FormalPara Zusammenfassung

Für jede der anhand der von ihnen verursachten Krankheitslast ausgewählten Krankheitsgruppen wird mittels mindestens eines Testverfahrens die Datenlage zum patientenbezogenen und gesellschaftlichen Nutzen der Laboratoriumsmedizin evaluiert. Der Beitrag der modernen Labormedizin erweist sich dabei in allen untersuchten Krankheitsgruppen als medizinisch «nutzenstiftend» und vielfach sogar als unverzichtbar. Beispielhaft zu nennen sind der Einsatz prädiktiver Biomarker als Voraussetzung einer gezielten Krebstherapie, von Tests auf Anti-CCP-Antikörper beziehungsweise hochsensitives kardiales Troponin zur frühen Diagnose der rheumatoiden Arthritis bzw. des akuten Herzinfarkts, aber auch TSH-Tests für eine adäquate kausale Therapie von depressiven Störungen auf dem Boden einer Hypothyreose und therapeutisches Drug-Monitoring in der Neuropsychiatrie und darüber hinaus; schliesslich Erregerdiagnostik und Resistenzbestimmungen in der Infektiologie. Die untersuchten Tests erweisen sich zudem durchweg als kosteneffektiv.

4.1 Health Technology Assessments von Diagnostika

Mit dem Oberbegriff Health Technology Assessment (HTA) werden Methoden der systematischen Nutzenbestimmung medizinischer Verfahren bezeichnet, zu deren wichtigsten Funktionen die zielkonforme Unterstützung von Entscheiden über den effektiven und effizienten Einsatz medizinischer Massnahmen zählen. Zunehmend werden auch Diagnostika einer Evaluation mittels HTAs unterworfen. Hierbei gehören die offiziellen HTA-Institute «CADTH» in Kanada und «NICE» in Grossbritannien zu den internationalen Vorreitern. Die Ergebnisse kanadischer und britischer HTAs von Diagnostika können damit als Informationsquelle für die Bewertung des klinischen und ökonomischen Nutzens von Diagnostika herangezogen werden. Ebenso wie für den Sonderfall der «Companion Diagnostics» – illustriert anhand der Zulassungen der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) im Zusammenhang mit zielgerichteten Therapien («Targeted Therapies») – zeigt sich in der Gesamtschau, dass der Nutzen von Diagnostika vielfach auch nach den vergleichsweise rigorosen Standards von HTAs belegt werden kann.

4.1.1 Internationale Health Technology Assessments von Diagnostika

International gelten Health Technology Assessments (HTAs) als eine besonders verlässliche, systematische und rigorose Bewertung des Nutzens beziehungsweise der klinischen Effektivität und – jedoch nicht immer und mit deutlichen internationalen Unterschieden – der Kosten-Effektivität von medizinischen Verfahren (vgl. hierzu u. a. bei Kleijnen et al. 2012; EUnetHTA 2015; Akehurst et al. 2017; Caro et al. 2019; Blüher et al. 2019; Schlander 2008, 2021; u. a. m.).

Zunehmend werden auch Labortests HTAs unterworfen (vgl. Blüher et al. 2019). Sowohl die Canadian Agency for Drugs and Technologies in Health (CADTH 2019) in Kanada als auch das National Institute for Health and Care Excellence (NICE 2019) in Grossbritannien sind unabhängige öffentliche Institutionen, die bereits seit Mitte respektive Ende der 1990er-Jahre systematische Bewertungen von Diagnostika und Labortests durchführen. Es ist deshalb mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit aufschlussreich, zu welchen Bewertungen der von ihnen geprüften Diagnostika die beiden international hoch angesehenen Institutionen kamen.

CADTH kam im hier untersuchten Zeitraum von 1995 bis 2020 in insgesamt sechs von neun Health Technology Assessments (HTAs) von Diagnostika und Labortests zu einer positiven Bewertung. Nur zwei der neun HTA-Berichte schlossen mit einer negativen Empfehlung; in einem weiteren Bewertungsfall kam es zu keiner abschliessenden Stellungnahme durch CADTH (Datenquelle: CADTH 2020).

Im Jahr 2010 führte auch NICE einen spezifischen Evaluationsprozess für «Companion Diagnostics» und «Diagnostic Tests» ein. Von den in den ersten zehn Jahren bewerteten Tests fielen nur zwei durch; die Mehrzahl (62 %) wurden positiv evaluiert und mittels Diagnostic Guidance für die Anwendung im National Health Service (NHS) empfohlen (Datenquelle: NICE 2020; Abb. 4.1).

Abb. 4.1
figure 1

Evaluationen von Diagnostika und Labortests durch das National Institute for Health and Care Excellence (NICE), 2011–2020. Eigene Darstellung; Analyse auf der Basis von Daten von NICE. (2020)

4.1.2 Spezialfall Companion Diagnostics

Für «Companion Diagnostics» – also Tests, die Subgruppen von Patienten identifizieren, für die bestimmte Medikamente wirksam(er) und/oder verträglich(er) sind – hat CADTH einen speziellen Bewertungsprozess im Rahmen des Common Drug Review (CDR)-Programms etabliert. Wiederum zeigt sich, dass die grosse Mehrzahl der evaluierten Companion Diagnostics den hohen Standards der Evaluationen standhielten und durch CADTH positiv bewertet und für eine Erstattung durch das kanadische Gesundheitssystem empfohlen wurden (Datenquelle: CADTH 2016, 2020).

Auch die von NICE im Zeitraum von 2010 bis 2020 evaluierten Companion Diagnostics wurden in ihrer grossen Mehrzahl positiv bewertet (Datenquellen: Byron et al. 2014; NICE 2020). Somit lässt sich konstatieren, dass ein Grossteil der von CADTH und NICE mittels systematischer HTAs bewerteten Labortests und Diagnostika wie auch der Companion Diagnostics über einen ausreichend starken klinischen und ökonomischen Nutzennachweis verfügten, um auf dem Weg über eine positive Empfehlung durch CADTH beziehungsweise NICE in die Routineversorgung integriert zu werden.

Hintergrund. Der Einsatz diagnostischer Tests zum Entscheid über eine zweckmässige Therapie ist nicht völlig neu. Schon Mitte der 1970er-Jahre wurde auf der Grundlage einer retrospektiven Analyse einer Phase-II-Studie die Korrelation des Östrogen-Rezeptor-Status mit dem Erfolg einer Tamoxifen-Therapie des fortgeschrittenen Mammakarzinoms erkannt. Als eigentlicher Durchbruch gilt weithin die Einführung von Trastuzumab zur Therapie des metastasierten Mammakarzinoms Mitte der 1990er-Jahre. Trastuzumab ist ein spezifisch gegen HER2 wirksamer monoklonaler Antikörper, dessen klinische Entwicklung von der simultanen (prospektiven) Entwicklung eines immunhistochemischen Tests auf HER2-Überexpression zur Identifikation für die Therapie geeigneter Patientinnen begleitet war (siehe auch Abschn. 4.2.8).

Definition. Die einflussreiche amerikanische Regulierungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) veröffentlichte erstmals am 31. Juli 2014 eine «Guidance for Industry: In Vitro Companion Diagnostic Devices.» (FDA 2014). Die FDA definiert Companion Diagnostics wie folgt (FDA 2014): «A companion diagnostic is a medical device, often an in vitro device, which provides information that is essential for the safe and effective use of a corresponding drug or biological product. The test helps a health care professional determine whether a particular therapeutic product’s benefits to patients will outweigh any potential serious side effects or risks. Companion diagnostics can:

  • identify patients who are most likely to benefit from a particular therapeutic product;

  • identify patients likely to be at increased risk for serious side effects as a result of treatment with a particular therapeutic product;

or

  • monitor response to treatment with a particular therapeutic product for the purpose of adjusting treatment to achieve improved safety or effectiveness

Die mit der IVD-Richtlinie («In Vitro Diagnostic Regulation», IVDR) der EU im Mai 2017 eingeführte DefinitionFootnote 1 folgt ebenso wie andere internationale Begriffsbestimmungen den Vorgaben der FDA (Datenquelle: EUR-Lex 2017). Aus klinischer Sicht beachtlich ist, dass die Durchführung eines als Companion Diagnostic klassifizierten Tests obligat ist, bevor eine Therapie mit dem entsprechenden Wirkstoff begonnen werden darf. Davon abzugrenzen sind daher sogenannte Complementary Diagnostics, welche dem Nachweis von Biomarkern dienen, um eine Stratifizierung von Patienten mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit eines Therapieerfolgs zu unterstützen.

Aus regulatorischer Sicht hat die IVDR insbesondere ein neues, auf Risikoregeln basierendes Klassifizierungssystem eingeführt (angelehnt an die Grundsätze der Global Harmonization Task Force, GHTF 2006). Das europäische System umfasst die Risikoklassen A bis D, wobei A für Produkte mit geringem Risiko und D für Produkte mit dem höchsten Risiko für Patienten und Öffentlichkeit steht. Die Verordnung enthält keine detaillierten Listen, sondern definiert Regeln für die genaue Klassifizierung von IVD. Companion Diagnostics fallen regelmässig in Risikoklasse C («hoher und mittlerer Risikograd»). An deren Technische Dokumentation werden erhöhte Anforderungen gestellt; die Leistungsbewertung erfolgt nach einem genau definierten kodifizierten Verfahren zum Nachweis folgender Aspekte: wissenschaftliche Validität, Analyseleistung und klinische Leistung. Die entsprechenden Daten, ihre Bewertung und der daraus abgeleitete klinische Nachweis werden in einem «Bericht über die Leistungsbewertung» dokumentiert. Dieser Bericht und die dazugehörigen Unterlagen sind während des gesamten Lebenszyklus des Produkts zu aktualisieren. Für Produkte der Klasse C und D ist der Bericht nach Bedarf, mindestens aber einmal jährlich zu aktualisieren.

Bis zum Jahresende 2020 wurden von der FDA insgesamt 44 Companion Diagnostics zugelassen (Datenquelle: FDA 2020). Die Dynamik der Entwicklung illustriert die Zahl von 35 neu zugelassenen Companion Diagnostics im Zehnjahreszeitraum von 2011 bis 2020 gegenüber erst neun in den Jahren von 1998 bis einschliesslich 2010 (Jørgensen und Hersom 2016; Jørgensen 2021; vgl. auch verschiedene Abschnitte in Kap. 5, insbesondere auch Abschn. 5.6.3).

Von den zugelassenen Assays basierte mit 16 mehr als ein Drittel auf der Polymerase-Kettenreaktion («Polymerase Chain Reaction», PCR)-Methode, die übrigen (11) auf immunhistochemischen Verfahren, (9) auf in situ-Hybridisierung, (7) auf Next-Generation-Sequenzierung («Next Generation Sequencing», NGS) und (1) auf einem Software-basierten Auswertungsalgorithmus für bildgebende Diagnostik (Abb. 4.2). Die Mehrzahl der Companion Diagnostics wurde von der FDA in deren Risikoklasse III eingruppiert, was die Einreichung einer umfangreichen Premarket Application (PMA) und das erfolgreiche Absolvieren des Zulassungsverfahrens erforderte. In einzelnen Labors anstatt industriell entwickelt wurden bis 2020 mindestens neun der zugelassenen Companion Diagnostics; sie mussten die gleichen Zulassungsbedingungen und Qualitätsstandards einschliesslich einer PMA-Dokumentation erfüllen. Diese Laboratory Developed Tests (LDTs, in Europa oft als «Inhouse Tests» bezeichnet) basierten technologisch ausnahmslos auf der PCR- oder der NGS-Plattform (vgl. Jørgensen 2021).

Abb. 4.2
figure 2

Basistechnologien («Analytische Plattformen») der von der FDA von 1998 bis Ende 2020 neu zugelassenen Companion Diagnostics (CDx). IHC, Immunhistochemie; ISH, in situ-Hybridisierung; PCR, Polymerase Chain Reaction; NGS, Next Generation Sequencing; Bildg., bildgebende Verfahren. (Quelle: FDA/Dx-Rx Institute (2020), Jørgensen (2021))

Das typische Zulassungsmodell besteht in der Beziehung «ein Test (bzw. ein Biomarker)/ein Wirkstoff (oder ein Medikament)»; 43 der 44 bis Ende des Jahres 2020 zugelassenen Companion Diagnostics beziehen sich auf die zielgerichtete Therapie («Targeted Therapy», vgl. dazu auch die einschlägigen Abschnitte in Kap. 5, zu «Zukunftspotenzialen» und «personalisierter» oder Präzisionsmedizin) von Krebserkrankungen.

Die bislang einzige Ausnahme von der Dominanz der Krebsmedizin war die Therapie der nicht-transfusionsabhängigen Thalassämie mit Deferasirox, einem oralen Chelatbildner zur Bindung von Eisen. Bei dem Assay («Ferriscan») handelt es sich um ein als Companion Diagnostic zugelassenes Verfahren der bildgebenden Diagnostik, das dazu dient, die Eisenbelastung der Leber sichtbar zu machen (vgl. Jørgensen 2021).

Für bis 2015 von der FDA zugelassene neue Krebsmedikamente liegt eine deskriptive Analyse der Ansprechraten («Objective Response Rates») von Tumorerkrankungen im fortgeschrittenen oder metastasierten Stadium vor, der sich die Abb. 4.3 zusammengefassten Daten extrahieren lassen (vgl. Jørgensen und Hersom 2016).

Abb. 4.3
figure 3

Objektive Ansprechraten («Objective Response Rates») von der FDA zwischen 2000 und 2015 neu zugelassener Krebsmedikamente mit (dunkelblaue Balken) und ohne ein Companion Diagnostic. Alle Daten für fortgeschrittene bzw. metastatische Krankheitsstadien; Quellen: FDA/Dx-Rx-Institute (2020), Jørgensen und Hersom (2016). Die Auswahl neuer Wirkstoffe bedingt, dass diese Abbildung nicht als beweisend, sondern als illustrativ interpretiert werden sollte. Abkürzungen: ALK, anaplastic lymphoma kinase; BC, breast cancer; BRAF, proto-oncogene B-Raf; CD117, proto-oncogene c-KIT; CRC, colorectal cancer; EGFR, epidermal growth factor receptor; GIST, gastrointestinal stromal tumors; HER2, human epidermal growth factor receptor 2; KRAS, Kirsten rat sarcoma virus; Mel., melanoma; NSCLC, non-small cell lung cancer; PD-L1, programmed death-ligand 1; Angaben in Klammern entsprechen dem jeweiligen Biomarker

Der indirekte Vergleich der Ansprechraten von mit versus ohne Companion Diagnostic zugelassene Therapeutika unterstreicht eindrücklich das Nutzenpotenzial von zielgerichteten Therapiestrategien.

4.2 Krebs und Krebsmedizin

Die direkten Kosten der Krebsmedizin in der Schweiz sind für etwa 6 % der gesamten Gesundheitsausgaben verantwortlich und daher gemessen an der krebsbedingten Krankheitslast (17,5 % der gesamten Krankheitslast) der Bevölkerung niedrig. Mindestens seit 1990 sind sowohl die altersstandardisierte Krankheitslast als auch die realen (inflationsbereinigten) indirekten Kosten – vor allem wegen der durch vorzeitige Mortalität entstehenden Produktivitätsverluste – aufgrund von Krebserkrankungen in der Schweiz rückläufig; gleichzeitig stiegen die Überlebenschancen bei Krebserkrankungen.

Labormedizinische Diagnostik hat zu diesen Fortschritten in mehrfacher Weise über das gesamte Kontinuum der medizinischen Versorgung hinweg beigetragen. Tumormarker spielen wichtige Rollen in Früherkennung, Prävention und Therapie, sowohl hinsichtlich der Auswahl der für den individuellen Patienten bestgeeigneten Behandlungsoptionen als auch für das Monitoring des Therapieerfolgs und für Verlaufskontrollen.

Die grösste tumorbedingte Krankheitslast verursachen in der Schweiz Lungen-, Darm- und Brustkrebserkrankungen. Früherkennungs- und Präventionsstrategien mittels Biomarkern sind für Lungenkrebs aktuell noch ein Forschungsthema; für Brustkrebs ist das deutlich erhöhte Erkrankungsrisiko von Trägerinnen von BRCA1- und BRCA2-Mutationen bekannt und dürfte zur Entwicklung von risikoadaptierten Screening-Strategien beitragen; für die Früherkennung und Prävention von Darmkrebs haben sich Strategien unter Einbezug von modernen immunologischen Antikörper-basierten Tests auf okkultes Blut im Stuhl (iFOBT) als sehr wirksam und kosteneffektiv erwiesen.

Der Einsatz von Biomarkern für zielgerichtete Therapien ist derzeit eine Domäne labormedizinischer Untersuchungen, die je nach Technik überwiegend an pathologisch, humangenetisch oder labormedizinisch spezialisierten Zentren durchgeführt werden.

4.2.1 Krankheitslast und -kosten

Die Krankheitslast von Krebserkrankungen ist beträchtlich; auf sie entfallen in den hochentwickelten Ländern durchschnittlich rund 20 % aller Disability-Adjusted Life Years (DALYs) aufgrund nichtübertragbarer Krankheiten (Datenquelle: WHO 2018). Zudem nimmt die Zahl der Krebsfälle beständig zu (vgl. Bray et al. 2018) – eine Entwicklung, die auch in der Schweiz zu beobachten ist und laut Schweizerischem Krebsbericht 2021 vorrangig auf die demografische Entwicklung zurückgeführt wird. Auf Basis der Durchschnittswerte der Jahre 2013 bis 2017 muss in der Schweiz von rund 43.000 Neuerkrankungen und rund 17.000 krebsverursachten Todesfällen pro Jahr ausgegangen werden (Datenquelle: Nationale Krebsregistrierungsstelle, NKRS 2020; Tab. 4.1).

Tab. 4.1 Häufigkeit und Mortalität von Krebs in der Schweiz (2013–2017). Eigene Darstellung. Neuerkrankungen (Inzidenz), Häufigkeit (Prävalenz) und Sterbefälle (Mortalität) pro Jahr im Fünfjahres-Durchschnitt der Jahre von 2013 bis 2017. Datenquelle: NKRS (2020)

Die am häufigsten diagnostizierten Krebsarten (Inzidenz) unterscheiden sich nach Lebensalter und Geschlecht; in der Schweiz treten bei Frauen (in absteigender Reihenfolge) am häufigsten Brustkrebs, Darmkrebs und Lungenkrebs auf, bei Männern Prostatakrebs, Lungenkrebs und Darmkrebs (Datenquelle: NKRS 2020; Abb. 4.4).

Abb. 4.4
figure 4

Am häufigsten diagnostizierte Krebsarten in der Schweiz (Inzidenz). Anteilige Neuerkrankungen pro Jahr für Männer (li.) und Frauen (re.) auf Basis der Durchschnittswerte der Jahre 2013 bis 2017. Datenquelle: NKRS (2020)

Betrachtet am die Krankheitslast zusammen mit den jeweiligen Sterberaten (Mortalität), dann zeigen sich deutlich die Auswirkungen von Altersverteilung und Prognose; vor allem die vergleichsweise frühen Todesfälle treiben die DALYs (oder «verlorene gesunde Lebensjahre») aufgrund von Lungenkrebs nach oben (Datenquelle: WHO 2018; Tab. 4.2).

Tab. 4.2 Wichtigste Verursacher der krebsbedingten Krankheitslast in der Schweiz (gemessen in DALYs) und ihre Mortalität (Todesfälle) pro Jahr (2016). Eigene Darstellung; Quelle: WHO (2018); «absolut»: absolute Fallzahlen; «gewichtet»: Anteil an der Gesamtzahl der Schweizer Bevölkerung (2016)

4.2.1.1 Standardisierte Krankheitslasten

Um die Entwicklung der krebsbedingten Krankheitslast während der vergangenen Dekaden interpretieren zu können, braucht es eine Bereinigung um demografische Effekte («Altersstandardisierung»).

Standardisierungen sind ein in der Epidemiologie häufig eingesetztes Instrument, um mittels mathematischer Manipulation strukturell unterschiedliche Grundgesamtheiten vergleichbar zu machen. Altersstandardisierungen sind in der Praxis der häufigste Anwendungsfall, weil das Alter bei sehr vielen Gesundheitsstörungen eine grosse Rolle spielt. Denn dann können Daten unterschiedlicher Zeiträume und unterschiedlicher Regionen erst nach Altersstandardisierung ohne demografische Verzerrungen miteinander verglichen werden. Würde man bei einer alternden Bevölkerung dagegen nur die absoluten Zahlen der Neuerkrankungen an Krebs, der Todesfälle oder der Krankheitslast heranziehen, würde dies – im Zeitvergleich – Fortschritte bei Prävention, Diagnostik und Therapie maskieren und im Quervergleich unterschiedliche Risiken unkorrigiert lassen.

Bei alledem gilt es ein verbreitetes Missverständnis zu vermeiden: es handelt sich bei standardisierten Daten nicht um «reale», sondern um fiktive Daten, wie sie aufgrund der verfügbaren Informationen für eine normierte Standardpopulation zu erwarten wären.

Nach Altersstandardisierung zeigt sich ein deutlich erfreulicheres Bild. Während die Neuerkrankungsraten bei Männern seit 1990 praktisch unverändert blieben und bei Frauen um 11 % stiegen, sanken in diesem Zeitraum die altersstandardisierten Sterberaten bei Männern um 39 % und bei Frauen um 28 %. Ebenso zeigte die altersstandardisierte Krankheitslast zwischen 1990 und 2017 einen Rückgang um mehr als ein Viertel (Datenquelle: NKRS 2020). Damit bewegte sich die im Wesentlichen den Fortschritten der Krebsmedizin zuschreibbare Entwicklung im Gleichklang mit den europäischen Nachbarländern (vgl. Ferlay et al. 2013, 2018); allerdings weist die Schweiz im altersstandardisierten europäischen Vergleich konsistent eine deutlich niedrigere krebsbedingte Krankheitslast auf (Abb. 4.5).

Abb. 4.5
figure 5

Krebsbedingte Krankheitslast im Zeitverlauf seit 1990 altersstandardisiert im europäischen Vergleich. Alle Angaben für beide Geschlechter, als altersstandardisierte DALYs pro 100.000 Einwohner. Datenquelle: IHME (2021)

Die Sterblichkeit und die Krankheitslast (für aktuelle Daten, vgl. Tab. 4.2 und Abb. 4.7) sind für die meisten Krebsarten in der Schweiz rückläufig (Abb. 4.6; Datenquelle: Institute for Health Metrics and Evaluation, IHME 2021). Insgesamt sind Bronchialkarzinome weiterhin die häufigste krebsbedingte Todesursache (mit einem Anteil an allen Krebstoten von 21 % bei Männern und 18 % bei Frauen) und zugleich die mit Abstand wichtigste Ursache der Krankheitslast, zuletzt verantwortlich für einen Anteil von 20,1 % der gesamten krebsbedingten Krankheitslast und damit 3,72 % der insgesamt verlorenen gesunden Lebensjahre in der Schweiz (Datenquelle: WHO 2018).

Abb. 4.6
figure 6

Krankheitslast nach Krebsarten im Zeitverlauf seit 1990 (altersstandardisierte Daten). Alle Angaben für beide Geschlechter, als altersstandardisierte DALYs pro 100.000 Einwohner. Datenquelle: IHME (2021)

Abb. 4.7
figure 7

Krankheitslast nach Krebsarten in der Schweiz (2017). Alle Angaben für beide Geschlechter. Datenquelle: WHO (2018)

4.2.1.2 Kosten von Krebserkrankungen

Aktuellen europäischen Krankheitskostenstudien folgend steht dem Anteil von zuletzt 17,5 % an der Krankheitslast der Schweizer Bevölkerung (zum Vergleich Westeuropa im Mittel: 19,5 %) ein Anteil von 6,0 % (Europa: 6,2 %) an den gesamten Gesundheitsausgaben gegenüber. Beliefen sich krebsverursachte direkte und indirekte Kosten in Europa auf insgesamt 199 Mrd. € im Jahr 2018, so waren es in der Schweiz zuletzt 7,2 Mrd. € (2018), wovon ca. 600 Mio. € auf informelle (das heisst, unbezahlte durch Angehörige erbrachte) Pflege und 2,3 Mrd. € auf Produktivitätsausfälle entfielen (Hofmarcher et al. 2019, 2020).

Pro Kopf der Schweizer Bevölkerung waren das nominal 840 € im Jahr 2018 (kaufkraftbereinigt 578 €; vgl. unten). Davon entfielen anteilig 511 € auf die medizinische Versorgung von Krebspatienten («direkte Kosten»), 70 € auf den Wert informeller Pflegeleistungen sowie 258 € auf Produktivitätsausfälle, überwiegend bedingt durch vorzeitige Mortalität (Abb. 4.8; vgl. Hofmarcher et al. 2019, 2020).

Abb. 4.8
figure 8

Krebsbedingte Krankheitskosten aus gesellschaftlicher Perspektive. Daten in Euro pro Kopf im Jahr 2018 Schweiz (nominal 840 € p.a.; kaufkraftbereinigt 578 € p.a.) und zum Vergleich Europa (durchschnittlich 378 € p.a.). Indirekte Kosten: «Mortalität»: mortalitätsbedingte Produktivitätsausfälle «Morbidität»: morbiditätsbedingte Produktivitätsausfälle Direkte Kosten: Behandlungskosten ohne Arzneimittel. Quelle: Hofmarcher et al. (2019, 2020)

Im europäischen Vergleich ist die Kostenbelastung in der Schweiz absolut am höchsten (Tab. 4.3). Allerdings wurden in der IHE-Studie von Thomas Hofmarcher und Kollegen (2019, 2020) alle Kostenpositionen mit aktuellen Wechselkursen umgerechnet, während aus ökonomischer Sicht internationale Vergleiche anhand von Kaufkraftparitäten als aussagekräftiger gelten. Parallel zum Rückgang der altersstandardisierten Krankheitslast (Abb. 4.5 und 4.6) zeigen die Daten einen leichten Rückgang der realen indirekten Kosten in den vergangenen 25 Jahren, der sich primär auf die besseren Überlebenschancen und die damit verbundene Abnahme vorzeitiger Mortalität zurückführen lässt (Abb. 4.9).

Tab. 4.3 Gesellschaftliche Kostenbelastung aufgrund Krebserkrankungen nach Kostenarten im europäischen Vergleich (2018). Eigene Darstellung. Alle Kosten in Euro (2018) nominal pro Kopf der Bevölkerung (nicht kaufkraftbereinigt; ausgenommen rechte Spalte). Medikationskosten sind hier in den direkten Kosten (linke Spalte) inkludiert. Rechte Spalte: Gesamtkosten kaufkraftbereinigt Abkürzung: KKP, Kaufkraftparitäten. Quelle: Hofmarcher et al. (2019, 2020)
Abb. 4.9
figure 9

Entwicklung der krebsbedingten direkten und indirekten Kosten aus europäischer Perspektive, 1995 bis 2018. Daten in Milliarden Euro pro Jahr, ohne informelle Pflege; Quelle: Hofmarcher et al. (2019, 2020); Die leichte reale Abnahme der indirekten Kosten trotz steigenden Inzidenzen ist Folge der abnehmenden mortalitätsbedingten Produktivitätsausfälle, die ihrerseits Ausdruck der steigenden Überlebenschancen einer Krebserkrankung sind

Als Zwischenfazit lässt sich an dieser Stelle konstatieren, dass in der Schweiz – wie in anderen westlichen Ländern – die direkten Kosten der Krebsmedizin (mit einem Anteil von zirka 6 % der Gesundheitsausgaben) gemessen an der Krankheitslast eher niedrig sind. In den letzten 25 bis 30 Jahren haben sich sowohl die altersstandardisierte Krankheitslast als auch die realen (inflationsbereinigten) indirekten Kosten (vor allem auf vorzeitiger Mortalität beruhende Produktivitätsausfälle) aufgrund von Krebserkrankungen in der Schweiz rückläufig entwickelt, was primär als Ausdruck der Zunahme der Überlebenschancen in diesem Zeitraum interpretiert werden kann. Die im europäischen Vergleich bei meist ähnlich hohen Inzidenzraten (vgl. auch nachstehende Abschnitte zu Lungen-, Brust- und Darmkrebserkrankungen, Abb. 4.104.12 und 4.15) niedrigere Krankheitslast spricht für die Qualität der allerdings auch mit kaufkraftbereinigten jährlichen Kosten von 578 € pro Einwohner (verglichen mit 524 € in Deutschland und 459 € in Frankreich) überdurchschnittlich teuren medizinischen Versorgung.

Abb. 4.10
figure 10figure 10

Bronchialkarzinom: Inzidenz und Mortalität im europäischen Vergleich. Eigene Darstellung in Anlehnung an Ferlay et al. (2018) Inzidenz = altersstandardisiert pro 100.000 Einwohner (2018); Mortalität = altersstandardisiert pro 100.000 Einwohner (2018)

4.2.2 Labordiagnostik in der Krebsmedizin

In der Diagnostik solider Tumore stehen Probeexzision, Histopathologie und bildgebende Diagnostik im Vordergrund und bestimmen die gegenwärtigen Standards. Klassische Labordiagnostik und die Erfassung von Tumormarkern helfen bei der Diagnosesicherung und Differenzierung; sie werden im klinischen Alltag aber immer noch vorwiegend für Verlaufskontrollen und Rezidiverkennung genutzt. In stürmischer Entwicklung befindet sich dagegen die Anwendung von molekularen und genetischen Tumormarkern als Voraussetzung für die Implementierung stratifizierter und zielgerichteter Therapien («Targeted Therapies»; vgl. den vorangegangenen Abschn. 4.1.1 zu «Companion Diagnostics» und im Folgenden die Abschn. 4.2.64.2.7 und 4.2.8 zu spezifischen Tumorarten und 5.3 zu «Zukunftspotenzialen der Labormedizin in der Onkologie»).

4.2.3 Labordiagnostik und Screening

In Screening und Früherkennung kommt der klassischen Labordiagnostik eine in Teilbereichen wichtige, aber derzeit nicht die letztendlich entscheidende Rolle zu.

4.2.3.1 Lungenkrebs

Die Entwicklung von wirksamen und kosteneffektiven Screening-Strategien für die Früherkennung von Bronchialkarzinomen konzentriert sich auf den Einsatz bildgebender Verfahren in Risikogruppen (Rauchern) und begegnet derzeit Bedenken wegen der Folgen falsch-positiver Befunde. Labormedizinische Tests spielen derzeit keine Rolle, was sich aber in der Zukunft durch den Einsatz von Biomarkern für risikoadaptierte Screening-Strategien ändern könnte. Diese Strategien konzentrieren sich derzeit allerdings primär auf Raucher und Exraucher (vgl. hierzu Ten Haaf et al. 2017, 2020).

