1 Einleitung

Zusätzlich zu den humanwissenschaftlich geprägten, klassischen Gefährdungskategorien (Vernachlässigung, körperliche und psychische Misshandlung und sexueller Missbrauch) gibt es einige besondere Fallkategorien, die vergleichsweise selten vorkommen und daher in der Literatur sowie bei Fortbildungen kaum behandelt werden. Noch relativ viel Spezialliteratur gibt es zum Schütteltrauma und dem Münchhausen-bei-Proxy-Syndrom (für aktuelle Übersichtsarbeiten siehe Roygardner et al. 2020; Glaser 2020), die beide als besondere Formen von körperlicher Kindesmisshandlung eingeordnet werden können und im Rahmen des Fachtextes hierzu angesprochen werden (s. a. Körperliche Misshandlung [Kap. 20]). Weitere besondere Fallkategorien betreffen Fehlsozialisation, Übersozialisation und Symbiose, Gefährdung im Rahmen elterlicher Hochstrittigkeit, Autonomiekonflikte und schädliche traditionelle Praktiken. Bezüglich der humanwissenschaftlich geprägten Oberkategorien von Gefährdung erfolgt hier meist eine Einordnung in das große Feld der psychischen Kindesmisshandlung (s. a. Psychische Misshandlung [Kap. 21]). Dies gilt allerdings nicht für einige Formen schädlicher traditioneller Praktiken (z. B. weibliche Genitalverstümmelung) und elterliche Hochstrittigkeit bzw. Autonomiekonflikte, wenn sie tatsächlich in körperliche Gewalt umschlagen, da sich dann die Kategorie der körperlichen Misshandlung in den Vordergrund schiebt. Bei den aus der Rechtsprechung erwachsenen Fallklassifikationen, wie sie sich etwa bei Coester (2020) finden lassen, werden zumindest Fehl- und Übersozialisation sowie Autonomiekonflikte und schädliche traditionelle Praktiken als eigenständige Fallgruppe geführt und als „Beschränkung von Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten“, „Adoleszenzkonflikte“ sowie (deutlich weiter gefasst) „Konflikte in Familien mit abweichendem kulturellen Hintergrund“ gefasst. Dies unterstreicht, dass Gerichte sich immer wieder mit entsprechenden Fällen beschäftigen müssen und deren Besonderheiten wahrnehmen. Da die aus der Rechtsprechung erwachsenen Fallklassifikationen an dieser Stelle recht differenziert sind, kann es für Jugendämter und Sachverständige sinnvoll sein, hierauf explizit Bezug zu nehmen.

2 Fehlsozialisation

2.1 Begriffsbestimmung

Fehlsozialisation bezeichnet Aufwachsensbedingungen, unter denen sich ein Scheitern betroffener Kinder am zentralen Sozialisationsziel der Gemeinschaftsfähigkeit (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) abzeichnet. Im Unterschied zum wesentlich häufigeren Phänomen der Untersozialisation (auch als erzieherische Vernachlässigung bezeichnet), bei dem soziale Regeln nicht oder nur sehr unbeständig vermittelt werden und Kinder daher an ihrer Aneignung scheitern, werden bei einer Fehlsozialisation Regeln vermittelt, die aber nicht zu einem Zusammenleben in der Gesellschaft befähigen. Wenn Eltern Kinder zum Stehlen und Betteln anhalten und dies als Beitrag zum Auskommen der Familie einfordern, wäre beispielsweise Fehlsozialisation anzunehmen. Reagieren Eltern auf wiederholte Diebstähle von Kindern hingegen erzieherisch nicht oder kaum, sollte eher von Untersozialisation bzw. erzieherischer Vernachlässigung gesprochen werden.

