort für Wort abschreiben, da die Grußformel zu Beginn und die Abschiedsformel am Ende nur Titel, Rang oder Position nennt: Also »edler gnediger herr« oder »strenger vester lieber herr« oder »meyn früntlich willig dienst suoz ersamer lieber gönner« Geßler 1502, unpag.[1. Blatt, a, b]) oder »meyn günstlichen grůß« oder »meyn grůß zůoss«, je nachdem (Geßler 1502, unpag.[5. Blatt, b]). Nur der Eigenname ist hinzuzufügen, die einzige Variable der Formelsammlung.

Zum Formular der Moderne I: Justus Möser

Derartige Formular- und Titelbücher werden im 18. Jahrhundert zitiert und kommentiert von Justus Möser (1720–1794), der als Sohn eines Kanzleidirektors geboren wurde, selbst als Jurist verschiedenen Organen als Sekretär und Referendar diente und es bis zum Geheimen Justizrat und Regenten des Fürstbischofs von Osnabrück, Friedrich Herzog von York brachte. Möser wird Kompendien wie Formulare und tütsch rhetorica ganz gut gerecht, wenn er 1755 in seiner »Nachricht von dem ersten und gedruckten deutschen Natur und Formular-Buch« mit der Bemerkung beginnt, die »Nachricht von einem alten Titular-Buch scheinet zwar keinen sonderbaren Nutzen zu versprechen, seitdem Titel und Stand Gepräge und Gehalt ihre bestimmte Verhältnis gegeneinander verloren« (Möser 1755, 121). Das angeführte Buch, aus dem Möser zitiert, hat der bereits zitierte Ratsherr und Jurist Heinrich Geßler verfasst. Es sei historisch von Interesse, da Geßler in »zu seinen Formularen von allerhand Briefen und Verschreibungen mehrentheils originalien genommen«, also aus den Akten genommen und kopiert hat (Möser 1755, 122). Möser sucht sich einige Stellen heraus, um gutmütig Spott zu treiben über eine vergangene Epoche, die es sich schwer macht, in »einigen hundert Regeln« jedem nach seinem ererbten und erworbenen Rang und Stand zu unterscheiden und entsprechend zu behandeln. Was tun, wenn jemand »Ritter und Doctor zugleich« (Möser 1755, 150) ist?

Möser hat das Thema in seinen Patriotischen Phantasien (Möser, [Bd. 2, 1776], 431–436) noch einmal aufgegriffen. Eine dieser Phantasien, die kurze Erzählungen, Anekdoten, Novellen darstellen, handelt von der bürokratischen Ausdifferenzierung der Verwaltung. Ein junger Fürst gewährt einem kleinen Bedienten, einem »Thorschreiber«, der vermutlich Listen über Waren und Zölle zu führen hatte, eine Gehaltserhöhung von 100 auf 300 Talern. Ein Jahr später spricht der Mann erneut vor, er könne von 300 Talern nicht leben, denn er müsse, als Inhaber eines so wichtigen Amtes, sein Haus standesgemäß führen, seine Frau entsprechend halten, seine Kinder nach ihrem Stande studieren lassen usw. Offenbar hatte der verdreifachte Sold auch Folgen für das Amt. Der Fürst erkundigt sich bei seinen Ministern, »ob er keinem seiner Bedienten eine Zulage geben könnte, ohne zugleich eine Standeserhöhung zu veranlassen?« Die Minister bestätigen, dass Sold und Stand in einem festen Verhältnis zueinander stünden und daher ein Mann von 4000 Talern ebenso wenig davon leben könne wie ein Mann von 2000 oder 400 Talern von seinem Sold, weil jeder eben zu entsprechendem Aufwand gehalten sei, um standesgemäß zu leben, jeder mit höherem Sold also stets mehr »verzehren müsse« als einer mit geringeren Einkünften (Möser [Bd. 2, 1776], 433). Ein alter Canzler außer Dienst, der einst »seines Großvaters einziger geheimer Rath, Cammerpräsident und Secretarius gewesen war« (Möser [Bd. 2, 1776], 433), berichtet dem Fürsten, dass der fürstliche Großvater noch mit wenigen Bedienten ausgekommen sei, der Vater dagegen habe Departments eingeführt, die sich unter der Regentschaft des jungen Fürsten weiter in unzählige Sekretariate und Abteilungen entfaltet hätten.