4.2.3.2 Darmkrebs

Zum Beispiel können Tests auf okkultes Blut im Stuhl (heute auf Antikörpern gegen Hämoglobin basierend als sogenannter immunologischer fäkaler Okkultbluttest, «iFOBT», oder synonym kurz «FIT» für fäkaler immunologischer Test) mit grosser Sensitivität und Spezifität menschliches Blut im Stuhl nachweisen, doch folgen auf den Nachweis zur weiteren Abklärung regelmässig eine Koloskopie einschliesslich der präventiven Exzision und histopathologischen Untersuchung von Polypen, die zwar meist gutartig sind, jedoch als Krebsvorstufen (Präkanzerosen) bekannt sind.

Vergleichbar mit der Situation in vielen anderen Gesundheitssystemen übernimmt die Grundversicherung in der Schweiz die Kosten für Screening-Untersuchungen bei Bürgern im Alter von 50 bis unter 70 Jahren, konkret alle zwei Jahre einen iFOBT, alle zehn Jahre eine Koloskopie. Damit werden zwei Ziele verfolgt, einerseits die Entdeckung und Entfernung von Präkanzerosen, andererseits das frühzeitige Erkennen von Karzinomen, um deren rechtzeitige Therapie zu ermöglichen. Es ist sehr gut belegt, dass die Implementierung dieses Screening-Programms eine deutliche Reduktion der Inzidenz und der Mortalität kolorektaler Karzinome zur Folge hat. Auch die Kosteneffektivität, unter günstigen Bedingungen sogar die kostensenkenden Folgen und damit die überaus grosse Sinnhaftigkeit auch aus gesundheitsökonomischer Perspektive (technisch bis zur «Dominanz»: überlegenen Outcomes bei niedrigeren Gesamtkosten), sind sehr gut belegt (vgl. hierzu bei Ran et al. 2019). Das gilt sowohl für Strategien, die auf initialen Tests auf okkultes Blut im Stuhl aufbauen, als auch für Screening-Strategien mit einer Koloskopie alle zehn Jahre.

Herkömmliche Stuhltestverfahren auf okkultes Blut beruhen auf mit Guajakharz imprägniertem Filterpapier, das die Anwesenheit von Hämoglobin mit einer Farbreaktion anzeigt (sog. Guajak-basierten Tests oder «gFOBT»). Diese Tests sind nicht spezifisch für humanes Hämoglobin und können folglich nicht zwischen menschlichem Blut und Blutresten aus der Nahrung differenzieren. Die Entwicklung der immunologischen Nachweisverfahren («iFOBT») zählt zu den Innovationen der Laboratoriumsmedizin, die – der Mehrzahl der Studien und systematischen Reviews folgend – bezogen auf die zu erkennenden Zielerkrankungen «fortgeschrittenes Adenom oder Karzinom» eine gegenüber dem gFOBT signifikant erhöhte Sensitivität bei mindestens gleich guter Spezifität bieten. Es stehen mittlerweile sowohl qualitative («Point-of-Care», PoC) als auch in Laboratorien zentral auszuwertende quantitative iFOBT zur Verfügung. Dem Vorteil der einfacheren Handhabung der PoC-Tests steht neben der problematischen Qualitätssicherung gegenüber, dass zentral durchgeführte automatisierte Auswerteverfahren zuverlässiger und möglicherweise sogar kostengünstiger sind, die Möglichkeit risikoadaptierter Schwellenwerte (zum Beispiel anhand von Alter und Geschlecht) bieten und Datenerfassung und Dokumentation erleichtern (vgl. Kap. 5, «Zukunftspotenziale», und dort Abschn. 5.7.4, «Digitale Transformation der Laboratoriumsmedizin»).

Da wie stets bei diagnostischen Verfahren die mögliche Sensitivität zusammen mit der falsch-positiven Rate betrachtet werden muss, gelangte vor dem Hintergrund der Heterogenität der verfügbaren Tests der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) in Deutschland nach einem umfangreichen Evaluationsprozess im April 2016 zu der Empfehlung, dass ein für das Screening eingesetzter quantitativer iFOBT so kalibriert werden solle, dass er eine Spezifität von mindestens 90 % und eine Sensitivität von mindestens 25 % für fortgeschrittene Adenome oder Karzinome aufweist (G-BA 2017).

Angesichts ihrer technischen Überlegenheit gegenüber den hergebrachten gFOBT zeigen auch gesundheitsökonomische Modellierungen, dass die quantitativen iFOBT auch unter dem Gesichtspunkt der Kosteneffektivität gegenüber gFOBT als vorteilhaft zu bewerten sind (vgl. dazu Schlander et al. 2018).

4.2.3.3 Brustkrebs

Auf kantonaler Ebene werden Frauen ab 50 Jahren in der Schweiz Screening-Programme zur Früherkennung von Brustkrebs angeboten, die alle zwei Jahre die Durchführung einer Mammografie beinhalten. Ausserhalb dieser Programme werden die Kosten von Früherkennungs-Mammografien von der OKP bei Vorliegen eines familiär erhöhten Brustkrebsrisikos übernommen. Es gilt – mindestens auf der Basis konsistenter Befunde von Modellierungen; Ergebnisse randomisierter Langzeitstudien zur Mortalität gibt es (noch) nicht – als gut belegt, dass diese Programme die Zahl der Brustkrebstodesfälle reduzieren, freilich um den Preis falsch-positiver Befunde und deren Folgen (vgl. Mühlberger et al. 2021).

Verglichen mit ganz oder überwiegend altersbasierten Strategien könnten sich im Rahmen von Screening und Prävention risikoadaptierte Strategien als zukunftsträchtiger erweisen. Risiko-Stratifizierung kann beispielsweise anhand der familiären Belastung, genetischer Veranlagung, vorangegangener medizinischer Eingriffe von Biopsien über Hormoneinnahme bis zu einer Strahlentherapie und Zahl der Schwangerschaften erfolgen; es spricht einiges dafür, dass die häufigere Durchführung von Mammografien bei Hochrisikopatientinnen nicht nur zu besseren klinischen Ergebnissen führt, sondern unter bestimmten Prämissen auch mit gesundheitsökonomischer Vorteilhaftigkeit verbunden sein kann (siehe Khan et al. 2021; Mühlberger et al. 2021).

Mutationen der BRCA1- und BRCA2-Gene erhöhen das Risiko für die Entwicklung eines Mammakarzinoms, sondern auch für andere Krebsarten wie bestimmte Ovarialkarzinome. Normalerweise sind BRCA1- und BRCA2-Gene für die Produktion von Proteinen verantwortlich, die die Reparatur von beschädigtem Erbgut (DNA) unterstützen. Für Trägerinnen defekter BRCA1- und BRCA2-Varianten ist alleine das Risiko, Brustkrebs im Laufe ihres Lebens zu entwickeln, von 13 % auf 45 bis 72 % erhöht (vgl. Antoniou et al. 2003; Kuchenbaecker et al. 2017; Howlader et al. 2020). Es ist zu erwarten, dass vor diesem Hintergrund Tests auf BRCA-Gendefekte, welche mittels aus Blut- oder Speichelproben gewonnenem Zellmaterial durchgeführt werden können, an Bedeutung gewinnen werden. Aktuell werden Tests nur im Zusammenhang mit genetischer Beratung empfohlen; bei positivem Testergebnis schliessen aus heutiger Sicht die Handlungsoptionen engmaschiges Screening, prophylaktische chirurgische Massnahmen und «Chemoprävention» ein, letztere zum Beispiel mittels Tamoxifen (vgl. King 2001; Nazarali und Narod 2014) oder Raloxifen (Östrogen-Rezeptor-Modulatoren).

Besondere Hoffnungen sind mit der Anwendung einer neuen Generation von zielgerichteten Wirkstoffen, den Poly(ADP-Ribose)-Polymerase- oder kurz PARP-Inhibitoren (vgl. Mateo et al. 2019), verknüpft, doch liegt derzeit noch keine ausreichende Evidenz für eine Bewertung ihres Nutzens vor.

4.2.4 Labordiagnostik und zielgerichtete Therapien

Die eigentliche Domäne der Labormedizin in der Onkologie und zugleich ein für die Zukunft verheissungsvolles Forschungsfeld ist die Nutzung von Biomarkern als Werkzeug zur Ermöglichung für zielgerichteter Therapien («Targeted Therapies»). Forschungsschwerpunkte liegen sowohl auf der Tumorgenomtestung als auch der systematischen molekularen Testung von Tumortreibern. Aktuelle Entwicklungen sind die Einführung der Next Generation Sequencing (NGS)-Technik (einer verbesserten und schnelleren Technologie zur DNA-Sequenzierung, um immer mehr Patienten verschiedenster Tumorentitäten molekulargenetisch zu untersuchen (vgl. hierzu bei Grossmann et al. 2011 und Bauer et al. 2016; siehe Kap. 5, «Zukunftspotenziale und Präzisionsmedizin»). Wie schon der Abschn. 4.1.1 über Companion Diagnostics andeutete, haben bereits jetzt molekulargenetische Untersuchungen Eingang in aktuelle Behandlungsstandards und in onkologische Leitlinien gefunden (vgl. hierzu unter anderem bei Yuan et al. 2016 und Tang et al. 2018).

4.2.4.1 Biomarker

Die European Medicines Agency (EMA 2020) definiert Biomarker als «ein biologisches Molekül aus dem Blut oder anderen Körperflüssigkeiten oder Geweben, welches genutzt werden kann, um Vorgänge und Prozesse, wie auch Krankheiten bei Menschen und Tieren zu identifizieren.» Anwendung finden Biomarker in ganz verschiedenen Bereichen der Medizin. So ist das kardiale Troponin beispielhaft für einen diagnostischen Biomarker (für den Untergang von Herzzellen; vgl. hierzu die nachfolgenden Abschn. 4.4.2 ff., «Akuter Myokardinfarkt»). Genetische Biomarker spielen eine wichtige Rolle bei der Auswahl einer geeigneten Tumortherapie, aber auch bei der Vorhersage der Erfolgschancen einer Therapie.

4.2.4.2 Tumormarker

Gemäss der Definition der EMA werden nicht nur Companion Diagnostics, sondern auch die im klinischen Alltag genutzten Tumormarker den Biomarkern zugeordnet. Als Tumormarker werden eine Gruppe von biologischen Substanzen wie Proteine oder Peptide bezeichnet, die in Körperflüssigkeiten vorkommen.

In Folge eines Tumorleidens können diese Substanzen in ihrer Konzentration ansteigen. Wird dieser Anstieg gemessen, kann dies zur Entscheidunterstützung beim diagnostischen Prozess genutzt werden. Diese Marker eignen sich jedoch selten als Screening-Parameter und werden daher vielmehr als Verlaufsparameter oder zur Rezidivkontrolle genutzt (vgl. Thomas 2012; Tab. 4.4).

Tab. 4.4 Häufig genutzte Tumormarker. Eigene Darstellung in Anlehnung an DKFZ (2020), Sturgeon et al. (2008, 2010) und Thomas (2012)

4.2.4.3 Immunhistologische Marker

Weitere Biomarker können immunhistologischer Natur sein. Spezifische Antikörper erkennen bestimmte Strukturen, die wiederum eine histopathologische Diagnostik erlauben. Die Ergebnisse deuten dann auf eine bestimmte Gewebeart hin. Beispiele sind Vimentin (Sarkomer), Desmin (glatte und quergestreifte Muskulatur), CD20 (B-Lymphozyten), CD8 (zytotoxische T-Lymphozyten) und CD4 (Helfer-T-Lymphozyten).

Generell setzen molekularpathologische Verfahren, gleich ob sie die Polymerase-Kettenreaktion (PCR)- oder Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH)-Technik nutzen, als gewebebasierte Untersuchungen ein hohes Mass an Standardisierung und Qualitätssicherung präanalytischer Variablen voraus. Das beginnt mit der für die Untersuchung entnommenen Gewebeprobe; wenn aus dieser DNA extrahiert werden soll, enthält sie oft ein Gemisch aus neoplastischen und nichtneoplastischen Zellen mit schwankenden relativen Anteilen. Die Untersuchung nichtrepräsentativer Gewebeproben oder gar von nichtneoplastischem Gewebe müsste verfälschte Analyseergebnisse produzieren.

Zudem birgt die genetische Heterogenität von Tumoren das Risiko von Stichprobenfehlern mit der Folge der Therapie nur eines Subklons und damit der Schaffung kompetitiver Wachstumsvorteile von konkurrierenden therapieresistenten Subklonen (vgl. hierzu unter anderem bei Röcken 2016). Die genetische Tumorheterogenität kann sich überdies im Zeitverlauf verändern; die Erfassung neu entstandener Mutationen des Tumorgenoms im Rahmen der Verlaufskontrolle einer Krebserkrankung erfordert dann die erneute Gewinnung von Gewebeproben (vgl. dazu im Kap. 5, «Zukunftspotenziale der Laboratoriumsmedizin», den Abschn. 5.4.2, «Liquid Biopsies»).

Bei hormonproduzierenden Tumoren wiederum können die Hormone bzw. deren Abbauprodukte als Biomarker genutzt werden. Beispiele sind die Tumore Insulinom, Gastrinom, Prolaktinom und Phäochromozytom.

4.2.4.4 Zielgerichtete Tumortherapien («Targeted Therapies»)

Eine Vielzahl von zielgerichteten Therapien sind heute für die verschiedensten Krankheitsbilder zugelassen (vgl. Tab. 4.5: Von der amerikanischen FDA zugelassene Targeted Therapies für die Indikationen Lungen-, Darm- und Brustkrebs). Für einige gelten die Zulassungen sowohl für die Behandlung von malignen als auch benignen Tumoren. Darunter fallen vor allem Immuntherapien, Hormontherapien, Apoptose-Induktoren, Angiogenese-Inhibitoren, Toxinabgabemoleküle, monoklonale Antikörper, Genexpressionsmodulatoren und Signaltransduktionsinhibitoren.

Tab. 4.5 Von der amerikanischen FDA zugelassene Targeted Therapies. Eigene Darstellung. Datenquelle: NCI (2020)

Zu den zielgerichteten Therapien im weiteren Sinne zählt die Gruppe der Immunmodulatoren, bestehend aus monoklonalen Antikörpern und Checkpoint-Inhibitoren (Tab. 4.6; vgl. hierzu bei Heudobler et al. 2019), onkolytischen Viren, Krebsimpfstoffen und T-Zell- oder CAR-T-Therapien.

Tab. 4.6 Ausgewählte Checkpoint-Inhibitoren. Eigene Darstellung; angelehnt an Heudobler et al. (2019).Abkürzungen: CTLA-4, cytotoxic T-lymphocyte-associated protein 4; PD-1, programmed cell death protein 1; PD-L1, programmed death-ligand 1

Um die neuartigen zielgerichteten Therapieformen anzuwenden, müssen zunächst die genetischen Veränderungen identifiziert werden, welche zum unkontrollierten Zellwachstum führen. Damit die Therapie möglichst effektiv ist, müssen geeignete Zielstrukturen in den Zielzellen identifiziert werden.

Beispielsweise sind Checkpoint-Inhibitoren (Tab. 4.6) Antikörper, die gezielt die Bremse eines die körpereigene Immunabwehr gegen Krebszellen blockierenden «Checkpoints» lösen, der sonst die Körperabwehr an der Tumorbekämpfung hindern würde. Hierzu docken die Checkpoint-Inhibitoren an definierten Rezeptoren auf den T-Zellen an. Diese neuen Immuntherapeutika haben sich schnell als eine herausragende Bereicherung der Therapieoptionen vor allem für Lungenkarzinome und maligne Hauttumore erwiesen. Als ein wichtiger prädiktiver Marker für den Erfolg von Checkpoint-Inhibitoren gilt neben der PD-L1-Expression im Tumorgewebe die Mutationslast des Tumors (vgl. Heinzerling et al. 2019).

Die klassische Chemotherapie und Targeted Therapies zeichnen sich durch eine unterschiedliche Wirkungsweise und dementsprechend unterschiedliche Nebenwirkungsprofile aus. Schleimhautentzündungen, Hautveränderungen und der auffällige Haarausfall (Alopezie) treten bei zielgerichteten Krebstherapeutika eher selten auf, wohingegen Durchfall, Bluthochdruck und Leberschädigungen mit elevierten Leberenzymen häufig zu beobachten sind. Die Hauptursache dafür ist, dass die traditionelle Chemotherapie grundsätzlich sämtliche schnell teilende Zellen angreift, unabhängig davon, ob diese tumorfrei oder neoplastisch sind, wohingegen zielgerichtete Therapien tumorfreie Zellen nicht angreifen, dafür aber das Immunsystem aktivieren (vgl. van der Graaf et al. 2012).

Im Folgenden wird exemplarisch der klinische Nutzen der Diagnostik mit Biomarkern in Verbindung mit zielgerichteten Therapien bei den epidemiologisch wichtigsten Malignomen skizziert, also bei Tumoren der Lunge (Biomarker EGFR, ALK), des Darms (KRAS, BRAF) und der weiblichen Brust (HER2).

4.2.5 Krebserkrankungen im Kindesalter

Krebs ist primär eine Erkrankung des höheren Lebensalters. Dennoch verdienen Krebserkrankungen im Kindesalter eine spezielle Erwähnung, denn einerseits ist Krebs bei Kindern und Jugendlichen in der Schweiz die häufigste krankheitsbedingte Todesursache, andererseits sind schwere Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen für die Betroffenen immer besonders tragisch.

Glücklicherweise sind die absoluten Zahlen vergleichsweise niedrig; im Zeitraum von 2013 bis 2017 verstarben jedes Jahr durchschnittlich 36 Kinder und Jugendliche (2,15 pro 100.000) an einer Krebserkrankung (Quelle: Schweizerischer Krebsbericht 2021; vgl. dazu auch «GLOBOCAN» Global Cancer Statistics, und Arndt et al. 2016). Zwar nimmt die Anzahl der Krebsneuerkrankungen bei Kindern seit vielen Jahren zu (in absoluten Zahlen von 1988 bis 1992, 865 Fälle; von 2013 bis 2017, 1103 Fälle), während die Sterbefälle (in absoluten Zahlen von 1988 bis 1992, 226 Fälle, von 2013 bis 2017, 115 Fälle) eindeutig rückläufig sind. Die Anzahl der Neuerkrankungen für den Zeitraum von 1988 bis 2017 liegt bei 5827 Fällen; die korrespondierende Zahl der Sterbefälle wird mit 1011 berichtet. Demzufolge ist in der Schweiz pro Jahr mit etwa 250 neu an Krebs erkrankenden Kindern zu rechnen, wovon knapp ein Drittel den Leukämien im Kindesalter zuzuordnen sind – bei Einbezug von Jugendlichen etwa 25 % (vgl. Tab. 4.7).

Tab. 4.7 Häufigste Krebsarten bei Kindern in der Schweiz (1988 bis 2017). Kumulierte Zahlen. Eigene Darstellung; Datenquellen: BFS (2020) und KiKR (2020); Stand der Statistik, 12. November 2020

Die führenden Krebsdiagnosen bei Kindern fallen in den Bereich der Hämatologie (Leukämien und Lymphome). Bei den Leukämien im Kindesalter überwiegt die akute lymphoblastische Form («ALL») mit einem Anteil um 80 %; die zweite wichtige Form der Leukämien bei Kindern, die akute myeloische Leukämie («AML») tritt wesentlich seltener auf. In der Schweiz werden jährlich etwa 60 Kinder mit einer ALL neu diagnostiziert. Verlässliche Zahlen zu der von Leukämien verursachten Krankheitslast und zu den Kosten in der Schweiz liegen nicht vor.

Die enormen Therapiefortschritte bei Krebserkrankungen im Kindesalter zählen zu den herausragenden Erfolgsgeschichten der Humanmedizin; heute können mehr als vier von fünf Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen geheilt werden. Die Heilungsrate ist damit deutlich höher als bei Erwachsenen (vgl. NKRS 2020). Die 5-Jahres-Überlebensrate von Kindern, die zwischen 2008 und 2017 erkrankten, betrug um 86 %. Die besten Heilungschancen bestehen bei Lymphomen, Retinoblastomen, Nierentumoren und Keimzelltumoren (mit 5-Jahres-Überlebensraten über 90 %), Leukämien folgen mit einer Heilungsrate von um 88 % (Schweizerischer Krebsbericht 2021).

Die ALL ist keine homogene Erkrankung, denn die ursächlichen Veränderungen der Lymphozyten können auf unterschiedlich reifen Entwicklungsstufen auftreten und von unterschiedlichen Vorläuferzellen ausgehen, so dass zwei Hauptformen (T-Zell-ALL und B-Zell-ALL) und mehrere Unterformen der ALL unterschieden werden. Die jeweils vorliegende Form wird labordiagnostisch mittels mikroskopischer und zytochemischer und molekulargenetischer Methoden, der Immunphänotypisierung, der Zytogenetik und der in situ-Hybridisierung bestimmt und determiniert die optimale Therapie (vgl. Dworzak et al. 2018; Bodmer und Scheidegger 2020; Schrappe et al. 2021).

4.2.6 Lungenkarzinome

Im Fall nichtkleinzelliger Bronchialkarzinome, die mehr als 80 % aller bösartigen Lungentumore ausmachen, führt die Detektion von Treibermutationen (vor allem EGFR-Mutationen in 17 % und ALK-Translokationen in 7 % der Fälle) zu einer zielgerichteten Therapie mit Tyrosinkinase-Inhibitoren, mit denen erhebliche Verbesserungen des progressionsfreien und Gesamtüberlebens gegenüber herkömmlicher Chemotherapie erreicht werden.

4.2.6.1 Epidemiologie von Lungenkrebs

Männer sind in der Schweiz mit 2741 Neuerkrankungen pro Jahr häufiger von Lungenkrebs betroffen als Frauen mit jährlich 1830 Neuerkrankungen (Verhältnis der Neuerkrankungen etwa 1,5 zu 1; Tab. 4.8). Zugleich stellen Bronchialkarzinome nach dem Prostatakarzinom beim Mann die zweithäufigste Tumorentität (11,9 % aller Tumore) und weisen den höchsten Anteil an der tumorassoziierten Mortalität von Männern (21,3 %) auf. Bei den Frauen handelt es sich um die dritthäufigste Tumorentität (9,3 % aller Tumore) und die Entität mit dem zweithöchsten Anteil an der Krebsmortalität (16,2 %; Datenquelle: NKRS 2020).

Tab. 4.8 Epidemiologie des Bronchialkarzinoms (Schweiz). Jahreswerte; Durchschnitt der Jahre 2013 bis 2017. Datenquelle: NKRS (2020)

Das mediane Erkrankungsalter liegt bei 68 respektive 70 Jahren für Männer und Frauen. Die altersstandardisierte Inzidenz korrespondiert mit diesen Zahlen; sie liegt bei Männern in der Altersgruppe 0–54 Jahre bei 7,1 gegenüber ≥ 55 Jahre bei 246,3 pro 100.000 Personenjahren, bei Frauen bei 5,5 beziehungsweise 127,2. Das mittlere Alter für die tumorassoziierte Sterblichkeit liegt dabei nur unweit vom Erkrankungsalter entfernt mit 72 beziehungsweise 70 Jahren für Männer und Frauen (Datenquelle: National Institute for Cancer Epidemiology and Registration, NICER 2020).

Die Daten in Abb. 4.10 belegen, dass sowohl die Inzidenz als auch die Anzahl der Sterbefälle bei Männern in der Schweiz im europäischen Vergleich sehr niedrig ist, bei Frauen jedoch lediglich im Durchschnitt liegt (vgl. Ferlay et al. 2018).

4.2.6.2 Kosten von Lungenkrebs

Kostenschätzungen für die Schweiz liegen nur für das Jahr 2011 aus einer für das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erstellten Studie von Polynomics (Olten) vor. Dieser Untersuchung zufolge können sich die direkten medizinischen Kosten pro Patient im letzten Behandlungsjahr auf bis zu ca. 140.000 CHF belaufen. Demzufolge ist das Bronchialkarzinom mit direkten medizinischen Kosten von von 721 Mio. CHF (im Jahr 2011) die nach Darmkrebserkrankungen für die OKP teuerste aller Krebsarten (Wieser et al. 2014).

Eine im Jahr 2013 vorgelegte europäische Analyse bietet in einem umfangreichen Appendix eine Dokumentation krebsartenspezifischer Kosteninformationen für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union für das Jahr 2009, denen zumindest Anhaltspunkte für die in einem europäischen Kontext zu erwartende Verteilung der Kosten aus einer gesellschaftlichen Perspektive entnommen werden können (Luengo-Ferrandez et al. 2013). Lungenkrebs verursacht nach dieser Analyse höhere mortalitätsbedingte Produktivitätsausfälle als jede andere Krebsart in Europa (9,9 Mrd. EUR von insgesamt auf Krebs zurückführbare 42,6 Mrd. EUR in 2009). Das sind zugleich mehr als alle anderen Kosten von Lungenkrebs zusammen (siehe Abb. 4.11).

Abb. 4.11
figure 11

Gesellschaftliche Kosten von Lungenkrebs in Europa [Mio. EUR (2009)]. Eigene Darstellung unter Verwendung von Daten aus der Studie von Luengo-Fernandez et al. (2013)

4.2.6.3 Zielgerichtete Therapie des Lungenkarzinoms

Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf nichtkleinzellige Bronchialkarzinome (Non-Small Cell Lung Cancer, NSCLC), welche mit 80 bis 90 % den grössten Anteil aller bösartigen Lungetumore ausmachen (vgl. American College of Physicians 2018). Aufgrund der zahlreichen Genmutationen ist das Lungenkarzinom geradezu eine Modellindikation für die moderne «Präzisionsonkologie». Dabei sind besonders EGFR- oder BRAF-Mutationen und ALK- beziehungsweise ROS1-Genfusionen von hoher klinischer Relevanz.

Rund 40 % der NSCLC-Patienten werden erst im Stadium IV diagnostiziert (vgl. Travis et al. 2015). Mediane Überlebenszeiten im Stadium IV lagen lange Zeit bei nur 8 bis 12 Monaten und konnten erst durch modernere Therapieverfahren auf bis zu teilweise mehrere Jahre verlängert werden.

Nach den Schweizer Leitlinien – ähnlich den Empfehlungen der AWMF in Deutschland und des NCCN in den Vereinigten Staaten (siehe Tab. 4.9) – bekommt jeder Patient im Stadium IV vor Behandlung eine auf Biomarkern basierende, molekularbiologische Untersuchung sowie eine immunhistochemische Bestimmung von PD-L1. Erst auf dieser Grundlage kann die bestmögliche Therapie bestimmt werden; sie richtet sich stark nach einer molekulargenetischen Stratifizierung respektive einem immunhistochemischen Ergebnis.

Tab. 4.9 Bronchialkarzinom: Molekulargenetische Standarduntersuchungen im Stadium IV. Eigene Darstellung nach AWMF (2018); SGMO (2019); NCCN (2020). Abkürzungen: ALK, anaplastic lymphoma kinase; AWMF, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften; BRAF, proto-oncogene B-Raf; EGFR, epidermal growth factor receptor; NCCN, National Comprehensive Cancer Network; ROS1, c-ros oncogene 1; SGMO, Schweizerische Gesellschaft für Medizinische Onkologie

Nach detektierter Treibermutation können verschiedene Tyrosinkinase-Inhibitoren (TKI) verwendet werden. Bei Resistenzbildung gegenüber einem TKI kann auf TKI der Folgegenerationen zurückgegriffen werden – bei EGFR-Mutation (17 % der Fälle): Afatinib, Dacomitinib, Erlotinib, Osimertinib; bei ALK-Translokation (7 %): Alectinib, Brigatinib, Ceritinib, Crizotinib, Lorlatinib; bei ROS1-Fusionen (2 %): Ceritinib, Crizotinib, Cabozantinib, Lorlatinib; bei BRAF V600 Mutation (3 %): Dabrafenib mit Trametinib – alle genannten Wirkstoffe zugelassen von Swissmedic (vgl. Hochmair et al. 2019).

Patienten im Stadium IV ohne Treibermutation werden durch eine immunhistochemische Untersuchung auf die Expression des PD-L1 (programmed death-ligand 1) auf den Tumorzellen analysiert und daraufhin mit Targeted Therapies im weiteren Sinne behandelt. Dabei kommen Immun-Checkpoint-Inhibitoren wie zum Beispiel Pembrolizumab zum Einsatz (vgl. hierzu bei Kauffmann-Guerrero et al. 2020).

Den patientenbezogenen klinischen Nutzen der molekularbiologischen und genetischen Diagnostik beim fortgeschrittenen NSCLC demonstrieren am Beispiel der beiden häufigsten Fälle, einer EGFR-Mutation und einer ALK-Translokation, die in Tab. 4.10 zusammengestellten Ergebnisse randomisierter kontrollierter Studien. Sie zeigen näherungsweise eine Verdoppelung der progressionsfreien Überlebenszeit (PFÜ; auch progression-free survival, PFF).

Tab. 4.10 Bronchialkarzinom: Neue zielgerichtete Wirkstoffe und progressionsfreie Überlebenszeit (PFÜ) im fortgeschrittenen Stadium. ALK, anaplastic lymphoma kinase; EGFR, epidermal growth factor receptor. Eigene Darstellung

Noch deutlicher wird der erzielte Fortschritt, wenn man die Fünf-Jahres-Überlebensrate von Patienten mit Lungenkrebs (NSCLC) von unter 11 % im Jahr 1973 mit den entsprechenden Raten von über 23 % in der KEYNOTE-001-Studie in de novo-Patienten unter Pembrolizumab-Monotherapie (vgl. Garon et al. 2019) und von 62,5 % in der ALEX-Studie in Patienten mit ALK-Mutation unter Alectinib-Therapie vergleicht (vgl. Mok et al. 2020). Kurzum, die Einführung zielgerichteter Therapien und von Immunotherapien haben geradezu eine Revolution der Behandlung des NSCLC gebracht; etliche klinische Studien belegen hohe und dauerhafte Ansprechraten verglichen mit konventioneller Chemotherapie auf der Basis molekularer Typisierung und Checkpoint-Inhibition.