In einer freiheitlichen und pluralen Gesellschaft, in der Menschen aus verschiedenen Kulturen und mit verschiedenen religiösen, weltanschaulichen und sexuellen Orientierungen zusammenleben, kann der Begriff der Fehlsozialisation nur äußerst zurückhaltend gebraucht werden. Rechtlich abgesichert sind die weiten Freiräume von Eltern als Sorgeberechtigten durch ihr Erziehungsprimat nach Art. 6 GG, wonach es das Recht von Eltern ist, die „Erziehung ihrer Kinder nach ihren eigenen Vorstellungen frei zu gestalten“ (BVerfG Beschluss vom 29.07.1968, 1 BvL 20/63 u. a.). Zudem erstreckt sich die Glaubensfreiheit nach Art. 4 GG auch auf die religiöse bzw. weltanschauliche Erziehung von Kindern durch ihre Eltern. Gleichwohl stoßen elterliches Erziehungsprimat und Glaubensfreiheit an Grenzen, wenn durch Fehlsozialisation das Wohl betroffener Kinder gefährdet wird. Eine solche Gefährdung kann nie allein aus den Überzeugungen von Eltern abgeleitet werden, sondern muss sich in einem gefährdenden Fürsorge- und Erziehungsverhalten manifestieren (Salzgeber 2015, Rz.1044 mwN). Ausbuchstabiert wurde dies in der Rechtsprechung bislang vor allem in Entscheidungen zu Eltern, die in ihrem Verhalten den Lehren von Scientology, den Zeugen Jehovas oder anderen fundamentalistischen Gruppierungen gefolgt sind.

Beispielsweise hat der Bundesgerichtshof entschieden, eine religiös begründete Schulverweigerung könne im Einzelfall (jenseits der Frage einer unzureichenden Wissensvermittlung) eine Kindeswohlgefährdung darstellen, denn „durch den gemeinsamen Schulbesuch sollten Kinder auch in das Gemeinschaftsleben hineinwachsen“ (BGH Entscheidung vom 17.10.2007, XII ZB 42/07). In einem anderen Fall akzeptierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei mehreren Kindern Eingriffe in die elterliche Sorge, weil deren religiös geprägte Erziehung erniedrigende Strafen beinhaltete. Ausdrücklich stellte der Gerichtshof fest, dass die Eingriffe zu akzeptieren seien, weil die (deutschen) Gerichte die Gefährdung der Kinder „nicht abstrakt – auf der Grundlage der Erziehungsansichten der Beschwerdeführer – beurteilt“ hätten, sondern dies konkret belegt wurde (EGMR Entscheidung vom 22.03.2018, Individualbeschwerden 68125/14 und 72204/14, Rz. 84). Die vorliegenden, für Gerichte, Jugendämter und Sachverständige Orientierung bietenden Entscheidungen werden unter anderem bei Gollan et al. (2018) und Meysen et al. (2021) zusammengestellt.

2.2 Ausprägungen

Fehlsozialisation kann eine oder mehrere der folgenden Ausprägungen annehmen:

  • Kinder werden in einer Weise erzogen, die ihnen jede Möglichkeit nimmt, andere Lebensorientierungen und Lebensweisen kennenzulernen (z. B. Beschränkung von Kontakten auf Gleichgesinnte, kein Besuch einer öffentlichen Schule oder anerkannten Ersatzschule);

  • Erziehungsmittel oder Inhalte der Erziehung sind geeignet Kinder in einem Zustand von Angst zu halten und einseitig auf Unterwerfung ausgerichtet (z. B. häufig Körperstrafen, Exorzismus mit Kindern);

  • Kinder werden angeleitet oder dazu angehalten, die Grenzen und Rechte anderer gravierend zu missachten (z. B. Einbezug in kriminelle Aktivitäten der Eltern, Einbezug bei oder Vorbereitung des Kindes auf Gewaltanwendung gegen Andersdenkende oder bestimmte Gruppen von Menschen);

  • Konkret entstandene wichtige Behandlungsbedürfnisse (z. B. psychische Auffälligkeiten) des Kindes werden unter Verweis auf elterliche Überzeugungen ignoriert oder fehlgedeutet (z. B. als göttliche Strafe) und entsprechend nicht behandelt. Der Punkt kann nicht auf eine Ablehnung von Vorsorgemaßnahmen gegen abstrakte gesundheitliche Gefahren (z. B. Ablehnung von Bluttransfusionen, wenn aktuell nicht vorhersehbar ist, dass eine Transfusion benötigt wird, Impfungen) erstreckt werden;

  • Gravierende innere Notlagen des Kindes, die dadurch ausgelöst werden, dass Kinder vor dem Hintergrund elterlicher Überzeugungssysteme soziale Isolation im Kreis der Gleichaltrigen erleben, werden ignoriert oder von den Eltern einseitig als Prüfung der Standfestigkeit des Kindes interpretiert und entsprechend nicht mit konfliktmindernden Maßnahmen beantwortet.

