Einleitung

Die Nutzung digitaler Technologien schreitet in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens unaufhaltsam voran. Auch im Bereich von Gesundheit und Krankheit werden zunehmend Informations- und Kommunikationstechnologien eingesetzt. Diese Entwicklung ist nicht neu, gewinnt aber in den letzten Jahren an Dynamik. Dies liegt zum einen an der zunehmenden, inzwischen fast ubiquitären Verfügbarkeit digitaler Informationen und vor allem auch mobiler Endgeräte, verbunden mit weiter steigender Rechenleistung und Speicherkapazität. Zum anderen ist die Verfügbarkeit von Daten durch bessere Möglichkeiten digitaler Datenerfassung erheblich gestiegen. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten gewachsen, die massenhaft verfügbaren Daten auszuwerten und für eine algorithmenbasierte Entscheidungsunterstützung zu nutzen. Großes Potenzial wird hier insbesondere den selbstlernenden Computersystemen zugeschrieben („machine learning“), die selbstständig und fortlaufend große Datenmengen auswerten und Algorithmen zur Entscheidungsunterstützung entwickeln [1]. Auch die ethischen Implikationen der Digitalisierung im Bereich von Gesundheit und Krankheit werden zunehmend diskutiert. Neben den traditionellen Fragen des Datenschutzes werden insbesondere auch Auswirkungen auf die Patientenautonomie und die Arzt-Patient-Beziehung diskutiert. Bei algorithmenbasierter Entscheidungsunterstützung und der Nutzung von Anwendungen sog. künstlicher Intelligenz (KI) werden zudem Fragen der Verantwortungszuschreibung, der Auswirkungen auf das ärztliche Selbstverständnis und der Validität der Wissensbasis diskutiert.

Die ethischen Implikationen digitaler Interventionen im Bereich von Public Health (Digital Public Health) sind bislang hingegen nur ansatzweise untersucht worden, obgleich sich auch im Public-Health-Bereich erhebliche Veränderungen durch digitale Technologien abzeichnen (zur Übersicht vgl. [2]). Beispielhaft erwähnt seien digitale Anwendungen zur Surveillance von Erkrankungen und der Gesundheit der Bevölkerung [3], internetbasierte Maßnahmen zur Verbesserung gesundheitsbezogenen Verhaltens vor allem hinsichtlich körperlicher Aktivität und Ernährung [4], digitale Interventionen zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen [5], digitale Technologien zur Erhöhung von Impfraten [6], digitale Interventionen zur Förderung der Gesundheit am Arbeitsplatz [7] oder der Einsatz von Big Data sowie Informations- und Kommunikationstechnologien im Katastrophenmanagement [8].

Der vorliegende Beitrag möchte deshalb aufzeigen, welche ethischen Fragen durch die zunehmende Digitalisierung im Public-Health-Bereich aufgeworfen werden und wie diese in einer strukturierten, gut begründeten Art und Weise bearbeitet werden können. Zunächst diskutiert der Beitrag allgemeinere ethische Fragen, die sich aus der zunehmenden Digitalisierung im Public-Health-Bereich ergeben. Anschließend wird ein methodisches Vorgehen präsentiert, wie die sehr unterschiedlichen Anwendungen von Digital Public Health in einer strukturierten Art und Weise hinsichtlich ethischer Implikationen analysiert werden können.

Die ethischen Fragen überschneiden sich dabei teilweise mit solchen, die durch die Digitalisierung in der individuellen Gesundheitsversorgung, die häufig mit E‑Health bezeichnet wird, aufgeworfen werden. Dies liegt u. a. daran, dass die gleichen technologischen Anwendungen, wie z. B. Gesundheits-Apps, auf individueller Ebene und auf Ebene von Bevölkerungen angewendet werden können. Dass sich dabei dann auch die ethischen Implikationen überschneiden, überrascht wenig, da beispielsweise Fragen von Datenschutz und Datensicherheit, der Qualität der zugrunde liegenden Evidenz oder der Auswirkungen auf die Autonomie des Nutzers sowohl bei der individuellen als auch bei der populationsbezogenen Anwendung zu diskutieren sind. Der vorliegende Beitrag thematisiert folglich ethische Implikationen digitaler Gesundheitstechnologien, die für beide Anwendungsbereiche relevant sind, fokussiert dabei aber vor allem solche Fragen, die bei der populationsbezogenen Anwendung digitaler Technologien in besonderer Weise aufgeworfen werden.