4.2.6.4 Gesundheitsökonomische Bewertung

Zahlreiche gesundheitsökonomische Analysen widmeten sich dem Kosten-Nutzen-Verhältnis der neuen gezielten Therapieansätze für das fortgeschrittene oder metastasierte Bronchialkarzinom. Einem aktuellen systematischen Review folgend waren EGFR-basierte Behandlungsstrategien mit einer TKI-Therapie für auf die Mutation positiv getestete Patienten verglichen mit einer TKI-Behandlung aller Patienten ohne EGFR-Test regelmässig ökonomisch überlegen – in vier von fünf Fällen sogar ökonomisch dominant, das heisst kostensparend bei gleichzeitig besseren Outcomes (vgl. Henderson et al. 2021a). Eine Schweizer Studie verglich eine Immuntherapie mit Nivolumab bei positivem immunhistochemischen PD-L1-Test mit Immuntherapie für alle Patienten und fand eine inkrementelle Kosten-Effektivitäts-Relation (incremental cost effectiveness ratio, ICER) in der Dimension von 31.000 CHF bis 45.000 CHF pro zusätzlich gewonnenem Lebensjahr (Matter-Walstra et al. 2016), also einer Grössenordnung, die gemeinhin als kosteneffektiv angesehen wird.

Mit Jahresende 2019 lagen insgesamt 37 qualitativ hochwertige gesundheitsökonomische Studien vor, die die Kosteneffektivität von 64 Diagnose-Behandlungs-Szenarien analysierten. Gut die Hälfte der Szenarien wurden nach jeweiligen lokalen Standards als kosteneffektiv bewertet; die übrigen erreichten nicht oder noch nicht die national üblichen Schwellenwerte. Ein klarer Befund des Reviews war die Beobachtung, dass in allen Szenarien die Therapiekosten der entscheidende Kostentreiber, die Tests demgegenüber der Werttreiber waren. Die Diagnostik schafft zu einem Bruchteil der Kosten der Therapie Wert durch das Auffinden jener Patienten, die von einer Therapie profitieren und durch die Reduktion von Kosten und vermeidbaren Nebenwirkungen aufgrund des Ausschlusses von Patienten, die von einer bestimmten gezielten Therapie nicht profitieren (siehe Henderson et al. 2021a).

Mit der Einführung von nichtinvasiven Flüssigbiopsien («Liquid Biopsies») zum Nachweis von EGFR-Mutationen im Plasma ist eine weitere Verbesserung der Kosten-Nutzen-Relation zu erwarten (siehe auch Kap. 5, «Zukunftspotenziale», und dort Abschn. 5.4.2). Aktuelle relevante Kosten für Deutschland werden wie in Tab. 4.11 zusammengefasst angegeben.

Tab. 4.11 Kostenvergleich EGFR-Mutations-Tests und TKI-Therapie. Aktuelle Daten für Deutschland. Quelle: Oellerich et al. (2017, 2019)

Eckdaten «Bronchialkarzinom»

  1. a)

    Inzidenz/Neuerkrankungen

    Inzidenz Gesamt (absolut/relativ):

    4571/10,70 % (NKRS 2020)

    Inzidenz Männer (absolut/relativ):

    2741/11,90 % (NKRS 2020)

    Inzidenz Frauen (absolut/relativ):

    1830/9,30 % (NKRS 2020)

  2. b)

    Krankheitslast und Mortalität

    DALYs Gesamt (absolut):

    77.131 (WHO 2018)

    DALYs Gesamt (relativ):

    3,72 % (WHO 2018)

    DALYs Anteil an Krebs (relativ):

    20,10 % (WHO 2018)

    Mortalität Gesamt (absolut/relativ):

    3235/19,00 % (NKRS 2020)

    Mortalität Männer (absolut/relativ):

    1999/21,30 % (NKRS 2020)

    Mortalität Frauen (absolut/relativ):

    1236/16,20 % (NKRS 2020)

  3. c)

    Kosten aus Perspektive der OKP

    Direkte medizinische Kosten für die Schweiz belaufen sich auf etwa 721 Mio. CHF; indirekte Kosten explizit in Bezug auf die Behandlung des Bronchialkarzinoms sind nicht verfügbar (vgl. Wieser et al. 2014)

  4. d)

    Kosten wesentlicher medizinischer/therapeutischer Massnahmen

    Medizinische Kosten pro Patient belaufen sich im letzten Behandlungsjahr auf bis zu 140.000 CHF (Wieser et al. 2014);

    Behandlungskosten pro Tag ausgewählter TKI-Therapien:

    Erlotinib: 96 EUR; Gefitinib: 115 EUR (vgl. Oellerich et al. 2019)

  5. e)

    Kosten relevanter Labortests/-diagnostika

    Testkosten Immunhistochemie

    ohne Biopsie:

    165 EUR (Oellerich et al. 2019)

    mit Gewebebiopsie:

    1835 EUR (Oellerich et al. 2019)

    mit CT-geführter Biopsie:

    492 EUR (Oellerich et al. 2019)

    Testkosten Plasma-Test

    Kosten (laut NICE):

    196 EUR (Oellerich et al. 2019)

    Erstattung (ohne Biopsie):

    426 EUR (Oellerich et al. 2019)

4.2.7 Kolorektale Karzinome

In den frühen Stadien eines kolorektalen Karzinoms (CRC) stehen operative Therapien im Vordergrund. Allerdings wird rund ein Viertel aller CRCs erst im metastasierten Spätstadium erkannt; weitere 20 % der in früheren Stadien diagnostizierten Fälle entwickeln später Metastasen. Signifikante Verbesserungen des – insgesamt immer noch unbefriedigenden – progressionsfreien und Gesamtüberlebens über die mit Standardchemotherapie erzielten Ergebnisse hinaus gelingen erst mit zielgerichteten Therapien (Anti-EGFR-Antikörper, Anti-Angiogenese-Wirkstoffe, Immun-Checkpoint-Inhibitoren), deren richtige individuelle Auswahl entscheidend vom Ergebnis molekulargenetischer Tests (vorrangig Bestimmungen des RAS- und BRAF-Mutationsstatus) abhängt.

4.2.7.1 Epidemiologie von Darmkrebs

Die absolute Anzahl an NeudiagnosenFootnote 2 (Ein-Jahres-Inzidenz) kolorektaler Karzinome (Colorectal Cancer, kurz CRC) in der Schweiz beträgt 2525 für Männer und 1976 für Frauen. Damit zeigen CRCs die (bei Männern) dritt- respektive (bei Frauen) zweithöchste Inzidenz aller Tumorarten (Datenquelle: NKRS 2020; Tab. 4.12). Im Mittel erhalten die männlichen Patienten die Erstdiagnose mit 71 Jahren und Frauen mit 73 Jahren.

Tab. 4.12 Epidemiologie kolorektaler Krebserkrankungen (Schweiz). Jahreswerte; Durchschnitt der Jahre 2013 bis 2017. Quelle: NKRS (2020)

Die altersstandardisierte Inzidenz liegt in der Altersgruppe von 0 bis 54 Jahren für Männer bei 8,5 und Frauen bei 8,3 pro 100.000 Personenjahre, in der Gruppe ≥ 55 Jahre dagegen bei 221,2 für Männer und 131,0 für Frauen – mit dem Höchstwert für Personen im Alter von über 75 Jahren (Datenquelle: NICER 2020). Das Lebenszeitrisiko, an Dickdarmkrebs zu erkranken, liegt bei etwa 6 % für Männer und bei 5 % für Frauen (Lorez et al. 2016). Dabei verursachen kolorektale Karzinome in der Schweiz nahezu 1700 Todesfälle pro Jahr.

In der jüngeren Vergangenheit haben sich die altersstandardisierte Krankheitslast (vgl. Abb. 4.6) und die 5-Jahres- und 10-Jahres-Überlebensraten in der Schweiz positiv entwickelt. So überlebten im Zeitraum der Jahre von 2008 bis 2012 schon 57 % der erkrankten Männer und 59 % der erkrankten Frauen. Für die 10-Jahres-Überlebensrate werden 54 % für Männer und 56 % für Frauen angegeben (Datenquelle: Schweizerischer Krebsbericht 2015).

Im europäischen Vergleich zeigt sich, dass die Inzidenz (standardisierte Neuerkrankungsfälle), mehr noch aber die Mortalität (die standardisierte Zahl der Sterbefälle), in der Schweiz relativ niedrige Werte aufweisen (siehe Abb. 4.12; vgl. Ferlay et al. 2018).

Abb. 4.12
figure 12figure 12

Kolorektale Karzinome: Inzidenz und Mortalität im europäischen Vergleich. Eigene Darstellung in Anlehnung an Ferlay et al. (2018) Inzidenz altersstandardisiert pro 100.000 Einwohner (2018); Mortalität altersstandardisiert pro 100.000 Einwohner (2018)

4.2.7.2 Kosten von Darmkrebs

Zu den direkten und indirekten Kosten des CRC liegen detaillierte Informationen aus einer methodisch anspruchsvollen europäischen Analyse für das Jahr 2015 vor (Abb. 4.13; vgl. Henderson et al. 2021b).

Abb. 4.13
figure 13

CRC-bedingte Krankheitskosten aus gesellschaftlicher Perspektive. Umrechnung lokaler Währungen in Euro (2015) mittels Kaufkraftparitäten; eigene Darstellung. Indirekte Kosten: «Mortalität»: mortalitätsbedingte Produktivitätsausfälle «Morbidität»: morbiditätsbedingte Produktivitätsausfälle Direkte Kosten: medizinische Behandlungskosten inkl. Arzneimittel. Datenquelle: Henderson et al. (2021b)

Dieser Studie zufolge entstanden in den 33 untersuchten europäischen Ländern gesellschaftliche Kosten in Höhe von insgesamt 19,1 Mrd. €, davon 11,6 Mrd. € (d. h., über 60 %) als indirekte Kosten primär aufgrund von Produktivitätsausfällen (9,3 Mrd. €), sekundär auf den Wert informeller Pflegeleistungen (2,2 Mrd. €) entfielen. Die direkten Gesundheitskosten in Höhe von 7,5 Mrd. € (entsprechend knapp 40 % der gesamten gesellschaftlichen Belastung) verteilten sich auf Spitalbehandlungen (3,3 Mrd. € oder 43,4 % der CRCs zuschreibbaren Gesundheitsausgaben), onkologische Arzneimittel (1,9 Mrd. € oder anteilig 25,6 %), ambulante (einschliesslich hausärztlicher) Versorgung (insgesamt 2,0 Mrd. € oder 27,0 %) und Notfallbehandlungen (300 Mio. € oder 3,9 %). Für die Schweiz wurde ein sehr ähnliches Muster ermittelt bei relativ höherem Anteil der Spitäler (59,1 Mio. € oder 65,5 %) und relativ niedrigerem Anteil der Arzneimittel (16,8 Mio. € oder 18,7 %) an den direkten Kosten (90,2 Mio. €). Der Anteil der CRCs zuschreibbaren medizinischen Kosten an den gesamten Gesundheitsausgaben in der Schweiz lag mit 0,4 % geringfügig unter dem europäischen Durchschnitt von 0,5 % (Abb. 4.12). Mit den Produktivitätsausfällen sollen sich dieser Studie zufolge die CRC zuschreibbaren Kosten in der Schweiz auf 251 Mio. € im Jahr 2015 summiert haben.

Insgesamt bewegte sich nach diesen Daten im Jahr 2015 das schweizerische Kostenniveau kaufkraftbereinigt nahe an den europäischen Durchschnittswerten; während die direkten Kosten pro Fall in der Schweiz geringfügig höher ausfielen (Schweiz 2590 € versus Europa 2351 €), lag die Kostenbelastung pro Einwohner mit 11 € p.a. leicht unter dem ermittelten europäischen Mittelwert von 12 € (vgl. Henderson et al. 2021b).

Eine frühere, methodisch anders aufgebaute Kostenschätzung für das BAG hatte für das Jahr 2011 die CRC-verursachten direkten medizinischen Kosten in der Schweiz noch mit 945 Mio. CHF angegeben; die Kosten pro CRC-Patient sollten sich zwischen ca. 75.000 CHF im ersten Jahr nach Diagnosestellung, ca. 8500 CHF in den Folgejahren und ca. 146.000 CHF im letzten Behandlungsjahr bewegen (vgl. Wieser et al. 2014). Die Diskrepanz zwischen beiden Schätzungen ist vermutlich zum Teil auf unterschiedliche methodische Ansätze zurückführbar.Footnote 3 Die Anteile der stationären und ambulanten Kosten sind in beiden Studien ähnlich und konsistent mit der in der jüngeren Studie berichteten Tendenz einer relativen Abnahme der stationären Kosten zwischen 2009 und 2015.

4.2.7.3 Zielgerichtete Therapie des kolorektalen Karzinoms

Über alle Stadien hinweg wird beim Rektumkarzinom wie auch beim Kolonkarzinom eine operative Therapie mit Entfernung des Tumors angestrebt. Der tumorbehaftete Abschnitt wird dabei en bloc reseziert, ebenso wie die Lymphknoten im Lymphabflussgebiet des Tumors. Abhängig vom Tumortyp, der Ausbreitung und des Stadiums kann prä- oder postoperativ eine neoadjuvante oder adjuvante Chemo- oder Radiotherapie erfolgen, um die Tumormasse zu reduzieren und den Behandlungserfolg zu stabilisieren.

Tumormarker. Schon präoperativ ist eine Bestimmung des karzinoembryonalen Antigens (carcinoembyonic antigen, CEA) angezeigt, das bereits zum Zeitpunkt der Erstdiagnose in bis zu einem Drittel der Fälle erhöht ist. Dieser Tumormarker ist zum Monitoring des Therapieerfolgs nützlich und gilt als äusserst zuverlässiger Indikator von Rezidiven, der von grossem prognostischen Wert für das Auftreten von Lebermetastasen ist. Regelmässige CEA-Kontrollen erwiesen sich gegenüber Koloskopie und bildgebenden Verfahren (Computertomografie und Ultraschall) überlegen für die frühe Erkennung einer Lebermetastasierung (vgl. AWMF-Leitlinie Kolorektales Karzinom 2019).

Trotz effektiven Screenings- und Präventionsprogrammen wird nahezu ein Viertel aller CRCs erst in einem fortgeschrittenen metastasierten Stadium diagnostiziert und etwa 20 % der übrigen Fälle entwickeln später eine «metachrone» Metastasierung. In diesen Fällen stellt die antineoplastische Chemotherapie das Rückgrat der weiteren Behandlung dar.

Seit mehreren Jahrzehnten ist 5-Flourouracil (5-FU) das zentrale Element der Chemotherapie und wird auch noch heute angewendet. Neuartige Chemotherapeutika kommen primär als Kombinationswirkstoffe zur Anwendung. Die nachfolgende Darstellung bezieht sich im Wesentlichen auf das Kolonkarzinom, eine vereinfachte Übersicht der heutigen Standardtherapie des Kolonkarzinoms mit Fokus auf das fortgeschrittene Stadium IV (mit Metastasierung) gibt Abb. 4.14.

Abb. 4.14
figure 14

Vereinfachter Therapiepfad des Kolonkarzinoms. Eigene Darstellung angelehnt an die SGMO-Leitlinie Kolonkarzinom (vgl. Hofheinz et al. 2018) Abkürzungen: Anti-EGFR AK, anti-epidermal growth factor receptor- Antikörper; BSC, best supportive care

Mit den heute als chemotherapeutischer Standard angesehenen Kombinationsschemata,

  • «FOLFOX»: 5-FU + Folinsäure + Oxaliplatin,

  • «FOLFIRI»: 5-FU + Folinsäure + Irinotecan,

  • «FOLFOXIRI»: 5-FU + Folinsäure + Oxaliplatin + Irinotecan,

    und

  • «CAPOX» oder «XELOX»: Capecitabin (oder Xeloda) + Oxaliplatin,

kann im Stadium IV ein Gesamtüberleben in einer Grössenordnung von durchschnittlich 20 Monaten erreicht werden, wobei FOLFOXIRI bei nach neueren Studien eher fraglichen Überlebensvorteilen wegen der Toxizität Patienten in einem guten Allgemeinzustand vorbehalten bleiben muss (vgl. Xie et al. 2020).

Angesichts der systemischen Toxizität und der unbefriedigenden Ansprechraten auf Chemotherapie wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, zielgerichtete Therapien für kolorektale Karzinome zu entwickeln. Die bislang wichtigsten Ansätze konzentrierten sich auf die EGFR-, BRAF- und VEGF/VEFGR-vermittelten Mechanismen und führten seit der Einführung von Cetuximab und Bevacizumab in die Therapie des metastasierten CRC im Februar 2004 zu neun durch die FDA zugelassenen neuen Wirkstoffen (Tab. 4.13).

Tab. 4.13 Gezielte Therapeutika («Targeted Therapies») des metastasierten CRC mit Zulassung der Food and Drug Administration (FDA). Abkürzungen: EGFR, epidermal growth factor receptor; VEGF, vascular endothelial growth factor; VEGFR, vascular endothelial growth factor receptor; ICPI, immune checkpoint inhibitor. Quelle: Xie et al. (2020)

Der optimale Einsatz zielgerichteter Medikamente bedingt eine initiale molekularbiologische Diagnostik vor Therapiebeginn. Diese muss eine Analyse des Mutationszustandes der RAS-Gene (im EGFR-Pathway) KRAS und NRAS ebenso wie des BRAF-Gens beinhalten, ergänzt durch eine Analyse der Mikrosatelliteninstabilität (MSI). Nur so kann gewährleistet werden, dass Patienten die individuell optimale Behandlung erhalten.

Etwa die Hälfte aller metastasierten CRCs weisen eine KRAS- oder NRAS-Mutation auf; in diesen Fällen muss von der Unwirksamkeit oder sogar Schädlichkeit der gegen EGFR gerichteten Antikörper-Präparate (Cetuximab und Panitumab) ausgegangen werden (AWMF-Leitlinie Kolorektales Karzinom 2019); das heisst, das Vorliegen einer RAS-Mutation hat negative prädiktive Bedeutung für die Therapie mit Anti-EGFR-Antikörpern (vgl. für die Bedeutung der RAS-Testung für die Wirksamkeit von Cetuximab Tab. 4.14 und 4.15).

Tab. 4.14 Klinischer Nutzen des Tests auf RAS-Mutationen: Wirksamkeit der Erstlinientherapie mit Cetuximab in Kombination mit FOLFIRI- bzw. FOLFOX-Standardtherapie bei Patienten mit metastasiertem CRC in Abhängigkeit vom RAS-Mutationsstatus. Abkürzungen: FOLFIRI, FOLFOX, siehe Text; OS, overall survival (Gesamtüberlebenszeit); PFS, progression-free survival (progressionsfreie Überlebenszeit); KI, Konfidenzintervall. Quelle: European Medicines Agency (EMA 2009). Alle relevanten Studien aus dem EMA-Dokument Summary of Product Characteristics zu Erbitux (Cetuximab), «Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels», 29.06.2009
Tab. 4.15 Klinischer Nutzen des Tests auf RAS-Mutationen: Wirksamkeit der Monotherapie mit Cetuximab versus Best Supportive Care bei austherapierten Patienten mit metastasiertem CRC in Abhängigkeit vom RAS-Mutationsstatus. Abkürzungen: BSC, best supportive care (optimale unterstützende Massnahmen); OS, overall survival (Gesamtüberlebenszeit); PFS, progression-free survival (progressionsfreie Überlebenszeit); KI, Konfidenzintervall. Quelle: European Medicines Agency (EMA 2009). Dokument Summary of Product Characteristics zu Erbitux (Cetuximab), «Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels», 29.06.2009

Liegt eine BRAF V600 Mutation vor, die häufig gemeinsam mit Mikrosatelliteninstabilität (MSI) auftritt, wobei es sich dann um sporadisch auftretende Defekte der Mismatch-DNA-Reparatur («dMMR») handelt, so ist von einer ungünstigen Prognose auszugehen. Die klinische Konsequenz kann dann die Einleitung einer besonders aggressiven Chemotherapie sein, zum Beispiel mit FOLFOXIRI plus einem Anti-Angiogenese-Wirkstoff, in der Regel Bevacizumab.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die molekulare Testung auf den RAS-Status eine entscheidende Voraussetzung für den Erfolg einer Therapie mit den Anti-EGFR-Antikörpern Cetuximab und Panitumab darstellt (vgl. Hofheinz et al. 2018; AWMF-Leitline Kolorektales Karzinom 2019). Die Daten zur therapeutischen Wirksamkeit der Anti-EGFR-Antikörper bei Patienten mit RAS-Wildtyp sowohl in der Erstlinienbehandlung in Kombination mit Standardchemotherapien (exemplarisch gezeigt für Cetuximab in Tab. 4.14) als auch als Monotherapie in chemotherapierefraktären Spätstadien (vgl. Tab. 4.15) belegen eindeutig den klinischen Nutzen der RAS-Testung. Diese frühen Befunde wurden seither in zahlreichen weiteren Studien bestätigt, für Cetuximab als Erstlinientherapie in Kombination mit FOLFOX, FOLFIRI und FOLFOXIRI, für Panitumumab überwiegend in Kombination mit FOLFOX (vgl. Garcia-Foncillas et al. 2019).

Für die gezielten Anti-Angiogenese-Wirkstoffe (Bevacizumab, Ziv-aflibercept, Regorafenib, Ramucirumab; siehe Tab. 4.13) steht dagegen noch kein validierter prognostischer Biomarker zur Verfügung.

4.2.7.4 Gesundheitsökonomische Bewertung

Eine Vielzahl gesundheitsökonomischer Analysen galten eineseits dem hier ausgeklammerten Testen auf genetische Risikofaktoren, andererseits dem Kosten-Nutzen-Verhältnis der Targeted Therapies, was angesichts der klinischen Daten (siehe Tab. 4.14 und 4.15) vor allem auf die hohen Kosten der Therapie mit Cetuximab und Panitumumab verglichen mit den Kosten der Diagnostik (vgl. Tab. 4.16) nachvollziehbar ist.

Tab. 4.16 Kostenvergleich RAS-Mutations-Tests und Anti-EGFR-Therapie. Daten für USA/Kostenangaben in USD. Quelle: Graham et al. (2015)

Mindestens sechs internationale Analysen verschiedener Teststrategien zur Identifikation jener Patienten mit einem metastasierten CRC (mCRC), die Träger des RAS-Wild Type sind und daher von einer Anti-EGFR-Therapie profitieren können, überprüften alle die Kosteneffektivität der Testung in Kombination mit einer Therapie im Vergleich zu keiner Testung und keiner Therapie oder im Vergleich zu einer Anti-EGFR-Therapie aller mCRC-Patienten ohne vorherige Testung (vgl. Unim et al. 2020). Diese Evaluationen zeigen trotz heterogener Studiendesigns in grosser Übereinstimmung, dass aus der untersuchten Perspektive einer Krankenversicherung (bzw. der «Zahler» oder eines Gesundheitssystems) die vorherige Testung und anschliessende Therapie dem undifferenzierten Vorgehen einer Anti-EGFR-Therapie aller Patienten mit metastasiertem CRC auch aus ökonomischer Perspektive vorzuziehen ist.

Eine Schweizer Modellierung nur für Patienten im chemorefraktären Endstadium überprüfte die Kosteneffektivität verschiedener Teststrategien in Verbindung mit einer Cetuximab-Monotherapie oder Best Supportive Care und fand für diese Gruppe kombiniertes Testen auf KRAS und BRAF nach der konventionellen gesundheitsökonomischen Logik noch kosteneffektiv mit einer geschätzten inkrementellen Kosten-Effektivitäts-Relation («ICER») von fast 94.000 CHF je zusätzlich gewonnenem QALY. Probabilistische und deterministische Sensitivitätsanalysen zeigten mit Blick auf die Kosten (vgl. Tab. 4.17), dass die Kosteneffektivität entscheidend von den Akquisitionskosten der Medikation, dagegen fast nicht von den Testkosten beeinflusst wurde (vgl. Blank et al. 2011).

Tab. 4.17 Kosten KRAS/RAS-Mutations-Tests und Cetuximab-Therapie. Ausgewählte Schweizer Daten aus der Studie von Blank et al. (2011); aus der «Perspektive des Gesundheitssystems» (Jahre 2005/2010). (Spitalkosten umfassten kantonale und OKP-getragene Anteile)

Damit erweist sich die RAS-Mutations-Analyse – ähnlich der molekulargenetischen Tests bei Bronchialkarzinomen – gegenwärtig aus gesundheitsökonomischer Perspektive als ein primärer Werttreiber, während den Arzneimitteln innerhalb des Paradigmas der zielgerichteten Therapie des metastasierten CRC eher die Rolle eines (Wert- und) Kostentreibers zufällt. Angesichts der trotz aller erreichten Fortschritte insgesamt immer noch infausten Prognose der kolorektalen Karzinome im metastasierten Stadium IV besteht erheblicher Forschungsbedarf und korrespondierend eine grosse Forschungsintensität mit dem Ziel der Entwicklung effektiverer zielgerichteter und immunologischer Therapieansätze (siehe auch Kap. 5, «Zukunftspotenziale der Labormedizin», insbesondere Abschn. 5.3.2.2).

Eckdaten «Kolorektales Karzinom (CRC)»

  1. a)

    Inzidenz/Neuerkrankungen

    Inzidenz Gesamt (absolut/relativ):

    4501/10,50 % (NKRS 2020)

    Inzidenz Männer (absolut/relativ):

    2525/10,90 % (NKRS 2020)

    Inzidenz Frauen (absolut/relativ):

    1976/10,10 % (NKRS 2020)

  2. b)

    Krankheitslast und Mortalität

    DALYs Gesamt (absolut):

    37.870 (WHO 2018)

    DALYs Gesamt (relativ):

    1,82 % (WHO 2018)

    DALYs Anteil an Krebs (relativ):

    9,87 % (WHO 2018)

    Mortalität Gesamt (absolut/relativ):

    1674/9,80 % (NKRS 2020)

    Mortalität Männer (absolut/relativ):

    921/9,80 % (NKRS 2020)

    Mortalität Frauen (absolut/relativ):

    753/9,80 % (NKRS 2020)

  3. c)

    Kosten aus Perspektive der OKP

    1. i)

      CRC-verursachte direkte medizinische Kosten in der Schweiz werden mit bis zu 945 Mio. CHF (in 2011) angegeben (Wieser et al. 2014)

    2. ii)

      Mit den Produktivitätsausfällen belaufen sich die CRC zuschreibbaren Kosten in der Schweiz auf 251 Mio. EUR (in 2015), das entspricht direkten Kosten pro Fall von 2590 EUR und einer Kostenbelastung pro Einwohner von 11 € p.a. (Henderson et al. 2021b)

  4. d)

    Kosten wesentlicher medizinischer/therapeutischer Massnahmen

    Kosten pro CRC-Patient bewegen sich zwischen ca. 75.000 CHF im ersten Jahr nach Diagnosestellung, ca. 8500 CHF in den Folgejahren und ca. 146.000 CHF im letzten Behandlungsjahr (vgl. Wieser et al. 2014);

    Exemplarisch ausgewählte Behandlungstherapien:

    Panitumumab-Therapie + Chemo: 314 USD pro Tag (Graham et al. 2015)

    Cetuximab-Therapie: 7260 CHF Initialdosis erster Monat/6312 CHF Erhaltungsdosis in Folgemonaten (Blank et al. 2011)

  5. e)

    Kosten relevanter Labortests/-diagnostika

    RAS-Mutationstest: 346 USD (vgl. Graham et al. 2015)

    KRAS-/BRAF-Mutationsanalyse (Sanger-Sequenzierung):

    591 CHF (vgl. Blank et al. 2011)

4.2.8 Mammakarzinom

Auch bei Brustkrebs stehen im frühen Stadium zunächst operative Verfahren im Vordergrund. Bei invasiver Pathologie dagegen haben sich bereits seit den 1970er-Jahren zielgerichtet wirksame Medikamente bewährt; Antiöstrogene wie Tamoxifen und Aromataseinhibitoren (die die Östrogenbiosynthese hemmen) für postmenopausale Frauen führen zu deutlich besseren Überlebenschancen, wenn die Malignome Hormonrezeptor-positiv («endokrin sensitiv») sind. Etwa zwei Drittel aller Mammakarzinome sind sowohl Östrogen- als auch Progesteronrezeptor-positiv. Dann senkt eine adjuvante endokrine Therapie die Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs um relativ rund 40 % und die Mortalität um zirka 30 %. Die Einführung von Trastuzumab als erstem monoklonalen Anti-HER2-Antikörper für die Therapie des fortgeschrittenen HER2-positiven Mammakarzinoms (in der Schweiz im Jahr 1999) markierte einen epochalen Durchbruch, denn erstmals wurde eine zielgerichtete Therapie gemeinsam mit einem diagnostischen Test («Companion Diagnostic») entwickelt und zugelassen.

4.2.8.1 Epidemiologie von Brustkrebs

In der Schweiz wie auch in den europäischen Nachbarländern ist das Mammakarzinom mit einer Inzidenz von etwa 6240 Neuerkrankungen pro Jahr die häufigste maligne Erkrankung der Frau.Footnote 4 Mehr als 30 % aller Krebserkrankungen bei Schweizer Frauen sind auf das Mammakarzinom zurückzuführen (Datenquelle: NKRS 2020; Tab. 4.18). Das Lebenszeitrisiko beläuft sich auf 12,7 % und ist damit im europäischen Vergleich gering, wobei Österreich, Deutschland und Norwegen noch geringere Inzidenzen aufweisen (vgl. Ferlay et al. 2018; Abb. 4.15).

Tab. 4.18 Epidemiologie des Mammakarzinoms (Schweiz). Jahreswerte; Durchschnitt der Jahre 2013 bis 2017. Quelle: NKRS (2020)
Abb. 4.15
figure 15

Mammakarzinom: Inzidenz und Mortalität im europäischen Vergleich (nur Frauen). Eigene Darstellung in Anlehnung an Ferlay et al. (2018). Inzidenz altersstandardisiert pro 100.000 Einwohner (2018); Mortalität altersstandardisiert pro 100.000 Einwohner (2018)

Im Mittel erkranken die betroffenen Frauen im 64. Lebensjahr mit einer 5-Jahres-Überlebensrate von 85 % und einer 10-Jahres-Überlebensrate um 70 % (Datenquelle: Schweizerischer Krebsbericht 2015). Die altersstandardisierte Inzidenzrate (2012–2016) korrespondiert mit diesen Zahlen; in der Altersgruppe bis 54 Jahre liegt sie bei 57,2 und in der Gruppe über 55 Jahre bei 334,9 pro 100.000 Personenjahre. Nach dem Lungenkrebs hat das Mammakarzinom die höchste Mortalität mit ungefähr 1400 Toten jährlich. Damit sind etwa 18,1 % aller Krebstoten auf das Mammakarzinom zurückzuführen. Durchschnittlich sterben in der Schweiz folglich vier von 100 Frauen an Brustkrebs (Datenquelle: NICER 2020).