Trotz öffentlicher Aufmerksamkeit für die Problematik, etwa rund um den Roman „Kindeswohl“ (McEwan 2015), bei dem u. a. eine Familienrichterin über den Fall eines Jugendlichen entscheiden muss, dessen Eltern religiös begründet eine lebensrettende Bluttransfusion verweigern (für einen ähnlichen realen Fall siehe OLG Celle, Entscheidung vom 21.02.1994 – 17 W 8/94), ist die empirische Befundlage zu dieser Gefährdungslage dünn. Vorliegende Studien zeigen für einige Gruppen von Eltern, dass bestimmte Formen von Fehlsozialisation und gefährdendem Verhalten bei ihnen häufig miteinander einhergehen. Dieses Wissen ist nutzbar, um in entsprechenden Fällen gezielt bestimmte Punkte anzusprechen und abzuklären. Bei christlich-fundamentalistischen Eltern findet sich etwa häufig die Trias einer (a) Abschottung des Kindes von weltlichen Einflüssen (z. B. durch Verweigerung des Besuchs einer öffentlichen Schule oder staatlich anerkannten Ersatzschule), (b) Bejahung von Körperstrafen und kindlicher Unterwerfung als Erziehungsziel und (c) Ablehnung von medizinischen Behandlungen, von denen angenommen wird, dass sie im Widerspruch zu göttlichen Geboten stehen (für Forschungsübersichten siehe Heimlich 2011; Bottoms et al. 2015). Bei Eltern, die sich radikalen Formen des Islams (für eine Einführung in den Islam siehe Ruthven 2020, für eine Einführung in radikale Formen siehe Seidensticker 2016) verschrieben haben, finden sich nicht nur häufig Merkmale einer dualistischen Weltsicht mit einer entschiedenen Ablehnung von nicht-rechtgläubigen Einflüssen auf Kinder (Meysen et al. 2021), sondern teilweise auch eine strikte Geschlechtertrennung mit erheblichen Einschränkungen und der Zuweisung einer dienenden Rolle an Mädchen. In einigen Fällen jihadistischer Familien, d. h. Familien, in denen Eltern der Vorstellung eines heiligen Kriegs anhängen, wird Kindern zudem eine „Kultur des Märtyrertums“ vorgelebt, d. h. die Idee einer gewalttätigen Selbstaufopferung im Dienst der Religion wird als Ziel von Erziehung vermittelt (Bloom und Warpinski 2021). Bei Kindern, die in kriminelle Familien oder Familienverbände hineinsozialisiert werden, finden sich häufig (1) früh einsetzende, persistierende aggressive Verhaltensauffälligkeiten von Kindern (z. B. Tzoumakis et al. 2017; Whitten et al. 2019). Die Schwelle zur Gefährdung wird (2) dann überschritten, wenn auf massive Gewaltereignisse oder langjährig bestehende Aggressivität keine angemessene erzieherische Reaktion der Sorgeberechtigten erfolgt, es Anhaltspunkte für einen Einbezug von Kindern bzw. Jugendlichen in kriminelle Aktivitäten älterer Familienmitglieder gibt, ohne dass die Sorgeberechtigten angemessen reagieren, oder Mädchen fürchten innerhalb des Familienverbandes verheiratet zu werden. Letzteres ergibt sich aus dem in kriminellen Familienverbänden häufig gesehenen Risiko, wenn Töchter Partnerschaften außerhalb des Milieus eingehen (für Ethnografien des Lebens in kriminellen Familienstrukturen siehe Holt 2021). Angebote der Kinder- und Jugendhilfe zeigen (3) eine Geschichte des Scheiterns an einem stark abgeschotteten Familiensystem mit ausgeprägten Gehorsamkeitserwartungen gegenüber familiären Autoritäten und einer ebenso deutlichen Abwertung von Institutionen. (4) In manchen Fällen gibt es bei einigen Kindern auch ein erhebliches Maß an Traumatisierung infolge miterlebter Gewalt und entsprechende Belastungsreaktionen. Wichtig zu betonen ist, dass die Familienzugehörigkeit eines Kindes oder Elternteils allein nicht ausreicht, um eine Kindeswohlgefährdung zu belegen.