Ihr Herr Vater liebte eine andre Ordnung; es wurden so manche Departements gemacht als Sachen waren; dazu kam ein Oberdepartement, um alle die andern Departements zu beachten; zu jedem wurden ein paar Räthe, ein paar Secretarien und verschiedene Unterbediente nothwendig erfordert; diese Departements forderten sodann besondere Zimmer, Archive, Acten, Rechnungen und Berichte; die Mitglieder derselben beeyferten sich um die Wette, um die Sachen in die schönste Ordnung zu bringen, sie erfanden die deutlichsten Formulare, Rubriken, Tabellen, und hundert andre Dinge, wozu immer mehr und mehr Hände, immer mehr und mehr Papier, immer mehr und mehr geschickte Leute erfordert wurden. Der Thorschreiberdienst wurde zu einer Wissenschaft, und der Untervogt musste einen zierlichen Bericht zu erstatten im Stande seyn. Euer Füstl. Durchlaucht waren zu dieser Ordnung erzogen; Sie verbesserten dieselbe noch in vielen wesentlichen Stücken, und ich gieng als ein alter Mann mit dem vergnügten aber auch traurigen Anblick aus Dero Diensten, daß meine Arbeit unter fünfzig Personen vertheilet wurde. (Möser [Bd. 2, 1776], 433 f.)

Der Fürst versteht die kritische Pointe dieser Geschichte bürokratischer Ausdifferenzierung, hält aber dem Canzler die Fachlichkeit der vielen Abteilungen entgegen, die Besonderheit der Aufgaben, Spezialisierung der Bedienten, die Differenzierung der Laufbahnen.

Aber sagte der Fürst, es ist doch nicht möglich, daß ich etwas von dem allen einschränken kan. Ein Militairdepartement ist unentbehrlich, weil es mit Leuten besetzt seyn muß, welche das Militaire aus dem Grunde verstehn. Das Cammerdepartement erfordert unstreitig seine eignen Leute, und diejenigen so dabey stehn, haben alle Hände voll zu thun; / ohne ein Justitzdepartement kan kein Land bestehen, wie vielen Ungerechtigkeiten würden sonst meine armen Unterthanen nicht ausgesetzt seyn? Das geistliche Departement läßt sich mit dem weltlichen gar nicht vereinigen; und die Regierungssachen erfordern warlich auch geschickte Männer, damit alles in der Ordnung und der Friede mit den Nachbaren erhalten werde. Das Hofdepartement ist in allen Ländern von den übrigen getrennet; der Stall, die Küche, der Keller, die Capelle, das Theater, die Jagd, die Hofgebäude, die Gärten, die Lustbarkeiten — wollen durchaus besondre Leute... (Möser [Bd. 2, 1776], 434 f.)

Und diese ›besondren Leute‹, die ihr Fach ›aus dem Grunde verstehn‹, entfalten eine beeindruckende Rationalität, »um die Sachen in die schönste Ordnung zu bringen, sie erfanden die deutlichsten Formulare, Rubriken, Tabellen, und hundert andre Dinge, wozu immer mehr und mehr Hände, immer mehr und mehr Papier«, und, wunderbare Rekursion, wiederum »immer mehr und mehr geschickte Leute erfordert wurden.« (Möser [Bd. 2, 1776], 434) Es ist die Handhabung der »Formulare, Rubriken, Tabellen«, welche eigens ausgebildete Beamte erfordern. Und es sind hochspezialisierte Beamte, welche »hundert andre Dinge« entwickeln, um die Komplexität, die innerhalb der Verwaltung prozessiert werden kann, immer weiter zu steigern und in Ordnung zu halten (vgl. Luhmann 1970). Mit entsprechenden Folgen für Personen und Waren, die nun durch ein Tor in die Stadt zu gelangen wünschen und an einen »Thorschreiber« geraten, der sein Amt als »Wissenschaft« zu führen weiß.