Die Prävalenz in der Schweiz ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen, was im Wesentlichen auf den demographischen Alterungsprozess der Bevölkerung zurückgeführt wird. Lebten im Jahr 2000 noch etwa 45.000 Frauen in der Schweiz mit einer Brustkrebsdiagnose, so waren es im Jahr 2010 schon 65.000 Personen. Prognosen liegen für die Jahre bis einschliesslich 2025 vor und sagen einen weiteren starken Anstieg voraus (Datenquelle: NICER 2020).

4.2.8.2 Kosten von Brustkrebs

Einer bereits mehrfach zitierten Studie von Polynomics (Olten), die im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) erstellt wurde, lassen sich Schätzungen zu den Kosten des Mammakarzinoms in der Schweiz im Jahr 2011 entnehmen. Demzufolge betragen die jährlichen Gesamtkosten für die medizinische Behandlung von Brustkrebs etwa 422 Mio. CHF, wobei das letzte Behandlungsjahr wie bei anderen Krebsarten auch die höchsten Kosten verursacht – bei Patientinnen unter 65 Jahre durchschnittlich nahezu 95.000 CHF, bei älteren Patientinnen um 63.000 CHF (Wieser et al. 2014).

Indirekte Schlüsse zu den Anteilen der einzelnen Kostenarten lassen sich aus einer europäischen Studie ziehen, die zumindest für das Jahr 2009 sehr detaillierte Daten für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) bietet (Luengo-Ferrandez et al. 2013). Dieser Untersuchung lässt sich entnehmen, dass Brustkrebs EU-weit im Jahr 2009 gesellschaftliche Kosten in Höhe von 15 Mrd. EUR (12 % der gesamten ökonomischen Belastung aufgrund von Krebserkrankungen, letztere beziffert mit 126 Mrd. EUR) verursachte und damit nur von Lungenkrebserkrankungen (mit 19 Mrd. EUR) übertroffen und von Darmkrebserkrankungen (mit 13 Mrd. EUR) gefolgt wurde. Brustkrebserkrankungen verursachten nicht nur die höchsten direkten medizinischen Kosten aller Krebsarten, sondern auch die höchsten Arzneimittelkosten (Abb. 4.16).

Abb. 4.16
figure 16

Gesellschaftliche Kosten von Brustkrebs in Europa [in Mio. EUR (2009)]. Eigene Darstellung unter Verwendung von Daten aus der Studie von Luengo-Fernandez et al. (2013)

4.2.8.3 Zielgerichtete Therapie des Mammakarzinoms

Wie schon bei den kolorektalen Karzinomen wird in der vorliegenden gekürzten Fassung der Arbeit zum «Nutzen der Labormedizin in der Schweiz» die Rolle von Keimbahnmutationen im Weiteren ausgeklammert. Stattdessen wird an dieser Stelle exemplarisch für das Nutzenpotenzial der Labormedizin die klinische Bedeutung und die Kosten/Nutzen-Relation der verfügbaren Tests auf (Über-) Expression des HER2-Rezeptors in den Blick genommen.

In der Diagnostik des Mammakarzinoms stehen zunächst die körperliche Untersuchung und bildgebende Verfahren (Mammografie, Ultraschall, gegebenenfalls Tomosynthese) im Vordergrund. Kann ein Malignom nicht sicher ausgeschlossen werden, so ist in der Regel eine interventionelle Abklärung mittels Stanzbiopsie oder Vakuumbiopsie oder ausnahmsweise auch durch offene Exzisionsbiopsie angezeigt (AWMF-Leitlinie Mammakarzinom 2021).

Alle invasiven Karzinome sollen gemäss der WHO-Empfehlungen (vgl. Lakhani 2012) histologisch klassifiziert werden. Beim invasiven Mammakarzinom gehören die immunhistochemische Bestimmung des Östrogen- und Progesteronrezeptor-Status sowie die entweder immunhistochemisch oder (vorzugsweise) mittels In-situ-Hybridisierung bestimmte HER2-Genamplifikation immer zur Primärdiagnostik. Darüber hinaus kann mittels immunhistochemischem Nachweis von Ki-67 die Proliferationsrate bestimmt werden. Für die Verlässlichkeit dieser Bestimmungen sind aufwendige Massnahmen der internen und externen Qualitätssicherung unabdingbar (vgl. dazu auch die AWMF-Leitlinie Mammakarzinom 2021).

HER2/neu (auch ErbB2) ist transmembraner Rezeptor ähnlich dem EGFR, welches durch das gleichnamige Gen kodiert wird. In rund 20 % der Mammakarzinome liegt eine Überexpression des Rezeptors vor (vgl. Wörmann et al. 2018). Bei Aktivierung des Rezeptors erhält die Zelle das Signal zur Teilung; wird das Signal dauerhaft getriggert, führt das zu einem unkontrollierten Zellwachstum.

Das Ergebnis der immunhistochemischen Untersuchung erlaubt dann eine Zuordnung zu den verschiedenen molekularen Subtypen, die sich in ihrem klinischen Verlauf und in ihrem Therapieansprechen erheblich voneinander unterscheiden (vgl. Cheang et al. 2009; Coates et al. 2015; EBCTCG 2005; Goldhirsch et al. 2011; Prat et al. 2013). Für die direkte molekularbiologische Zuordnung stehen Genexpressionstests zur Verfügung (vgl. hierzu bei Parker et al. 2009), alternativ kann eine Klassifikation auf der Basis des immunhistochemisch informierten Algorithmus nach dem Konsensus von St. Gallen erfolgen (vgl. Goldhirsch et al. 2011, 2013). Die individuellen Therapieempfehlungen orientieren sich dann an diesem vereinfachten biologischen Modell (vgl. AWMF-Leitlinie Mammakarzinom 2021; Coates et al. 2015; Goldhirsch et al. 2013; Tab. 4.19).

Tab. 4.19 Molekulare Subtypen des Mammakarzinoms und Surrogatparameter. Eigene Darstellung, angelehnt an den Konsensus von St. Gallen (vgl. EBCTCG 2005; Goldhirsch et al. 2011; Coates et al. 2015). Abkürzungen: ER, Östrogenrezeptor; HER2, Human Epidermal Growth Factor Receptor 2; PgR, Progesteronrezeptor; «triple-negativ» sind Karzinome, die weder Hormonrezeptoren noch HER2-Rezeptoren aufweisen; Antigen Ki67 ist ein Protein, das für die Markierung von sich teilenden menschlichen Zellen genutzt werden kann

Die Wahl des therapeutischen Vorgehens ist eine Einzelfallentscheidung, die in Tumorkonferenzen vorbereitet und mit den betroffenen Patientinnen besprochen wird. Die prinzipiellen therapeutischen Optionen sind ein chirurgisches, medikamentöses und strahlentherapeutisches Vorgehen. Operativ wird zwischen brusterhaltender und radikaler Mastektomie unterschieden, in Kombination mit einer möglichen Lymphektomie. Den meisten Patientinnen wird adjuvant eine Bestrahlung empfohlen.

Medikamentös wird die traditionelle Chemotherapie als adjuvante oder als neoadjuvante Therapie zum Downstaging (das heisst zur präoperativen Verkleinerung der Tumormasse), oder auch als palliative Therapie eingesetzt. Zur Anwendung kommen dabei 5-Flourouracil, Cyclophosphamid, Adriamycin, Epirubicin oder Docetaxel.

Bei «endokrin sensitiven» Tumoren mit positivem Hormonrezeptorstatus (Östrogen und/oder Progesteron) soll eine Hormontherapie durchgeführt werden. Auswertungen unter anderem der amerikanischen Datenbank «Surveillance, Epidemiology and End Results» (SEER) zufolge sind bei etwa zwei Drittel der behandelten Patientinnen die Tumore «doppelt positiv», was mit unterdurchschnittlicher Aggressivität der Krebserkrankung einhergeht (Li et al. 2020). Das Mittel der Wahl ist hierbei Tamoxifen, ein selektiver-Östrogen-Rezeptor-Modulator (SERM), der eine kompetitive Hemmung von Östrogenrezeptoren und eine Stimulation von Progesteronrezeptoren bewirkt. Tamoxifen wird überwiegend für die adjuvante Therapie nach Primärbehandlung und beim metastasierenden Mammakarzinom eingesetzt; für postmenopausale Frauen kommt eine endokrine Therapie mit Aromataseinhibitoren hinzu (zum Beispiel Anastrozol oder Letrozol), die die körpereigene Östrogensynthese hemmen. Adjuvante Therapien mit Tamoxifen und Aromataseinhibitoren verringern bei Frauen mit Hormonrezeptor-positivem Mammakarzinom die Wahrscheinlichkeit von Rezidiven um rund 40 % und die Mortalität um rund 30 %, das heisst, sie verbessern das Langzeitüberleben deutlich (vgl. AWMF-Leitlinie Mammakarzinom 2021).

Im Unterschied zur traditionellen Chemotherapie, die sich schnell teilende Zellen angreift, stellt Tamoxifen somit eine zielgerichtete Therapie dar. Tatsächlich handelt es sich bei Tamoxifen um die erste medikamentöse «Targeted Therapy», auch wenn zum Zeitpunkt der Entwicklung in den 1970er-Jahren der Begriff noch nicht in Gebrauch war. Ihr zeitlich voraus ging die Vornahme von chirurgischen Overektomien zur Therapie der Brustkrebserkrankung – seit 1896 durch den englischen Arzt Sir George Beatson. Erst die Entdeckung des Östrogenrezeptors durch Elwood Jensen in 1958 lieferte die Erklärung des Wirkmechanismus, welche den Weg für die Entwicklung von antiöstrogen wirksamen Substanzen ebnete. Im Jahr 1976 folgte dann auf der Basis einer retrospektiven Analyse einer Phase-II-Studie von Tamoxifen bei 74 Patientinnen mit metastasierten Adenokarzinomen der Brust die Beobachtung einer «hochgradigen Korrelation zwischen dem Ansprechen der Tumore und einem positiven Östrogenrezeptor-Status»Footnote 5 durch H.J. Lerner und Kollegen (1976).

Als dritte Modalität der medikamentösen Therapie stehen Antikörper zur Verfügung. Der monoklonale Antikörper Trastuzumab (HerceptinR) wurde im September 1998 in den Vereinigten Staaten und im August 2000 in der Europäischen Union zunächst für die Therapie des fortgeschrittenen (metastasierten) Mammakarzinoms zugelassen auf der Basis einer um knapp fünf Monate verlängerten Überlebenszeit (25,1 versus 20,3 Monate; vgl. Hudis 2007). Trastuzumab bindet an den epidermalen Wachstumsfaktor HER2/neu; die Anwendung beschränkt sich auf Patientinnen mit histologisch gesicherter Überexpression von HER2/neu (vgl. hierzu bei Li et al. 2020). Heute wird Trastuzumab (Schweizer Erstzulassung durch Swissmedic in 1999) allein oder in Kombination mit Pertuzumab (Zulassung durch Swissmedic in 2012) oder in Kombination mit Chemotherapie über alle Stadien des HER2-positiven Mammakarzinoms hinweg als Therapiestandard eingesetzt (vgl. Abb. 4.17).

Abb. 4.17
figure 17

Therapie des Mammakarzinoms: Vereinfachter Algorithmus. Eigene Darstellung, angelehnt an die SGMO-Leitlinie «Mammakarzinom der Frau» (vgl. Wörmann et al. 2018). Abkürzungen: BET, brusterhaltende Tumorchirurgie; BSC, best supportive care; ER+, estrogen-receptor positive; HER2, human epidermal growth factor receptor 2; PR+, progesterone receptor positive; RANKL, receptor activator of NF-κB ligand; SNLE, sentinel lymph node excision

Mit der Swissmedic-Zulassung von 2013 wurde darüber hinaus mit Ado-Trastuzumab-Emtansin (T-DM1) ein Antikörper-Wirkstoff-Konjugat («Antibody-Drug Conjugate», ADC), Kombination aus monoklonalem Antikörper und Mitosehemmstoff, in die Therapie eingeführt. Das neuartige Wirkprinzip vereint die Mechanismen eines Antikörpers mit denen eines Zytostatikums. Der Antikörper leitet den Mitosehemmstoff direkt zum Ziel und schleust ihn anschliessend auch direkt in die Zielzelle ein, mit der Folge, dass systemische Nebenwirkungen reduziert werden können. Zudem stimuliert der Antikörper über sein Fc-Fragment die körpereigene Abwehr gegen die markierten Zielzellen.

Abb. 4.17 zeigt vereinfacht den heutigen Therapiepfad der Mammakarzinom-Behandlung. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass die Auswahl des geeigneten Therapiepfads stets auch den Einschluss weiterer Informationen voraussetzt, darunter

  • prognostisch: Tumorgrösse, Lymphknotenstatus, histologischer Grad, Gefässinfiltration;

  • prädiktiv und prognostisch: Hormonrezeptorstatus, HER2/neu Status, molekularer Subtyp;

  • weitere Aspekte: Gen-Signatur, Proliferation (Ki67), Urokinase-Type (uPA/PAI-1; vgl. hierzu bei AWMF-Leitlinie Mammakarzinom 2021).

Über alle Tumorstadien hinweg bedeutet dies, dass bei adjuvanter wie auch bei palliativer medikamentöser Therapie immer eine molekulargenetische Untersuchung durchgeführt werden muss (vgl. Wöckel und Stüber 2019). Die gewonnenen Erkenntnisse werden zur gezielten Auswahl der bestgeeigneten «Targeted Therapeutics» verwendet. Die in Tab. 4.20 zusammengefassten Studien belegen das verlängerte progressionsfreie Überleben (PFÜ) im fortgeschrittenen Krankheitsstadium durch neue Targeted Therapeutics. Sie verdeutlichen den durchgängig gegebenen Zusatznutzen für die Patientinnen (nicht nur, wie in der tabellarischen Übersicht zusammengestellt, auf das PFÜ bezogen) durch die neuen Optionen auf gezielte Therapien.

Tab. 4.20 Gezielt wirksame Medikamente beim Mammakarzinom: Progressionsfreie Überlebenszeit im fortgeschrittenen Stadium. Eigene Darstellung: Übersicht ausgewählter Studien. Abkürzungen: CMF, Cyclophosphamid/Methotrexat/Fluorouracil; EGFR, epidermal growth factor receptor; HER2, human epidermal growth factor receptor 2; PFÜ, progressionsfreier Überlebenszeitraum; HR, Hazard Ratio

Trastuzumab markiert einen Meilenstein, denn seine Entwicklung bedeutete nicht nur den Durchbruch des Konzepts der Targeted Therapies und damit auch der Companion Diagnostics, sondern zugleich ein neues Paradigma für die gemeinsame Entwicklung («Co-Development») von Diagnostika und Therapeutika. Experimentelle Studien hatten in den 1980er-Jahren gezeigt, dass virale Onkogene Mutanten von normalen Proteinen sein können, die eine kritische Rolle in den Signalwegen von Wachstumsfaktoren spielen. Weitere Forschung wies nach, dass ein EGFR (epidermal growth factor receptor)-ähnliches Protein bei experimentell induzierten Neuroblastomen in Ratten eine Rolle spielt; es bekam wegen dieser Ähnlichkeit den Namen «human EGF receptor 2» oder kurz «HER2».

Einen Durchbruch markierte 1987 die Entdeckung von Dennis J. Slamon an der University of California at Los Angeles (UCLA), dass eine Amplifikation des HER2-Gens nicht nur bei bis zu 30 % aller Mammakarzinome vorliegt, sondern mit einer erheblich schlechteren klinischen Prognose assoziiert ist (Slamon et al. 1987). Diese Entdeckung gelang, weil Slamons Forschungsgruppe nicht mit Zelllinien, sondern mit primären Tumorproben aus einer Datenbank von William McGuire an der University of Texas in San Antonio arbeitete, für die sowohl Baseline- als auch longitudinale klinische Daten verfügbar waren. HER2 als an der Zelloberfläche liegender Rezeptor konnte mit Antikörpern attackiert werden, was bei Genentech in South San Francisco zur gezielten Suche nach selektiv gegen HER2 versus EGFR wirkenden monoklonalen Antikörpern führte, die spezifisch das Wachstum von humanen Brustkrebszelllinien mit HER2-Amplifikation hemmten (vgl. Hudziak et al. 1989). Die ersten murinen Versionen des selektierten Antikörpers «4D5» waren hochgradig immunogen, weshalb eine humanisierte Version von «4D5» entwickelt und 1992 in die klinische Erprobung genommen wurde (Carter et al. 1992).

Mitentscheidend für den Erfolg des klinischen Entwicklungsprogramms war die parallele Entwicklung eines immunhistochemischen (IHC) Tests zum Nachweis der HER2-Überexpression, mit dessen Hilfe Patientinnen mit HER2-positiven Karzinomen selektiv in Studien inkludiert wurden – eine heute als «Enrichment Study Design» (das heisst, bevorzugter oder alleiniger Einschluss Biomarker-positiver Patienten in eine klinische Studie) anerkannte Entwicklungsstrategie (vgl. FDA 2019). Ohne Enrichment wäre das Phase-III-Programm von Genentech (Slamon et al. 2001) mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gescheitert (vgl. Sawyers 2019; siehe hierzu auch Hortobagyi 2004; Simon und Maitournam 2004). Unbeschadet der Herausforderungen hinsichtlich Reproduzierbarkeit, Festlegung optimaler Cut-Offs und Validierung des Tests ist evident, dass eine erfolgreiche klinische Forschung von Targeted Therapies stark auf die Verfügbarkeit prädiktiv aussagekräftiger Biomarker angewiesen ist.

Bis zur Einführung von Antikörpern gegen HER2 in die Therapie des Mammakarzinoms hatten Patientinnen mit HER2-positiven Tumoren eine besonders schlechte Prognose. Diese Situation hat sich seit 1999 deutlich zum Besseren gewendet. Einen weiteren Meilenstein für Brustkrebspatientinnen bedeutete die Indikationsausweitung auf die adjuvante Behandlung von Frühstadien seit 2006, nachdem die ersten Ergebnisse der «HERA»-Studie (Piccart-Gebhardt et al. 2005) sowie weiterer Studienarbeiten (Romond et al. 2005; Hudis 2007) erschienen und eine Reduktion des Progressionsrisikos um die Hälfte und der Mortalität um ein Drittel zeigten. Mittlerweile liegen für die adjuvante Therapie mit Trastuzumab in Kombination mit Chemotherapie versus Chemotherapie allein Follow Up-Daten aus der HERA-Studie über eine Beobachtungszeit von 11 Jahren im Median vor (vgl. Cameron et al. 2017). Zusammen mit fünf weiteren randomisierten klinischen Vergleichsstudien versus Chemotherapie allein mit Follow Up-Perioden von 3,9 bis 9,2 Jahren im Median darf eine Reduktion des Progressionsrisikos in einer Grössenordnung um 35 % und des Mortalitätsrisikos um 33 % als gesichert gelten (vgl. Genuino et al. 2019; siehe Tab. 4.21).

Tab. 4.21 Adjuvante Therapie des Mammakarzinoms (Stadien I – IIIa) mit Trastuzumab plus Chemotherapie versus Chemotherapie allein. Eigene Darstellung; Datenquelle: Systematischer Review und Meta-Analyse von Genuino et al. (2019) Gepoolte Daten aus sechs randomisierten klinischen Studien mit einer medianen Follow Up-Periode von 3,9 bis 11 Jahren. Abkürzungen: KI, Konfidenzintervall; HR, Hazard Ratio

Trastuzumab zeigt aber auch, dass selbst zielgerichtete Therapien nicht frei von Problemen sind. Neben hohen Kosten stehen hier Kardiotoxizität und Resistenzentwicklung im Vordergrund. Veröffentlichte gesundheitsökonomische Studien (vgl. Diaby et al. 2015; Garrison et al. 2007; Liberato et al. 2007; Seferina et al. 2017) attestieren trotz Bedenken ob des hohen Preises der adjuvanten Anwendung von Trastuzumab bei Adoption eines hinreichend langen Zeithorizonts mehrheitlich eine gute bis akzeptable Kosteneffektivität (auch in der Schweiz; vgl. hierzu bei Marti 2006 und Dedes et al. 2007); zudem dürfte sich die Kostensituation mit Verfügbarkeit eines Biosimilars in der Schweiz seit 2019 etwas entspannen (vgl. hierzu bei Kobler et al. 2020). Die Begrenzung kardiotoxischer Nebenwirkungen und die beste Strategie zum Umgang mit intrinsischen und erworbenen Resistenzen sind Gegenstand intensiver Forschung (siehe auch Kap. 5, «Zukunftspotenziale der Labormedizin»; dort unter anderen die Abschn. 5.1.5 und 5.2.5 ).

4.2.8.4 Gesundheitsökonomische Bewertung

Die Zahl der publizierten gesundheitsökonomischer Analysen der unterschiedlichen Therapieansätze bei Brustkrebs ist kaum noch überschaubar und bot bereits Anlass, «Reviews von Reviews» zu erstellen (vgl. unter anderem bei Garrison et al. 2007; Liberato et al. 2007; Diaby et al. 2015; Seferina et al. 2017).

HER2-positive Patientinnen betreffend galten sie überwiegend der Evaluation von therapeutischen Strategien mit Trastuzumab oder Lapatinib, immer unter Einbezug der initial notwendigen HER2-Testung. Exemplarisch und ohne Versuch der Vollständigkeit gibt Tab. 4.22 eine Auflistung typischer in der Literatur zu findender Kosteneffektivitätsrelationen («ICERs») je gewonnenes Quality-Adjusted Life Year (QALY) in der adjuvanten Behandlungssituation.

Tab. 4.22 Kosteneffektivität der adjuvanten Therapie mit Trastuzumab. Eigene Darstellung; Übersicht ausgewählter Studien. Abkürzungen: EUR, Euro; GB, Grossbritannien; HER2, human epidermal growth factor receptor 2; ICER, incremental cost effectiveness ratio; IT, Italien; QALY, quality-adjusted life year; NOR, Norwegen; SWE, Schweden; US, USA

Die Frage nach der optimalen Teststrategie unter gesundheitsökonomischen Gesichtspunkten blieb demgegenüber lange unbearbeitet. Die gebräuchlichen HER2-Statusbestimmungen bestehen in Tests, die an durch eine Biopsie gewonnenem Tumormaterial durchgeführt werden und entweder auf einer immunhistochemischen Analyse (IHC) oder einem Fluoreszenz-in situ-Hybridisierung (FISH)-Test beruhen. – Auf die diagnostischen Möglichkeiten, die «Liquid Biopsies» (Flüssigbiopsien) versprechen, wird im Kap. 5, «Zukunftspotenziale der Labormedizin», Abschn. 5.4.2, eingegangen werden. –

Der häufig verwendete IHC-Test ist kostengünstiger als eine FISH-Analyse (vgl. Tab. 4.23 und 4.25). Beim IHC-Test wird durch Färbung der HER2-Rezeptorproteine auf eine Überexpression an den Tumorzellen geschlossen. Ein primärer Antikörper bindet an humanes HER2-Rezeptorprotein und beispielsweise mittels einem Schnellfärbekit («HercepR-Test» von Dako, gemeinsam mit Genentech entwickelt) sichtbar gemacht, indem mit Hilfe eines mit Meerrettichperoxidase (HRP-Enzym) gekoppelten sekundären Antikörpers und Zugabe eines Chromogensubstrats, Diaminobenzidin (DAB), ein gefärbtes Reaktionsprodukt erzeugt wird. Mikroskopische Auswertung führt zu einem Scoring von 0/1+ (schwache oder sehr schwache Färbung, negativer HER2-Status), 2+ (unklares Resultat, woraufhin eine Abklärung mittels FISH-Testung folgt) oder 3+ (starke Zellfärbung, Status «HER2-positiv»).

Tab. 4.23 Kostenvergleich HER2-Tests und Anti-HER2-Antikörper-Therapie. Aktuelle Daten für die Schweiz. Quellen: Kobler et al. (2020); BAG Analysenliste (2021); Carl und Vokinger (2021) [Alle Kostenangaben in CHF]

Der FISH-Test dient dem Nachweis einer Genamplifikation, indem DNA im Zellkern mittels einer spezifischen, meist auf mit Fluoreszenzfarbstoffen markierten Gensonden basierenden, Färbetechnik sichtbar gemacht wird. Der Grenzwert für ein ISH-positives Testergebnis wurde im Zeitverlauf mehrfach angepasst und entspricht heute wieder den Kriterien, die schon in den Zulassungsstudien für die Anti-HER2-Therapie angewendet wurden (vgl. AWMF-Leitlinie Mammakarzinom 2021; Pollack 2018).

Wie auch bei der Bestimmung des Hormonrezeptor-Status und des Ki-67-Proliferationsindex besteht eine besondere Herausforderung in der Qualitätssicherung der HER2-Tests. Das reicht von der Präanalytik (von Probengewinnung bis Gewebefixation) bis zu den Evaluationsmethoden, nachdem die Ergebnisse immunhistochemischer Untersuchungen von der Wahl des Antikörpers, des Färbeprotokolls und dem Auswerteschema beeinflusst werden. Die Validität und Reproduzierbarkeit der HER2-Bestimmungen lässt sich mit standardisierten Testkits besser gewährleisten, so dass deren Verwendung in aktuellen Leitlinien empfohlen wird (vgl. AWMF-Leitlinie Mammakarzinom 2021; siehe hierzu auch Wolff et al. 2007, 2013, 2018).

Eine Studie aus Schweden setzte sich mit den ökonomischen Konsequenzen einer HER2-Testung mittels FISH- oder IHC-Technik und anschliessender einjähriger Trastuzumab-Therapie nach Chemotherapie im Vergleich zur Standard-Chemotherapie ohne Testung auseinander. Beide HER2-Testmethoden übertrafen die Standard-Chemotherapie ohne Testung und blieben unter einem Schwellenwert für die Kosteneffektivität, welchen die Autoren bei umgerechnet etwa 70.000 EUR annahmen. Für IHC-Tests wurde eine inkrementelle Kosteneffektivitätsrelation («ICER») von 36.000 EUR je zusätzlich gewonnenem QALY angegeben. Ein weiterer Vergleich zwischen der IHC- und der FISH-Methode ergab eine ICER von 41.500 EUR/QALY, was für die Kosteneffektivität einer HER2-Bestimmung mittels FISH spricht (Lidgren et al. 2008).

Eine aufschlussreiche gesundheitsökonomische Analyse unterschiedlicher HER2-Teststrategien im adjuvanten Setting bietet eine Schweizer Studie aus dem Jahr 2010 (Blank et al. 2010). Sie verglich die verbreitete sequenzielle Teststrategie, mit einem IHC-HER2-Expressionstest zu beginnen und nur bei einem unsicheren Befund (Score 2+) eine FISH-Amplifikations-Testung anzuschliessen, mit alleinigem IHC- oder alleinigem FISH-Test und mit der parallelen Durchführung beider Testverfahren. Als Referenzstrategien für die vollständige Analyse dienten der hypothetische Verzicht auf Tests und die Anti-HER2-Therapie aller Patienten oder kein Test und keine Anti-HER2-Therapie.

Die die zugrunde gelegte Genauigkeit der untersuchten Teststrategien zeigt Tab. 4.24.

Tab. 4.24 Sensitivität und Spezifität von HER2-Teststrategien. Datenquelle: Blank et al. (2010); unter ergänzender Berücksichtigung von Press et al. (2005); Dendukuri et al. (2007); Schink (2007)

Unter Annahme der in Tab. 4.25 auszugsweise zusammengefassten Kosten aus der Perspektive des Schweizer Gesundheitssystems (OKP und kantonale Kostenträger) erwies sich eine auf FISH-Tests alleine basierte Teststrategie als am kosteneffektivsten mit einer ICER von 12.245 € (oder zum Wechselkurs von 2009) 18.368 CHF je zusätzlich gewonnenem qualitätsadjustierten Lebensjahr (QALY) verglichen mit der Referenzstrategie «kein HER2-Test und keine Anti-HER2-Therapie», bei allerdings nur schwacher Dominanz (technisch «extended dominance») über die sequenzielle Teststrategie «zuerst IHC-Test, gefolgt von FISH-Test bei unklarem Befund».

Tab. 4.25 Kosten HER2-Tests im Kontext adjuvanter Trastuzumab-Therapie. Ausgewählte Schweizer Daten aus der Studie von Blank et al. (2010); aus der «Perspektive des Gesundheitssystems» (Jahre 2005/2010). (Spitalkosten umfassten kantonale und OKP-getragene Anteile)

Beide Ansätze erweisen sich gegenüber der parallelen Testung als deutlich kosteneffektiver und die zweite Referenzstrategie «alle Patientinnen behandeln ohne HER2-Testung» erwies sich auch aus gesundheitsökonomischer Sicht als inakzeptabel. Da die aktuellen Kosten für FISH-Tests aktuell (vgl. Tab. 4.23) deutlich niedriger sind als in der Studie für das Jahr 2010 noch angenommen (Tab. 4.25), erscheint die Annahme einer mittlerweile noch besseren Kosteneffektivität durchaus begründet.

Zusammenfassend lässt sich damit konstatieren, dass HER2-Tests nicht nur eine entscheidende Voraussetzung für den medizinisch sinnvollen Einsatz von Anti-HER2-Therapien beim Mammakarzinom sowohl im adjuvanten Setting als auch im metastasierten Spätstadium sind. Sie ermöglichen eine zielgerichtete Behandlung mit eindrucksvollen Gewinnen an Lebensqualität und Lebenszeit für die betroffenen Patientinnen, helfen nebenwirkungsträchtige und kostenintensive Überbehandlungen zu vermeiden und zeichnen sich dabei durchweg durch ein sehr gutes Kosten/Nutzen-Verhältnis aus.