2.3 Einordnung und Regeln für das praktische Vorgehen im Verfahren

In der Handhabung von Fällen mit Fehlsozialisation deuten einige Befunde darauf hin, dass sich Familiengerichte und Jugendämter schwer damit tun, die Ebene der elterlichenÜberzeugungssysteme angemessen zu berücksichtigen (z. B. Meysen et al. 2021; Sportel 2021). Drei Grundregeln sind hier zu formulieren: (a) Elterliche Überzeugungssysteme sind im Kinderschutzverfahren nur relevant, wenn sie in Form gefährdenden Fürsorge- und Erziehungsverhaltens wirksam werden. Umgekehrt ist es für die Abwehr bestehender Gefahren aber von großer Bedeutung, inwieweit diesen Gefahren elterliche Überzeugungen (und nicht etwa Überforderung) zugrunde liegen. (b) Familien, in denen Fehlsozialisation droht, stehen alle vor der Herausforderung, einen für ihre Kinder als richtig empfundenen Weg zwischen Anpassung an gesellschaftliche Normen einerseits und Rückzug bzw. Opposition andererseits zu finden. Ohne die elterlichen Überzeugungssysteme zu befürworten oder im Gegenteil generell anzugreifen, ergibt sich aus dieser Grundproblematik der Hilfeansatz, wie versucht werden kann, Eingriffe zu vermeiden. Dieser Ansatz besteht darin, im Rahmen von Beratung mit Eltern Kompromisse zu suchen, die das Kindeswohl wahren und mit den Überzeugungen der Eltern möglichst weitgehend zu vereinen sind. (c) Der skizzierte Beratungsansatz ist nicht immer möglich, da Eltern in manchen Fällen dem Gericht Legitimität absprechen oder jede Art von Kompromissbildung als Verrat an ihren Überzeugungen empfinden. Daher kann es sein, dass Eingriffe erforderlich sind.

Teilweise wird auf Familienmitglieder Druck ausgeübt, die von einer kompromisslosen Haltung abweichen wollen. Dieser Druck kann auch außerhalb der Kernfamilie entstehen, daher ist ein Blick auf das erweiterte familiäre Umfeld sinnvoll. Manchmal sind Eltern, Elternteile oder Jugendliche versteckt auf der Suche nach Exit-Strategien, d. h. nach Möglichkeiten, mit einem Überzeugungssystem und den Beziehungen, die es stützen, zu brechen. Ein solcher Bruch stellt keine Voraussetzung für Hilfe dar und das staatliche Neutralitätsgebot (für eine ausführliche Erörterung siehe Brandt & Meysen 2021, 2022) gebietet, dass von Eltern (und Jugendlichen) kein Wechsel grundsätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen verlangt werden kann, sondern Verhaltensänderungen rund um Fürsorge und Erziehung. Einsicht in die Notwendigkeit solcher Veränderungen stellt einen prognostisch günstigen Faktor dar. Es ist zulässig, die Möglichkeit von verstecken Exit-Gedanken anzusprechen und bei Bedarf Hilfe anzubieten. Es ist aber an den Betroffenen, solche Ausstiegswünsche zu offenbaren und dann aktiv zu werden. Da es sich um eine kleine Fallgruppe handelt, liegen keine Fallverlaufsstudien vor. Sind Kinder oder Jugendliche sehr in Überzeugungssysteme, die Fehlsozialisation tragen, involviert, ist zum Zeitpunkt der Entscheidung über einen Sorgerechtseingriff mitunter schwer absehbar, inwieweit die Veränderung der Lebenssituation durch eine Herausnahme zu einer Distanzierung von bisherigen schädlichen Überzeugungen führt. Zumindest aber ist es möglich, dass andere Lebensweisen und Erziehungshaltungen, etwa eine Erziehung ohne den regelhaften Einsatz von Körperstrafen, erlebt werden.