Ethische Implikationen von Digital Public Health

Ambivalenz technologischer Innovationen

Technologische Innovationen zeichnen sich häufig durch eine charakteristische Ambivalenz der versursachten Folgen aus. Neben den intendierten positiven Effekten weisen viele Technologien auch unerwünschte Nebeneffekte auf, die nicht aus einer fehlerhaften oder gar missbräuchlichen Anwendung resultieren, sondern auch bei einem sachgemäßen Einsatz auftreten. Dies trifft auch auf digitale Technologien im Gesundheitsbereich zu. Den erwarteten positiven Effekten für die Prävention und Behandlung von Erkrankungen durch die bessere Verfügbarkeit, Speicherung und Auswertung gesundheitsbezogener Daten stehen beispielsweise unvermeidlich gesteigerte Risiken für den Schutz und die Sicherheit sensibler personenbezogener Daten gegenüber. Bei digitalen Interventionen zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen stehen beispielsweise den verringerten Risikofaktoren und verbesserten Outcomes gesteigerte Möglichkeiten einer zunehmenden Überwachung des Einzelnen gegenüber. Viele Public-Health-Programme können durch die erweiterten Möglichkeiten der automatisierten Erfassung und Verarbeitung großer Datenmengen verbessert werden, auf der anderen Seite steigen damit aber auch die Möglichkeiten der Kontrolle gesundheitsbezogenen Verhaltens in der Bevölkerung [9].

In solchen Fällen gehört es zu den Aufgaben einer Technikbewertung bzw. Technikethik, die ethischen Spannungsverhältnisse herauszuarbeiten und Hinweise für die Abwägung der ambivalenten Technikfolgen zu geben. Ein vollständiger Verzicht auf eine ambivalente Technologie ist aufgrund der damit verbundenen Opportunitätskosten, d. h. der ungenutzten Potenziale, meist nicht die beste Lösung. Eine Aufgabe der ethischen Technikbewertung sollte deshalb auch darin liegen, möglichst konkrete Handlungsempfehlungen zu entwickeln, wie die möglichen Risiken durch eine entsprechende Gestaltung der Technologie und ihrer Anwendungen minimiert bzw. auf ein akzeptables Niveau reduziert werden können, bei gleichzeitig erhaltenem positiven Potenzial (vgl. Abschnitt zum methodischen Vorgehen).

Unternehmen als Innovationstreiber

Digitale Innovationen im Bereich von Gesundheit und Krankheit werden nicht nur von Firmen im Gesundheitssektor, wie z. B. etablierten Medizintechnikunternehmen, entwickelt, sondern auch von global agierenden Unternehmen wie Google, Amazon, Facebook, Apple oder Microsoft („GAFAM“; [10]). Diese Unternehmen operieren größtenteils jenseits der regulativen Strukturen nationaler Gesundheitssysteme und richten sich in der Regel direkt an den Endverbraucher, ohne dass dieser zuvor Kontakt zu Gesundheitspersonal hatte. Auch diese Entwicklung ist ambivalent: Auf der einen Seite erlaubt sie einen niederschwelligen Zugang zu gesundheitsbezogenen Informationen, was die Gesundheitskompetenz von Gesunden und Patienten fördern kann. Auf der anderen Seite wird bei vielen Angeboten die Qualität der Informationen nicht kontrolliert, zudem kann eine unsachgemäße Interpretation und Nutzung der Informationen Risiken für die Nutzer beinhalten. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die großen Unternehmen vor allem daran interessiert sind, neue Märkte zu erschließen und den Umsatz ihrer Produkte zu vergrößern, anstatt sich bei ihren Produktentwicklungen prioritär an Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung – und damit an Public-Health-Zielen – zu orientieren. Nicht zuletzt haben sie ein erhebliches strategisches Interesse daran, die oft automatisch erhobenen Massendaten für ihre eigenen unternehmerischen Ziele zu nutzen. Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, inwieweit die von den GAFAM-Unternehmen angebotenen Applikationen (Apps) und Gesundheitsinformationen auch einer entsprechenden Regulierung unterzogen werden müssten.