Auf die weiteren Chancen, welche die moderne labormedizinische Diagnostik beim Mammakarzinom in medizinischer Forschung und klinischer Versorgung bietet, wird im Kap. 5, «Zukunftspotenziale der Labormedizin», speziell Abschn. 5.3.2.3, eingegangen werden. Das günstige Verhältnis von Kosten zu Ergebnisbeitrag weist die Labordiagnostik – wie bereits anhand der Beispiele Lungen- und Darmkrebs diskutiert – als eindeutigen Werttreiber aus. Damit erfüllen die vorstehend beschriebenen Testverfahren sämtliche Nutzenkriterien nach Fryback und Thornbury (1991).

Eckdaten «Mammakarzinom»

  1. a)

    Inzidenz/Neuerkrankungen

    Inzidenz Gesamt (absolut/relativ):

    6291/14,70 % (NKRS 2020)

    Inzidenz Männer (absolut/relativ):

    52/00,20 % (NKRS 2020)

    Inzidenz Frauen (absolut/relativ):

    6239/31,70 % (NKRS 2020)

  2. b)

    Krankheitslast und Mortalität

    DALYs Gesamt (absolut):

    35.258 (WHO 2018)

    DALYs Gesamt (relativ):

    1,70 % (WHO 2018)

    DALYs Anteil an Krebs (relativ):

    9,19 % (WHO 2018)

    Mortalität Gesamt (absolut/relativ):

    1369/8,10 % (NKRS 2020)

    Mortalität Männer (absolut/relativ):

    0/0,00 % (NKRS 2020)

    Mortalität Frauen (absolut/relativ):

    1369/17,90 % (NKRS 2020)

  3. c)

    Kosten aus Perspektive der OKP

    Die jährlichen Gesamtkosten für die medizinische Behandlung von Brustkrebs betragen etwa 422 Mio. CHF (vgl. Wieser et al. 2014)

  4. d)

    Kosten wesentlicher medizinischer/therapeutischer Massnahmen

    Im letzten Behandlungsjahr verursacht Brustkrebs die höchsten Kosten – bei Patientinnen unter 65 Jahre durchschnittlich etwa 95.000 CHF, bei älteren Patientinnen zirka 63.000 CHF (Wieser et al. 2014);

    Behandlungskosten mit HER2-Antikörper-Therapie:

    Trastuzumab Herceptin (/Tag): 180 CHF (vgl. Carl und Vokinger 2021);

    Trastuzumab (Dosierung): Herceptin (440 mg): 2095 CHF, alternativ Biosimilars (440 mg): 1587 CHF, plus Lapatinib (250 mg): 1394 CHF (vgl. Kobler et al. 2020);

    Adjuvante Trastuzumab-Therapie (/Jahr): 63.882 CHF (Blank et al. 2010)

  5. e)

    Kosten relevanter Labortests/-diagnostika

    HER2:

    Gewebebiopsie:

    305 CHF (Analysenliste, 2021)

     

    FISH-Test:

    350 CHF (Analysenliste, 2021)

     

    IHC-Test:

    135 CHF (Analysenliste, 2021)

    HER2 (bei adjuvanter Trastuzumab-Therapie):

    FISH-Test (2 Proben):

    1029 CHF (Blank et al. 2010)

    IHC-Test (1 Probe):

    80 CHF (Blank et al. 2010)

4.3 Muskuloskelettale Erkrankungen

Muskuloskelettale oder «rheumatische» Erkrankungen gehen – nach bösartigen Tumoren – mit der zweithöchsten Krankheitslast («Burden of Disease») aller Krankheitsarten und mehr als 15 % der gesamten krankheitsbedingten Verluste an Lebenszeit und (mehr noch) -qualität in der Schweiz einher. Direkte Kosten aus Sicht der OKP und indirekte Kosten aufgrund von verlorener Arbeitsproduktivität addieren sich auf mehr als 20 Mrd. CHF im Jahr und machen muskuloskelettale Erkrankungen zur aus volkswirtschaftlicher Sicht teuersten Erkrankungsgruppe in der Schweiz.

Die Diagnostik basiert neben der Anamnese, der eingehenden körperlichen Untersuchung und bildgebenden Verfahren entscheidend auf Laboruntersuchungen. Neben der Messung von Entzündungsparametern sind serologische Tests von ausschlaggebender Bedeutung. Im Fall der hier betrachteten rheumatoiden Arthritis (RA) sind das vor allem Rheumafaktoren und die neueren spezifischen Antikörper gegen citrullinierte Proteine (ACPAs). Zusammen eingesetzt, erreichen die beiden Marker eine hohe Treffsicherheit mit einem «positiven Vorhersagewert» von 98 % (wenn beide positiv ausfallen) und, wenn beide negativ sind, einem Krankheitsausschluss mit über 90 % Treffsicherheit. Antikörper gegen CCPs versprechen neben einer frühen Diagnostik prognostische Aussagen und eine frühere und gezieltere therapeutische Intervention. Methodisch verlässliche Studien zur Kosten-Nutzen-Relation des Einsatzes der neuen Marker sind komplex und daher bislang rar. US-amerikanische Kostenfolgenanalysen weisen auf einen Anteil der Tests an den gesamten Behandlungskosten im Promillebereich hin, was die labormedizinischen Innovationen angesichts ihres Nutzens als sehr kostengünstig erscheinen lässt.

4.3.1 Krankheitslast und -kosten

Muskuloskelettale und damit auch die «rheumatischen» Erkrankungen gehen – nach bösartigen Tumoren – mit der zweithöchsten Krankheitslast («Burden of Disease») aller Krankheitsarten oder mit mehr als 15 % der gesamten krankheitsbedingten Verluste an Lebenszeit und (vor allem) -qualität (gemessen in «Disability-Adjusted Life Years», DALYs) in der Schweiz einher (Datenquelle: IHME 2018). Die damit verknüpften Kosten für die OKP sind immens; so ist die Gruppe der muskuloskelettalen Erkrankungen mit Abstand der häufigste Einweisungsgrund in Spitäler (Abb. 4.18).

Abb. 4.18
figure 18

Behandlungsfälle in Schweizer Spitälern. Eigene Darstellung; Datenquelle: Statistik diagnosebezogener Fallkosten für die Schweiz. Bundesamt für Statistik (BFS 2014)

Werden alle Behandlungsfälle in Schweizer Spitälern betrachtet, so machen diese davon 150.000 Fälle pro Jahr aus (Datenquelle: BFS 2014). Hinzu kommt, dass die Gruppe der muskuloskelettalen Erkrankungen gemessen an den verursachten Fallkosten im Spital auf den einzelnen Patienten bezogen den fünften Platz belegt. Zusammen mit den indirekten Kosten aufgrund verlorener Arbeitsproduktivität stellten muskuloskelettale Erkrankungen mit gesellschaftlichen Kosten von mehr 20 Mrd. CHF im Jahr 2011 sogar die aus volkswirtschaftlicher Sicht teuerste Erkrankungsgruppe in der Schweiz (vgl. Wieser et al. 2014; Abb. 4.19).

Abb. 4.19
figure 19

Kosten der wichtigsten nichtübertragbaren Krankheiten (2011). Schweizer Daten; Quelle: Wieser et al. (2014) Abkürzung: NCD, Non-Communicable Disease(s)

Die Gruppe der Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises ist äusserst heterogen und zeigt sich in sehr unterschiedlichen Krankheitsbildern. Diese manifestieren sich direkt an den Gelenken, ausserhalb der Gelenke oder am umliegenden Gewebe (vgl. Arastéh 2013); die Definition der WHO von 1987 lautet dementsprechend «Erkrankungen des Bindegewebes und schmerzhafte Störungen des Bewegungsapparates».

Daten der World Health Organization (WHO) zur Krankheitslast (DALYs) und der Gesamtmortalität aus dem Jahr 2018 zeigen, dass «Rückenschmerzen» mit über fünf Prozent aller DALYs den grössten Stellenwert einnehmen. Auf die rheumatoide Arthritis (RA) entfällt etwa 0,5 % der gesamten Krankheitslast in der Schweiz (Tab. 4.26).

Tab. 4.26 Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises: Krankheitslast und Mortalität in der Schweiz. Eigene Darstellung; Datenquelle: WHO (2018). Absolut, absolute Fallzahlen pro Jahr; Gewichtet, Anteil einzelner Diagnosen an der gesamten Krankheitslast in der Schweiz

4.3.2 Rheumatoide Arthritis (RA) in der Schweiz

Die Ein-Jahres-Prävalenz der rheumatoiden Arthritis (RA) in Mitteleuropa wird mit 0,7 % beziffert, mit einer Spanne von 0,3 bis 1,0 % (vgl. Lundkvist et al. 2008; siehe auch Robert Koch-Institut, RKI 2010 und Schneider et al. 2019). Auf die Schweiz bezogen entspricht das für 2019 in etwa 60.000 Patienten mit der Diagnose RA. Schweizer Schätzungen gehen von etwa 70.000 Betroffenen aus (vgl. Villiger 2011). Frauen sind mit einem Anteil daran von 75 % drei Mal häufiger betroffen als Männer. Die Inzidenz wird für Männer mit 30/100.000 und für Frauen mit 60/100.000 angeben (Datenquelle: Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie, DGRh 2008). Die grösste Erkrankungswahrscheinlichkeit besteht im Lebensalter um 50 Jahre; Männer erkranken tendenziell eher ab einem Alter über 75 Jahre, Frauen hingegen bereits zwischen dem 45. und 65. Lebensjahr (vgl. Pincus et al. 1998).

Durchschnittlich fallen pro Patient mit der Diagnose rheumatoide Arthritis jährliche direkte Kosten von über 15.063 CHF (2011) für Medikamente sowie stationäre und ambulante medizinische Versorgung an. Die direkten medizinischen Kosten für die Schweiz belaufen sich demnach auf etwa 791 Mio. CHF im Jahr 2011 (vgl. Wieser et al. 2014); die indirekten Kosten werden auf weitere 1534 Mio. CHF geschätzt (vgl. Akker-van Marle 2012).

4.3.3 Diagnostik der rheumatoiden Arthritis

Erste Symptome der RA sind in der Regel Schmerzen und leichte Schwellungen an den kleinen Gelenken der Hände und Füsse. Im weiteren Verlauf sind zumeist auch grössere Gelenke betroffen, deren chronische Entzündung zu Gelenkerosionen und Deformitäten führt. Schmerzen, Schwellungen und Deformitäten führen zu starken funktionalen Einschränkungen; hinzu treten extraartikuläre Manifestationen in weiteren Organen wie Haut, Lungen, dem peripheren Nervensystem oder dem Herzen – mit der Folge einer verringerten Lebenserwartung der einzelnen Patienten (vgl. Myasoedova et al. 2010).

Lange galt die Messung von strukturellen Veränderungen durch konventionelle Röntgendiagnostik als Goldstandard für die Erkennung und Verlaufsbeurteilung der RA. Besonderes Augenmerk lag dabei auf der Gelenkspaltverschmälerung sowie Zeichen von Erosionen. In aktuellen Leitlinien wird die standardmässige radiologische Kontrolluntersuchung nicht mehr empfohlen. Begründet wird dies mit dem Einsatz neuer Therapiestrategien, unter denen die radiologisch sichtbaren Veränderungen deutlich abgenommen haben. Unbeschadet dessen spielen radiologische Untersuchungen auch weiterhin eine wichtige Rolle für Diagnostik und Verlaufsbeurteilung (vgl. Fiehn und Kruger 2019).

Vom American College of Rheumatology (ACR) und der European League Against Rheumatism (EULAR) wurde 2010 ein Klassifikationsschema zur Diagnose der rheumatoiden Arthritis veröffentlicht (Tab. 4.27). Ab einem Punktwert von >6 kann die Diagnose einer RA gestellt werden (vgl. Aletaha et al. 2010).

Tab. 4.27 ACR/EULAR-Klassifikationskriterien zur Diagnose der RA. Eigene Darstellung; American College of Rheumatology, ACR und European League Against Rheumatism, EULAR (2010). Kleines Gelenk: Handgelenk, Fingergrundgelenk (MCP), Fingermittelgelenk (PIP), Interphalangealgelenk des Daumens, Zehengrundgelenk II–IV; Grosses Gelenk: Schulter, Ellenbogen, Hüftgelenk, Knie, Sprunggelenk

Die entscheidenden Laborparameter nach ACR/EULAR sind C-reaktives Protein (CRP) und Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG), Rheumafaktoren (RF) sowie Antikörper gegen citrullinierte Proteine (ACPA).

C-reaktives-Protein und Blutsenkungsgeschwindigkeit. Das C-reaktive-Protein (CRP) gehört zu den sogenannten «Akute-Phase-Proteinen» und den klinischen Entzündungsparametern. Seine physiologische Rolle ist die Aktivierung von humoralen und zellulären Abwehrmechanismen. Die Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) oder besser die Erythrozyten-Sedimentationsrate (ESR) ist ein unspezifischer Suchtest für entzündliche Erkrankungen, kann jedoch gut für die Verlaufsbeurteilung genutzt werden. Die ESR wird hauptsächlich durch die Zusammensetzung der Plasmaproteine beeinflusst (vgl. hierzu auch bei Thomas 2012; Arastéh 2013).

Rheumafaktoren (RF). Es gibt unterschiedliche Rheumafaktoren (RF); diese unterscheiden sich im Hinblick auf die Art der Immunglobuline (Ig-Isotypen), die den RF bilden. Es kommen Immunglobuline G (IgG), Immunglobuline A (IgA) oder das als diagnostisch am bedeutsamsten eingestufte Immunglobulin M (IgM) vor. In bis zu 80 % aller RA-Patienten können die RF auftreten, in der Frühphase der Erkrankung liegt der Anteil bei zirka 50 %. Die RA ist nicht die einzige Erkrankung, bei welcher die RF auftreten; auch bei anderen Autoimmunopathien können RF gemessen werden (vgl. Arastéh 2013).

Antikörper gegen citrullinierte Proteine (ACPA). Die spezifischsten Marker der RA sind Anti-Citrullinierte-Proteine-Antikörper (ACPA). Als Citrullinierung wird die enzymatische Umwandlung (mit dem Enzym Peptidylarginin-Desaminase) der Aminosäure Arginin zu Citrullin bezeichnet. Der laborchemische Nachweis der ACPA erfolgt mit Hilfe der Cyclisch-Citrullinierten Proteine (CCP; vgl. Thomas 2012).

Neben der Diagnostik spielen die genannten Laborparameter eine wichtige Rolle in der Verlaufsbeurteilung. Verschiedene validierte Composite Scores stehen für das Monitoring des Status und der Veränderung der Krankheitsaktivität zur Verfügung, darunter der Disease Activity Score 28 (DAS28), der Clinical Disease Activity Score (CDAI) und der Simplified Disease Activity Score (SDAI). In diese Scores fliessen neben der körperlichen Untersuchung und dem subjektiven Krankheitserleben der Patienten Laborwerte wie CRP oder BSG ein (vgl. Fiehn und Kruger 2019).

Innovationsdynamik. Der Beitrag der Labormedizin zur Diagnostik der rheumatoiden Arthritis war in den letzten Jahrzehnten immer wieder durch innovative Neuerungen geprägt. Schon 1940 entdeckten Waaler (in Oslo) und bald darauf auch Rose (1948 in New York) den «Rheumafaktor». Auf Grundlage dieser Entdeckung wurde durch Rose und Ragan mit dem sogenannten Agglutinationstest (vgl. hierzu bei Dunky et al. 2012) ein Rheumafaktor-Nachweisverfahren entwickelt. In der 1958 veröffentlichten Klassifikation der RA durch die American Rheumatism Association wurde der Agglutinationstest offiziell mit in die Klassifikationskriterien aufgenommen (vgl. Ropes et al. 1959). In der Leitlinie des American College of Rheumatism aus dem Jahr 1987 wurde der Serum-Rheumafaktor als wichtigster Marker mit aufgenommen. Durch die internationale Zusammenarbeit der ACR und der European Alliance of Associations for Rheumatology (EULAR) kam es 2010 zur Aufnahme von RF, ACPA, CRP und ESR als weitere Laborparameter in die Standard-Diagnostik der RA. Begründet wurde die Aufnahme der Marker in die Klassifikationskriterien mit der dadurch deutlich früheren Diagnosestellung und der damit verbundenen Möglichkeit, der Entstehung irreversibler struktureller Schäden vorbeugen zu können (vgl. van der Woude und van der Helm-van Mil 2018).

Mit Blick auf die Chancen der sogenannten «Präzisionsmedizin» in der Zukunft zeichnensich schon jetzt erste Ansätze ab für die wirksame Behandlung der RA mit Hilfe von Informationen aus Biomarker-Bestimmungen. Diese sollen die Auswahl der verwendeten Medikamente und das Ansprechen oder die Nebenwirkungen für bestimmte Patientengruppen vorhersagen und zugleich eine individualisierte Dosierung ermöglichen. Die umfangreichsten Erkenntnisse liegen aktuell für die Frage vor, ob bei hohen Titern für Anti-CCP-Antikörper und/oder Rheumafaktoren die zielgerichtete Therapie mit Rituximab oder Abatacept den Therapien mit Tumor-Nekrose-Faktor (TNF)-Inhibitoren wie Infliximab, Adalimumab, Certolizumab u. a. klinisch überlegen ist (vgl. Emery et al. 2015; Gottenberg et al. 2016). Weitere aktuelle Forschungsansätze werden im Kap. 5, «Zukunftspotenziale», dort vorrangig Abschn. 5.5.1.2 zur «Rheumatoiden Arthritis», thematisiert werden.

4.3.4 Nutzen der Labordiagnostik der rheumatoiden Arthritis

Von besonderem Interesse ist die vergleichende Bewertung des Nutzens der aktuellsten Marker, der anti-CCP Antikörper, gegenüber den seit Jahrzehnten genutzten Rheumafaktoren (vgl. hierzu auch Tab. 4.28). Dabei geht es vor allem um die Auswirkungen dieser Testverfahren auf den unmittelbaren Patientennutzen, auf die Gesundheitsausgaben der OKP, und aus der Perspektive der Gesellschaft insgesamt. Vorausgesetzt werden müssen stets die technische und diagnostische Validität der Verfahren.

Tab. 4.28 Testgenauigkeit der ACPA- und RF-Analytik bei rheumatoider Arthritis. Eigene Darstellung; Datenquellen: Gao et al. (2012); Hua et al. (2017); Lee et al. (2008); Nishimura et al. (2007); Sun et al. (2014)

Technische Validität. Beide Testverfahren haben nur geringe Unterschiede in ihrer technischen Validität, da für beide Proben frisch entnommenes venöses Blut zur Analyse genutzt wird. Mögliche prä-analytische Fehlerquellen bei der Entnahme oder Verunreinigungen betreffen folglich beide Verfahren im gleichen Mass. Technisch war die anti-CCP Antikörper-Diagnostik in den Anfängen mit dem ELISA (Enzyme-linked Immunosorbent Assay) der ersten Generation (CCP-1) des Rheumafaktors noch unterlegen, was sich jedoch mit Einführung des CCP-2 Assays änderte. Aktuelle Bestrebungen der Hersteller, die CCP-2-Assays weiter zu verbessern und vollautomatische Drittgenerations-CCP-3-Assays einzuführen, stehen noch vor der Erprobung. Ähnlich dem internationalen Konsensus zur Bestimmung des Troponins (vgl. die nachfolgenden Abschn. 4.4.2 ff., «Akuter Myokardinfarkt») wurde als ein Grenzwert das 99. Perzentil des Referenzkollektivs festgelegt. Aktuelle Vergleiche bescheinigen den CCP-3 Assays noch keinen analytischen und diagnostischen Vorteil im Vergleich zu den älteren CCP-2 Assays, jedoch verspricht die komplette Automatisierung eine erhebliche Zeitersparnis (vgl. Ji et al. 2018).

Diagnostische Validität. Werte für die diagnostische Validität der Anti-CCP-Antikörper und der Rheumafaktoren des Isotyps IgM bietet Tab. 4.28. Die anti-CCP-Antikörper sind im Vergleich zu den Rheumafaktoren bei geringerer Sensitivität hochspezifisch und damit in der Differenzialdiagnostik überlegen (vgl. hierzu bei Gao et al. 2012; Hua et al. 2017; Lee et al. 2008; Nishimura et al. 2007; Sun et al. 2014). Die Kombination beider Marker verbessert sowohl den positiven als auch den negativen prädiktiven Wert (positive predictive value, PPV, und negative predictive value, NPV). Sind beide Marker positiv, steigt der PPV auf 98 %. Im Fall, dass beide Marker negativ waren, beträgt der NPV 92,5 % (vgl. Thomas 2012). Diese Werte beziehen sich nicht auf etwaiges Screening der Gesamtbevölkerung (vgl. Hensvold et al. 2017). Umgekehrt verhält es sich bei bei klinisch auffälligen Patienten; werden zum Beispiel Patienten mit dem alleinigen Zeichen einer Arthralgie auf ACPA getestet, steigt der PPV auf eine Wahrscheinlichkeit von 63 %, innerhalb eines Jahres nach Testung eine RA zu entwickeln (vgl. van Steenbergen et al. 2016).

Klinisch ist der Nachweis von Anti-CCP-Antikörpern mehr als der von IgM-Rheumafaktoren mit einer schwereren Verlaufsform assoziiert und besitzt somit hohe prognostische Aussagekraft (siehe Tab. 4.29).

Tab. 4.29 Prognostische Aussagekraft der ACPA- und RF-Bestimmung bei rheumatoider Arthritis. Eigene Darstellung; Quellen: Gao et al. (2012); Nishimura et al. (2007)

Hohe ACPA-Titer wiederum sind mit besserem Ansprechen auf bestimmte Biologika verbunden. Beispielsweise gibt es starke Hinweise aus klinischen Studien, dass dann eine Behandlung mit Rituximab oder mit Abatacept, einem seit 2007 in der Schweiz zur Behandlung einer rheumatoiden Arthritis und einer polyartikulären juvenilen idiopathischen Arthritis zugelassenen selektiv wirksamen Immunsuppressivum, das die T-Zell-Aktivierung durch Bindung an CD80 und CD86 auf antigenpräsentierenden Zellen hemmt, bessere klinische Erfolge verspricht als in Patienten mit niedrigem Titer oder ohne Antikörper gegen CCP (Martin-Mola et al. 2016).

Mit dem Anti-CCP-Test wird es daher möglich, früher als bisher – bereits Jahre vor der Krankheitsmanifestation und vor voll entwickelter typischer Symptomatik – die Diagnose einer rheumatoiden Arthritis zu stellen und Aussagen zur erosiven Verlaufsform und zur voraussichtlichen Wirksamkeit von Medikamenten zu machen (vgl. Abb. 4.20). Im Zusammenspiel mit Anamneseerhebung, klinischer Untersuchung und bildgebender Diagnostik leisten labormedizinische Tests damit einen entscheidenden Beitrag zu Prognose, Krankheitsaktivität und Ansprechen auf Therapien und zunehmend auch der Wahl der aussichtsreichsten therapeutischen Optionen («Targeted Therapy»; vgl. Kap. 5, «Zukunftspotenziale»).

Abb. 4.20
figure 20

Klinischer Nutzen der Labordiagnostik im Verlauf der RA. Eigene Darstellung in Anlehnung an Meyer et al. (2016); Zur Bedeutung molekulargenetischer Faktoren (HLA-DR4/DR1, SNP); ausführlichere Details finden sich in der archivierten Langfassung dieser Arbeit

4.3.5 Gesundheitsökonomische Bewertung

Vergleichende gesundheitsökonomische Analysen unterschiedlicher diagnostischer Strategien der rheumatoiden Arthritis sind rar. Das liegt nicht nur an ihrer Komplexität.

Die Komplexität einer formal vollständigen gesundheitsökonomischen Evaluation von Interventionen zur Therapie der RA illustriert die konzeptionelle Analyse, die ein von dem Arzneimittelhersteller Bristol-Myers Squibb unterstütztes Expert Panel erst unlängst vorstellte (Alemao et al. 2018). Aussagekräftige Evaluationen müssen unter anderem eine Stratifizierung der Patienten anhand anamnestischer und prognostischer Faktoren sowie dem Infektionsrisiko einschliessen, unterschiedliche Therapiepfade und Behandlungssequenzen der Versorgungswirklichkeit entsprechend abbilden, und sowohl den Ressourcenverbrauch als auch eine Vielzahl klinischer Outcomes erfassen und in eine geeignete Kosten/Nutzen-Metrik überführen. Das alles gilt erst recht für eine aussagekräftige vergleichende Evaluation diagnostischer Verfahren, ohne deren Einsatz bereits eine Stratifizierung der Patienten scheitern müsste.

Denn randomisierte Studien, die geeignete Informationen für einen direkten Kosten/Nutzen-Vergleich zwischen Anti-CCP-Antikörper- und Rheumafaktor-IgM-basierten Diagnosestrategien bieten könnten, sind aus medizinischen und ethischen Gründen in der Praxis kaum mehr durchführbar (vgl. Fiehn et al. 2018), weil angesichts des belegten klinischen Nutzens aktuellen Leitlinien folgend stets sowohl CRP/BSG als auch RF und ACPA zusammen bestimmt werden (sollen).

Darüber hinaus spielen die im Vergleich zum Aufwand für die Labordiagnostik sehr viel höheren Kosten der modernen Therapeutika der rheumatoiden Arthritis (vgl. Tab. 4.30) eine grosse Rolle, weshalb die überwältigende Mehrzahl der Evaluationen Arzneimitteln galt – und selbst für deren Qualität besteht erhebliches Verbesserungspotenzial (vgl. Ghabri et al. 2020).

Tab. 4.30 Rheumatoide Arthritis: Medizinische Kosten in der Schweiz. Datenquellen: Direkte Behandlungskosten (2011), Wieser et al. (2014); Jahrestherapiekosten von RA-Medikamenten in Deutschland, KV Niedersachsen 2021); Kosten relevanter Labortests, Analysenliste (2021). Aktuelle Berechnungen der Schweizer Jahrestherapiekosten lagen nicht vor; doch waren drei der für die Behandlung der RA zugelassenen Biologika (Adalimumab, Infliximab und Golimumab) im Jahr 2019 unter den 20 umsatzstärksten Medikamenten in der Schweiz. (Müller 2020)

Unbeschadet dessen lassen sich aus gesundheitsökonomischen Studien der jüngeren Vergangenheit einige Schlüsse auf das Verhältnis von Kosten und Nutzen der Labordiagnostik der RA ziehen. Früher Therapiebeginn der RA hemmt die Progression der RA und die Entwicklung funktioneller Einschränkungen (vgl. hierzu auch bei Fiehn und Kruger 2019). Eine Modellierung aus Deutschland im Jahr 2008 untersuchte die inkrementale Kosteneffektivität der Hinzufügung von Anti-CCP-Antikörper-Tests zu den damaligen Leitlinienempfehlungen des American College of Rheumatology. Die Analyse galt einer hypothetischen Patientenpopulation in einem frühen Krankheitsstadium und erwies sich als sensitiv hinsichtlich der Grösse des angenommenen Effekts einer früheren Diagnose und Therapie auf die Krankheitsprogression. Die Studienautoren fanden, dass die Teststrategie unter Einschluss von Anti-CCP-Antikörpern eine nach gängigen Massstäben sehr attraktive Kosteneffektivität aufweist und bei Einschluss der indirekten Kosten sogar – aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive – kostensenkend wirken kann (Konnopka et al. 2008).

Aus diesen und weiteren Ergebnissen lässt sich ableiten, dass eine möglichst frühe Diagnose der RA mithilfe des Anti-CCP-Antikörper-Tests im Rahmen einer Behandlungsstrategie mit Biologika dazu beiträgt, die Kosten der weiteren Behandlung geringer zu halten als bei einer Diagnosestellung mit dem Rheumafaktor allein (vgl. Finckh et al. 2009; Ghabri et al. 2020).

Mit diesen Beobachtungen korrespondiert eine aktuelle US-amerikanische Kostenfolgenanalyse (Budget Impact Analysis, BIA), derzufolge die Kosten von Anti-CCP-Tests im Vergleich zu den Therapiekosten geradezu vernachlässigbar niedrig sind; sie bewegten sich in allen betrachteten Szenarien dieser Studie im Promillebereich: fünf- bis sechsstelligen Jahrestherapiekosten (in US-Dollar) standen Kosten für einen Test von unter 95 US-$ gegenüber, wovon 80 US-$ auf Arzthonorare und weniger als 15 US-$ auf Laborkosten entfielen (Park et al. 2020).

4.3.6 Schlussfolgerung

Die Kosten der Labordiagnostik machen demzufolge nur einen sehr kleinen Teil der Kosten der rheumatoiden Arthritis aus. Selbst wenn formale Kosten-Nutzen-Analysen, auch aufgrund der Komplexität der Fragestellung, rar sind, erscheinen die in einer deutschen Modellierung errechneten Ergebnisse plausibel, nach denen serologische Tests – im konkreten Fall die Ergänzung der üblichen Untersuchungen um Anti-CCP-Antikörper-Tests – nach allen gängigen Massstäben kosteneffektiv sind, wenn nicht sogar insgesamt kostensenkend sein können – jedenfalls dann, wenn die indirekten Kosten der RA in die Analyse einbezogen werden. Nach alledem lässt sich schlussfolgern, dass der Einsatz der Anti-CCP-Antikörper-Tests im Rahmen der RA-Diagnostik sämtliche Nutzenkriterien nach Fryback/Thornbury erfüllt. Einmal mehr erweist sich damit moderne Labordiagnostik nicht als Kostentreiber, sondern als Werttreiber.