3 Übersozialisation und Symbiose

Übersozialisation bezeichnet Bedingungen des Aufwachsens, die so einengend und starr sind, dass sich ein Scheitern am zentralen Sozialisationsziel der selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Persönlichkeit (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) abzeichnet. Für das Phänomen wird eine Reihe von Begriffen gebraucht. Im anglo-amerikanischen wird etwa von „overparenting“ oder „parental overprotection“ gesprochen (Thomasgard & Metz 1993; Segrin et al. 2013). Im Deutschen wird teilweise, auch in der Rechtsprechung (BVerfG Beschluss vom 14.09.2021, 1 BvR 1525/20; OLG Hamm Beschluss vom 22.08.2018, 2 UF 70/18), von „symbiotischen“ Eltern-Kind-Beziehungen bzw. Familiensystemen geredet. Der Begriff der Symbiose stammt aus der Biologie und bezeichnete dort ursprünglich ein enges Zusammenleben verschiedener Arten zum wechselseitigen Vorteil, war also positiv konnotiert (Gontier 2016). Mit der Übernahme durch die Tiefenpsychologie wurde der Begriff einerseits in Form einer vorgestellten Mutter-Kind Symbiose als früher, normativer Entwicklungsschritt auf dem Weg zur Individualität verstanden, andererseits jenseits der frühen Kindheit zur Charakterisierung eines Scheiterns am Prozess der Individuation verwandt, also negativ konnotiert (Mahler et al. 1975). Aufgrund der begrifflichen Unschärfe, einer einseitig-theoretischen Festlegung und einer bislang kaum erfolgten Operationalisierung, also einer fehlenden Beschreibung überprüfbarer Kriterien, sollte der Begriff nicht mehr verwandt werden. Stattdessen wird empfohlen, von Übersozialisation oder „elterlicher Überprotektion“ zu sprechen. Letzterer Begriff wird in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (International Classification of Disease – ICD) auf der Zusatzdimension zur Beschreibung von Zuständen verwandt, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitssystems führen (Kodierung im ICD-1062.1). Eine vergleichbare Kategorie („Überinvolviert“) existiert in einem speziellen Klassifikationssystem für die frühe Kindheit (Zero to Three 2019).

Übersozialisation ist als vielfältiges Phänomen zu verstehen, bei dem mehrere der folgenden Kennzeichen vorliegen:

  • die Bezugsperson fordert vom Kind über längere Zeit ein ungewöhnlich intensives Maß an körperlicher und/oder emotionaler Nähe ein (z. B. Kind soll im Bett des Elternteils schlafen),

  • die Bezugsperson kontrolliert Verhalten und Kontakte des Kindes über längere Zeit in einem ungewöhnlich intensiven Maß (z. B. Kind soll mehrere Stunden täglich trainieren, soll Freizeit nur mit dem Elternteil verbringen),

  • die Bezugsperson entmutigt oder untersagt Bestrebungen des Kindes, mehr Eigenständigkeit zu gewinnen, und lehnt es ab, dass das Kind Fähigkeiten in herausfordernden Situationen erprobt (z. B. Wunsch des Kindes, beim anderen Elternteil zu übernachten, wird ohne nachvollziehbaren Grund abgelehnt),

  • beharrt das Kind auf mehr Eigenständigkeit oder übt diese heimlich aus, so zeigt die Bezugsperson Verzweiflung, wertet dies als ausgeprägte Undankbarkeit oder droht mit Liebesentzug. Entwickeln andere Personen eine engere Beziehung zum Kind, zeigt sich Eifersucht (z. B. Therapie wird abrupt abgebrochen, nachdem das Kind dort über den Wunsch nach mehr Eigenständigkeit gesprochen hat).

Übersozialisation stellt das Gegenteil einer elterlichen Unterstützung kindlicher Eigenständigkeit und Selbstregulation dar, die Entwicklung, Persönlichkeitsentfaltung und psychische Gesundheit bei Kindern belegbar fördert (für einen konzeptuellen Überblick siehe Ryan et al. 2006; für eine neuere Zusammenfassung des empirischen Forschungsstandes siehe Vasquez et al. 2016). Wird elterliches Verhalten auf zwei grundlegenden Dimensionen, Responsivität und Kontrolle, abgebildet, so liegt ein hohes Maß an Kontrolle vor, während der Elternteil selektiv nur auf bestimmte kindliche Signale, nämlich Wünsche nach Kontakt und Unterstützung, responsiv reagiert, während Wünsche nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit ignoriert oder abgelehnt werden. Obwohl erst beschränkt empirische Befunde zur Verfügung stehen, scheinen ausgeprägte, auf das Kind bezogene elterliche Ängste, etwa vor dem Hintergrund einer beinahe gescheiterten Schwangerschaft oder schweren Erkrankung des Kindes, oder ein ausgeprägter, auf das Kind gerichteter, elterlicher Ehrgeiz das Phänomen zu begünstigen (z. B. van Ingen et al. 2008). Auch über längere Zeit fehllaufende elterliche Anpassungsprozesse an eine Behinderung oder eine Erkrankung des Kindes, die sehr viele Eltern vorübergehend zunächst einmal verunsichern würden, können in einigen Fällen Übersozialisation bedingen.