Zielorientierung von Digital Public Health

Digitale Technologien stellen – wie alle Technologien – ein Mittel dar, um bestimmte Ziele besser und/oder effizienter, d. h. mit weniger Aufwand, zu erreichen. Welches Potenzial Digital Public Health für die Gesundheit der Bevölkerung bietet, wird deshalb wesentlich davon abhängen, für welche Ziele und Zwecke die neuen technologischen Möglichkeiten entwickelt und genutzt werden. Technologische Entwicklungen haben generell die Tendenz, eine gewisse Eigendynamik zu entwickeln, sodass nicht mehr die angestrebten Ziele im Vordergrund sehen, sondern die Technologie um ihrer selbst willen eingesetzt wird. Die resultierende Zweck-Mittel-Vertauschung ist insbesondere dann relevant, wenn die Technologien von gewinnorientierten Unternehmen angeboten werden, deren primäres Interesse in dem Verkauf des Mittels (d. h. der Technologie) und nicht im Erreichen des Ziels (d. h. verbesserte Gesundheit der Bevölkerung) liegt. Angesichts des besonderes moralischen Status der Gesundheit als transzendentales Gut und Voraussetzung der Chancengleichheit [11] ist eine klare Zieldefinition bei digitalen Public-Health-Interventionen ethisch geboten: Sie sollten dazu beitragen, dass die Ziele von Public Health, d. h. die populationsbezogene Prävention von Erkrankungen und Förderung der Gesundheit, besser erreicht werden, unter besonderer Berücksichtigung von gesundheitlichen Ungleichheiten (vgl. [2]). Sofern Digital Public Health aus öffentlichen Ressourcen finanziert wird, bekommt die Bindung der Technologien an klar definierte Public-Health-Ziele eine zusätzliche allokationsethische Bedeutung.

Gerechtigkeitsethische Implikationen

Bei Public-Health-Maßnahmen stehen Fragen der gesundheitlichen Ungleichheit besonders im Vordergrund. Insofern sollten digitale Public-Health-Anwendungen dazu beitragen, gesundheitliche Ungleichheiten zu reduzieren. Hier sind aber zwei unterschiedliche Szenarien denkbar: Auf der einen Seite könnten digitale Angebote, die sich gezielt an Bevölkerungsgruppen richten, die bislang keinen (ausreichenden) Zugang zu Gesundheitsinformationen sowie Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung haben, deren Gesundheitskompetenz (Health Literacy) stärken und gesundheitliche Ungleichheiten reduzieren. Dies setzt allerdings voraus, dass die entsprechenden Informations- und Kommunikationstechnologien verfügbar sind und dass die Bevölkerungsgruppen eine ausreichende Kompetenz zur Nutzung digitaler Gesundheitsangebote haben [12, 13]. Auf der anderen Seite kann eine Digital Public Health auch bestehende soziale Ungleichheiten verstärken, da digitale Versorgungsangebote von Menschen mit niedrigem sozialen Status weniger in Anspruch genommen werden, was unter der Bezeichnung „digitale Kluft“ (Digital Divide) diskutiert wird [13]: Digitale Gesundheitsangebote werden vermehrt von jüngeren Menschen sowie von Menschen mit besserer Bildung und höherem Einkommen in Anspruch genommen [13]. Aus gerechtigkeitsethischer Perspektive ist deshalb darauf zu achten, dass digitale Angebote der Gesundheitsförderung und Prävention idealerweise auf die individuellen Voraussetzungen hinsichtlich ihrer Gesundheitschancen benachteiligter Bevölkerungsgruppen abgestimmt sind, sodass gesundheitliche Ungleichheiten nicht vergrößert, sondern idealerweise reduziert werden. Bei fehlerhaften oder irreführenden digitalen Angeboten kann auch der gegenteilige Effekt resultieren, dass Personen mit einem besseren Zugang Nachteile haben.