Es gibt keinen Weg zurück; einmal eingeführt, setzt die Verwaltung ihre Ausdifferenzierung fort. Die Minister des Fürsten haben großes Verständnis für die Verwandlung eines unbedeutenden Schreiberamtes in jenes Element eines Apparates, den Alfred Weber Beamter nennen wird – in eine »Persönlichkeit« also, die »nicht als solche«, nicht als Mensch zählt, sondern allein als »Beamter: er wird angeredet nur mit seinem Titel, rangiert nur nach seiner Stellung, ästimiert nach seinem Rang; das Leben kennt ihn gar nicht anders.« (Weber 1910, 1332) Amt und Leben seien eins geworden. Genau das versucht der Thorschreiber seinem Fürsten zu erklären: Dass er vom Fach sei und »das gemeine Wesen das Amt zum Maßstab des Mannes macht«, um es mit Schiller zu formulieren (Schiller 1993, 584). Den Beobachtungen seiner Lebensführung durch andere und den entsprechenden Erwartungen – »ästimiert nach seinem Rang« – müsse er mit seiner ganzen Existenz (samt Familie) entsprechen. Zwei Generationen zuvor hätten 300 Taler Sold den Thorschreiber glücklich gemacht, nun aber besiegeln sie sein Schicksal als Beamter, der sich jenseits seiner Stellung, seines Titels, seines Rangs für seine gesamte Existenz nichts anderes mehr vorzustellen vermag.

Zum Formular der Moderne II: Friedrich Schiller

So ähnlich wie der junge Fürst auf die Unvermeidlichkeit seiner Verwaltung schaut, deren Differenzierungslogik er nicht zu widerstehen vermag, obschon er gerne Kosten einsparen würde, so schaut Friedrich Schiller wenig später auf die Differenzierungslogik der modernen »Kultur« (Schiller 1993, 581), die den Menschen hebt, indem sie ihn spezialisiert, und die den Menschen fragmentiert und zurichtet, indem sie seine Fähigkeit einseitig ausbildet und ohne Aussicht auf harmonischen Ausgleich verfeinert. Im 6. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 1795 im Ersten Band der Horen publiziert, verwendet Schiller den Term Formular in einem systematischen Zusammenhang mit Schlüsselbegriffen seiner Theorie der Moderne (vgl. Plumpe 1993): Fortschritt, Fragment, Form.

Was Möser in seinem Gespräch zwischen Fürst und Geheimrat am Beispiel der Verwaltung durchspielt, generalisiert Schiller zur Hypothese eines epochalen Umbruchs zur Moderne.Footnote 3 Seine Beobachtungen stellen den Menschen in den Mittelpunkt, der auf dem Wege der Ausbildung immer differenzierterer Vermögen und des Erwerbs immer spezifischerer Kenntnisse die antike, harmonische, organische Integration der Teile in ein Ganzes verloren habe und nun, als Experte und Fachmann, einer Gesellschaft gegenübertrete, die ebenfalls Sachgebiete, Ressorts, Institutionen scharf voneinander trennt und die Beteiligung von Personen entsprechend organisiert. Das »Ganze«, ob nun die Einheit der Gesellschaft oder die des Menschen gemeint ist, werde in der modernen Kultur nur noch »aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile« aufaddiert (Schiller 1993, 584). Dieser Verlust der »Repräsentation« und »Totalität der Gattung« ermögliche den Menschen freilich die umso intensivere Entfaltung eines spezifischen »Teils ihrer Anlagen«(Schiller 1993, 582) und die Ausprägung immer distinkterer Formen. Genau dies mache den Fortschritt aus, den Schiller seiner Gegenwart im Unterschied zur griechischen Antike einräumt:

Gerne will ich Ihnen eingestehen, daß so wenig es auch den Individuen bei dieser Zerstückelung ihres Wesens wohl werden kann, doch die Gattung auf keine andere Art hätte Fortschritte machen können. Die Erscheinung der griechischen Menschheit war unstreitig ein Maximum, das auf dieser Stufe weder verharren noch höher steigen konnte. [...] Die Griechen hatten diesen Grad erreicht, und wenn sie zu einer höhern Ausbildung fortschreiten wollten, so mußten sie, wie wir, die Totalität ihres Wesens aufgeben, und die Wahrheit auf getrennten Bahnen verfolgen. (Schiller 1993, 586)

Dieser Weg zum Fortschritt auf »getrennten Bahnen« wird auf jenen Laufbahnen verfolgt, die Mösers oben angeführte Anekdote beschreibt: Die Ausdifferenzierung der Verwaltung und die Ausfaltung ihrer Verfahren in Form immer spezifischerer »Formulare, Rubriken, Tabellen«. (Möser [Bd. 2, 1776], 434) Kurz: Die Torwächterei als Wissenschaft und als Lebensform. Schiller verallgemeinert:

Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. (Schiller 1993, 584)

