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Für das Forschungsfeld „Recht und Literatur“ ist die Rhetorik essentiell, bildet sie doch eine konstitutive Verbindung nicht nur von Recht und Literatur, sondern auch von Rechts- und Literaturwissenschaft. Die klassische Rhetorik, wie sie in Griechenland und Rom gelehrt wurde, kann in gewisser Weise als eine Mutterdisziplin von Rechts- und Literaturwissenschaft angesehen werden, denn sowohl das Recht als auch die Literatur sind sprachlich verfasst und auf sprachliche Wirkung ausgerichtet.Footnote 1 Nicht zufällig befasst sich die klassische Rhetorik mit drei Redegattungen: mit dem genus iudicale, d. h. der Rede vor Gericht, dem genus deliberativum, der politischen Beratungsrede, und dem genus demonstrativum, der Lobrede. Doch ist die Rhetorik in den im Sonderforschungsbereich 1385 „Recht und Literatur“Footnote 2 in Dialog gebrachten Disziplinen Rechts- und Literaturwissenschaft auf unterschiedliche Weise präsent.

In der Literaturwissenschaft, die sich immer auf die Rhetorik berufen hat, ist die Rhetorik ein wenig zum Instrumentenkasten der Textanalyse verkommen, insofern als sie sich meist auf die Figurenlehre beschränkt. Eine solche Reduktion der Rhetorik auf eine bloße „étude de la lexis poétique“ wurde von Gérard Genette als „rhétorique restreinte“ bezeichnet.Footnote 3 Jahrhundertelang war die Rhetorik als Teil des sog. trivium wesentlicher Bestandteil der Artes liberales und gehörte damit zum Studienprogramm der Bildungseliten. Doch verfiel sie in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des Geniekults und des Natürlichkeitsparadigmas dem Verdikt der ‚Unnatürlichkeit‘ und der auf Schein bedachten Verstellung. Im Zuge ihres disziplinären Niedergangs wanderte ihr Analyseinstrumentarium als eine Schwundstufe des Rhetorischen in die Ästhetik, Poetik und Stilistik ein.Footnote 4 Zu einer Wiederentdeckung der Rhetorik kam es in den 1950er und 60er-Jahren, als man aufs Neue und auf der Grundlage moderner kommunikations- und sprachanalytischer Ansätze ihre Bedeutung insbesondere für die Argumentation erkannte.Footnote 5 Auch im Zuge der poststrukturalistischen Wende kam es zur Wiederbelebung und zu einem neuen Verständnis der Rhetorik. Unter dem Stichwort der ‚Rhetorizität‘ betrachtete man das Rhetorische nicht länger als wirkungsvolle Einkleidung eines Redeinhalts und damit als bloße Hinzufügung zum Kern der Aussage, sondern als dessen unabdingbare Konstitutionsbedingung.Footnote 6

Dagegen führt die Rhetorik in der gegenwärtigen Rechtswissenschaft eher ein Schattendasein. Obwohl gerade die römische Rhetorik in erster Linie Rechtsrhetorik war,Footnote 7 wie nicht zuletzt die dominante Rolle, die in den klassischen Lehrschriften das genus iudicale übernimmt, belegt, spielt sie in der Ausbildung von Juristinnen und Juristen heute kaum mehr eine Rolle.Footnote 8 Im 19. Jahrhundert wurde die rhetorische Dimension des Rechts zwar noch diskutiert,Footnote 9 in der deutschen Rechtswissenschaft verlor sie indes zunehmend an Bedeutung, wohl weil sie vielfach im Sinn der platonischenFootnote 10 und Kant’schen Rhetorik-KritikFootnote 11 als trügerische Scheinkunst der Überredung und Verfälschung der Wahrheit aufgefasst wird: Von vielen Rechtswissenschaftler/innen wird die Rhetorik als Angriff auf die ‚klassische‘ juristische Methodenlehre verstanden, die sich in Anlehnung an ein (unterstelltes) naturwissenschaftliches Wissenschaftsideal logisch-analytischem Denken und dem Systemgedanken verpflichtet fühlt.Footnote 12 Die Rhetorik scheint damit letztlich auch die Gesetzesbindung der Rechtsprechung und die Rationalität der Rechtsordnung zu gefährden.Footnote 13 Zwar versucht sich seit den 1950er Jahren die rhetorische Rechtstheorie in der Rechtswissenschaft neu zu etablieren,Footnote 14 sie stellt jedoch eher eine juristische Außenseiterdisziplin dar.

