1 Problemstellung und Forschungsstand

Wohnen stellt eine Grundlage menschlicher Existenz dar und ist bedeutsam für das physische, psychische und soziale Wohlbefinden von Menschen. Die Verknappung von leistbarem Wohnraum in urbanen Zentren, die Ausweitung von prekären und heruntergekommenen Wohnverhältnissen, der Rückgang an alternativen Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus, die Zunahme an Zwangsräumungen und Zwangsvollstreckungen sowie der Anstieg von Menschen ohne festen Wohnsitz, die entweder auf der Straße, bei Freund*innen oder in Einrichtungen übernachten, lässt diese Grundlage fragil erscheinen und spricht für eine aktuelle, sich weiter verschärfende, neue Wohnungsnot (Baldenius et al. 2019; Desmond 2018; Dittmann und Drilling 2018; Eurostat 2016; Gerull 2014; Marquardt 2015; Ratzka 2012; Soederberg 2018; Sowa 2022; Sowa et al. 2022; Tsirikiotis und Sowa 2022). Einige Menschen befinden sich durch diese Entsicherung des Wohnens sowie weitere Faktoren wie bspw. Verschuldung, gesundheitliche Probleme und fehlende Netzwerke in einer Abwärtsspirale, die zur Duldung von prekären Wohnformen, zu Wohnraumverlust und zu Wohnungslosigkeit führen kann. Anderen Menschen gelingt es, trotz widriger Umstände konkrete Bedrohungssituationen abzuwenden, indem sie den Wohnraumverlust verhindern, die Wohnungslosigkeit vermeiden oder überwinden. Diese analysierbare Resilienz bedeutet in einer soziologischen Perspektive, dass Individuen in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext eingebettet sind und sie soziale Praktiken, kollektive Deutungs‑, Handlungs- und Orientierungsmuster, Wissensbestände und soziale, kulturelle, wirtschaftliche oder institutionelle Ressourcen mobilisieren können, um Wohnen als physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden zu sichern oder wiederherzustellen (Promberger et al. 2015, 2018).

Zusammen mit einer zunehmenden Entsicherung des Sozialen, einer Verschärfung von Verteilungskonflikten und der Zunahme von Armut kommt es neben den medial oft mehr Aufmerksamkeit bekommenden Verdrängungen zu einer Zunahme von Wohnungsnot, Wohnungslosigkeit und Wohnraumverlusten. Diese Phänomene nicht isoliert, sondern in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, charakterisiert das Forschungsprojekt. Außerdem ist die Wirkungsweise sozialstaatlicher und wohnungspolitischer Instrumente zur Vermeidung und Überwindung von Wohnungslosigkeit, insbesondere im europäischen Vergleich, bislang kaum untersucht (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe 2015; Berner et al. 2015; Busch-Geertsema 2017; Busch-Geertsema et al. 2005; Gerull 2003; Holleschovsky 2017; Kenna et al. 2016; Kuhnert und Leps 2017).

2 Forschungsdesign, -ziele und methodisches Vorgehen

In dem auf 36 Monate angelegten ForschungsvorhabenFootnote 1 werden Faktoren identifiziert, die Wohnraumverlust sowie Wohnungslosigkeit verhindern und somit Wohnraum sichern. Dabei werden erstens die biografischen Lagen, Deutungen und Praktiken von Individuen untersucht (Mikroebene), um herauszufinden, in welchen Lagen sich Betroffene zu verschiedenen Zeitpunkten einer Abwärtsspirale befinden und welche typischen Deutungsmusterkonstellationen in Interaktionssituationen vorliegen. Da diese typischen Deutungsmusterkonstellationen vom jeweiligen gesellschaftlichen Rahmen abhängen, erfolgt zweitens eine Kontextanalyse städtischer Diskurse über Wohnen, Wohnraumverlust und Wohnungslosigkeit (Makroebene) sowie drittens eine Kontextanalyse über bestehende Konzepte, Maßnahmen und Unterstützungsangebote durch professionelle Organisationen und Institutionen (Mesoebene). Um die gesellschaftliche Einbettung und Relevanz von individuellen Problemlagen zu untersuchen, werden als Fallstudien die zwei Städte Nürnberg und Wien als maximal kontrastierende Fälle in das Forschungsdesign aufgenommen, so dass aus den Kontextanalysen zwei unterschiedliche Stadtprofile typisiert werden können, die Einfluss auf die Deutungsmusterkonstellationen nehmen.