Übersozialisation stellt in erster Linie einen Hilfeanlass dar, zumal sich die Einschätzung der Problematik als schwierig erweist (z. B. Zero to Three 2019). Die Grenze zur Gefährdung kann dann überschritten werden, wenn entweder Kinder oder Jugendliche sich massiv gegen elterliche Einmischungen wehren oder wenn Übersozialisation nach kinder- bzw. jugendpsychiatrischer Einschätzung Anlass oder wesentliche aufrechterhaltende Bedingung für psychische Störungen des Kindes darstellt (z. B. eine suizidale Krise oder Angsterkrankung). In der zuletzt genannten Fallgruppe ist eine Einschätzung in der Regel nur im Rahmen eines kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsversuchs möglich, da etwa der Beitrag des elterlichen Verhaltens zur Symptomatik und deren Veränderbarkeit durch eine Intervention ausgelotet werden müssen (z. B. McLeod et al. 2007). Die bloße Abweichung von alterstypischen Meilensteinen in der Entwicklung von Eigenständigkeit (für einen Forschungsüberblick siehe Barrett et al. 2013) reicht aus, um Hilfen zu begründen, ist aber nicht ausreichend, um eine Kindeswohlgefährdung zu belegen.

4 Elterliche Hochstrittigkeit

Inwieweit Hochstrittigkeit, auch als Hochkonflikthaftigkeit bezeichnet, nach einer Elterntrennung in manchen Fällen einen Grund für staatliches Eingreifen nach § 1666 BGB darstellen kann, wird in Einzelfällen immer wieder diskutiert (z. B. Joyce 2016). Obwohl eine Konsensdefinition von Hochstrittigkeit fehlt, werden mit dem Begriff meist Fälle bezeichnet, in denen es über mehrere Jahre hinweg immer wieder zu (gerichtlichen) Auseinandersetzungen zwischen getrenntlebenden Eltern um Fragen von Betreuung, Kontakt und Erziehung eines Kindes kommt und gängige Methoden der Befriedung, insbesondere die gerichtliche Klärung von Streitfragen und Beratung bzw. Mediation, ohne Wirkung bleiben. Studien zu Kindern aus hochstrittigen Familien zeigen, dass die Erfahrungen des chronischen Elternkonflikts regelhaft als belastend empfunden werden und teilweise auch posttraumatische Symptome auftreten (van der Wal et al. 2019). Gleichwohl scheinen überdauernde Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit eher selten (Johnston et al. 2009). Vielmehr distanzieren sich viele Kinder im Verlauf vom Konflikt der Eltern oder den Eltern selbst (Stokkebekk et al. 2019). Einige Kinder brechen auch den Kontakt zu einem Elternteil ab, um der chronischen Belastung zu entkommen.

Eine Bewertung als Kindeswohlgefährdung kommt vor diesem Hintergrund nicht bei der ganzen Fallgruppe in Betracht, sondern nur, wenn sich im Einzelfall tatsächlich schwerwiegende Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit eines Kindes abzeichnen (z. B. depressive Erkrankung). Die Mittel des § 1666 Abs. 3 BGB werden aber auch deshalb selten in Fällen elterlicher Hochstrittigkeit angewandt, weil Entscheidungen nach §§ 1671, 1684 BGB im Verhältnis zu einem hoheitlichen Eingriff als milderes Mittel angesehen werden. Im Einzelfall kann dies aber vorübergehend notwendig sein, wenn angesichts krankheitswertiger Belastungen des Kindes beide Elternteile nicht in der Lage scheinen, das Kind aufzufangen und von weiteren Konflikten abzuschirmen. Mittelfristige Lösungsperspektiven bestehen für einen Teil der Fälle in spezialisierten Beratungskonzepten für hochstrittige Eltern, die zwar meist nicht zu einer Kooperation der Eltern miteinander führen, aber zu einer Abmilderung des Konfliktes und mehr Unterstützung des Kindes (für einen Forschungsüberblick siehe Greenberg et al. 2019, für die Evaluation eines in Deutschland entwickelten Konzeptes mit dem Titel „Kinder im Blick“ siehe Retz 2014). Zudem sind bei wenig veränderungsbereiten Eltern Beratungsangebote für belastete Kinder und Jugendliche sehr wichtig.