Schutz der Privatsphäre und Datenschutz

Durch die automatisierte Datenerfassung, gesteigerte Rechenleistung, große Speicherkapazitäten und schnelle Netzwerke können sehr große Datenmengen effizient erfasst, gespeichert und weiterverarbeitet werden (Big Data). Den Potenzialen, insbesondere auch für Public-Health-Programme z. B. durch eine verbesserte Krankheits-Surveillance, stehen aber Risiken für die Privatsphäre und den Datenschutz gegenüber. Diese wachsen mit der Menge der verfügbaren Daten, da die Verknüpfung verschiedener Daten die Reidentifizierung der Person, von der die Daten stammen, erleichtert. Sensible Gesundheitsdaten haben dabei eine wesentliche Bedeutung für den verfassungsrechtlich garantierten Schutz der Privatsphäre. Auf der anderen Seite kann der Einzelne von der besseren Verfügbarkeit gesundheitlicher Daten profitieren, sodass eine Abwägung zwischen den Vorteilen durch die Datennutzung und dem Schutz der Privatsphäre erforderlich wird. Diese ist bei Public-Health-Maßnahmen besonders heikel, da z. B. bei populationsbezogenen Präventions- oder Früherkennungsmaßnahmen Gesundheitsdaten sehr vieler Menschen erfasst werden müssen, um wenigen Menschen durch die Vermeidung oder frühzeitige Erkennung und Behandlung einer Erkrankung helfen zu können.

Mit der Datensouveränität hat der Deutsche Ethikrat ein Konzept verantwortlicher informationeller Freiheitsgestaltung vorgeschlagen, bei dem der Einzelne selbstbestimmt und verantwortlich („souverän“) mit seinen personenbezogenen Daten umgeht. Dies soll es dem Einzelnen ermöglichen, seine eigene Privatsphäre ausreichend zu schützen. Gleichzeitig sollen die Potenziale von Big Data sowohl für die eigene Lebensgestaltung als auch für die Gesellschaft realisiert werden [14]. Damit soll eine Balance ermöglicht werden zwischen dem Schutz der Persönlichkeitsrechte des Einzelnen und dem potenziellen Nutzen von Big Data für die Versorgung von Patienten und die Entwicklung neuer diagnostischer und therapeutischer Ansätze. Insbesondere für den Bereich von Digital Public Health stellt sich aber die Frage, inwieweit der Einzelne tatsächlich noch souverän über die Verwendung seiner Daten entscheiden können wird. Es erscheint deshalb unverzichtbar, dass zusätzlich prozedurale und technische Maßnahmen zum Datenschutz ergriffen werden [15], sodass der Einzelne mit hinreichender Sicherheit darauf vertrauen kann, dass seine Daten nur zu den angestrebten Public-Health-Zielen verwendet werden und – so weit als möglich – vor unbefugtem und missbräuchlichem Zugriff geschützt sind. Angesichts des potenziellen Nutzens durch die breite Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten wird diskutiert, ob es nicht eine Verpflichtung des Einzelnen zur Datenspende gäbe.

Ethische Bewertung digitaler Interventionen in Public Health

Angesichts der Tatsache, dass sehr unterschiedliche digitale Technologien für unterschiedliche Public-Health-Ziele in unterschiedlichen Kontexten zum Einsatz kommen, müssen Digital-Public-Health-Interventionen jeweils für sich einer ethischen Bewertung unterzogen werden. Ein systematisches Vorgehen erfordert dabei zwei methodische Bausteine: Zunächst müssen die normativen Bewertungsmaßstäbe bestimmt und begründet werden (normatives Rahmengerüst). Dann ist ein klar definiertes methodisches Vorgehen erforderlich, um die jeweilige Digital-Public-Health-Intervention schrittweise auf Grundlage der normativen Kriterien zu bewerten. Beide Elemente sollen die Qualität der ethischen Bewertung sicherstellen.