Ist es die Ambiguität der Rhetorik, die sie dem rechtswissenschaftlichen Mainstream als suspekt erscheinen lässt, sieht die neuere literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung gerade in ihrer ‚Uneindeutigkeit‘ kritisches und kreatives Potential, ohne dass dies bedeutet, der Willkürlichkeit Tür und Tor zu öffnen. Rhetorik kann – je nach Kontext und in Abhängigkeit vom Einzelfall – der ‚Überzeugung‘Footnote 15 dienen, sie kann aber auch zur ‚Überredung‘ eingesetzt werden. Kaum bestreitbar ist freilich, dass es nichts Unrhetorisches gibt: Jede politische Äußerung, jede wissenschaftliche Abhandlung, jeder Gesetzestext, jeder literarische Text folgt einer eigenen, präzise beschreibbaren Rhetorik, die eben nicht ‚nur‘ Rhetorik ist, sondern die propositionalen Sachgehalte mit hervorbringt. Entsprechend betont auch Gert Ueding, dass „es kein Sprechen gibt, das sich rhetorischer Form oder Absicht entziehen könnte“.Footnote 16 Renate Lachmann u. a. beschreiben die Rhetorik treffend als eine „Persuasivkraft“, „die den soziokulturellen Kommunikationsraum organisiert, die Verfahren zur diskursiven Kontrolle, zur dialogischen Interaktion und zum operativen Handeln bereitstellt und die als eine der Vorbedingungen für die Artikulation von Wissen und dessen verbaler Verwaltung fungiert“.Footnote 17

Nicht nur, dass Rechts- und Literaturwissenschaft unterschiedlichen Gebrauch von der Rhetorik machen und die Rhetorik sich selbst eher als Kunst der Überzeugung versteht, während ihre Kritiker in ihr eine Kunst der Überredung sehen,Footnote 18 auch in der rhetorikaffinen Literaturwissenschaft wurden und werden unterschiedliche Auffassungen von Rhetorik vertreten. Während etwa die Barockforschung sich stark an der antiken Rhetorik orientiert,Footnote 19 hat die poststrukturalistisch inspirierte Literaturforschung insbesondere die Tropen in den Blick genommen und die ‚Uneigentlichkeit‘ von Sinn und Bedeutung in der Literatur,Footnote 20 aber auch in Rechtstexten herausgestellt. Gerade das amerikanische law and literature movement mit seiner spezifischen Ausprägung der Auffassung von law as literatureFootnote 21 hat einen besonderen Fokus auf die rhetorische Dimension von Texten gelegt. Aber was meint das genau: rhetorische Dimension? Ist die Rhetorik etwas, das einem Text hinzugefügt wird, oder ist es ratsam, einen Text als solchen, d. h. in seiner sprachlichen Verfasstheit als rhetorisch zu adressieren?

Ein Beispiel dafür, wie im Dialog der Disziplinen neue Facetten des Rhetorischen zu Tage treten, bietet das Teilprojekt C01 „Rhetoriken. Begründung und Geltung in Recht und Literatur“ des Münsteraner Sonderforschungsbereichs „Recht und Literatur“. Auch wenn mehrere Teilprojekte des SFB Bezug auf die Rhetorik nehmen, setzt sich dieses Projekt doch als einziges systematisch und grundlegend mit der rhetorischen Dimension von Rechts- und Literaturwissenschaft auseinander. Literatur(wissenschaft) und Recht(swissenschaft) sind im Teilprojekt C01 spiegelbildlich aufeinander bezogen und lernen voneinander. Dabei nimmt das Teilprojekt vor allem die Funktion von Begründungen für die Geltungsfrage in den Blick: Muss das Recht seine Bestimmtheit und Rationalität behaupten, um seine Geltung zu verteidigen und damit seine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen, sind anspruchsvolle literarische Texte von vornherein nicht bestimmt und beziehen ihre Geltung gerade nicht aus ihrem Rationalitätsanspruch, sondern aus ihrer Deutungsoffenheit, die immer wieder neue Interpretationen ermöglicht und auch erfordert.Footnote 22 Freilich muss der Interpret seine Lesart ebenso begründen wie die Juristin ihre Entscheidung oder ihre Auslegung eines Gesetzestexts. So verweisen die Kategorien ‚Begründung‘ und ‚Geltung‘ einerseits auf wesentliche Unterschiede von Recht und Literatur, eröffnen andererseits aber auch den Blick auf konstitutive gemeinsame Grundstrukturen beider Disziplinen, insbesondere auf die disziplinären Akte der Begründung in ihrer je spezifischen rhetorischen Verfasstheit und Evidenzstruktur. Eine zentrale These lautet dabei, dass die Rhetorik die Rationalität und Bestimmtheit des Rechts nicht gefährdet, sondern sie im positiven Sinn allererst ermöglicht. So rückt eine für die juristische Perspektive ungewöhnliche, aber äußerst fruchtbare rhetorische Lesart rechtlicher Begründung in den Vordergrund.Footnote 23 Auf der anderen Seite hat das Teilprojekt den Begriff der ‚Geltung‘, einen in der Literaturwissenschaft bislang nur vereinzelt aufgegriffenen Zentralbegriff der Rechtstheorie, literaturwissenschaftlich konzeptualisiert. So konnte es einen Beitrag zu der Frage liefern, wie, d. h. mittels welcher rhetorischen Verfahrensweisen, die ‚Geltung‘ von literarischen Texten und literaturwissenschaftlicher Deutungen hergestellt wird bzw. wie literarische Geltung begründet wird.