5 Autonomiekonflikte mit Eltern

Eltern obliegt nach § 1626 Abs. 2 BGB in der Erziehung die Aufgabe, die mit Alter und Entwicklung wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis von Kindern zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln zu berücksichtigen und Einvernehmen mit dem Sohn bzw. der Tochter anzustreben. Im Jugendalter gelingt der allmähliche Übergang von elterlicher Verantwortung in die Selbstverantwortung eines jungen Menschen häufig, aber nicht immer ohne schwerwiegende Konflikte (für Zusammenfassungen der Befundlage zu Beziehungen und Konflikten zwischen Eltern und Jugendlichen siehe Branje 2018; Smetana & Rote 2019). Entstehen schwerwiegende Konflikte, können diese meist im Rahmen von Beratung und Hilfen zur Erziehung entschärft und geklärt werden. In Einzelfällen kann es aber sein, dass im familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren darüber entschieden werden muss, ob Eltern in ihrer Erziehung zu sehr in das Grundrecht ihrer bereits im Jugendalter befindlichen Kinder auf Entfaltung der Persönlichkeit eingreifen und daher Beschränkungen der Elternrechte erforderlich sind. Solche Eingriffe können Anlass des Konflikts sein oder eine Eskalationsstufe darstellen. Coester (2020) betitelt eine entsprechende Fallgruppe als Adoleszenzkonflikte. Münder et al. (2000) sprechen von Ablöse- und Autonomiekonflikten mit Eltern und ordnen dieser Fallgruppe in zwei Stichproben von familiengerichtlichen Verfahren nach § 1666 BGB 5,7 bzw. 6,3 % der Fälle zu.

Um einzugrenzen, wann durch das Verhalten von Eltern in Konflikten mit Jugendlichen die Grenze zur Kindeswohlgefährdung überschritten wird, nennt Coester (2020, Rz. 152) zwei verschiedene Fallkonstellationen. Zum einen sieht er die Gefährdungsgrenze dann als überschritten an, wenn Eltern eine so einengende Erziehungshaltung praktizieren, dass einem/einer Jugendlichen eine eigenständige Entfaltung von Persönlichkeit und Sozialkompetenz weitgehend unmöglich gemacht wird. Beispielsweise reagieren manchmal Eltern mit jugendlichen Töchtern auf die Pubertät ihrer Kinder mit einer starken Beschränkung von Freiheiten, bis hin zu einem völligen Verbot, die Familienwohnung außerhalb der Schulzeiten zu verlassen. In einigen Fällen kommt es auch zu massiven Drohungen mit Gewalt oder (bei immigrierten Familien) einer angedrohten Verbringung ins Heimatland, wenn jugendliche Töchter sich solchen Verboten widersetzen und Verbote der Eltern hintergehen. Zum anderen werden Fallkonstellationen genannt, in denen Eltern bei anstehenden wichtigen Entscheidungen auf das Einvernehmen mit ihrem Kind verzichten, obwohl in absehbarer Zeit Volljährigkeit eintritt und die Auswirkungen der Entscheidung sich im Wesentlichen auf die spätere Zeit erstrecken. Ein Beispiel wäre der Verzicht auf den weiteren Besuch einer weiterführenden Schule oder eine Berufsausbildung mit dem Argument, dass ohnehin bald eine Verheiratung im Heimatland geplant sei.

In beiden Fallkonstellationen erscheint unstrittig, dass hier die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung überschritten werden kann. Schwieriger kann es sein, einzuschätzen, wie ernsthaft ein Einlenken der Sorgeberechtigten im Verfahren ist, wie mit einem Oszillieren von Jugendlichen zwischen Abgrenzung gegenüber den Eltern und Wünschen nach familiärer Versöhnung umzugehen ist und wie die Ernsthaftigkeit von Gewaltdrohungen zu bewerten ist. Spielen Gewaltdrohungen im Fall eine Rolle, so ist eine Bewertung der Ernsthaftigkeit durch Jugendamt und/oder im Rahmen einer Begutachtung erforderlich. Dabei kann auf Risikoeinschätzungsverfahren, die im Bereich der Kindesmisshandlung entwickelt wurden, verwiesen werden (s. a. Körperliche Misshandlung [Kap. 20]). Für Fälle mit Akkulturationskonflikten, d. h. Konflikten, die in immigrierten Familien aus einer generationenbezogen unterschiedlich intensiven Aneignung von Verhaltensweisen der aufnehmenden Gesellschaft erwachsen, und Drohungen, die mit Gründen der Familienehre gerechtfertigt werden, wurden aber spezifische Vorgehensweisen entwickelt, die bessere Einschätzungen ermöglichen (Belfrage et al. 2012; Belfrage & Ekman 2014). Wechselnde Haltungen von Jugendlichen sowie ein schwer einschätzbares Einlenken von Eltern im Verfahren können durch Beratung bzw. ambulante Hilfen zur Erziehung abgemildert bzw. besser eingeschätzt werden. Wichtig erscheint es, Autonomiekonflikte nicht zu kulturalisieren. Zwar spielen in einem Teil der Fälle kulturelle Einflüsse eine Rolle. In anderen Fällen sind Autonomiekonflikte aber vor allem Folge langjähriger Eltern-Konflikte oder fehlgeleiteter elterlicher Versuche Problemverhaltensweisen eines jungen Menschen (z. B. eine sich entwickelnde Sucht oder die Integration in eine antisoziale Gleichaltrigengruppe) abzuwehren. Auch deshalb ist es wichtig, den Einsatz von Hilfen zur Erziehung als geeignetes Mittel der Gefahrenabwehr im Verfahren zu prüfen.