Normative Kriterien für die Bewertung digitaler Public-Health-Interventionen

Für die Gewinnung und Begründung normativer Bewertungsmaßstäbe hat sich in der praktischen Ethik das kohärentistische Begründungsverfahren bewährt [16]. Der Kohärentismus beruft sich nicht – wie die klassischen ethischen Theorien – auf ein einziges, letztgültiges Moralprinzip, sondern knüpft an die in einer bestimmten Gemeinschaft weithin zustimmungsfähigen moralischen Überzeugungen an und entwickelt daraus ein kohärentes normatives Rahmengerüst. Zentrale Bestandteile sind ethische Prinzipien einer mittleren Begründungsebene, die als Grundlage für die Bewertung konkreter Handlungsoptionen dienen. So finden beispielsweise die Prinzipien des Wohltuns, des Nichtschadens, der Achtung der Autonomie und der Gerechtigkeit für die Medizin international Anerkennung und Anwendung [17]. Für einen bestimmten Anwendungsbereich müssen diese Prinzipien weiter konkretisiert und ergänzt werden. Für die ethische Bewertung von digitalen Public-Health-Interventionen kann auf ein bereits bestehendes normatives Rahmengerüst für die Public-Health-Ethik zurückgegriffen werden [18], das durch normative Kriterien für E‑Health-Anwendungen zu ergänzen ist [19]. Tab. 1 zeigt die resultierenden normativen Kriterien im Überblick, jeweils mit ihrer ethischen Rechtfertigung. Das Rahmengerüst verdeutlicht die normativen Überschneidungen der verschiedenen Bereichsethiken, hier insbesondere der Public-Health-Ethik und der Technikethik.

Tab. 1 Ethische Kriterien zur Beurteilung von Digital-Public-Health-Interventionen. (Basierend auf [18, 19])

Eine ethische Bewertung digitaler Public-Health-Interventionen muss mit einer Prüfung der Funktionsfähigkeit beginnen. Diese setzt eine klare Definition der Zielsetzung voraus, sodass anschließend geprüft werden kann, in welchem Ausmaß sich die angestrebten Ziele auch tatsächlich erreichen lassen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Qualität der zugrunde liegenden Daten und Informationen [20]. Zudem sollten die Ziele – im Sinne technischer Effizienz – mit möglichst geringem technischen Aufwand erreicht werden. Dabei ist es wichtig zu prüfen, welche Alternativen es gibt, die angestrebten Public-Health-Ziele zu erreichen, und ob diese Alternativen möglicherweise Vorteile im Hinblick auf die im Folgenden zu prüfenden ethischen Kriterien bieten.

Über eine gute Wirksamkeit hinaus, müssen digitale Public-Health-Interventionen auch einen Nutzen für die Zielpopulation haben, d. h. zu einer Verringerung von Morbidität und Mortalität oder zu einer Verbesserung der Lebensqualität führen. Der Nutzen sollte idealerweise in methodisch hochwertigen Studien nachgewiesen sein. Bislang gibt es vergleichsweise wenige gute Studien, die den erhofften Nutzen digitaler Public-Health-Interventionen belegen [21, 22]. Als Schadenspotenziale sind zum einen Risiken durch eine fehlerhafte Bedienung oder Funktion der digitalen Technologien zu berücksichtigen, zum anderen Belastungen und gesundheitliche Risiken durch die digital unterstützte Public-Health-Maßnahme.