1 Begründung

Das Teilprojekt fokussiert also den interdisziplinären Dialog zwischen Rechts- und Literaturwissenschaft über die Rhetorik des Begründens, weil es davon ausgeht, dass überzeugende Begründungen nicht nur eine Sache von Logik und Dialektik sind, sondern auch eine rhetorische Dimension haben. Hier spielen natürlich die Enthymeme und Topoi, mit denen sich Aristoteles in seiner Rhetorik sowie in der Topik grundlegend auseinandersetzt, eine wichtige Rolle. Für die Literaturwissenschaft liegt hierin der Anlass, nicht nur, wie es im Fach üblich ist, auf die rhetorischen Figuren zu achten, sondern auch die Argumentation verstärkt in den Blick zu nehmen. In diesem Zusammenhang wurde die Poetik des 18. Jahrhunderts, die man als eine Vorläuferin der modernen Literaturwissenschaft betrachten kann, aus einer dezidiert rhetorischen Perspektive und in kritischer Aufmerksamkeit auf die in Anspruch genommenen Semantiken des Rechts betrachtet.Footnote 24 Vor dem Hintergrund von Rudolf von Jherings Schrift Der Kampf ums Recht von 1872, die besagt, dass das Recht aus dem Streit heraus entstanden und daher konstitutiv auf den Streit bezogen ist, richtete sich das Augenmerk darauf, dass die Poetik des 18. Jahrhunderts ebenfalls in eine übergreifende Streitlandschaft eingelassen ist, die sog. Querelle des Anciens et des Modernes, in der darüber gestritten wurde, ob die Literatur der alten Autoren, d. h. der Antike, wertvoller sei als die Literatur der neuen Dichter oder ob es sich andersherum verhält. Der deutsch-schweizerische Literaturstreit zwischen Johann Christoph Gottsched (1700–1766) auf der einen Seite und Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) auf der anderen Seite fügt sich in dieses Streitszenario. Im Streit werden bekanntlich die rhetorischen Waffen geschliffen. Dass es um tragfähige Begründungen gehen muss, machen beide Seiten geltend. Und beide berufen sich auf die Qualität ihrer Gründe. Gottsched findet sie neben der Vernunft bei der Autorität der Alten. So stellt er seinem Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) seine eigene Übersetzung von Horaz‘ (65–8 v. Chr.) Ars poetica voraus. Damit nimmt er die Autorität des angesehenen römischen Dichters sogleich für sich in Anspruch und macht deutlich, auf wessen Seite er steht. Horaz steht durch diesen geschickten Schachzug gewissermaßen auch auf seiner, Gottscheds, Seite, denn dieser lässt ihn ja für sich sprechen:

Ich habe es für dienlich erachtet, an statt einer Einleitung zu meiner deutschen Poesie, das treffliche Gedichte des Horaz zu übersetzen, worinnen dieser große Kenner und Meister der Poesie von der Dichtkunst gehandelt hat: ohngeachtet es eigentlich nur in Form eines Schreibens an ein vornehmes Geschlecht der Pisonen abgefasset ist.Footnote 25

Bodmer und Breitinger berufen sich eher auf die Natur des Menschen. An den guten Gründen hängt die Geltung der jeweils vertretenen Position. Dass Breitinger seine zehn Jahre nach Gottscheds Critischer Dichtkunst, 1740, erschienene Poetik-Schrift gleichfalls Critische Dichtkunst nannte, ist als rhetorischer Überbietungsgestus zu sehen, mit dem der Schweizer die Autorität Gottscheds attackierte.