Die Ausdifferenzierung von Wissens- und Wertsphären, von Funktionsbereichen und Spezialdiskursen wird von Schiller in Bildern der Scheidung, Trennung, Spaltung, Isolierung gefasst:

Die Kultur selbst war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug. Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der andern das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung der Stände und Geschäfte notwendig machte, so zerriß auch der innere Bund der menschlichen Natur, und ein verderblicher Streit entzweite ihre harmonischen Kräfte. Der intuitive und der spekulative Verstand verteilten sich jetzt feindlich gesinnt auf ihren verschiedenen Feldern, deren Grenzen sie jetzt anfingen, mit Mißtrauen und Eifersucht zu bewachen, und mit der Sphäre, auf die man seine Wirksamkeit einschränkt, hat man sich auch in sich selbst einen Herrn gegeben, der nicht selten mit Unterdrückung der übrigen Anlagen zu endigen pflegt. (Schiller 1993, 583)

Auf der Seite der Gesellschaft macht Schiller immer spezifischere »Formen« und »Formeln« aus, auf der Seite des Menschen immer einseitiger geschulte »Formulare« und »Fragmente« (Schiller 1993, 584 f.). Das Fragmentarische, das Schiller an der modernen Kultur diagnostiziert, ist einem Verfahren zu verdanken, das den Menschen »zu einem bloßen Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft« formt, in dem es den Bürgern und Staatsdienern »mit skrupulöser Strenge durch ein Formular vorgeschrieben« hat, was wann in welcher Abfolge wie zu tun sei (Schiller 1993, 584). Die performative oder auch informelle Dimension der formulargestützten Kommunikation bekommt Schiller dagegen nicht in den Blick, obschon er die Spielräume von Verwaltungshandeln in Weimar und Jena durchaus kennengelernt hat.

Schiller betont dagegen mit seinem Begriff des Formulars einen Steigerungszusammenhang von »Ausbildung« und Verarmung, von »Verfeinerung« und Verkrüppelung der Anlagen und Fähigkeiten des Menschen am Werke (Schiller 1993, 588). Der Zerfall der inneren und äußeren Einheit des Menschen in »Bruchstücke« und »Fragmente« sei der Preis für die Leistungen einer formalisierten Lebens- und Arbeitsweise (Schiller 1993, 584 f.); nur spezielle Kenntnisse und Eigenschaften werden jeweils kommunikativ von Personen abgefragt, wenn alle vordem in Ständen und Großfamilien integrierten Funktionsbereiche »auseinandergerissen wurden.« (Schiller 1993, 584) Der moderne Mensch sei genau deshalb nur noch ein »Formular«, das je nach »Geschäft« ausgefüllt wird, weil er nur noch rollenspezifisch inkludiert wird und diese Rollen nicht in einer Superrolle integriert werden können.

»Gleichgültig gegen den Charakter« interessieren sich die Organisationen der Politik, der Wirtschaft, des Rechts, der Wissenschaft, der Erziehung oder der Religion allein für einen »fragmentarischen Anteil« des Menschen, für das, was für seine Rolle als Wähler, Käufer, Anwalt, Untertan, Täter, Patient, Vater, Steuerzahler oder Kirchgänger wissenswert ist. Die dazu nötigen »einzelnen Fertigkeiten« werden von den Systemen gepflegt, entwickelt und »zu einer […] großen Intensität […] getrieben« (Schiller 1993, 584). Leistungssteigerung durch Spezialisierung. Komplexitätsgewinne durch Ausdifferenzierung. Der ›ganze Mensch‹ (Schings 1992) werde hier nirgends mehr inkludiert. Erst recht nicht von den Bürokratien, deren »Formulare« jede Person zu einem prozessierbaren Merkmalbündel reduziert. »Die Kultur war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug.« (Schiller 1993, 583) Die Kulturtechnik dieser Kultur ist Schiller zufolge ein Formular, das nicht nur vorschreibt »und durch Formeln einengt« (Schiller 1993, 585), sondern ebenso durch die Isolation aller »Kräfte« auf einen geordneten Geschäftsgang immer weitere »Fortschritte« ermöglicht (Schiller 1993, 586). Der Preis des Fortschritts der Gattung liegt für Schiller in der Zurichtung des Individuums zum Formular. Das ist beinahe eine Dialektik.

