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Ursache oder Urheber: Argumente gegen einen reduktiven Individualismus

Cause or Creator: Arguments against Reductionist Individualism

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KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Von Seiten individualistischer Positionen der soziologischen Handlungstheorie werden praxistheoretische Ansätze dahingehend kritisiert, dass sie einzelne Handlungen aus dem Zusammenhang sozialen Geschehens verständlich und erklärbar machen wollen, den sie als Praxis beschreiben. Diese Annahme steht im Widerspruch zu der Auffassung, dass letztlich alles soziale Geschehen und jeglicher soziale Sinn auf die sozialen Akteure und deren Eigenschaften zu reduzieren sind. Die individualistische Kritik an Argumenten der Praxistheorie beruht allerdings auf einer fehlenden Unterscheidung zwischen der Verursachung sinnhaften Handelns und der Urheberschaft für den sozialen Sinn des Handelns. Mit Hilfe der Unterscheidungen von Ursache und Urheber, von Kausalität und Koordination sowie von Kausalität und Konstitution wird die Kritik des reduktiven Individualismus zurückgewiesen. Im Verbund mit der Identifizierung von Missverständnissen bzgl. des Primats sozialer Beziehungen gegenüber Akteuren werden zudem Probleme einer Sozialtheorie markiert, die auf einer individualistischen Ontologie aufbaut.

Abstract

In sociological action theory, individualistic positions typically criticize practice theoretical approaches in regard to their assumption that individual acts are the products of collective social processes. Instead, individualistic theories generally reduce every action and all social processes to individual actors. This critique on practice theoretical arguments, however, is based on a missing distinction between the cause and the creator of the social meaning of action. Drawing on conceptual distinctions between cause and creator, causality and coordination, and causality and constitution of meaning, I will reject the individualistic critique on theories of practice in this article. Furthermore, I will determine problems of a social theory that is based on an individualistic ontology more generally.

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Notes

  1. Im Folgenden werden Handlungs- und Strukturtheorien als two sociologies behandelt. Handlungstheorien schließen zwar strukturtheoretische Konzepte ein, aber mir geht es an dieser Stelle darum, die two sociologies einander gegenüberzustellen, ohne holistische Ansätze auf Systemtheorien zu beschränken. Strukturalismen und vergleichbare Theorieangebote verzichten gleichermaßen wie Systemtheorien weitgehend auf Akteurskonzepte oder sie marginalisieren die Rolle von Akteuren für das Verständnis sozialer Ordnung. Strukturen sind diesen konstitutiv vorgeordnet. Umgekehrt werden individualistische Handlungstheorien hier so verstanden, dass sie Strukturen durch die Aggregation individueller Handlungen oder radikaler: individueller Eigenschaften verständlich und erklärbar machen wollen.

  2. Dies wäre der Fall, wenn man vom Modell eines individuell-biografisch nicht gebrochenen homo sociologicus ausgeht.

  3. Die x‑te Beatles-Coverband verursacht in diesem Sinne beispielsweise in situ „Eleonore Rigby“, die Urheberschaft für dieses Stück kommt ihr dadurch nicht zu. Die Abweichungen von der ursprünglichen Komposition müssten zudem erheblich sein, damit die Urheberschaft für eine Komposition beansprucht werden könnte. So erheblich, dass es sich freilich um ein anderes Stück handeln würde. Gleichermaßen müssten Abweichungen von verteilten sozialen Erwartungen so erheblich sein, dass kaum oder gar nicht daran handelnd angeschlossen werden könnte, damit man in einem engeren Sinne auf individuelle Sinnproduktion zurechnen könnte.

  4. Koordination meint hier nicht notwendig ein Handlungsproblem aus der Teilnehmerperspektive, sondern das dem soziologischen Beobachter vorgegebene Phänomen der gelingenden oder auch nicht gelingenden „Abstimmung“ des Verhaltens und Handelns der Akteure.

  5. „Motives are imputed or avowed as answers to questions interrupting acts or programs. Motives are words. Generically, to what do they refer? They do not denote any elements ‚in‘ individuals […]. ‚Our introspective words for motives are rough, shorthand descriptions for certain typical patterns of discrepant and conflicting stimuli‘“ (Mills 1940, S. 905).

  6. Konstitution und Kausalität liegen in diesem Sinne insgesamt quer zueinander und wenn die Praxistheorien Konstitution meinen und Greve dies mit kausaler Hervorbringung gleichsetzt, wird Unvergleichbares miteinander verglichen.

  7. Ein ganz anderes und in der Soziologie trotz aller Debatten um die Erklärende Soziologie weitgehend vernachlässigtes Problem ist der Begriff der Kausalität. Die in der Weber-Tradition so passende Idee einer Handlungsverursachung durch Gründe wird allzu gerne übernommen (vgl. Kroneberg 2011), ohne systematisch die umfangreichen und ausgesprochen kritischen Diskussionen nicht nur dieses Konzepts der Handlungserklärung zu berücksichtigen (vgl. für einen Überblick Keil 2000).

  8. Die Ethnomethodologie als „sociology of nothing happened today“ (Auer 1999, S. 129) stellt diesen Sachverhalt bekanntlich mit Nachdruck heraus, wenn sie in den Krisenexperimenten die Ethnomethoden der Herstellung von Selbstverständlichkeit untersucht.

  9. Dass ein solches Argument rein logisch auf einen regressus ad infinitum hinausläuft, ändert nichts daran, dass praktisch ein solches Problem offenbar nicht besteht.

  10. „Objektiv“ verstehe ich hier im Sinne von Schütz’ Unterscheidung von objektivem und subjektivem Sinn. Das aktualisierte Verhalten ist für einen Handelnden als Referenz für eine Interpretation gleichermaßen zugänglich wie für einen anderen und in diesem Sinne objektiv für Selbst- und Fremddeutungen offen.

  11. Auch wenn es weder bewusst noch unbewusst explizite Regeln sind, die aus der Teilnehmerperspektive das Handeln regulieren, so lassen sich die Verhaltens- und Handelnsregelmäßigkeiten aus der Beobachterperspektive dennoch plausibel als regelhaft modellieren.

  12. Man ist zudem versucht soziologisch aufgeklärt danach zu fragen, von welcher (sozio-historischen) Position aus zwischen natürlichen und nicht-natürlichen (kulturellen) Akteuren unterschieden wird.

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Bongaerts, G. Ursache oder Urheber: Argumente gegen einen reduktiven Individualismus. Köln Z Soziol 68, 675–692 (2016). https://doi.org/10.1007/s11577-016-0383-4

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