Auch Gerichtsverfahren und -entscheidungen lassen sich rhetorisch als ‚Kampf ums Recht‘ lesen, der im Streit der Argumente ausgefochten wird. Das betrifft in einer wortlautnahen Lesart von Jherings Schrift natürlich in erster Linie die Prozessrhetorik der Beteiligten von Gerichtsverfahren. Gemeint ist damit die klassische Redesituation des genus iudicale, wo Kläger und Beklagte vor dem Gericht um ihr Recht streiten. Jherings Rechtskampf lässt sich aber auch in einem weiteren Sinn verstehen und auf sämtliche Handlungen und Sprechakte übertragen, die das Recht in einem immer fortschreitenden diskursiven Prozess überhaupt erst zur Entstehung bringen. Von den daran beteiligen Akteuren des Rechts nehmen Richter/innen eine herausragende Stellung ein, weil Gerichtsentscheidungen für das in der Praxis gelebte Recht von hoher Bedeutung sind. Das gilt auch deshalb, weil Gesetze als abstrakt-generelle Rechtsnormen häufig mit Begriffen objektiver Textur arbeiten, die in der Rechtspraxis auf Konkretisierung und Individualisierung angewiesen sind. Blickt man etwa auf Generalklauseln des Bürgerlichen Rechts, die Begriffe wie ‚Sittenwidrigkeit‘ oder ‚gute Sitten‘ enthalten, ist die Rechtsanwendung fundamental auf Gerichtsentscheidungen angewiesen, die diese Begriffe im Kontext der jeweiligen Einzelfälle operabel werden lassen. Über die ‚richtigen‘ oder ‚gerechten‘ Konkretisierungen im Einzelfall besteht aber häufig Streit – auch und gerade unter Richter/innen. Für die rhetorische Perspektive auf den ‚Kampf ums Recht‘ bieten vor diesem Hintergrund Auslegungskontroversen von Gerichten reichen Ertrag, Kontroversen, bei denen Gerichte unter Bezugnahme auf Entscheidungen anderer Gerichte in einen inter-gerichtlichen Dialog treten. Dabei setzen sie – ganz ähnlich wie Gottsched, Bodmer und Breitinger – strategisch rhetorische Mittel ein, um das Publikum – sei es die Rechtsgemeinschaft im Ganzen oder eine (Teil-)Gemeinschaft der Akteure des Rechts – von der Plausibilität der eigenen Lösung zu überzeugen. Ein für die rhetorische Perspektive aufschlussreiches Beispiel bietet die Entscheidung des Amtsgerichts Siegburg vom 11.5.2007. Sie kreist um die Auslegung der § 138 Abs. 1 und § 817 des Bürgerlichen Gesetzbuches,Footnote 26 zweier bürgerlich-rechtlicher Generalklauseln, die sich in besonderer Weise durch die oben skizzierte offene Textur auszeichnen und in hohem Maße konkretisierungsbedürftig sind. Das Amtsgericht Siegburg hatte über die Rückforderung von Einzahlungen in sogenannte „Schenkkreise“ zu entscheiden. Bei solchen Schenkkreisen geben, mit unterschiedlichen Ausgestaltungen im Detail, neu angeworbene Teilnehmer/innen Geldbeträge als vermeintliche Schenkung an die schon im „Schenkkreis“ befindlichen Empfänger/innen. Danach scheidet der Empfängerkreis aus dem Schenkkreis aus und die Schenker werden zu Empfänger/innen und müssen sich ihrerseits um neue „Schenker“ bemühen. In solchen Systemen gewinnen nur die ersten Teilnehmer/innen, während früher oder später die später dazukommenden Teilnehmer/innen verlieren, weil keine neuen Teilnehmer/innen mehr gewonnen werden können.Footnote 27 Im Fall des Amtsgerichts Siegburg hatte die Klägerin als „Schenkerin“ der Beklagten bei einer solchen Schenkkreisveranstaltung Geld in einem Umschlag übergeben. Dieses Geld verlangte sie von der Beklagten zurück. Allgemein anerkannt ist, dass die im Kontext des „Schenkkreises“ getätigten Rechtsgeschäfte sittenwidrig im Sinne des § 138 Abs. 1 sind.Footnote 28 Kann jedoch eine „Schenkerin“ die übergebene „Schenkung“ auch zurückfordern? Nach dem ersten Satz des § 817 S. 1 scheint ein Rückforderungsanspruch zu bestehen, hat doch die Empfängerin durch die Annahme gegen die guten Sitten verstoßen. Doch § 817 S. 2 BGB schließt den Anspruch aus, wenn man annimmt, dass die Schenkerin ihrerseits sittenwidrig gehandelt hat. Der BGH hat § 817 S. 2 BGB einschränkend ausgelegt. Denn der Rückforderungsausschluss würde, so der BGH, die Beschenkten „zum Weitermachen geradezu einladen, wenn sie die mit sittenwidrigen Methoden erlangten Gelder – ungeachtet der Nichtigkeit der das ‚Spiel‘ tragenden Abreden – behalten dürften“.Footnote 29 Das Amtsgericht Siegburg wandte sich gegen diese von Pathos („geradezu einladen“) und von teleologischen Erwägungen getragene Argumentation. Dabei beruft es sich einerseits eindringlich auf die Autorität des Gesetzes als Wille des Gesetzgebers. Das von der Schenkerin eingegangene Risiko müsse sie „nach dem in § 817 S. 2 BGB zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers“ selbst tragen. Auch bemüht es seinerseits das Pathos, wenn es ausführt: „Wer selber (sehenden Auges und in dem Bewusstsein des entsprechenden Risikos) in dem Bereich dubioser Geschäfte agiert und sich hieran beteiligt, soll dies mit vollem eigenem Risiko tun und sich nicht mit der Begründung eben dieser Sittenwidrigkeit anschließend selber schadlos halten können.“ Besonders provokant ist freilich der Vorwurf, der BGH betreibe „mit seiner Rechtsprechung zur Schenkkreisproblematik nicht Rechtsanwendung, sondern (sogar erklärtermaßen) Rechtspolitik, wobei ihm dies als rechtsanwendender Instanz indessen nicht zusteht, und zwar auch nicht unter dem Aspekt höchstrichterlicher Rechtsfortbildung“.Footnote 30 Dabei stellt es einerseits das Berufsethos des Richters als ‚bouche de la loi‘ (Montesquieu) in den Raum und greift mit der antithetischen Differenzierung von Rechtsanwendung und Rechtspolitik das Ethos des Bundesgerichtshofs an. Der BGH griff kurz darauf in einer weiteren EntscheidungFootnote 31 die Kritik des Amtsgerichts auf und wies sie mit eher knapper und kühler Rhetorik zurück. Dabei verwendet er gleich eingangs ein argumentum ab auctoritate, indem er sich mit ausführlichen Zitierungen auf die Zustimmung beruft, die seine vom Amtsgericht Siegburg kritisierte Rechtsprechung gefunden hat.Footnote 32 Die Kritik des Amtsgerichts wird dagegen eher als singulär dargestellt, die Entscheidung sei „bei manchen Amtsgerichten auf Widerspruch gestoßen (z. B. AG Siegburg)“. Er sehe „keine Veranlassung, von seiner Rechtsprechung abzugehen“. Noch öffentlichkeitswirksamer als die Kontroverse zwischen dem AG Siegburg und dem BGH sind freilich Kontroversen im „europäischen Verfassungsgerichtsverbund“,Footnote 33 also im Netzwerk nationaler und europäischer Höchst-/Verfassungsgerichte, innerhalb derer manchmal mit recht scharfer Rhetorik agiert wird. Man denke nur an die aufsehenerregende Aussage des Bundesverfassungsgerichts, die Rechtsanwendung des Europäischen Gerichtshofs sei „methodisch nicht mehr vertretbar“ – ein Verdikt, das im Entscheidungstext mehrfach wiederholt wird.Footnote 34 Rhetorik muss sich aber nicht nur in diesen offenkundigen Beispielen vollziehen. Vielmehr lassen sich rhetorische Strukturen auch in ganz gewöhnlichen Entscheidungsbegründungen mit weniger intensiv umkämpften Auslegungskontroversen beobachten.Footnote 35 Durch die rhetorische Analyse gerichtlicher Entscheidungen wird deutlich, dass rechtliche Inhalte nicht schon jenseits ihrer Konkretisierung und Individualisierung im Einzelfall feststehen, sondern vielmehr in einem immer fortschreitenden Prozess hervorgebracht werden, in denen der rhetorisch geprägte ‚Kampf ums Recht‘ eine zentrale Rolle einnimmt.