Fazit

Im Vergleich der Formular-Bücher des 16. Jahrhunderts, an die Justus Möser um 1750 erinnert, mit den Ausführungen Schiller lässt sich verdeutlichen, dass Formulare mit großer Kontinuität der Inklusion und der Strukturierung von Anschlusskommunikation dienen: Die rechte Anrede, die treffende Formel, der angemessene Gruß ermöglichen Kommunikation, die sonst nicht stattfände, und lenken den Verlauf der Kommunikation in eine bestimmte Richtung, die nicht mehr alles, sondern bestimmtes erwarten lässt. Welche Formulare zu benutzen und was aus einem formular Titelbuch abzuschreiben ist, hängt primär von der Zugehörigkeit des Menschen zu einer der Schichten der Gesellschaft ab. Formulare managen die Rangunterschiede in einer stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft und ermöglich so, dass die Kommunikation von Ungleichen gelingen kann und für beide Seiten so erwartbar wird, dass Selektionsofferten unterbreitet und angenommen werden. Auch um 1800 und um 1900 inkludieren Formulare und strukturieren Anschlusskommunikation, doch sind hier auch Unterschiede zu betonen, die vor allem dann auffallen, wenn man hinter die kulturkritische Rhetorik Schillers zurücktritt und seine Diagnosen (Entfremdung, Zersplitterung, Mechanisierung) nicht auf seinen Vergleich der idealisierten »Griechen« mit »uns« defizitären »Neuern« bezieht (Schiller 1993, 582), sondern seine Ausführungen zum Formular auf die epochalen Umbrüche der Gesellschaftsstruktur bezieht, die in der Semantik ihren Niederschlag finden (vgl. Stäheli 1998).

Schon in Mösers Thorhüter-Anekdote, die kafkaesk zu nennen nicht falsch wäre, deutet sich an, was sich mit der Durchsetzung funktionaler Differenzierung ändert: Das Formular wird auf der operativen Ebene modifiziert von einer Vorschrift, die Wort für Wort abzuschreiben ist, zu einer Formel, deren Parameter nicht vom Stand der Personen abhängen, sondern von den Rollen, die sie in einem bestimmten Zusammenhang einnehmen: Am Thorschreiber muss jeder vorbei, und dies geht nicht ohne Formulare ab. Dieser Zusammenhang von Funktionsrolle und Klientenrolle wird von den Codes der Funktionssysteme vorstrukturiert. Die Inklusion in die Kommunikationen immer feiner differenzierter und spezialisierter Organisationen dieser Systeme wird von ihrem Personal mit der Hilfe von Formularen betrieben, deren Formen den »Mann« im »Amt« (Schiller 1993, 584) so vollständig prägen, dass Schiller die derart inkludierten Menschen selbst als Formular bezeichnet – und so, naheliegend für einen Dramatiker, Mensch und Rolle verwechselt. Inkludiert, so ließe sich systemtheoretisch formulieren, werden aber ohnehin keine Menschen, sondern rollenkonforme Selektionsofferten. Die enorme Komplexitätsreduktion, die das Formular erbringt, beschreibt Schiller aus der Perspektive der »Menschheit«, deren »Glieder« nur noch in Form eines »fragmentarischen Anteils« (Schiller 1993, 584) in die Kommunikationen der Funktionssysteme einbezogen würden. Dass alles andere, das von den Formularen nicht erfasst und prozessiert wird, nicht inkludiert wird, kann Schiller nicht als Chance begreifen, sondern allein als Verstümmelung thematisieren. Luhmann wird genau hier, auf der anderen Seite der Inklusion, die Voraussetzung zur Ausbildung moderner »Exklusionsindividualität« ausmachen (Luhmann 1989, 160). Die moderne Inklusion läuft über Formulare:

Die Standesbeamten haben die drei im § 12 des Gesetzes vom 6. Februar 1875 vorgeschriebenen Standesregister nach den Formularen A. B. C., und zwar:

1. das Geburtsregister nach dem Formular A.,

2. das Heirathsregister nach dem Formular B.,

3. das Sterberegister nach dem Formular C. zu führen. (Gesetz-Sammlung 1875, 132)

Schon 1875 ließe sich sagen: »Von der Wiege bis zur Bahre – Formulare, Formulare.« Aber die Individualität des Individuums konstituiert sich gerade diesseits der Formulare – nicht zuletzt in der informellen Interaktion an den Schnittstellen der Verwaltung. An dieser Spannung hat nicht nur die Literatur ein großes Thema gefunden.