Eckdaten «Rheumatoide Arthritis»

  1. a)

    Inzidenz und Prävalenz

    Prävalenz absolut:

    60.000–70.000 (Villiger 2011)

    Prävalenz relativ:

    0,3–1,0 % (Schneider et al. 2019)

    Inzidenz insgesamt (/100.000):

    20–60 (DGRh 2008)

    Inzidenz Männer (/100.000):

    30 (DGRh 2008)

    Inzidenz Frauen (/100.000):

    60 (DGRh 2008)

  2. b)

    Krankheitslast und Mortalität

    DALYs absolut:

    10.595 (WHO 2018)

    DALYs gewichtet:

    0,51 % (WHO 2018)

    Mortalität absolut:

    258 (WHO 2018)

    Mortalität gewichtet:

    0,38 % (WHO 2018)

  3. c)

    Kosten aus Perspektive der OKP

    Die medizinischen Gesamtkosten muskuloskelettaler Erkrankung-en belaufen sich gemäss diverser Studien pro Jahr auf mehr als 20 Mrd. CHF, worunter etwa 792 Mio. CHF direkt auf die RA fallen (welche jedoch nur anteilig von der OKP getragen werden)

  4. d)

    Kosten wesentlicher medizinischer/therapeutischer Massnahmen

    Direkte medizinische Kosten pro Patient:

    15.063CHF

    Medikamentenkosten pro Patient:

    6219CHF (Wieser et al. 2014)

  5. e)

    Kosten relevanter Labortests/-diagnostika (vgl. Analysenliste 2021)

    ACPA:

    28,00 CHF (Pos. Nr. 1108.00)

    ANA:

    37,00 CHF (Pos. Nr. 1190.10)

     

    50,00 CHF (Pos. Nr. 1191.10)

    ANCA:

    37,00 CHF (Pos. Nr. 1160.10)

     

    52,00 CHF (Pos. Nr. 1161.10)

    CRP:

    10,00 CHF (Pos. Nr. 1245.00)

     

    14,20 CHF (Pos. Nr. 1245.01)

    HLA-B27:

    135,00 CHF (Pos. Nr. 1418.00)

    RF:

    7,40 CHF (Pos. Nr. 1654.00)

4.4 Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Herz-Kreislauf-Erkrankungen und der akute Myokardinfarkt (AMI) zählen zu den wichtigsten Ursachen von Morbidität und Mortalität. Eine erfolgreiche Behandlung erfordert eine schnelle und zuverlässige diagnostische Abklärung des Leitsymptoms «Brustschmerz». Sind keine typischen Veränderungen im Elektrokardiogramm (EKG) nachweisbar, gelingt die frühe Diagnose nur labormedizinisch.

Troponin-Tests beruhen auf dem Nachweis muskelspezifischer Proteine im Blut und stellen den wichtigsten Laborparameter für die Diagnose einer Schädigung des Herzmuskelgewebes (Myokards) dar. Sie dienen sowohl der Differenzialdiagnose des «akuten Koronarsyndroms» und seiner Verlaufsbeobachtung als auch der Therapiesteuerung und Einschätzung der Prognose.

Mittels herzmuskelspezifischer «kardialer Troponine» lässt sich innerhalb weniger Stunden bei den meisten und sechs bis zehn Stunden nach Symptombeginn bei allen Myokardinfarktpatienten die kardiale Schädigung nachweisen. Das entspricht einer Sensitivität von 100 %.

Moderne hochsensitive Tests, die als vollautomatisierte Immunassays und als Point-of-Care-Testsysteme zur Verfügung stehen, erlauben eine patientennahe Sofortdiagnostik, was für die Erkennung von Herzinfarkten ohne typische EKG-Veränderungen von entscheidender Bedeutung ist. Auch der schnelle Ausschluss eines Herzinfarkts nach Auftreten typischer Symptome (=>«Rule-Out») ist von grossem klinischen Nutzen. Die Kosteneffektivität der hochsensitiven Troponin-Tests gilt als belegt.

4.4.1 Krankheitslast und -kosten

Kardiovaskuläre Erkrankungen haben einen Anteil von 13,5 % an der in Disability-Adjusted Life Years (DALYs) gemessenen Krankheitslast der Schweizer Bevölkerung, fast gleichauf mit der Gruppe der muskuloskelettalen Erkrankungen und nur übertroffen von bösartigen Neubildungen (Abb. 3.1). Ihnen müssen Jahr für Jahr fast 300.000 verlorene gesunde Lebensjahre der Schweizer Bevölkerung zugerechnet werden (siehe Tab. 3.1).

Zugleich verursacht die medizinische Versorgung der Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen höhere direkte Kosten als jede andere Krankheitsgruppe (Abb. 4.19).

Auf die nichtübertragbaren Krankheiten («Non-Communicable Diseases», NCDs) entfallen etwa 80 % der gesamten Gesundheitsausgaben in der Schweiz; auf übertragbare Krankheiten («Communicable Diseases», CDs) gemeinsam mit den Verletzungen und Erkrankungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt etwa 15 % aller Kosten. Die übrigen 5 % der Kosten sind sogenannten «Nicht-Krankheiten» (zum Beispiel Schwangerschaften mit normalem Verlauf) zuzuschreiben.

Hinsichtlich der Verursachung der direkten Kosten durch NCDs in der Schweiz wird aus einer für das BAG durchgeführten Studie aus dem Jahr 2014 ersichtlich (Wieser et al. 2014), dass sich mit 51,1 % (von insgesamt 80 %) ein wesentlicher Anteil der Ausgaben auf nur sieben verschiedene NCDs verteilt. Die Kosten für Herz-Kreislauf-Erkrankungen (mit im Jahr 2011 etwa 10,31 Mrd. CHF, entsprechend 15,9 %) sowie die Gruppe der muskuloskelettalen Krankheitsbilder (2011: 8,70 Mrd. CHF oder 13,5 %) sind dabei anteilig an den Gesamtkosten am höchsten. Demnach entfallen 28,9 % der Kosten auf alle anderen NCDs, darunter Erkrankungen des Verdauungstrakts (3,10 Mrd. CHF oder 4,8 %), neurologische Krankheitsbilder (1,32 Mrd. CHF oder 2,0 %) und Hauterkrankungen (1,20 Mrd. CHF oder 1,9 %; vgl. Wieser et al. 2014, 2018).

Bezieht man die indirekten Kosten in die Betrachtung ein, so nimmt die Gruppe der Herz-Kreislauf-Erkrankungen die Position mit den dritthöchsten gesellschaftlichen Kosten (nach den muskuloskelettalen und nur knapp nach den psychischen Erkrankungen) ein (Abb. 4.19). Die indirekten Kosten wurden in einer literaturbasierten Bottom-Up-Analyse auf 6,4 Mrd. CHF im Jahr 2011 geschätzt und verteilten sich zu je einem Drittel auf Morbiditäts-bedingte und Mortalitäts-bedingte Produktivitätsausfälle und die Opportunitätskosten informeller Pflegeleistungen (vgl. Leal et al. 2006; Wieser et al. 2014).

Eine Schätzung der Anteile der einzelnen Kostenarten an den gesellschaftlichen Kosten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Schweiz – basierend auf detaillierten Analysen für das Jahr 2011 – zeigt, dass bei den direkten medizinischen Kosten die Kosten der stationären Behandlung dominieren; die Ausgaben für Laboruntersuchungen betragen anteilig nur 2,2 % der direkten beziehungsweise 1,3 % der gesamten gesellschaftlichen Kosten aus (vgl. Wieser et al. 2014, 2018; Abb. 4.21).

Abb. 4.21
figure 21

Kosten der Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Schweiz (2011) aus gesellschaftlicher Perspektive. Prozentualer Anteil; Kombination von Informationen aus datenbasierter Analyse der direkten Kosten und literaturbasierter Schätzung der indirekten Kosten. Quelle: Wieser et al. (2014, 2018)

Mortalität. In der Schweiz werden rund 30 % aller Todesfälle auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückgeführt (Männer: 29,1 %, Frauen: 32,2 %). Sie gehören nach Verletzungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems zu den drei häufigsten Diagnosegruppen, die zu einer Hospitalisierung führen (Datenquelle: BFS 2021a, b). Betrachtet man die Spitaleinweisungen wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen näher (siehe Abb. 4.22 und 4.23), dann zeigt sich die grosse Bedeutung der arteriellen Verschlusskrankheit (AVK) und ihrer Folgen am Herzen, den ischämischen Herzerkrankungen einschliesslich ihrer Manifestation als akuter Myokardinfarkt (AMI).

Abb. 4.22
figure 22

Wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen hospitalisierte Frauen (2017). Quelle: Medizinische Statistik der Krankenhäuser (BFS 2019; mit freundlicher Genehmigung durch das Bundesamt für Statistik der Schweiz)

Abb. 4.23
figure 23

Wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen hospitalisierte Männer (2017). Anteilige Häufigkeit der jeweiligen Einweisungsursachen in Schweizer Spitäler. Quelle: Medizinische Statistik der Krankenhäuser (BFS 2019; mit freundlicher Genehmigung durch das Bundesamt für Statistik der Schweiz)

4.4.2 Akute Myokardinfarkte in der Schweiz

Der akute Myokardinfarkt gehört zu den Krankheitsereignissen mit meist unmittelbaren und schwerwiegenden Auswirkungen auf den Patienten. In der überwiegenden Zahl der Fälle werden die Betroffenen in ein Spital eingeliefert oder sterben bereits, bevor eine Hospitalisierung erfolgen kann. Die Zahl der 2016 in der Schweiz aufgetretenen akuten Myokardinfarkte wird mit insgesamt 14.792 beziffert (Männer: 9757, Frauen: 5035), welche unmittelbar für 2166 Todesfälle verantwortlich waren (Männer: 1273, Frauen: 893; Datenquelle: BFS 2019).

Das Auftreten von akuten Myokardinfarkten nimmt mit steigendem Alter stark zu und liegt bei Männern tendenziell höher als bei Frauen. Die Differenz zwischen Frauen und Männern verringert sich jedoch mit zunehmendem Alter, insbesondere bei Personen ab 65 Jahren.

Der Anteil der Verstorbenen gemessen an jenen, die einen AMI hatten (Letalität), halbierte sich zwischen 2002 und 2016 von 31 % auf 15 %. Die Letalität bei Frauen ist wiederum höher als bei Männern (im Jahr 2016 etwa 18 % gegenüber 14 % in 2002), wobei sich der Unterschied zwischen den Geschlechtern in den zurückliegenden Jahren etwas verringerte (Datenquelle: BFS 2019).

4.4.3 Diagnostik des akuten Myokardinfarkts

Zu den klinischen Leitsymptomen des akuten Myokardinfarkts zählen typischerweise akut einsetzende, anhaltende Thoraxschmerzen mit Ausstrahlung in den linken Arm, den Hals und/oder das Epigastrium. Der Schmerz kann von Angstgefühlen, Luftnot und vegetativer Symptomatik begleitet sein; die Schwere reicht von akutem Vernichtungsschmerz bis hin zu «stummen Infarkten», besonders bei Diabetikern.

Die schnelle Differenzialdiagnostik des akuten Brustschmerzes ist von entscheidender prognostischer Bedeutung. Der TOPIC-Studie aus Lausanne folgend ist von den nachstehenden anteiligen Prävalenzen der Ursachen akuter Brustschmerzen auszugehen (Verdon et al. 2008): muskuloskelettale Verursachung («Brustwandsyndrom», 48 %); kardiovaskuläre (19,5 %; ischämisch, 16 %; nicht-ischämisch, 3,5 %), psychogene (11 %), respiratorische (8 %), gastrointestinale (7 %) und andere (5–6 %) Ursachen. Dabei variiert die den Thoraxschmerzen zugrunde liegende Ursache je nach Setting zum Teil erheblich (vgl. Tab. 4.31, siehe auch bei Erhardt et al. 2002).

Tab. 4.31 Ursachen von Brustschmerzen in verschiedenen Settings. Eigene Darstellung

Als lebensbedrohliches Krankheitsbild erfordert der akute Thoraxschmerz insbesondere in der Notaufnahme eine unmittelbare Diagnostik sowie darauf aufbauend frühzeitige und umfassende therapeutische Massnahmen. Wichtig ist hierbei die schnelle Erkennung von Hochrisikosituationen bei der initialen Beurteilung, ohne unnötige diagnostische Schritte zu unternehmen.

Neben der klinischen Präsentation und der Anamnese sind die wesentlichen Eckpfeiler der Diagnostik sowohl die Elektrokardiographie (EKG) als auch die Bestimmung verschiedener Laborparameter (Abb. 4.24).

Abb. 4.24
figure 24

Abklärung des Leitsymptoms «Thoraxschmerz» in der Notaufnahme. Eigene Darstellung in Anlehnung an Amsterdam und Wenger (2015) und Collet et al. (2020)

Elektrokardiographie (EKG). Es ist gerechtfertigt, die Diagnose STEMI (ST-elevation myocardial infarction) bei typischer klinischer Symptomatik in Kombination mit einer ST-Hebung oder einem neu aufgetretenen Linksschenkelblock im EKG zu stellen, wohingegen eine ST-Senkung oder eine T-Wellenveränderung typische Zeichen eines NSTEMI (Non-ST-elevation myocardial infarction) sind. Jedoch schliesst ein unauffälliges EKG ein akutes Koronarsyndrom (acute coronary syndrome, ACS) nicht aus. Es wird empfohlen, nach einem initial negativen Befund weitere EKG-Ableitungen zur Identifikation eines Rechtsherzinfarkts oder posterioren Hinterwandinfarkts zu erheben (vgl. DEGAM 2011; Roffi et al. 2016; Collet et al. 2020).

Laborparameter. Für die Diagnostik des AMI stehen neben dem kardialen Troponin (I/T) noch weitere biochemische Marker zur Verfügung: die Kreatinkinase (CK), das kardiospezifische Isoenzym (CK-MB) und das Myoglobin. Die Marker weisen dabei unterschiedliche Eigenschaften hinsichtlich der Spezifität für den kardialen Gewebsuntergang und des zeitlichen Anstiegs im Blutserum auf (vgl. hierzu bei Suttorp et al. 2016).

Troponine sind stark kardiospezifisch und stellen heute den Goldstandard in der Diagnose des AMI dar. Die fortlaufende Weiterentwicklung der Troponin-Tests ermöglicht darüber hinaus die Erkennung immer niedrigerer Serumkonzentrationen und führt zu einer immer weiteren Verbesserung (vor allem) der Sensitivität (vgl. Möckel et al. 2017; Twerenbold et al. 2017). Für die diagnostische und prognostische Einschätzung des akuten Myokardinfarkts (AMI) haben sich die Troponine folglich bewährt, so dass mit Blick auf ihre hohe Sensitivität ein fehlender Troponin-Anstieg ein zentrales Kriterium für den Ausschluss eines AMI darstellt (vgl. Collet et al. 2020; DEGAM 2011; Roffi et al. 2016).

Im Jahr 2011 erneuerte die World Health Organization (WHO) die bestehende Definition eines AMI. Die Diagnose eines AMI durfte demnach nur gestellt werden, wenn ein Anstieg und/oder Abfall mindestens eines kardialen Biomarkers (bevorzugt des Troponins) über den Wert des 99. Perzentils des oberen Referenzwerts gemessen wurde, mit zusätzlich mindestens einem von fünf weiteren Kriterien (vgl. Mendis et al. 2011).

Die gegenwärtige vierte universelle Definition der Myokardschädigung und des AMI hebt die Bedeutung des kardialen Troponins im Vergleich zur WHO-Definition aus dem Jahre 2011 noch weiter hervor. Dementsprechend ist nach aktueller internationaler Übereinkunft die Diagnose eines AMI (oder instabiler Angina), unabhängig vom Vorliegen eines STEMI, NSTEMI oder instabiler Angina, zwingend an das Ergebnis einer Laboruntersuchung gebunden (vgl. Thygesen et al. 2018; Chapman et al. 2020).

Diese Tatsache stellt einen beachtenswerten Sonderfall innerhalb der gegenwärtigen Definitionen von Krankheiten dar, der bereits einen deutlichen Hinweis auf den klinischen Nutzen der Troponin-Testung gibt.

Innovationsdynamik. Wird der Wandel der Labordiagnostik des AMI im Zeitverlauf betrachtet, so wird sehr deutlich, dass eine stetige Weiterentwicklung respektive Neuentwicklung von Laborparametern stattfand (Abb. 4.25).

Abb. 4.25
figure 25

Entwicklung der Labordiagnostik bei akutem Thoraxschmerz. Eigene Darstellung in Anlehnung an Amsterdam und Wenger (2015), Roffi et al. (2016) und Collet et al. (2020)

Zusätzlich zur apparativen EKG-Diagnostik werden seit den 1970er-Jahren Laborparameter für die Diagnostik verwendet. Anfangs wurde das Gesamt-CK bestimmt, welches in den 1990er-Jahren zum Muskulatur-spezifischeren CK-MB weiterentwickelt wurde (vgl. Mathey et al. 1975; Gibler et al. 1990). Im gleichen Zeitraum wurde das kardiale Troponin (cTn) entdeckt und erstmals im Jahr 2000 in die internationalen Leitlinien aufgenommen (vgl. Alpert et al. 2000). Die Forschung konzentrierte sich in den folgenden Jahren auf die Entwicklung noch sensitiverer Bestimmungsmethoden, mit dem Ergebnis, dass im Jahr 2011 das high sensitive kardiale Troponin («hs-cTn») in die Leitlinien aufgenommen werden konnte (vgl. Christ et al. 2010). In der Folge etablierten sich die Troponine (allen voran das hs-cTn) als neuer Standard für die Diagnosestellung des AMI (vgl. hierzu bei Apple et al. 2017; Wu et al. 2018).

Auf dieser Grundlage aufbauend folgten daraufhin immer wieder aktualisierte Empfehlungen neuer Strategien für den diagnostischen Ausschluss («Rule-Out-Algorithmus») des AMI (vgl. hierzu bei Mueller et al. 2017; Wildi et al. 2019).

Während noch 2015 die European Society of Cardiology (ESC) in ihrer Leitlinie (Roffi et al. 2016) primär die Anwendung des «0/3h-Algorithmus» empfahl, gewann der «0/1h-Algorithmus» für die Diagnose des AMIs weiter an Bedeutung (vgl. Mueller et al. 2016; Neumann et al. 2016) und wird jetzt mit der 2020 erschienenen aktualisierten ESC-Guideline als beste Option neben dem zweitbesten «0/2h-Algorithmus» empfohlen, wobei bis auf Weiteres noch der «ESC-0/3h-Algorithmus» als vertretbare Alternative berücksichtigt bleibt (Collet et al. 2020; vgl. dazu Abb. 4.26).

Abb. 4.26
figure 26

Vereinfachte Darstellung Rule-In/Rule-Out Kriterien bei Anwendung des 0/3h-Algorithmus (2012/2015) und des 0/1h-Algorithmus (2020). Eigene Darstellung; Quellen: Thygesen et al. (2012a); Roffi et al. (2016); Collet et al. (2020). *Rule-Out ist nur möglich, wenn Symptome >3 h vor Blutentnahme erstmalig aufgetreten sind (bezugnehmend auf hs-cTnT Elecsys Roche); Cut-off Level sind beim 0/1h-Algorithmus folglich testspezifisch. Abkürzungen: GRACE, Global Registry of Acute Coronary Events score; hs-cTn, high-sensitivity cardiac troponin; ng/L, Nanogramm pro Liter; URL, 99th percentile upper reference limit

4.4.4 Nutzen der Labordiagnostik des akuten Myokardinfarkts

Grundsätzlich werden Troponine von geschädigten oder toten Herzmuskelzellen freigesetzt und sind physiologisch nur in sehr geringen Mengen im peripheren Blut vorhanden. Das cTn sowie auch das hs-cTn steigen nach einem Herzmuskelschaden jedoch deutlich an und können folglich sehr früh im peripheren Blut nachgewiesen werden. Hierdurch lassen sich sogar kleinste Verletzungen des Herzens mit einer guten Sensitivität und/oder Spezifität nachweisen. Bis 2011 wurde das cTn in den europäischen und amerikanischen Leitlinien durchgängig als Standard empfohlen, bevor sich die Empfehlung hin zum hs-cTn änderte (vgl. bei Thygesen et al. 2012a,b). Der damit verbundene Zusatznutzen lässt sich aus klinischer wie aus gesundheitsökonomischer Perspektive evaluieren. Eine Zielerreichung muss die technische und diagnostische Validität der Tests voraussetzen. Den Kontext illustriert Abb. 4.27 mit einer schematischen Darstellung des typischen Verlaufs des Diagnoseprozesses bei akutem Brustschmerz.

Abb. 4.27
figure 27

Typischer Diagnoseprozess bei akutem Thoraxschmerz. Eigene Darstellung; Quelle: Bruno et al. (2015)

Zieldefinition. Auf Grundlage des cTn- oder hs-cTn-Ergebnisses wird mithilfe der Rule-In/Rule-Out-Methodik das Ziel verfolgt, möglichst schnelle und adäquate patientenzentrierte Entscheidungen im klinischen Setting zu finden (vgl. Collet et al. 2020; Roffi et al. 2016). Ein Rule-In hätte zur Folge, dass der Verdacht auf eine Erkrankung bestätigt wird und weitere Tests veranlasst werden oder die Therapie beginnen kann (vgl. Abb. 4.26). Entsprechend wäre für das Rule-Out die Konsequenz, dass andere Diagnosen in Betracht gezogen werden sollen (Veränderung der Arbeitshypothese) oder der Patient entlassen werden könnte.

Technische Validität. Im Jahr 2007 hat die International Federation of Clinical Chemistry and Laboratory Medicine (IFCC) zusammen mit der National Academy of Clinical Biochemistry Leitlinien zur Standardisierung von biochemischen Nekrosemarkern des Herzens in Bezug auf die analytische Mindestqualität für den Nachweis eines akuten Koronarsyndroms (ACS) herausgegeben.

Festgelegt wurden die Grenzwerte der einzelnen Biomarker bei Herzerkrankten im Vergleich zur gesunden Normalbevölkerung als Vergleichspopulation ohne bekannte Vorerkrankung des Herzens. Für das cTn wurde die Verwendung eines Tests empfohlen, der den Referenzgrenzwert am 99. Perzentil der Vergleichspopulation messen kann (Upper Reference Limit, URL), und gleichzeitig den Cutoff-Punkt zur Entscheidung für einen kardialen Gewebsuntergang darstellt. Die maximal tolerierbare analytische Ungenauigkeit wurde auf <10 % (%-VK, Variationskoeffizient) am 99. Perzentil des Referenzgrenzwerts festgelegt.

Andere Bestandteile des Blutes wie Rheumafaktoren, Biotin, Bilirubin oder Albumin dürfen nicht durch Interaktionen das Ergebnis des Troponin-Tests beeinflussen. Als Proben zur Analyse sind Serum, Plasma oder antikoaguliertes Vollblut allgemeinhin akzeptiert (vgl. Apple et al. 2007; Thygesen et al. 2012a).

Die IFCC hat im Jahr 2015 neue Kriterien zur analytischen Qualität in Bezug auf das hs-cTn herausgegeben. Die Anforderungen aus dem Jahr 2007 wurden um eine weitere Anforderung bezüglich der Testeigenschaften erweitert. Nach der Definition der IFCC für hochsensitive Troponin-Tests sollte ein Testgerät bei >50 % der Vergleichspopulation Troponin über der Nachweisgrenze (=>Limit of Detection, LoD) messen können (vgl. Apple et al. 2015).

Diagnostische Validität. Nach der Auswertung einer Vielzahl klinischer Studien zur diagnostischen Validität von cTn (vgl. Shin et al. 2018) und hs-cTn (vgl. Lee et al. 2020; Shin et al. 2018) können die in nachfolgender Tab. 4.32 angegebenen Spannweiten als weitestgehend gesichert angesehen werden.

Tab. 4.32 Diagnostische Validität der Troponine. Eigene Darstellung in Anlehnung an Shin et al. (2018) für NSTEMI und Lee et al. (2020) für AMI. Die hier zusammenfassend dargestellten Testeigenschaften zur diagnostischen Validität des cTn beruhen auf einem systematischen Review mit Patientendaten aus insgesamt 14 klinischen Studien (Shin et al. 2018); für die hs-cTn-Eigenschaften wurde eine weitere Meta-Analyse mit Patientendaten aus insgesamt 56 Studien herangezogen (Lee et al. 2020). Abkürzungen: CI, Konfidenzintervall; PPW, positiv prädiktiver Wert; NPW, negativ prädiktiver Wert

Klinischer Nutzen

Nach den Resultaten einer Meta-Analyse von Lipinski et al. (2014) hat sich die Genauigkeit der Troponin-Testung mit der Einführung des hs-cTn signifikant verbessert. Durch das hs-cTn hat sich die Masszahl Area Under the Curve (AUC) leicht verbessert und ist von 89 % auf 92,3 % gestiegen (vgl. Tab. 4.32).

In der internationalen multizentrischen «Advantageous Predictors of Acute Coronary Syndrome Evaluation» (APACE)-Studie wurde unter anderem gezeigt, dass Krankenhäuser, die von konventionellen Tests der vierten Generation auf hochsensitives kardiales Troponin (hs-cTn)-Tests umstellten, signifikant weniger Belastungstests durchführten und bei ambulanten Patienten 20 % niedrigere Kosten verursachten (Twerenbold et al. 2016).

In der Folge (vgl. dazu auch Müller et al. 2016) konnte auf dieser Basis das durchschnittliche Zeitintervall bis zum Start der Therapie bei Vorliegen eines AMI von 5,3 h auf 2,7 h beinahe halbiert werden (vgl. Ambavane et al. 2017). Zugleich konnte bei Nicht-Vorliegen eines AMI die Aufenthaltsdauer in der Notaufnahme von durchschnittlich 6,6 h auf 4 h reduziert werden.

Das bedeutet für den Patienten, dass bei einem vorliegenden AMI die Therapie früher gestartet, und ohne AMI die Notaufnahme 2,6 h früher verlassen werden konnte (Ambavane et al. 2017). In einer australischen Studie konnte allein mit dem Ersatz von cTn durch hs-cTn (mit einer 2-Stunden-Regel) die Aufenthaltsdauer im Spital im Durchschnitt um 6,2 h gesenkt werden, mit einer Reduktion um 18 % für stationäre Aufenthalte länger als einen Tag; was sich bei Einbezug weiterer Kriterien in hs-cTn-basierte Algorithmen noch weiter verbessern liess (Jülicher et al. 2017; vgl. auch nachstehend).

4.4.5 Gesundheitsökonomische Bewertung

Die im Folgenden zusammengefassten Daten stammen aus einer internationalen Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, die eine ökonomische Analyse für England, Deutschland und die Schweiz vorlegten (Ambavane et al. 2017). Ihr zufolge hat die Umstellung vom bisherigen Standard, basierend auf einem 3-Stunden-Algorithmus (vgl. Roffi et al. 2016), zum 1-Stunden-Algorithmus (vgl. Collet et al. 2020) mittels des hs-cTn die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in der Notaufnahme um 33 % gesenkt. Hochrechnungen gehen davon aus, dass die im Mittel eingesparten 2,12 h an freiem Bettenplatz pro Patient für England bedeuten würden, dass ungefähr 50.000 freie Bettentage pro Jahr entstehen. Zugrundeliegend für diese Hochrechnungen waren die 573.916 jährlichen Verdachtsfälle eines AMIs. Die durchschnittlichen Kosten pro Patient konnten um 46 % von 4561 GBP auf 2480 GBP gesenkt werden.

Für die Schweiz (für Kosten relevanter Massnahmen siehe Tab. 4.33) ergeben sich aus dieser aufwendigen studienbasierten Modellrechnung sogar überdurchschnittlich hohe Einsparungen von insgesamt 5807 CHF (2016) oder 40 % pro Patient durch den hs-cTn-basierten Ein-Stunden-Algorithmus und die um 2,5 h (im Durchschnitt der internationalen Studienzentren 2,1 h, siehe oben) verkürzte Aufenthaltsdauer in der Notaufnahme.

Tab. 4.33 Akuter Myokardinfarkt: Direkte Kosten im Vergleich. Aktuelle Daten für die Schweiz. HKL, Herz-Kreislauf-Erkrankungen (gesamt); KHK, koronare Herzkrankheiten, AL, Analysenliste; PTCA, perkutane transluminale Coronar-Angioplastie; CABG, Koronararterien-Bypass (coronary artery bypass grafting). Quellen: Wieser et al. (2014); Twerenbold et al. (2016); Ambarvane et al. (2017); BAG Analysenliste (2021)

Eine prospektive Implementierungsstudie für einen hs-Tn-Test liegt seit 2019 von NICE aus England vor (NICE 2019). Im Royal Wolverhampton National Health Service Trust in den West Midlands zeigte sich mit der Einführung des hs-cTn-Tests eine Reduktion der stationär aufgenommenen Patienten von 60,9 % auf 38,4 % der Personen mit Verdacht auf ein ACS, eine Reduktion der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 23,0 h auf 9,6 h und Einsparungen für das Spital in Höhe von rund 788.000 GBP (2016).

Die bereits zitierte australische Analyse von Paul Jülicher et al. (2017) beruht auf Daten eines Studienzentrums der ASPECT- bzw. ADAPT-Studie in Brisbane und einem Mikrosimulationsmodell unterschiedlicher hs-cTn-basierter Zwei-Stunden-Algorithmen (Than et al. 2012). Der blosse Ersatz des c-Tn-basierten Sechs-Stunden-Standards durch ein hs-cTn-basiertes Zwei-Stunden-Protokoll führte in der Modellierung zu einer Verkürzung des durchschnittlichen Spitalaufenthalts um 6,2 h, bei Einbezug weiterer Kriterien in einfachen Algorithmen sogar um bis 13,6 (von 34,0 auf 20,4) Stunden. Eine signifikante Verminderung falsch-positiver Ergebnisse resultierte für eine der berechneten hs-cTn-basierten Strategien zu ökonomischer Dominanz gegenüber dem bisherigen Standard, bei im direkten Vergleich erwarteten Einsparungen von 486 AUS-$ pro Patient und gleichzeitig um vier Prozentpunkte, von 90,0 % auf 94,0 %, steigender diagnostischer Genauigkeit.

Ein aktueller systematischer Review von hs-cTn-Assays zum schnellen Rule-Out eines AMI bei Patienten mit akutem Brustschmerz identifizierte 37 Studien mit insgesamt 123 Publikationen (Westwood et al. 2021), welche überwiegend die klinische Genauigkeit einzelner Tests adressierten. Die Voraussetzung einer minimalen akzeptablen Sensitivität von 97 % erfüllten die meisten hs-cTn-basierten multiplen Teststrategien, die eine initiale Rule-Out-Regel gefolgt von hs-cTn-Messungen nach ein, zwei und drei Stunden beinhalteten.

Zwei grosse randomisierte klinische Studien («High-STEACS» und «HISTORIC», beide durchgeführt in Schottland; vgl. Shah et al. 2018; Bularga et al. 2019; Chapman et al. 2020; Anand et al. 2021) bestätigten, dass eine schnelle Rule-Out-Strategie für AMI zu einer Reduktion sowohl der Länge als auch der Rate von Hospitalisierungen führt, ohne mit einem erhöhten Risiko unerwünschter kardiovaskulärer Ereignisse einherzugehen.

Die Kosteneffektivität der modellierten Strategien war in dieser Studie aus der Perspektive des britischen National Health Service bei Anwendung eines Schwellenwerts von 20.000 bis 30.000 GBP je gewonnenem QALY für die meisten Tests und Teststrategien grenzwertig positiv (Westwood et al. 2021).