2 Geltung

‚Geltung‘ ist der zweite zentrale Begriff im Titel des genannten Projekts, der im interdisziplinären Gespräch kritisch befragt wird. In der Rechtswissenschaft ist ‚Geltung‘ ein etablierter Begriff. Joachim Hruschka zufolge ist der Geltungsbegriff für jeden Rechtstext existentiell: Ohne den Begriff der ‚Geltung‘, so Hruschka, d. h. ohne einen Geltungsanspruch können Rechtstexte gar nicht als Rechts-Texte verstanden werden.Footnote 36 Daraus erklärt sich auch, dass im juristischen Diskurs meist gar nicht expliziert werden muss, was geltendes Recht ist. In gewisser Weise ist das allen klar. Freilich ist der Begriff der ‚Geltung‘ in den Rechtswissenschaften äußerst facettenreich. Er reicht von eher technischen Fragen über den Erlass von RechtsnormenFootnote 37 über die Frage nach der Rechtsnatur und Verbindlichkeit außergesetzlicher RechtsprinzipienFootnote 38 bis hin zu der Frage, wie sich die Verbindlichkeit des Rechts erklären und legitimieren lässt. In diesem letztgenannten Sinn bildet die Geltungsfrage José Llompart zufolge sogar „das Kernproblem der Theorie und Philosophie des Rechts überhaupt“.Footnote 39 Für die rhetorische Analyse des Rechts ist der Zusammenhang von Rechtsgeltung und Anerkennung besonders ertragreich: Recht lässt sich in einer pragmatischen Perspektive als diskursiver Prozess erklären, der von einem „Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen“ geprägt und auf wechselseitige Anerkennung ausgerichtet ist.Footnote 40 Dabei kommt es natürlich vor allem auf die Plausibilität der jeweiligen Gründe an – was unmittelbar in die Rhetorizität des Rechts führt. Walter Grasnick weist völlig zu Recht darauf hin, dass das juristische Ideal der „Plausibilität […] auch eine Frage des Stils“ –Footnote 41 und damit auf Rechtsrhetorik angewiesen ist. Bekanntlich hat sich die Stilistik aus der Rhetorik entwickelt, die in ihren klassischen Lehrschriften die maßgeblichen Stilkategorien (latinitas [‚sprachliche Richtigkeit‘], perspicuitas [‚Klarheit‘], ornatus [‚Redeschmuck‘], aptum [‚Angemessenheit‘]) formuliert.Footnote 42