Mit Blick auf Selbstbestimmung ist zu prüfen, ob die digitale Public-Health-Intervention die Gesundheitskompetenz der Teilnehmer fördert. Voraussetzung dafür ist eine ausreichende Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien und Technologien, sodass Digital-Public-Health-Interventionen ggf. mit entsprechenden Maßnahmen zur Förderung der E‑Health Literacy zu kombinieren sind [23]. Wie bei allen Public-Health-Maßnahmen sollten die Teilnehmer auch bei Digital-Public-Health-Interventionen die Möglichkeit haben, eine informierte Entscheidung über die Teilnahme zu treffen. Insbesondere bei Früherkennungsmaßnahmen sollte nicht die hohe Teilnahmerate, sondern die Ermöglichung einer informierten Entscheidung als Erfolgsparameter dienen. Schließlich ist zu prüfen, welche Auswirkungen die digitale Public-Health-Intervention auf die Entscheidungsfreiheit der Teilnehmer hat. Hier dürfte häufig eine Abwägung zwischen der Wahrung der Entscheidungsautonomie und der Erreichung von Public-Health-Zielen erforderlich sein. Dies trifft insbesondere auch auf sogenannte Nudging-Ansätze zu, bei denen Verhaltensweisen von Menschen durch eine Gestaltung der Handlungsmöglichkeiten beeinflusst werden sollen. Diese Ansätze werden häufig durch digitale Technologien unterstützt [24, 25]. Aufgrund der möglichen Risiken für die Privatsphäre und zum Schutz vertraulicher Gesundheitsdaten ist bei digitalen Technologien zudem zu prüfen, ob die informationelle Selbstbestimmung der Teilnehmenden gewahrt ist. Sie sollten über den Umfang und die geplante Verwendung ihrer Daten informiert werden und anschließend ihr Einverständnis geben können. Zudem sollte ein ausreichender Datenschutz durch entsprechende prozedurale und technische Vorkehrungen gewährleistet sein [15].

Wie bereits weiter oben ausgeführt, spielen gerechtigkeitsethische Implikationen bei Public-Health-Maßnahmen generell, aber speziell auch im Bereich von Digital Public Health eine besondere Rolle. Ein allgemeiner Zugang zu der digital unterstützten Public-Health-Strategie ist zu gewährleisten, wobei insbesondere sozioökonomisch bedingte Zugangsbarrieren zu beachten sind. Die resultierenden Nutzen- und Schadenspotenziale sollten in der Zielpopulation fair verteilt sein. Anzustreben ist aus gerechtigkeitsethischer Sicht ein Beitrag zur Reduktion gesundheitlicher Ungleichheiten. Idealerweise richten sich die Digital-Public-Health-Interventionen gezielt an diejenigen Bevölkerungsgruppen, die aufgrund ihres sozioökonomischen Status in ihren Gesundheitschancen benachteiligt sind, wobei die dafür erforderlichen Voraussetzungen (z. B. ausreichende digitale Kompetenz, Zugang zu digitalen Technologien) zu gewährleisten sind.

Angesichts begrenzt verfügbarer Ressourcen für den Gesundheitsbereich sollte zudem die Effizienz von E‑Health-Anwendungen geprüft werden. Dabei sollte das inkrementelle Kosten-Nutzen-Verhältnis bestimmt werden, wobei auch nichttechnische Alternativen als Vergleich hinzugezogen werden sollten. Insbesondere bei automatisierten digitalen Anwendungen sind Fragen der Verantwortungszuschreibung vorab hinreichend zu klären. Dies gilt insbesondere für Anwendungen, bei denen große Datenmengen automatisch ausgewertet und direkt in entsprechende Handlungsempfehlungen übersetzt werden.

Da sich Public-Health-Maßnahmen allgemein auf die Lebensgestaltung und das Wohlergehen vieler Menschen auswirken, sollten die digitalen Anwendungen bei einer breiten, populationsbezogenen Anwendung durch eine hierzu entsprechend legitimierte Entscheidungsinstanz in einem fairen Entscheidungsprozess implementiert werden [18].