6 Schädliche traditionelle Praktiken

Als Oberbegriff bezeichnen schädliche traditionelle Praktiken im Kontext dieses Kurses generationenübergreifend bei Mitgliedern einer kulturellen Gemeinschaft teilweise oder überwiegend vorhandene Traditionen, die grundlegende Rechte eines Teils der Kinder in der Gemeinschaft, meist von Mädchen, verletzen und schwerwiegend negative Auswirkungen für betroffene Kinder haben (zur Geschichte und Kritik des Konzepts siehe Longman und Bradley 2015). Insbesondere Formen weiblicher Genitalverstümmelung, die unmittelbar mit vermeidbaren Schmerzen sowie schwerwiegenden medizinischen Risiken und zudem mit langfristigen gesundheitlichen wie psychischen Belastungen einhergehen (für eine deutschsprachige Einführung siehe von Fritschen et al. 2020), werden in diesem Zusammenhang genannt, aber auch die Verheiratung von Kindern oder Jugendlichen (Malhotra & Elnakib 2021) oder mit Motiven von Ehre begründete Gewalttaten, meist gegen Töchter und Schwestern (Mayeda & Vijaykumar 2016; Ne’eman-Haviv 2021).

Schädliche traditionelle Praktiken sind wiederholt Gegenstand von familiengerichtlichen Kinderschutzverfahren gewesen. Eine drohende Verheiratung oder drohende Gewalt aufgrund einer von Familienmitgliedern als Rechtfertigung konstruierten Verletzung von Familienehre betreffen vor allem jugendliche Mädchen und wurden daher im vorangegangenen Abschnitt angesprochen. Eine drohende Genitalverstümmelung betrifft dagegen überwiegend jüngere Mädchen. Zu solchen Fallkonstellationen liegen etwa Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH 15.12.2004 – XII ZB 166/03) und des Oberlandesgerichts Karlsruhe (OLG Karlsruhe 25.5.2009 – 5 UF 224/08) vor. Darin wurde ausgeführt, dass aufgrund der erheblichen Schwere der drohenden Schädigung vergleichsweise geringe Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen seien. Ein völliger Verzicht auf konkrete Verdachtsmomente sei aber nicht möglich, d. h. es könne in der Begründung von Schutzmaßnahmen nicht allein mit einer geplanten Reise eines Kindes in ein Land, in dem weibliche Genitalverstümmelung praktiziert werde, argumentiert werden (für eine aktuelle Übersicht zu den Prävalenzen in verschiedenen Ländern siehe Kandala et al. 2018). Eine Konkretisierung von Verdachtsmomenten kann etwa in der Haltung wichtiger Familienmitglieder zu weiblicher Genitalverstümmelung, in Andeutungen zum Zweck einer Reise oder in bereits erfolgten Verstümmelungen bei älteren Geschwisterkindern und anderen Familienmitgliedern bestehen. Eine Zusammenstellung relevanter Risikofaktoren findet sich etwa in den Anhängen zu einem Bericht des englischen Department of Health (2017). Dort werden auch in verschiedenen Kulturen verwandte Begriffe für weibliche Genitalverstümmelung aufgelistet.

Da entsprechende Fälle eher selten sind, haben Familiengerichte und Allgemeine Soziale Dienste der Jugendämter meist wenig Erfahrung mit entsprechenden Fällen. Gleichzeitig handelt es sich häufig aufgrund einer konkret geplanten Reise um Eilverfahren. Zumindest Jugendämter sollten sich daher bemühen, qualifizierte Fachberatungsstellen im Rahmen der gemeinsamen Gefährdungseinschätzung nach § 8a SGB VIII telefonisch oder mittels Videokonferenz einzubeziehen. Kontakte vermittelt das bundesweit durchgängig erreichbare Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“.