Für die rhetorische Analyse ist die Etymologie des Worts ‚Geltung‘ aufschlussreich.Footnote 43 Ursprünglich bezeichnet ‚gelten‘ eine schuldige Leistung, insbesondere eine Gegenleistung oder eine Schadensersatzleistung. Zu denken ist etwa an das bayerische „Vergelt’s Gott!“ als Ausdruck des Dankes, der diese Bedeutung bewahrt: Gott wird oder soll das, wofür man dankt, im Jenseits entlohnen. Spätestens im 19. Jahrhundert drückte das Wort ‚gelten‘ etwas Werthaltiges aus, ohne dass der Wert aus einer Relation zu einem Gegenstück beurteilt werden müsste. ‚Gelten‘ wird also zu ‚wert sein‘ oder ‚wert haben‘, so Rudolf Hildebrand im Grimm’schen Wörterbuch.Footnote 44 Ein enger Zusammenhang besteht auch mit dem Wort ‚Anerkennung‘, mit dem die jeweilige Werthaltigkeit zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Sinne lässt Goethe im Faust II Mephistopheles von Geltung sprechen: „Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr,/ Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht,/ Was ihr nicht münzt, das, meint ihr, gelte nicht“.Footnote 45 Im Rechtspositivismus wurde der Begriff der Rechts-Geltung freilich von seiner Wertbezogenheit gelöst. Diese Entmaterialisierung lässt sich nirgends so klar ablesen wie an Kelsens Geltungslehre. Kelsen verwendet die Worte ‚Geltung‘ und ‚gelten‘ ganz bewusst wertneutral und bezeichnet damit nichts weiter als die „spezifische Existenz einer Norm“ –Footnote 46 völlig unabhängig vom konkreten Inhalt der Norm oder gar ihrem Gerechtigkeitsgehalt. Die Rechtsgeltung wird also lediglich von der ordnungsgemäßen Setzung innerhalb des Stufenbaus der Rechtsordnung abhängig gemacht. Zumindest in der deutschen Rechtsprechung hat sich der rechtspositivistische Geltungsbegriff jedoch nicht durchgesetzt, sondern voraussetzungsvollere Geltungskonzeptionen, die für die Geltung ein gewisses Mindestmaß an materieller, inhaltlicher Richtigkeit oder Gerechtigkeit verlangenFootnote 47 ein Widerhall der Wertbezogenheit, die das Wort ‚Geltung‘ ursprünglich in sich trug und auch in der heutigen Sprachpraxis noch mit sich trägt.Footnote 48

Um Geltung auch rhetorisch erforschen zu können, bietet es sich an, den Geltungsbegriff in Dimensionen aufzufächern. Das Teilprojekt schlägt die folgenden Dimensionen zur spezifischeren Bestimmung von ‚Geltung‘ vor: die Bezugnahme auf Tradition und Kanon, die Rolle von Urteil und Anerkennung sowie von Autorität und Akzeptanz. Der Rückgriff auf Vorhandenes und Anerkanntes bildet sowohl in der Rechts- als auch in der Literaturwissenschaft die Grundlage für Geltungsbegründungen. In rhetorischer Hinsicht spielen hier ‚imitatio‘ und ‚aemulatio‘ eine wichtige Rolle,Footnote 49 die in der Literatur bis zur Barockzeit ein maßgebliches poetologisches Prinzip darstellen und in der juristischen Argumentationslehre etwa in der Analogie gespiegelt sind. Besonders hilfreich in der Geltungsbegründung sind, das wissen bereits die antiken Rhetoriken, Paradigmatik und Exemplarität. In den Blick zu nehmen sind ebenfalls die (institutionellen) Akte von Setzung und Einsetzung; ihre Autorität beziehen sie zumeist aus geregelten Verfahren, oftmals auch über Rituale. Und schließlich spielt oft genug die Intuition eine Rolle,Footnote 50 vielleicht auch das Rechtsgefühl.Footnote 51 Im von Fall zu Fall variablen Zusammenspiel dieser Dimensionen, so lässt sich argumentieren, kommt Geltung zustande, die freilich in keiner einzelnen dieser Dimensionen aufgeht.