Damit können die aus theoretischen Überlegungen heraus vorhergesagten positiven Effekte einer Einführung von hs-cTn-Tests als im Wesentlichen empirisch bestätigt gelten (vgl. St. John et al. 2018).

Nach alledem lässt sich in der Zusammenschau dieser Ergebnisse, der ESC-Guidelines von 2015 und 2020 (Roffi et al. 2016; Collet et al. 2020) und den Evaluationen von Vaidya et al. (2014), Westwood et al. (2015a, 2021), Ambavane et al. (2017), Jülicher et al. (2017) und Kip et al. (2017) folgern, dass für alle Nutzen-Level des Stufenkonzepts nach Fryback/Thornbury überzeugende Evidenz vorliegt.Footnote 6

Schlussfolgerung

Unter Bezug auf das adaptierte Stufenkonzept zur Evaluation des Nutzens eines diagnostischen Tests nach Fryback und Thornbury (1991) kann somit belegt werden, dass durch die Umstellung der Diagnostik des akuten Thoraxschmerzes auf den vier Ebenen technische Validität, diagnostische Validität, klinischer Nutzen und ökonomischer beziehungsweise gesellschaftlicher Nutzen jeweils eine Verbesserung eintritt. Auch mit Blick auf die Kosten/Nutzen-Relation und mögliche Kostensenkungen kann das hs-cTn überzeugen, da sein Einsatz im Rahmen geeigneter Algorithmen zu einer finanziellen Entlastung des Gesundheitssystems führen kann. Zudem können Patienten-relevante Outcomes aufgrund eines schnelleren Starts einer zielgerichteten Behandlung oder alternativ einer schnelleren Entlassung aus der Notaufnahme positiv beeinflusst werden.

Eckdaten «Akuter Myokardinfarkt (AMI)»

  1. a)

    Inzidenz- und Prävalenz

    Kardiovaskuläre Erkrankungen:

    Prävalenz absolut:

    800.181,20 (IHME 2018)

    Prävalenz absolut (/100.000):

    9295,90 (IHME 2018)

    Prävalenz relativ (/insgesamt):

    9,90 % (IHME 2018)

    Akutes Koronarsyndrom (ACS) und Myokardinfarkt:

    Prävalenz: 1,5 % (DEGAM 2011) – 3,5 % (Verdon et al. 2008)

    Akuter Myokardinfarkt (AMI):

    Inzidenz insgesamt:

    17.490 (OBSAN 2017)

    Inzidenz (/100.000, standardisierte Rate):

    225,4 (OBSAN 2017)

    Letalität (pro Erkrankte) in Prozent:

    12,70 % (OBSAN 2017)

  2. b)

    Krankheitslast und Mortalität

    Akutes Koronarsyndrom (STEMI-NSTEMI) und Myokardinfarkt:

    DALYs absolut:

    160.979,50 (WHO 2018)

    DALYs gewichtet:

    7,75 % (WHO 2018)

    Mortalität absolut:

    11.590,62 (WHO 2018)

    Mortalität gewichtet:

    17,10 % (WHO 2018)

  3. c)

    Kosten aus Perspektive der OKP

    Etwa 27 % der Kosten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (2,765 Mio. CHF) sind auf koronare Herzkrankheiten zurückzuführen, worunter auch der AMI fällt (Wieser et al. 2014); direkte Kosten (ACS) betragen etwa 462 Mio. CHF für die Versicherer, welche vom AMI dominiert werden (STEMI 45,80 % und NSTEMI 35,80 %)

  4. d)

    Kosten wesentlicher medizinischer/therapeutischer Massnahmen

    Koronare Herzkrankheiten:

    Direkte Medizinische Kosten:

    1459 Mio. CHF–2765 Mio. CHF

    Indirekte (Behandlungs-)Kosten:

    2038 Mio. CHF

    Die gesamte Kostenverteilung und folglich die spezifischen Kosten (pro Patient) sowohl für ACS als auch den AMI sind unbekannt (vgl. Wieser et al. 2012, 2014)

  5. e)

    Kosten relevanter Labortests/-diagnostika (vgl. Analysenliste 2021)

    Troponin (T oder I):

    23,00 CHF (Pos. Nr. 1734.00)

     

    43,70 CHF (Pos. Nr. 1734.01)

    D-Dimere:

    32,00 CHF (Pos. Nr. 1260.00)

     

    45,80 CHF (Pos. Nr. 1260.01)

4.5 Psychiatrische Erkrankungen

Zusammenfassung

Epidemiologische Studien und Ergebnisse der Versorgungsforschung zeigen übereinstimmend, dass ein erheblicher Teil der Schweizer Bevölkerung mindestens einmal im Leben an einer psychiatrischen oder psychischen Störung erkrankt. Depressionen, die zu den am häufigsten diagnostizierten psychiatrischen Störungen zählen, gehen mit erheblichen Lebensqualitätsverlusten, mit substanziellen direkten Kosten und darüber hinaus massiven Produktivitätsverlusten einher. Aktuelle Daten legen nahe, dass psychische und psychiatrische Störungen 3–4 % des Bruttoinlandprodukts (BIP) und damit die Schweizer Volkswirtschaft mehr als 15 Mrd. CHF pro Jahr kosten.

Dessen ungeachtet erweisen sich Patienten mit depressiven Symptomen in bis zu einem Drittel der Fälle als klinisch «therapieresistent». Vielfach handelt es sich hierbei um Fehldiagnosen, etwa weil eine andere der Symptomatik zugrunde liegende Störung nicht erkannt wurde und deshalb keine kausale Therapie eingeleitet wurde. Als ein klassisches Beispiel für den stets notwendigen Ausschluss organischer Ursachen wird die Durchführung des einfachen und kostengünstigen TSH-Tests beschrieben, mit dem eine ursächliche Hypothyreose erkannt und Fehldiagnosen und ihre menschlichen/ökonomischen Folgekosten vermieden werden können. Die Hypothyreose und der TSH-Test stehen somit stellvertretend für die zahlreichen Ausschlussdiagnosen und die Rolle labormedizinischer Tests bei psychiatrischen Störungsbildern.

Das «Therapeutische Drug-Monitoring (TDM)» ist ein klinisch wichtiges Einsatzgebiet der Labordiagnostik über die Psychiatrie hinaus. Für die Therapie mit Arzneimitteln mit einem engen therapeutischen Index ist TDM obligat. Die hohen Kosten, die von unsachgemässer Einnahme (bis hin zu Nichteinnahme im Fall fehlender «Adhärenz») von Medikamenten verursacht werden können, begründen die Vermutung, dass das klinische und gesundheitsökonomische Nutzenpotenzial des TDM nicht ausgeschöpft wird.

4.5.1 Epidemiologie und Krankheitslast psychiatrischer Störungen

Die auf psychiatrische Erkrankungen zurückführbare Krankheitslast in der Schweiz ist hoch. Der Anteil an Schweizern und Schweizerinnen mit einer oder mehreren psychischen Erkrankungen wird in der Literatur mit 16,7 % angegeben (Datenquelle: BFS 2012). Offizielle Daten des Bundesamts für Gesundheit (BAG) bestätigen diese Angaben, demnach litten 2015 etwa 17 % der Schweizer Bevölkerung an einer psychiatrischen Erkrankung (Datenquelle: BAG 2015).

Für Europa wurde im Jahr 2005 beschrieben, dass innerhalb der gesamten Lebenszeit jede zweite Person an einer psychiatrischen Störung erkranken werde (vgl. Wittchen und Jacobi 2005). Analysen «administrativer» Daten (auf der Basis von ärztlichen Leistungsabrechnungen) aus Nordbaden in Südwestdeutschland zufolge wurde in den Jahren 2003 bis 2009 konstant bei jeweils etwa einem Drittel der gesetzlich krankenversicherten regionalen Bevölkerung (insgesamt 2,3 Mio. Bürgerinnen und Bürger) mindestens eine psychiatrische Störung diagnostiziert (vgl. Schwarz und Schlander 2013).

Für Erwachsene in der Schweiz wurde eine Ein-Jahres-Prävalenz der Angststörungen von 15,6 % berichtet (Wittchen et al. 2011; vgl. Tab. 4.34). Mehr als 6,5 % der Teilnehmer der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (2012) gaben an, an einer mittleren bis starken Depression zu leiden. Werden die weiteren 22,2 % der Befragten, die das Vorliegen einer milden Depression angaben, hinzugerechnet, dann werden depressive Störungen zur Kategorie mit der höchsten Prävalenz (Datenquelle: BFS 2012).

Tab. 4.34 Prävalenz psychischer und psychiatrischer Gesundheitsstörungen in der Schweiz (2010/2012). Eigene Darstellung in Anlehnung an Wittchen et al. (2011) und Schweizerische Gesundheitsbefragung 2012 (BFS 2012)

Die Zeitspanne zwischen dem erstmaligen Auftreten einer Depression und der Erstdiagnose beträgt im Schnitt zehn Jahre (vgl. Baer et al. 2013). Die kumulative Inzidenz, bis zum 50sten Lebensjahr an einer Depression zu erkranken, wird mit 13,1 % bis 47,1 % angegeben (vgl. Angst et al. 2016; Olino et al. 2012; Takayanagi et al. 2014). Die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung an einer Depression nimmt überdies mit dem Vorhandensein von Komorbiditäten (wie Diabetes mellitus, M. Parkinson und andere) stark zu (vgl. Beise et al. 2019; Frosch et al. 2014).

Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Krankheitslast (gemessen in DALYs 2016) belegen, dass depressive Erkrankungen mit einem Anteil von 2,7 % an der Gesamtzahl «verlorener gesunder Lebensjahre» der Schweizer Bevölkerung die grösste Rolle unter den psychischen und psychiatrischen Erkrankungen spielen, gefolgt von Angststörungen (2,0 %), bipolaren Störungen (1,0 %) und Schizophrenie (0,9 %). Daneben spielen Suchterkrankungen und ihre Folgen eine wichtige Rolle (Drogenabusus, 1,1 %; Alkoholismus, 1,0 %). Tab. 4.35 bietet eine Übersicht der Krankheitslast und der Mortalität aufgrund psychischer Erkrankungen in der Schweiz (Datenquelle: WHO 2018).

Tab. 4.35 Psychische Erkrankungen in der Schweiz, Diagnosen und Krankheitslast (DALYs). Eigene Darstellung; Datenquelle: WHO (2018). «Absolut», absolute Fallzahlen der jeweiligen Diagnosen; «Gewichtet», Anteil der jeweiligen Diagnosen an der Schweizer Gesamtzahl

Werden die Hauptgruppen der Erkrankungen aus den Daten der WHO zu den DALYs der Schweiz betrachtet, so nehmen die psychiatrischen Erkrankungen den dritten Rang mit etwa neun Prozent aller DALYs ein. Nach Krankheitsgruppen betrachtet, werden noch höhere Gesamt-DALYs nur durch maligne Neubildungen mit 17,5 % und von kardiovaskulären Ereignissen mit 13,5 % verursacht (gemäss IHME-Statistik von 2018 für das Jahr 2017; siehe Abb. 3.1).

In der Schweiz wurden im Jahr 2014 91.297 stationäre Aufenthalte mit psychiatrischer Hauptdiagnose gezählt (Datenquelle: Burla et al. 2012; Schuler et al. 2016). Das entspricht einer Rate von 12,9 Hospitalisationen pro 1000 Einwohner. Die pflegetageintensivste Diagnose innerhalb der Gruppe der psychiatrischen Erkrankungen war für beide Geschlechter die Depression, konsekutiv mit der führenden Position der Depression als Ursache einer stationären Aufnahme wegen einer psychiatrischen Diagnose (Tab. 4.36; Abb. 4.28).

Tab. 4.36 Verteilung der stationären Aufnahmen in der Schweiz (2014), nach psychiatrischen Diagnosen und Geschlecht. Quelle: Schuler et al. (2016); OBSAN (2017); Frauen, n = 47.447; Männer, n = 43.850
Abb. 4.28
figure 28

Pflegetageraten in der Schweiz (2014), nach psychiatrischen Diagnosen und Geschlecht. Quelle: Schuler et al. (2016; mit freundlicher Genehmigung durch das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan); vgl. auch OBSAN 2017); Pflegetage pro 1000 Einwohner; Frauen, n = 47.447; Männer, n = 43.850

4.5.2 Kosten psychiatrischer Störungen

Zu den Kosten aufgrund psychiatrischer Störungen in der Schweiz liegen divergierende Schätzungen vor, wobei sich die zugrundeliegende Heterogenität der verschiedenen Studienergebnisse nur zu einem Teil erklären lässt. Folgt man den Ergebnissen der Studie des European Brain Council (EBC), dann muss für das Jahr 2010 von volkswirtschaftlichen Kosten in der Schweiz aufgrund von Erkrankungen des Zentralnervensystems (neurologische und psychiatrische Störungen zusammen) in Höhe von 15,2 Mrd. € (umgerechnet mit Kaufkraftparitäten) ausgegangen werden, wovon der EBC-Studie zufolge 1,8 Mrd. EUR auf Psychosen, 1,5 Mrd. EUR auf Angststörungen, 1,7 Mrd. EUR auf schwere Depressionen und 400 Mio. EUR auf bipolare Störungen entfielen (vgl. hierzu Gustavsson et al. 2011; Maercker et al. 2013; siehe auch Tab. 4.37).

Tab. 4.37 Gesellschaftliche Kosten ausgewählter psychiatrischer Störungen in der Schweiz. Quelle: EBC-Studie (2010/2013); vgl. auch Maercker et al. (2013) Fallzahl in Tausend (2010) laut EBC; Kosten pro Fall in EUR (2010); gesellschaftliche Gesamtkosten in Mio. EUR (2010); Umrechnung jeweils mittels Kaufkraftparitäten (2010)

Eine frühere Studie der Universität Zürich schätzte die Kosten von psychiatrischen Erkrankungen auf über 12 Mrd. CHF (vgl. Jäger und Rösler 2008). Die Schätzungen von Jäger und Rösler aus dem Jahr 2008 korrespondieren nur teilweise mit aktuelleren Angaben des BAG aus dem Jahr 2015, welches die jährlichen volkswirtschaftlichen Kosten für die Schweiz auf mehr als 7 Mrd. CHF beziffert (Datenquelle: BAG 2015).

Eine für das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erarbeitete Studie ergab für das Jahr 2011 im Zusammenhang mit psychischen Störungen Gesamtkosten von mehr als 15 Mrd. CHF (Wieser et al. 2014). Diesen Daten folgend stellten psychische Erkrankungen die zweitgrösste Gruppe der Kostenverursacher innerhalb der sieben wichtigsten nichtübertragbaren Krankheiten («NCDs»).

Verursacht werden die indirekten volkswirtschaftlichen Kosten wesentlich von einer Verringerung der Leistungsfähigkeit und Arbeitsproduktivität der Patienten. Hierunter fallen die Probleme der Fehlzeiten (Absentismus), aber auch des Präsentismus. Die Kosten des Absentismus machen demnach ein Drittel der Kosten aus, für zwei Drittel der Kosten ist der Präsentismus, also die Anwesenheit bei der Arbeit trotz Krankheit, verantwortlich. Die Depression zählt hierbei zu den teuersten Krankheiten, da sie zu einem vergleichsweise hohen Verlust an Arbeitsqualität durch allgemeine Antriebsstörungen, Fehleranfälligkeit durch verminderte Konzentration, andere kognitive Einschränkungen und zu mehr Unfällen führt (vgl. Steinke und Badura 2011).

Wittchen et al. berichteten 1999, dass in Deutschland die Gesamtheit der Arbeitnehmer monatlich durchschnittlich 0,3 Tage mit eingeschränkter Arbeitsproduktivität und 0,1 Arbeitsunfähigkeitstage hatten. Im direkten Vergleich waren diese Tage bei Arbeitnehmern mit psychiatrischen Erkrankungen mit 3,5 bzw. 0,6 Tagen deutlich erhöht. Die am meisten eingeschränkte Arbeitsfähigkeit mit 7,2 Tagen je Monat wiesen die Arbeitnehmer mit affektiven Störungen auf (vgl. Wittchen et al. 1999). Auch nach administrativen Daten der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) waren depressive Episoden als Einzeldiagnose für die meisten Arbeitsausfalltage (AU-Tage) verantwortlich (vgl. IGES 2014).

Für die Schweiz wurden Folgekosten affektiver Störungen bei Personen im erwerbsfähigen Alter in Höhe von über 11 Mrd. CHF errechnet, wiederum mehrheitlich bedingt durch Fehlzeiten und verringerte Produktivität (vgl. Tomonaga et al. 2013). Tomonaga et al. (2013) schätzten mittels einer retrospektiven Datenerhebung und einem Bottom-Up-Ansatz, dass in der Schweiz durchschnittliche medizinische Kosten je Patient mit einer leichten, mittelschweren bzw. schweren Depression in Höhe von 4850 CHF, 13.270 CHF, bzw. 22.116 CHF (2011) entstanden. Daraus errechnen sich für die Schweiz direkte medizinische Kosten der Depression in Höhe von insgesamt mehr als 5 Mrd. CHF, wovon etwa 200 Mio. CHF auf leichte, 1,6 Mrd. CHF auf mittelschwere Fälle und zirka 3,3 Mrd. CHF (2011) auf schwere Erkrankungsfälle zurückzuführen sind. Hiervon entfielen wiederum rund 1,2, 2,7 bzw. 3,9 Mrd. CHF auf stationäre Behandlungskosten, während ambulante Kosten (mit 107, 149 bzw. 323 Mio. CHF), Psychotherapiekosten (mit 168, 217 bzw. 519 Mio. CHF) und Medikamentenkosten (mit 127, 214 bzw. 388 Mio. CHF, jeweils kumuliert für leichte, mittelschwere bzw. schwere Fälle in der Schweiz, 2011) entfielen (vgl. Wieser et al. 2014).

Psychiatrische und psychische Erkrankungen sind damit eine wesentliche Ursache von Morbidität, verursachen hohe direkte Krankheitskosten und Produktivitätsausfälle. Isoliert man aus den Berechnungen der EBC-Studie die Anteile psychiatrischer Ursachen an den betrachteten (auch neurologischen) Diagnosen, dann entfielen 2010 auf diese umgerechnet etwa 11 Mrd. CHF, wovon 37 % auf direkte medizinische Kosten im Gesundheitssystem, 13 % auf direkte nicht-medizinische Kosten (Sozialdienste, informelle Betreuung) und 50 % auf Arbeitsausfälle durch Krankheit und vorzeitige Pensionierungen («indirekte Kosten») entfielen (vgl. Maercker et al. 2013; Schuler et al. 2016).

Besonders aus volkswirtschaftlicher Perspektive verursachen psychiatrische Erkrankungen also hohe Kosten. Orientiert man sich an den Schätzungen der WHO, dann werden in der Europäischen Union zirka drei bis vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die gesellschaftlichen Kosten von psychiatrischen Erkrankungen verbraucht (Datenquelle: WHO 2008). Übertrüge man die Schätzungen der WHO (konservativ mit 3 %) auf die Schweiz, dann könnten psychische und psychiatrische Probleme im Jahr 2010 bei einem BIP von 551 Mrd. CHF Kosten von mehr als 16 Mrd. CHF verursacht haben; hochgerechnet auf das Jahr 2020 (bei einem BIP von 706 Mrd. CHF) dann schon bis zu 21 Mrd. CHF.

4.5.3 Labormedizin in der Psychiatrie

Viele psychiatrische Erkrankungen gehen mit Fehlfunktionen des zentralen Nervensystems (ZNS) einher. Häufig lassen sich genetische Prädispositionen ausmachen, weshalb der Neurogenetik bei der Entstehung eine wichtige Rolle zukommt. Jedoch stehen derzeit keine Biomarker zur Verfügung; die Diagnosen werden primär anhand klinischer Beobachtungen gestellt (vgl. Suttorp et al. 2016).

Im Folgenden werden zwei spezifische Einsatzgebiete der Laboratoriumsmedizin, einerseits im Rahmen der Diagnostik depressiver Störungen und ihrer zielgerichteten Therapie, andererseits im Rahmen des therapeutischen Drug-Monitoring («Therapeutic Drug Monitoring», TDM), skizziert.

Beide Beispiele stehen jeweils für einen auch in Fachkreisen vielfach unterschätzten Beitrag labormedizinischer Verfahren zum patientenbezogenen und gesellschaftlichen Nutzen der psychiatrischen Versorgung. Das erste Beispiel, der geradezu klassische Spezialfall des Entstehens einer depressiven Störung auf dem Boden einer Hypothyreose, steht stellvertretend für die grosse Bedeutung des Ausschlusses organischer Ursachen einer psychiatrischen Symptomatik (vgl. zum Beispiel Preskorn 2021; Anfinson und Kathol 1992), etwa durch andere endokrinologische Ursachen, aber auch inflammatorische Geschehen (Meningitiden, Meningoenzephalitiden, Neuroborreliose, Neurolues, HIV-Enzephalopathie, Autoimmunerkrankungen wie multiple Sklerose und Enzephalopathien auf dem Boden von Leber- oder Nierenerkrankungen, Alkoholabusus, u. v. a. m.).

Das zweite betrachtete Fallbeispiel des TDM hat Bedeutung weit über den Bereich der Psychiatrie hinaus: wichtige Anwendungsfälle betreffen zahlreiche Arzneimittel mit geringer therapeutischer Breite – genannt seien hier nur die Antikoagulantientherapie mit oralen Vitamin-K-Antagonisten wie Cumarin oder Warfarin und die immunsuppressive Therapie mit Wirkstoffen wie Cyclosporin oder Tacrolimus (Ageno et al. 2012; Zhang und Zhang 2018; Kahan et al. 2002). Das dem TDM zugrundeliegende Rationale ist regelmässig geleitet von der Erkenntnis, dass eine geringe therapeutische Breite mit erhöhten Risiken einher geht, einerseits im subtherapeutischen Dosisbereich zu verbleiben und damit die für die gewünschte Wirkung notwendige Minimaldosis zu verfehlen, andererseits aber bei zu hoher Dosierung toxische Nebenwirkungen zu provozieren. Das ist besonders relevant für Arzneimittel mit individuell variabler Metabolisierung. Ein weiterer wiederkehrender Aspekt ist das TDM für die Überprüfung der Therapie-Adhärenz, zumal es Grund zu der Vermutung gibt, dass mangelnde Adhärenz auch in anderen Situationen als nach einer Organtransplantation nicht «nur» den direkt angestrebten Therapieerfolg zu vereiteln vermag, sondern in der Folge zu schlechteren patientenrelevanten Outcomes, mithin erhöhter Morbidität und Mortalität führen kann (vgl. Leven et al. 2017; Lieber et al. 2015; u. a.). Eine Diskussion dieser und weiterer Aspekte und Indikationen hätte indes den Rahmen der vorliegenden Arbeit gesprengt.

4.5.4 Depressive Störungen: Diagnose und Differenzialdiagnose

Für die Diagnostik einer Depression stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung (vgl. APA Task Force 2000). Über lange Zeit wurde das Depression Screening Questionnaire (DS Q-10) bevorzugt angewendet. Teilweise wird auch nach der Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen (ICD-10, Kapitel V [F]) und/oder dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association (DSM) verfahren. Seit 2012 wird in der Schweiz das Brief Patient Health Questionnaire (PHQ-9) bevorzugt, da dieses Instrument einerseits international weit verbreitet angewendet wird und andererseits eine sehr hohe Testgüte aufweist (vgl. Rüesch et al. 2011). Für die Verlaufskontrolle wird regelmässig der sogenannte PHQ-9-Monitoring-Fragebogen eingesetzt (vgl. Frosch et al. 2014).

Labortests spielen bei der Diagnostik zunächst keine dominante Rolle. Der aktuellen Guideline des Schweizer mediX-Netzes, einem Zusammen-schluss von regionalen Ärztenetzwerken mit Sitz in Zürich, folgend können beim Verdacht auf eine Depression indiziert sein (Beise et al. 2019; Frosch et al. 2014): Hämatogramm, CRP, Blutzucker, Elektrolyte, Kreatinin, GPT, TSH; bei Müdigkeit oder Leistungsschwäche auch Bestimmung von Ferritin (im menstruierenden Lebensabschnitt), BSR, evtl. HIV, Hepatitis C-IgG (auch bei normaler GPT) und Kalzium. Sie können als eine Komponente eines dreiteiligen diagnostischen Abklärungsprozesses verstanden werden:

Die dreiteilige diagnostische Abklärung einer Depression wird in einer Empfehlung des Schweizer Hausärzte-Netzwerks mednetbern aus dem Jahr 2017 wie folgt beschrieben.

Teil 1:

Symptome der Depression

 

Die Haupt- und Zusatzsymptome der Depression werden mit klaren, leicht verständlichen und unverfänglichen Fragen bestimmt.

Teil 2:

Somatische Krankheiten und Medikamente

 

Da hier die Ursache einer depressiven Episode liegen könnte, wird empfohlen, einen Laborbefund mit Differentialblutbild, Chemie, TSH, EKG (hier ist auf ein verlängertes QT-Intervall zu achten), Vitamin B12 und MMS (Mini Mental Status) bei älteren Menschen einzuholen.

Teil 3:

Psychische Begleiterkrankungen und Ressourcen

 

Die Fragen zum psychiatrischen Zustand zielen auf Angst-, Zwangs- und manische Symptome ab und erfragen gleichzeitig Ressourcen. Hierunter fallen soziale Beziehungen, ein Arbeitsverhältnis, finanzielle Absicherung, Wohnform oder sportliche Betätigung und Aktivitätslevel (vgl. Giani et al. 2016, 2018).

4.5.5 Depressionen mit organischer Ursache: Beispiel Hypothyreose

Betreffend den hier mit Blick auf die Dokumentation seines Nutzens hin analysierten Einsatz des TSH-Tests zum Ausschluss einer gestörten Schilddrüsenfunktion finden die Empfehlungen der Schweizer Ärztenetzwerke (Beise et al. 2019; mednetbern 2017) eine klare Unterstützung in den Clinical Practice Guidelines der American Association of Clinical Endocrinologists und der American Thyroid Association Taskforce on Hypothyroidism in Adults, welche feststellen: «The diagnosis of subclinical or overt hypothyroidism must be considered in every patient with depression» (Garber et al. 2012).Footnote 7

Die klinische Relevanz der gestörten Schilddrüsenfunktion für affektive Störungen ist seit langem bekannt. Schon früh wurde beschrieben, dass in einer Gruppe «therapieresistenter» Patienten in 19 % bis 27 % der Fälle eine Hypothyreose vorlag, während das in jenen Fällen, die auf eine adäquate Therapie ansprachen, nur zu zwei Prozent zutraf (Hickie et al. 1996). Epidemiologischen Daten zufolge muss davon ausgegangen werden, dass ein bis vier Prozent aller Patienten mit affektiven Störungen an einer manifesten Schilddrüsenunterfunktion leiden, während mit einer subklinischen Hypothyreose sogar bei vier bis vierzig Prozent der Patienten zu rechnen ist (Wolkowitz und Rothschild 2003). Umgekehrt gelten Depressionen als die häufigste neuropsychiatrische Folge von Schilddrüsenfunktionsstörungen (Ingram 2009); Patienten mit Hypothyreose bieten häufig depressive Symptome und sind psychomotorisch verlangsamt; in schweren Fällen können sich Zeichen von Melancholie und Demenz einstellen (vgl. Hage und Azar 2012).

Eine Vielzahl klinischer Studien untersuchte das Auftreten einer Depression als abhängige Variable einer Schilddrüsendysfunktion. Die Mehrzahl dieser Untersuchungen belegt statistisch signifikante Abweichungen der Schilddrüsenhormonspiegel im Serum im Zusamenhang mit depressiven Störungen (vgl. hierzu u. a. bei Delitala et al. 2016; Latha et al. 2019; O’Shea 2002; Stipcevic et al. 2008; Talaei et al. 2017).

Schilddrüsenhormone:

TSH

Thyreoidea-stimulierendes Hormon (synonym auch «Thyreotropin» oder «thyreotropes Hormon»),

T3

Triiodthyronin bzw. freies T3, FT3,

T4

Tetraiodthyronin (oder «Thyroxin»), bzw. freies T4, FT4.

Die Schilddrüsenhormone T3 und T4 werden in das Blut abgegeben und liegen dort ganz überwiegend an Transportproteine gebunden vor. Nur ein kleiner Prozentsatz liegt in freier, ungebundener Form vor und ist biologisch aktiv. Deshalb korreliert der freie Anteil besser als die Gesamtkonzentration mit der aktuellen Stoffwechsellage und wird daher bevorzugt bzw. heute nahezu ausschliesslich gemessen (vgl. Suttorp et al. 2016; Abb. 4.29).

Abb. 4.29
figure 29

Vereinfachte Steuermechanismen der Schilddrüsenhormonsynthese. Eigene Darstellung in Anlehnung an Suttorp et al. (2016). Die peripheren Hormone T3 und T4 werden in der Praxis nahezu ausschliesslich in ihrer freien Form (fT3 und fT4) bestimmt

Aktuelle Meta-Analysen zeigen einen Zusammenhang von autoimmunen Thyreoiditiden und dem Vorliegen einer Depression mit einer Odds Ratio von 3,56 (95 %-Konfidenzintervall von 2,14 bis 5,94; Siegmann et al. 2018). Sie finden auf der Basis der Daten von mehr als 12.000 (Loh et al. 2019) bzw. sogar 100.000 (Tang et al. 2019) Patienten weiter, dass Patienten mit einer subklinischen Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose) mit statistisch signifikant erhöhter Wahrscheinlichkeit eine Depression aufweisen (Loh et al. 2019; Tang et al. 2019).

4.5.6 Nutzen der TSH-Bestimmung im Rahmen der Abklärung einer Depression

Nach gängiger Praxis ist bei Verdacht auf eine depressive Episode immer die Labordiagnostik Bestandteil des diagnostischen Prozesses. Denn die Ursache einer Depression kann in der Funktionsstörung der Schilddrüse gefunden werden. Als wichtigster Laborparameter steht das TSH stets zu Anfang der Diagnostik einer Schilddrüsendysfunktion. Aufgrund der über die Jahre weiter verbesserten, hervorragenden Testeigenschaften (siehe Tab. 4.38) wird das TSH-Testverfahren bevorzugt genutzt, es gilt als dasjenige mit der höchsten Zuverlässigkeit (vgl. de los Santos et al. 1989).