Die Auswahl der beiden Städte Wien und Nürnberg erfolgte aufgrund ihrer Kontraste: Wien hat als Bundeshauptstadt der Republik Österreich 1.897.491 Einwohner*innen (01.01.2019) und ist die fünftgrößte Stadt der Europäischen Union. Der Ausbau des sozialen Wohnungsbaus begann nach dem Ersten Weltkrieg. Während Wien aufgrund seiner historischen Sonderstellung bei der Bereitstellung von Wohnraum viele Wohnungsproblematiken im Vergleich zu anderen Städten lange deutlich abschwächen konnte, verändert sich auch hier der Wohnungsmarkt (Hejda 2014; Kadi 2014; Vollmer und Kadi 2018). Nürnberg ist die zweitgrößte Stadt in Bayern und hat 518.400 Einwohner*innen (31.12.2018). Der soziale Wohnungsbau hatte nie einen vergleichbaren Stellenwert wie in Wien und ist stark rückläufig: So gab es im Jahr 1980 in Nürnberg 65.568 belegungsgebundene Mietwohnungen, im Jahr 2014 waren es nur noch 18.226 Sozialwohnungen. Aufgrund unterschiedlicher kultureller und nationaler Rahmungen sind die Städte als Kontrastfälle geeignet, die gemeinsame Sprache sichert die für qualitative Daten nötige Vergleichbarkeit.

In der bisherigen Forschung kann auch eine Tendenz festgestellt werden, entweder individuelle Aspekte, insbesondere auf Seiten wohnungsloser Menschen (Mikroebene), Maßnahmen einzelner Institutionen (Mesoebene) oder strukturelle Aspekte wie den Wohnungsmarkt (Makroebene) zu betrachten. Eine mehrere Ebenen integrierende, ganzheitliche Perspektive in einem Städtevergleich fehlt bislang. Darüber hinaus lässt sich aufgrund aktueller Entwicklungen und Zuspitzung der Wohnungsthematik, die das Feld Wohnungslosigkeit stark verändern, insgesamt ein großer Forschungsbedarf in dem Feld festhalten.

Die Soziologie liefert dabei die geeigneten Methoden für eine mehrdimensionale Analyse (Makro-Meso-Mikro) des Komplexes aus Wohnen, Wohnraumverlusten und Wohnungslosigkeit sowie die geeigneten theoretischen Konzepte, um die interdisziplinären Erkenntnisse zusammenzuführen und in praxistaugliche Ergebnisse zu transformieren. Durch eine Triangulation der Erhebungsverfahren, d. h. durch die Betrachtung eines Forschungsgegenstandes mit verschiedenen Methoden (Flick 2015) kann die nötige Datenvielfalt erhoben werden. So zielen leitfadengestützte Expert*inneninterviews und Literarturrecherchen auf rechtliche, politische und institutionelle Rahmenbedingungen ab, Dokumentenanalysen und Diskursanalysen auf kulturelle Rahmen und die mikrosoziologischen Erhebungsverfahren, wie leitfadengestützte und biografische Interviews sowie teilnehmende Beobachtungen, auf Praxis und Deutungen (Kaufmann 2015; Girtler 2001; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014). Die kritische und die wissenssoziologische Diskursanalyse (Keller 2008; Jäger 2009) halten das notwendige Instrumentarium bereit, vielfältig erhobenes Material (Dokumente, Interviews, Beobachtungen, diskursanalytisches Material etc.) auszuwerten. Die interpretativen Auswertungsverfahren der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik und kodierende Verfahren der Grounded Theory eignen sich, um analytische Erkenntnisse in anwendbare Ergebnisse zu transformieren (Glaser und Strauss 2001; Soeffner 1979).

Für Praxis und Politik besitzt das Forschungsprojekt ein immenses Innovationspotenzial, da die Situationen von Betroffenen vor dem Hintergrund zu Grunde liegender Deutungsmuster und institutioneller sowie struktureller Rahmenbedingungen der beiden Städte Nürnberg und Wien untersucht werden und daher Aussagen über die Akzeptanz, Reichweite und Wirkungsweise wohnraumsichernder Instrumente möglich werden. Das Besondere besteht darin, dass Makrophänomene wie rechtliche, sozial- und wohnungspolitische, aber auch kulturelle Rahmenbedingungen, Mesophänomene, wie Beratung und Unterstützung gebende Institutionen und Mikrophänomene wie individuelle Deutungen Beteiligter oder Interaktionssituationen zusammen betrachtet werden. Diese erweiterte Perspektive ermöglicht es, sowohl die Grenzen der Regulierungsversuche und einen etwaigen Mangel an Angeboten feststellen zu können als auch darüber hinaus verstehen zu können, warum bestehende, funktionierende Angebote nicht genutzt werden oder um das gelingende oder misslingende Ineinandergreifen verschiedener wohnraumsichernder Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen nachzuvollziehen.