Im interdisziplinären Austausch zwischen Rechts- und Literaturwissenschaft liegt es nahe zu eruieren, ob und in welcher Weise sich die Kategorie der ‚Geltung‘ auch für die Literaturwissenschaft produktiv machen lässt. Dazu gibt es bislang in der Literaturwissenschaft nur wenige Ansätze, die vor allem die mittelalterliche Literatur und ihre sich an Religion und Recht anlehnenden Geltungsbegründungen betreffenFootnote 52 oder – literaturtheoretisch – die heikle Frage nach der Geltung von Interpretationen. Hier empfiehlt beispielsweise Jörg Schönert noch im Jahr 2015, die Literaturwissenschaft möge sich zur Sicherung ihrer disziplinären Standards am ordnenden Geist von Rechtsgeschichte und Rechtslehre orientieren.Footnote 53 Im Kontext der Poetik des 18. Jahrhunderts wird jedenfalls deutlich, dass sie sich eng an die Sprache des Rechts anlehnt: Der Kritiker ist ein ‚Kunstrichter‘, der ‚Urteile‘ fällt, sich ‚verteidigt‘ und ‚rechtfertigt‘, Zeugen aufruft, die seine Position unterstützen, sich auf sein ‚Gewissen‘ beruft etc. Auch der Begriff der ‚Schuld‘ taucht dabei immer wieder auf.Footnote 54 Offensichtlich hilft die semantische Anlehnung an das Recht – und auch das ist selbstredend ein rhetorischer Akt – die Geltung der eigenen Position zu begründen.Footnote 55

Wenn aber die semantische Parallele zum Recht Geltung auch in der Poetik erzeugen soll, wird das Recht offensichtlich als etwas Werthaltiges, Vernünftiges und Vorhersehbares gesehen. Und damit sind zentrale Eigenschaften des Rechts angesprochen, die es jedenfalls idealiter aufweisen soll. Recht soll die soziale Ordnung erhalten, für Ruhe und Frieden sorgen. Dazu muss es vorhersehbar sein – die Menschen müssen die Regeln kennen, an denen sie ihr Verhalten ausrichten sollen. Recht muss auch, jedenfalls im Großen und Ganzen, vernünftig sein und vielleicht sogar gerecht. Andernfalls halten sich die Menschen nur unter massivem Sanktionsdruck an seine Anordnungen und rebellieren. Wie aber lässt sich Recht als vorhersehbar und rational erklären – und nicht als zufällig, beliebig und irrational? Hier setzt einerseits das Systemdenken an, das die Lehre an juristischen Fakultäten noch häufig prägt: Recht bildet ein zusammenhängendes System, das im Großen und Ganzen vorhersehbare und auch vernünftige Antworten für jede Frage bereithält. Dass dem Recht ‚Geltung‘ zukommt, scheint so ganz selbstverständlich zu sein. Und die Rhetorik scheint bei alledem eine ganz untergeordnete Rolle zu spielen, eher als etwas, das zu der anderweitig begründbaren ‚Geltung‘ des Rechts als Schmuck hinzutritt. Ganz in diesem Sinne wird Rhetorik auch im Studium eher als Zusatzqualifikation gelehrt – von Rhetorik-Trainer/innen, die zeigen, wie das – durch dogmatische Studien schon sicher erkannte – Recht inhaltlich überzeugend präsentiert wird.Footnote 56

Doch stehen diesem Narrativ vom Recht als System, das vorhersehbare und vernünftige Regeln liefert, auch andere Narrative gegenüber. Regeln sind sprachlich verfasst und teilen die Ambiguitäten und Unbestimmtheiten der Sprache. Schon deshalb ist objektive Determiniertheit ex ante für das Recht ein praktisch unerreichbares Ideal. Um dem Rechtsnihilismus zu entkommen, kann die Rationalität und Bestimmbarkeit des Rechts als diskursiver Prozess verstanden werden.Footnote 57 Dieses Narrativ führt unmittelbar in die rechtliche Praxis des Rechts etwa durch Anwälte, Richterinnen und Gesetzgeber. Ein zentrales Fundament dieser Praxis sind die Gründe, die vorgebracht werden, um die jeweiligen Positionen zu verteidigen. Diese werden nur dann Einverständnis und Anerkennung finden, wenn sie überzeugend formuliert sind und wenn sie als vernünftige Konfliktlösungsvorschläge erscheinen. Das führt aber zwangsläufig zur Rhetorik als Kunst, Einverständnis in etwas zu erzeugen.Footnote 58 Und in diesem Narrativ ist die Rhetorik nicht bloßes Beiwerk. Sie ist auch nicht ‚Gegenspielerin‘ des systematischen Rechtsdenkens, sondern sie ist ganz unvermeidbar beteiligt, wenn dem Recht überhaupt Rationalität und Vorhersehbarkeit zukommen soll.