Zwischen den einzelnen Kriterien bestehen sowohl Instrumental- als auch Konkurrenzbeziehungen. So ist die Funktionsfähigkeit beispielsweise Voraussetzung für ein großes Nutzenpotenzial und ein möglichst kleines Schadenspotenzial. Auf der anderen Seite können die Kriterien Schadenspotenzial und Effizienz in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, da Maßnahmen zur Erhöhung der technischen Sicherheit (wie Evaluationsstudien, technische Vorkehrungen zur Verbesserung der Fehlertoleranz) häufig erhebliche Ressourcen erfordern und damit die Gesamteffizienz der digitalen Anwendungen reduzieren. Die hier aufgelisteten normativen Kriterien erfüllen zwei Aufgaben im Rahmen der ethischen Analyse: Zum einen dienen sie als „Suchmatrix“ für ethische Fragen, die mit dem Einsatz einer bestimmten Digital-Public-Health-Intervention verbunden sind. Zum anderen liefern sie die ethische Begründung der im Anschluss formulierten Empfehlungen für die Entwicklung und den Einsatz der Technologien.

Methodisches Vorgehen zur Bewertung von Digital Public Health

Die Anwendung der im vorangehenden Abschnitt vorgestellten normativen Kriterien sollte einem klar definierten methodischen Vorgehen folgen, um die Qualität der ethischen Bewertung zu sichern (zur Übersicht vgl. Tab. 2).

Tab. 2 Arbeitsschritte einer ethischen Bewertung von Digital-Public-Health-Interventionen [18, 19]

Die ethische Bewertung muss mit einer möglichst genauen Beschreibung der digitalen Public-Health-Intervention beginnen. Anschließend ist zu prüfen, ob für den vorliegenden Anwendungsbereich eine weitere Spezifizierung der Bewertungskriterien (vgl. Tab. 1) erforderlich ist. Im dritten Schritt erfolgt dann die Bewertung der Digital-Public-Health-Intervention auf Grundlage jedes einzelnen normativen Bewertungskriteriums (Einzelbewertung). In der Synthese müssen die einzelnen Bewertungen dann zu einer übergreifenden Beurteilung der digitalen Public-Health-Intervention zusammengeführt werden. Dabei ist eine normative Gewichtung der Einzelbewertungen erforderlich, im Konfliktfall eine begründete Abwägung und die Überprüfung auf alternative, ethisch weniger konfliktträchtige Lösungen. Ethisch begründete Empfehlungen für die Entwicklung und Anwendung der digitalen Technologien können dazu beitragen, dass die Nutzenpotenziale der Digital-Public-Health-Intervention optimal genutzt und Schadenspotenziale und Einschränkungen der Entscheidungsautonomie möglichst weit reduziert werden. Im Rahmen eines Monitorings der Nutzung der Intervention kann im weiteren Verlauf geprüft werden, inwieweit die ethische Bewertung noch zutrifft und ggf. Modifikationen der Empfehlungen erforderlich sind.

Fazit

Digitale Public-Health-Interventionen bieten durch die verbesserten Möglichkeiten der automatisierten Erfassung, Speicherung und Auswertung großer Datenmengen Potenziale für eine verbesserte Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention. Bei der Anwendung der digitalen Technologien sind aber einige ethische Implikationen zu berücksichtigen, die sich von der Frage der angemessenen Zielbestimmung über gerechtigkeitsethische Fragen und Fragen der gesundheitsbezogenen Selbstbestimmung bis hin zu Fragen des Datenschutzes erstrecken. Angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Zielsetzungen, digitaler Technologie und Anwendungsfelder [2] lassen sich die Digital-Public-Health-Interventionen kaum insgesamt ethisch bewerten. Erforderlich ist vielmehr eine Prüfung der einzelnen Anwendungen mit Blick auf ethisch relevante Implikationen. Hierfür wurden ein normatives Rahmengerüst und ein methodisches Vorgehen vorgestellt. Die ethische Bewertung kann und soll damit einen Beitrag zu einer ethisch vertretbaren Gestaltung von Digital-Public-Health-Interventionen leisten.