Diese Überlegungen verdeutlichen, dass verschiedene Formen der Rhetorik an der Geltung des Rechts konstitutiv beteiligt sind. Diese Beteiligung ist vielfältig und kann sich beispielsweise zeigen, wenn in der Rechtsphilosophie bestimmte Verständnisse von Rechtsgeltung einsichtig und nachvollziehbar dargelegt werden. Ein Beispiel bietet die berühmte Radbruch’sche Formel, die Radbruchs Geltungsbegriff nach 1945 kennzeichnet. Eine der Ausnahmen von der Geltung ordnungsgemäß gesetzten Rechts formuliert er in den Worten:

Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.Footnote 59

Rhetorisch ist das gelungen formuliert. Insgesamt fällt unter dem Aspekt des Ethos der Gestus vornehmer Bescheidenheit („dürfte zu lösen sein“) auf, der lediglich etwas vorschlägt, aber, bemerkenswert für die Entstehungszeit, nicht auf einer Autoritätsposition insistiert. Die Metapher von dem der Gerechtigkeit weichenden Recht wird durch das deutliche, aber nicht übertriebene Pathos der Formulierung „so unerträgliches Maß“ unterstützt. Zudem wird das Wort ‚Gerechtigkeit‘ dreimal verwendet, während das Wort ‚Recht‘ nur zweimal auftaucht. So bringt die Radbruch’sche Formel auch rhetorisch den Vorrang der Gerechtigkeit vor dem ungerechten Recht zum Ausdruck. Auffallend ist auch die Verwendung von Parallelismen („der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit“, „Satzung und Macht“, „ungerecht und unzweckmäßig“, wobei im letzten Fall auch ein ‚oder‘ hätte stehen können).Footnote 60

Wo sich, wie bereits gezeigt, poetische Geltung gerade auch in semantischer Parallelführung zur Rechtsgeltung begründen lässt, kann man umgekehrt auch das Recht selbst in Parallelführung zur Literatur erklären. Die law as literature-Bewegung hat dieses Verhältnis von Recht und Literatur detail- und einflussreich ausbuchstabiert.Footnote 61 Dabei überrascht es kaum, dass James Boyd White, der vielleicht wichtigste Protagonist der law as literature-Bewegung, die Rhetorik als gemeinsamen Kern von Recht und Literatur betrachtet.Footnote 62 Die wohl berühmteste Erzählung vom Recht als Literatur stammt von Ronald Dworkin, der die Entstehung des Rechts mit einer Metapher zur Entstehung eines Kettenromans erklärt hat. Recht, so Dworkin, entstehe wie ein Kettenroman (chain novel), der von mehreren Autoren zugleich geschrieben werde, wobei jede Autorin ihr Kapitel auf der Grundlage und in kohärenter Fortentwicklung des vorhergehenden Kapitels schreibe und alle Autoren verpflichtet seien, aus dem Kettenroman den bestmöglichen Roman zu machen, der er eben sein kann.Footnote 63 Ebenso müssten Richterinnen und Richter ihre jeweiligen Urteile verfassen, nämlich in interpretativer Fortentwicklung der schon bestehenden Urteile und auch mit Blick auf das Recht in seiner Gesamtheit. Ein reales Beispiel für einen literarischen Kettenroman im Sinne Dworkins bietet The Floating Admiral,Footnote 64 eine Detektivgeschichte, die von mehreren zeitgenössischen Autorinnen von Kriminalromanen verfasst worden war – unter ihnen auch Agatha Christie, auf deren Werke sich Dworkin in seinen vergleichenden Überlegungen des Öfteren bezieht. Dworkin webt in seiner interpretativen Theorie des Rechts als chain novel auch den schon angeklungenen Systemgedanken des Rechts ein: Die Akteure des Rechts müssen ihm zufolge annehmen, dass das Recht eine kohärente Konzeption von Fairness und Gerechtigkeit bilde. Dworkin hält also die interpretative Praxis der Akteure des Rechts für entscheidend, um das Wesen des Rechts zu verstehen. Die rhetorischen Elemente dieser Praxis spricht er freilich nicht ausdrücklich an, wohl aber den ‚interpretativen Stil‘ (interpretative style).Footnote 65 Was das bereits angesprochene Verhältnis von Rhetorik und Stilistik anbelangt, so ist es bemerkenswert, dass Johann Christoph Schlüter (1767–1841), der 1801 zum ordentlichen Professor des deutschen Stils an der Universität Münster ernannt wurde, seine Vorlesung zur „Theorie des deutschen Stils mit beständiger Rücksicht auf die deutsche Literatur und practische Anleitung zur Anfertigung schriftlicher Aufsätze“, noch bevor das Fach Germanistik als Universitätsdisziplin eingerichtet wurde, bei den Juristen ankündigte.Footnote 66 Dies ist nur ein weiteres Indiz dafür, wie sehr Recht und Literatur als rhetorisch verfasste Praktiken miteinander verflochten sind und mit ihren interpretativen, kreativen und offenen Elementen Anreiz für weitere der Vielgestaltigkeit der Rhetorik Rechnung tragende Forschung bilden.