Tab. 4.38 Testeigenschaften der verschiedenen TSH-Assay-Generationen. [Die exakten Werte können laborspezifischer Variation unterliegen.] Eigene Darstellung; Datenquelle: Carvalho et al. (2013)

Da es bei einem T3- und T4-Mangel zu einem konsekutiv erhöhtem TSH und bei einer Hyperthyreose zu einem erniedrigtem TSH kommt, schliesst ein normaler TSH-Wert in aller Regel sowohl eine Hyperthyreose als auch eine primäre Hypothyreose aus (der übliche Normwert liegt zwischen 0,27 und 4,20 mU/l; vgl. Thomas 2005).

Die weit verbreitete Praxis der parallelen Durchführung mehrerer dieser Tests lässt sich im Rahmen des Screenings von depressiven Patienten auf das Vorliegen einer Schilddrüsenfunktionsstörung weder klinisch noch ökonomisch begründen. Eine rationale Teststrategie beginnt initial mit der Durchführung eines TSH-Tests (vgl. Garber et al. 2012; Ross et al. 2016; Sheehan 2016). Erst bei Abweichungen vom Normbereich sind weitergehende Tests indiziert (Nordyke et al. 1998); bei nur geringfügig erweitertem Referenzbereich (vgl. Henze et al. 2017) lässt sich die überwiegende Zahl nachfolgender FT4-Bestimmungen vermeiden, so dass ohne klinisch relevante Nachteile Einspareffekte erzielt werden können (vgl. u. a. Kasonga et al. 2018; Kluesner et al. 2018; Volpé 1997).

Über den TSH-Test hinausgehende Laboruntersuchungen sind daher nur mehr zur Differenzialdiagnose der Ursache einer Schilddrüsenfehlfunktion indiziert (vgl. Soh und Aw 2019).

Die geringen Mehrkosten für einen TSH-Test im Rahmen der Abklärung einer depressiven Symptomatik werden durch den klinischen Nutzen mehr als ausgeglichen (vgl. Schectman und Pawlson 1990). Da depressive Patienten vorwiegend mit körperlichen Beschwerden vorstellig werden und es vom ersten Auftreten der Symptomatik bis zur letztendlichen Diagnose bis zu zehn Jahre brauchen kann, wird empfohlen, schon bei Verdacht auf eine Depression den TSH-Wert zu bestimmen. Unter der Berücksichtigung der möglichen wirtschaftlichen Folgen eines jährlichen Produktivitätsverlusts von bis zu 2000 EUR (indirekte Kosten pro Fall einer schweren Depression in der Schweiz, 2010; vgl. Tab. 4.37) oder – nach US-amerikanischen Studien – etwa 1782 EUR (Kostendaten in USD für 2012 und mittels Kaufkraftparitäten umgerechnet) pro Patient bei schwerer Depression stehen die Laborkosten (vgl. Tab. 4.39) in keinem Verhältnis zu den Belastungen, die entstehen, sollte eine Depression übersehen oder fehldiagnostiziert werden (vgl. Grochtdreis et al. 2015).

Tab. 4.39 Kosten relevanter Labortests in der Schweiz. Eigene Darstellung; Datenquelle: BAG Analysenliste (2021)

Eckdaten «Depression»

  1. a)

    Inzidenz und Prävalenz

    Psychiatrische Störungen:

    Prävalenz:

    >50 % (Maercker et al. 2013; SGB 2012)

    Milde Depression

    Prävalenz:

    22,2 % (Maercker et al., 2013; SGB 2012)

    Affektive Störungen/Mittlere bis schwere Depression

    Prävalenz:

    6,5 % [>310.000] (Maercker et al. 2013; SGB 2012)

    Psychiatrische Störungen/Depression

    Inzidenz (kumulativ, Erkrankung bis 50. Lebensjahr): 13,1 % – 47,1 % (Angst et al. 2016; Olino et al. 2012; Takayanagi et al. 2014)

  2. b)

    Krankheitslast und Mortalität

    DALYs absolut:

    56.056 (WHO 2018)

    DALYs gewichtet:

    2,7 % (WHO 2018)

    Mortalität absolut:

    7,0 (WHO 2018)

    Mortalität gewichtet:

    0,1 % (WHO 2018)

  3. c)

    Kosten (aus Perspektive der OKP)

    Gesundheitsausgaben insgesamt im Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen liegen bei mehr als 15 Mrd. CHF; Volkswirtschaftliche Kosten psychiatrischer Erkrankungen liegen bei mehr als 7 Mrd. CHF pro Jahr (BAG 2015)

  4. d)

    Kosten wesentlicher medizinischer/therapeutischer Massnahmen

    Direkte medizinische Kosten pro Patient:

    4850–22.116 CHF

    Medikamentenkosten pro Patient:

    644–1443 CHF

    (vgl. Wieser et al. 2014)

  5. e)

    Kosten relevanter Labortests/-diagnostika (vgl. Analysenliste 2021)

    TSH:

    9,00 CHF (Pos. Nr. 1718.10)

    fT3/T3:

    jeweils 10,40 CHF (Pos. Nr. 1732.00 und 1733.00)

    fT4/T4:

    jeweils 9,00 CHF (Pos. Nr. 1720.00 und 1721.00)

4.5.7 Therapeutisches Drug-Monitoring in der Psychiatrie

Die Möglichkeiten und die klinische Bedeutung des «Therapeutischen Drug-Monitoring» (TDM) in der Psychiatrie werden vermutlich ähnlich wie der Nutzen des TSH-Tests in der Schweiz vielfach unterschätzt,Footnote 8 obschon das Konzept in wesentlichen Aspekten in Lausanne inauguriert wurde (vgl. Baumann et al. 2004). Auch ausserhalb der Fachdisziplin «Neurologie und Psychiatrie» bekannt und anerkannt ist die Bedeutung der regelmässigen Überwachung der Serumspiegel bei einer Therapie mit Lithiumsalzen, dem traditionellen «Goldstandard» für die Behandlung bipolarer Störungen (vgl. u. a. Amdisen 1977; Collins et al. 2010; Delva und Hawken 2001; Grandjean und Aubry 2009; Malhi et al. 2013), für die es wegen ihrer geringen therapeutischen Breite als obligat gilt. Ähnlich verhält es sich mit der neuropsychiatrischen Therapie mit dem Antiepileptikum Carbamazepin (vgl. u. a. Bertilsson et al. 1986; Brahmi et al. 2008; Kerr et al. 1994; Li et al. 2016; Spina et al. 1996).

Die therapeutische Breite oder das «therapeutische Fenster» ist der Konzentrationsbereich eines Arzneistoffs oder seiner wirksamen Metaboliten, der sich zwischen der minimalen effektiven Konzentration (minimum effective concentration, MEC) und der minimalen toxischen Konzentration (minimum toxic concentration, MTC) befindet. Der Abstand (oder genauer, der Quotient) zwischen beiden Grenzen wird auch als therapeutischer Index bezeichnet. Aufgrund inter- (und intra-) individueller Variabilität der Pharmakokinetik (vgl. Preskorn et al. 1993; Preskorn 2008), Störungen durch Komorbiditäten und Komedikationen (Arzneimittelinteraktionen) und weiteren Faktoren wie Genpolymorphismen ist die verabreichte Dosis eines Medikaments in vielen Fällen nicht hinreichend prädiktiv für die erreichte Wirkstoffkonzentration im Blut und am Wirkort (bei zentral wirksamen Substanzen nach Passieren der Blut-Hirn-Schranke; vgl. Abb. 4.30).

Abb. 4.30
figure 30

Therapeutisches Drug-Monitoring in der Psychopharmakologie: Der lange Weg von der Verordnung bis zur Wirkung. Eigene Darstellung in Anlehnung an Hiemke et al. (2018)

Ein evidenzbasierter therapeutischer Referenzbereich ist eine wesentliche Voraussetzung für die Durchführung des TDM. Er definiert eine obere Grenze, bei deren Überschreiten die Verträglichkeit abnimmt oder toxische Nebenwirkungen drohen, und eine untere Grenze, unterhalb derer keine therapeutische Wirksamkeit erwartet werden kann. Die empfohlenen Referenzbereiche für Psychopharmaka beziehen sich in der Regel auf die Talspiegelkonzentration eines Wirkstoffs im Blut und in vielen tabellarischen Zusammenstellungen auf die Hauptindikation des jeweiligen Arzneimittels.

Ein TDM ist, wie alle diagnostischen Massnahmen, genau dann sinnvoll, wenn daraus ein konkreter Nutzen für die Patientenversorgung und deren Effektivität (oder, in Anlehnung an das KVG, deren Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit) erwächst. Das ist in den Fällen einer Therapie mit Lithium oder Carbamazepin aus medizinischen Gründen regelmässig der Fall und betrifft übrigens, jenseits des TDM im engeren Sinn, auch die labormedizinische Überwachung der Therapie auf das Auftreten unerwünschter Nebenwirkungen betreffend Stoffwechsel- und Organfunktionen (die Bestimmung von Elektrolyten einschliesslich Calcium, Harnsäure, Kreatinin, TSH und weiteren Parametern; vgl. Malhi et al. 2013; Nederlof et al. 2018).

Neben obligatorischen Indikationen aus Gründen der Arzneimittelsicherheit (wie in den beispielhaften Fällen von Lithium und Carbamazepin) halten die aus der Schweiz, Österreich, Südtirol und Deutschland kommenden Autoren der aktuellen «Consensus Guidelines for Therapeutic Drug Monitoring in Neuropsychopharmacology: Update 2017» ein TDM auch für Psychopharmaka mit einem «hohen Empfehlungsgrad» (Tab. 4.40 und 4.41) für obligat indiziert (Hiemke et al. 2018). Von den 154 untersuchten Neuropsychopharmaka fallen demzufolge 17 in die höchste Stufe («Level of Recommendation») «dringend empfohlen[es]» TDM und weitere 45 in die zweithöchste Stufe «empfohlen[es]» TDM. In Level 1 (dringend empfohlen) fallen dem zitierten, umfangreich dokumentierten Experten-Konsensus zufolge die meisten trizyklischen Antidepressiva, während die neueren selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) in Level 2 («empfohlen») eingruppiert wurden.

Tab. 4.40 Empfehlungsgrade für das TDM von Psychopharmaka. Korrespondierend mit der schwächeren Evidenzlage ist die Beschreibung der klinischen Konsequenzen bei einer «Level 2»-Empfehlung deutlich zurückhaltender. Eigene Darstellung; angelehnt an Hiemke et al. (2018), S. 50 f., und Hefner (2018)
Tab. 4.41 Neuropsychopharmaka mit dringend empfohlenem TDM. Wirkstoffe mit einem Empfehlungsgrad «Level 1». Quelle: Hiemke et al. (2018)

Zu den spezifischen Indikationen für ein TDM zählen dem Konsensus zufolge insbesondere ein Verdacht auf unzureichende Adhärenz («adherence», früher auch «Compliance» oder «Therapietreue» des Patienten) sowie ausserdem ungenügendes Ansprechen oder Auftreten unerwünschter Ereignisse bei empfohlender Dosis, Verschlechterung der Symptomatik und weitere besondere Umstände (Hiemke et al. 2018).

In der Summe bietet das Konsensus-Dokument mit insgesamt 1358 verarbeiteten wissenschaftlichen Einzelreferenzen eine eindrucksvolle Analyse der verfügbaren Evidenz für das sachgerechte Vorgehen und für den resultierenden patientenbezogenen Nutzen von TDM-Massnahmen, der in den Empfehlungsgraden «Level 1» und «Level 2» als gut (oder, betreffend «Level 2», zumindest recht gut – oder zumindest plausibilisiert, bei bestehenden Einschränkungen gemessen an den Standards der evidenzbasierten Medizin) belegt gelten darf.

4.5.8 Gesundheitsökonomische Bewertung

Auch für den gesellschaftlichen Nutzen gibt es – bei insgesamt allerdings deutlich schwächerer gesundheitsökonomischer Studienlage – gute Hinweise. Einer Modellierung zufolge sollen sich die Kosten, die alleine in den Vereinigten Staaten dem Gesundheitssystem aufgrund nicht-optimierter Arzneimitteltherapien – nicht nur wegen des Dosisregimes, sondern unter Einschluss fehlender Therapie-Adhärenz der Patienten – entstehen, auf jährlich 495 bis 673 Mrd. USD (2016) addieren, was 16 % der gesamten nationalen Gesundheitsausgaben entspräche (vgl. Watanabe et al. 2018). In die Modellierung eingerechnet wurden Therapieversager ebenso wie Nebenwirkungen und ihre Folgen für die Kosten der medizinischen Versorgung aus der Perspektive der Kostenträger, nicht dagegen direkte nichtmedizinische, indirekte und intangible Kosten. Zu letzteren errechneten die Autoren eine potenziell vermeidbare Mortalität von 276.000 Fällen im Jahr 2016 (Watanabe et al. 2018).

Da TDM sowohl zur Dosisoptimierung als auch zur Adhärenz beitragen kann, erscheint es angesichts dieser Zahlen hochgradig plausibel, von dessen gezieltem Einsatz nicht nur eine gute Kosten/Nutzen-Relation, sondern in geeigneten Fällen sogar Kosteneinsparungen zu erwarten (vgl. Tyson et al. 2020). Einschränkend angemerkt werden muss, dass ein systematischer Review aus dem Jahr 2005 aufzeigte, dass für TDM mindestens zu diesem Zeitpunkt nur sehr wenige formale Evaluationen der Kosteneffektivität vorlagen (Touw et al. 2005).Footnote 9

Die beklagenswerte Evidenzlage, die erheblichen weiteren Forschungsbedarf signalisiert, hat sich zwar mittlerweile spürbar verbessert, so dass jetzt Kosteneffektivitätsanalysen (mit positiven Ergebnissen) für etliche Anwendungen von TDM vorliegen – beispielsweise für Anti-TNF-Therapie bei rheumatoider Arthritis (vgl. bei Mould 2016 und Martelli et al. 2017) und entzündlichen Darmerkrankungen (ulzerative Kolitis und M. Crohn) und für Adalimumab-Therapie der rheumatoiden Arthritis (vgl. bei Gomez-Arango et al. 2021), wobei sich TDM jeweils als kostensenkend zeigte (vgl. auch bei Steenholdt et al. 2014 und Guidi et al. 2018). Weniger eindeutig sind dagegen Ergebnisse für die inkrementelle Kosteneffektivität eines proaktiven TDM der Infliximab-Therapie bei M. Crohn (vgl. Negoescu et al. 2020), während für TDM vor allem bei hochpreisigen Biologika-Therapien von entzündlichen Darmerkrankungen weithin Kosteneffektivität aufgezeigt werden konnte (vgl. McNeill und Barclay 2020).

Bezogen auf die Therapie mit trizyklischen Antidepressiva wurde schon früh belegt, dass TDM zu einer Reduktion schwerer Nebenwirkungen beiträgt (vgl. Preskorn und Fast 1991, 1992). Eine in den Vereinigten Staaten durchgeführte retrospektive Analyse aufgrund von Daten aus Krankenakten (Simmons et al. 1985) ergab, dass mit trizyklischen Antidepressiva behandelte Patienten im Durchschnitt 6,1 Tag früher aus dem Spital entlassen wurden und 55,4 Tage früher ihre Berufstätigkeit wieder aufnahmen, wenn ihre Dosis anhand pharmakokinetischer Parameter titriert wurde – ein nicht nur statistisch signifikanter Unterschied zur Kontrollgruppe mit «empirischer Dosierung».

Für die Citalopram-Therapie wurde in einer Mainzer Studie an 55 Patienten eine Hospitalisierungsdauer von 49 Tagen versus 72 Tagen (Unterschied p < 0,03) beobachtet, wenn Serumkonzentrationen über 50 ng/mL erreicht wurden. Angesichts von Testkosten in Höhe von 210 EUR über zehn Wochen (offizieller Preis eines Assay: 21 EUR) kann man mit den Autoren vermuten, dass ein Teil der verkürzten stationären Aufenthalte in einem kausalen Zusammenhang mit dem Erreichen hoher Serumkonzentrationen stand und damit auch als ökonomisch vorteilhaft bewertet werden kann (vgl. Ostad Haji et al. 2011, 2013a, 2013b).

Ein eindeutiger erkennbares Potenzial bietet das TDM für die Messung der Adhärenz, deren frühzeitige Erkennung Interventionen ermöglicht, von denen ihrerseits erwartet werden kann, dass sie die Zahl der Rückfälle und folglich auch die Zahl der Hospitalisierungen vermindern. Angesichts der im Vergleich zu den Spitalkosten niedrigen Testkosten (Tab. 4.42) erscheint ein gutes Kosten/Nutzen-Verhältnis, vielleicht sogar ein kostensenkender Effekt bei gleichzeitig besseren Outcomes für die Patienten (gesundheitsökonomisch «Dominanz») nicht unwahrscheinlich, wird aber im Einzelfall zu beweisen sein.

Tab. 4.42 Kosten in der Neuropsychiatrie in der Schweiz. Eigene Darstellung. Datenquellen: Testkosten, Analysenliste (2021); Medikamentenkosten, Spezialitätenliste (2021); direkte Kosten pro Patient, Wieser et al. (2014); Kosten pro Behandlungstag, Gesundheitsstatistik 2019 (BFS 2019)

4.5.9 Schlussfolgerung

Nach alledem lässt sich konstatieren, dass TDM in der Psychiatrie (und in zahlreichen weiteren Anwendungsgebieten) nicht nur bei Arzneimitteln mit einem engen therapeutischen Index (Narrow Therapeutic Index, NTI) zu einer wirksamen und verträglichen Arzneimitteltherapie entscheidend beitragen kann (vgl. Tyson et al. 2020).

Das enorme Potenzial von TDM, die Versorgungsqualität und Outcomes für Patienten zu verbessern und zugleich Kosten zu senken, wurde bisher ganz offensichtlich nicht ausgeschöpft (siehe auch den Abschn. 5.1, «Zukunftspotenziale/Pharmakogenomik»).

Weitere gesundheitsökonomische Studien sollten prioritär der Frage gelten, unter welchen Bedingungen der Einsatz von TDM die beste Kosteneffektivität aufweist. In der Einzelfallbetrachtung werden die absoluten und relativen Testkosten (einschliesslich Logistik), die Therapiekosten sowie der Einfluss auf patientenrelevante Outcomes eine grosse Rolle spielen. Dafür wird es eine Einbettung der Analytik in die realen medizinischen Versorgungspfade brauchen, die angesichts der Komplexität der Prä- und Postanalytik mit einem interdisziplinären Ansatz, vorrangig der engen Kooperation von klinisch tätigen Medizinern, Biostatistikern, Gesundheitsökonomen und Laborärzten, am besten gelingen wird (vgl. Hiemke et al. 2018; Tyson et al. 2020).

4.6 Infektionskrankheiten

Zusammenfassung

Infektionskrankheiten und ihre wirksame Bekämpfung spielen nicht nur in Ländern mit einem vergleichsweise niedrigen Entwicklungsstand eine unverändert grosse Rolle. Neben der Gefahr des Auftretens neuer Pathogene und von ihnen ausgehender pandemischer Ereignisse muss auch in einem hochentwickelten Land wie der Schweiz davon ausgegangen werden, dass Patienten – bei stationärer wie auch bei ambulanter medizinischer Behandlung – einem Risiko des Erwerbs nosokomialer Infektionen ausgesetzt sind. Davon betroffen sind nahezu sechs Prozent aller stationär behandelten Patienten in der Schweiz.

Generell ist eine Diagnostik und zielgerichtete Therapie von Infektions-krankheiten ohne geeignete Labordiagnostik nicht denkbar. Vorliegend wird exemplarisch die eindrucksvolle Rolle der Labormedizin bei viralen Hepatitiden und bei Sepsis beleuchtet.

Hepatitiden werden anhand von Labortests diagnostiziert, therapiert und verlaufsüberwacht. Bei der Hepatitis C ermöglichen insbesondere eine Genotypisierung und Resistenzbestimmung die gezielte Pharmakotherapie. Auf dieser Grundlage werden Heilungsraten von bis zu 95 % und mehr erreicht.

Im Fall der Sepsis handelt es sich um eine akut lebensbedrohliche Erkrankung, deren Prognose von ihrer schnellstmöglichen Diagnose entscheidend beeinflusst wird. Die aktuelle labormedizinische Forschung konzentriert sich auf die Entwicklung und Etablierung hochspezifischer Schnelltests. Derzeit hängt eine spezifische antimikrobielle Therapie noch vom Vorliegen von Blutkulturen ab; zuvor ist nur eine «empirische» (nicht auf den Einzelfall bezogene erregerspezifische) Antibiose möglich.

4.6.1 Einleitung

Infektionskrankheiten stellen weltweit eine der häufigsten Todesursachen dar. Das Erregerspektrum umfasst Bakterien, Pilze, Viren (auch Prionen) und Parasiten. Es variiert stark je nach Entwicklungsstand der jeweiligen Regionen und Länder. Hochentwickelte Länder wie die Schweiz sehen sich zunehmend mit Herausforderungen durch multiresistente Erreger und nosokomiale Infektionen konfrontiert (Datenquelle: WHO 2019). Hinzu tritt das Risiko des Auftretens neuer Erreger, wofür die zum Zeitpunkt des Abschlusses der vorliegenden Arbeit noch nicht überwundene COVID-19-Pandemie ein eindrückliches Beispiel bietet. Auf sie wird in den Abschn. 4.7 («COVID-19-Pandemie») und 5.7.1 zur Krisenprävention («Crisis and Pandemic Preparedness») eingegangen werden.

Generell ist eine Diagnostik und zielgerichtete Therapie von Infektionskrankheiten ohne geeignete Labordiagnostik nicht denkbar. Vorliegend wird exemplarisch die eindrucksvolle Rolle der Labormedizin bei viralen Hepatitiden und bei Sepsis beleuchtet.

Hepatitiden

Hepatitis B und C sind die aus epidemiologischer und Public Health-Perspektive wichtigsten Formen infektiöser Lebererkrankungen. Ihre Folgeschäden – Leberzirrhosen und Leberzellkarzinome – zählen weltweit zu den führenden Todesursachen. Die von Hepatitiden verursachte Krankheitslast ist regional ungleich verteilt und trifft vor allem die Bevölkerung in Entwicklungs- und Schwellen-ländern. Schätzungen für das Jahr 2015 zufolge werden von vermuteten 257 Mio. mit dem Hepatitis B-Virus Infizierten nur 22 Mio. (neun Prozent) diagnostiziert. Für Hepatitis C geht die WHO für das Jahr 2015 von 71 Mio. Infizierten aus, von denen 14 Mio. (20 %) diagnostiziert wurden. Nur ein kleiner Teil davon erhielt eine hochwirksame antivirale Therapie. Für die Schweiz wird die Zahl der mit HBV und HCV Infizierten auf 44.000 bzw. 40.000 (im Jahr 2017) geschätzt – mit einer vergleichsweise geringen Krankheitslast.

Aus Public Health-Perspektive zählt es zu den grossen Leistungen der Labormedizin, dass das Ziel einer Elimination der schweren viralen Hepatitiden B und C in greifbare Nähe gerückt ist: Eine Übertragung durch medizinische Instrumente oder Bluttransfusionen spielt in der Schweiz keine Rolle mehr; der klinische Nutzen von Screening-Massnahmen steht ausser Frage und ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis ist gut untersucht bzw. bestätigt. Zugleich ermöglicht die Labordiagnostik sowohl eine effektive Therapie als auch die Unterbindung von Übertragungswegen.

4.6.2 Hepatitiden: Epidemiologie und Krankheitslast

Hepatitiden werden nach dem ursächlichen Pathogen als Typen A, B, C, D und E differenziert. Die Erreger von Hepatitis A und E werden nahezu ausschliesslich auf fäkal-oralem Weg übertragen, Hepatitis B, C und D dagegen über den Austausch von Körperflüssigkeiten. Infektionen mit dem Hepatitis-B-Virus (HBV), Hepatitis-C-Virus (HCV) und Hepatitis-D-Virus (HDV) sind für 96 % der weltweiten Hepatitis-assoziierten Mortalität (1,34 Mio. Todesfälle im Jahr 2015) verantwortlich. Von Hepatitis B besonders betroffen sind Afrika und die westliche Pazifikregion, während HCV-Infektionen weltweit ein grosses Problem darstellen, wenn auch mit regionalen Unterschieden (Datenquelle: WHO 2017; Tab. 4.43).

Tab. 4.43 Weltweite Prävalenz der HBV- und HCV-Infektionen. Eigene Darstellung; Datenquelle: WHO (2017); Abkürzungen: HBV, Hepatitis B-Virus; HCV, Hepatitis C-Virus

Hepatitis B und C sind die aus epidemiologischer und Public Health-Perspektive mit Abstand wichtigsten Formen infektiöser Lebererkrankungen. Ihre Folgeschäden – Leberzirrhosen und Leberzellkarzinome – zählen weltweit zu den führenden Todesursachen.

Die KrankheitslastBurden of Disease») ist regional ungleich verteilt und trifft vor allem die Bevölkerung in Entwicklungs- und Schwellenländern.

Schätzungen für das Jahr 2015 zufolge werden von vermuteten 257 Mio. mit dem HBV Infizierten nur 22 Mio. (oder neun Prozent) diagnostiziert. Für Hepatitis C geht die WHO (2017) für das gleiche Jahr von 71 Mio. Infizierten aus, von denen 14 Mio. (20 %) diagnostiziert wurden. Nur ein kleiner Teil davon erhielt eine mittlerweile zur Verfügung stehende hochwirksame antivirale Therapie.

4.6.3 Hepatitis B und C in der Schweiz

Für die Schweiz wird die Zahl der mit HBV und HCV Infizierten auf 44.000 bzw. 40.000 (im Jahr 2017) geschätzt – mit einer vergleichsweise geringen Krankheitslast.

Aus Public Health-Perspektive hat sich die WHO die Elimination der Hepatitiden des Typs B und C bis zum Jahr 2030 zum Ziel gesetzt (Datenquelle: WHO 2017); in der Schweiz hat sich diesem Ziel das Stakeholder-Netzwerk «Swiss Hepatitis» verschrieben (vgl. Müllhaupt et al. 2018; Swiss Hepatitis 2019). Es zählt zu den grossen Leistungen der Labormedizin, dass das Ziel einer Elimination der schweren viralen Hepatitiden in greifbare Nähe gerückt ist. Die Labordiagnostik ermöglicht sowohl eine effektive Therapie als auch die Unterbindung von Übertragungswegen.

Sowohl bei den gemeldeten HBV- als auch bei den HCV-Infektionen dominieren die chronischen Fälle; wobei für viele der HBV-Fälle sexuelle Kontakte und Immigration bereits infizierter Personen aus Regionen mit erhöhter Endemizität verantwortlich gemacht werden (vgl. Richard et al. 2017; vgl. auch bei BAG 2018). Anders als bei HBV war der vermutlich häufigste Ansteckungsweg mit HCV in der Schweiz in den Jahren 2015 bis 2018 intravenöser Drogenkonsum (47 % der akuten Fälle/72 % der nicht akuten Fälle), gefolgt von sexueller Übertragung (39 %/8 %) sowie seltener Bluttransfusionen (nur noch bei den nicht akuten Fällen; unter diesen 6 %; Datenquelle: BAG 2019).

Zur Anzahl tödlicher Verläufe und zu den gesamten Kosten der Hepatitiden liegen beim Bundesamt für Statistik nur unvollständige Daten vor. Als massgebliche Kostentreiber sind aber sicher HBV-/HDV- und HCV-Infektionen anzunehmen. Während beispielsweise die WHO (2018) für die Schweiz mehr als 135 nachgewiesene Todesfälle pro Jahr angibt, liegt die Zahl der verlorenen gesunden Lebensjahre (Disability-Adjusted Life Years, DALYs) bei rund 1701 (nach konservativen Berechnungen zu viralen Hepatitiden für das Jahr 2016). Nach aktuelleren Schätzungen sterben in der Schweiz jährlich bis zu 200 Personen an HBV und HCV, wobei die Sterbefälle insbesondere aufgrund von Hepatitis C weitgehend zu stagnieren scheinen (vgl. Keiser et al. 2018; Tab. 4.44).

Tab. 4.44 Virale Hepatitiden in der Schweiz (2019): Neuinfektionen, Fallmeldungen und Inzidenzrate; Krankheitslast (DALYs) und Mortalität (p.a.). Eigene Darstellung; Datenquellen: BAG (2020); WHO (2018)

Zu den direkten medizinischen Kosten der HCV-Infektionen und ihren Folgen liegen Informationen aus mehreren Schweizer Studien vor (vgl. hierzu auch bei Wieser et al. 2014 und Blach et al. 2019). Eine Studie aus dem Universitätsspital Zürich (Müllhaupt et al. 2015) kam zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2013 von 74 Mio. EUR (Unsicherheitsbereich von 36 bis 157 Mio. EUR) in der Schweiz auszugehen sei.

Die direkten medizinischen Kosten der Folgen einer HCV-Infektion können dabei im Einzelfall sehr hoch sein (zum Beispiel, dekompensierte Leberzirrhose ca. 16.500 EUR pro Fall und Jahr; hepatozelluläres Karzinom ca. 13.600 EUR; Lebertransplantation ca. 100.200 EUR im ersten Jahr und ca. 15.500 EUR in den Folgejahren; vgl. Müllhaupt et al. 2015).

4.6.4 Hepatitis B und C: Screening und Prävention

Eine effektive Präventionsstrategie einer Infektionskrankheit wird an den Übertragungswegen ansetzen. Im Fall von HBV-Infektionen gelingt das mittels primärer Prävention. In der Schweiz führten die Empfehlungen zur HBV-Impfung von Jugendlichen (seit 1997) zu einer Reduktion der Hepatitis-B-Fälle um 78 %; schweizweit sind mittlerweile 70 % der 16-Jährigen gegen Hepatitis B geimpft, auch wenn die Variation zwischen den Kantonen mit einer Spanne von 12 bis 89 % sehr erheblich ist (Datenquelle: BAG 2019).

Eine Übertragung durch medizinische Instrumente gibt es nur noch ausnahmsweise; Blutprodukte sind weitestgehend sicher bezüglich einer Kontamination, selbst wenn in Entwicklungsländern ein Restrisiko verbleibt. In der Schweiz geht von medizinischem Personal und medizinischen Eingriffen keine Gefahr mehr aus für die Übertragung von HBV und HCV (Grob 2012). Dazu hat insbesondere die Entwicklung von kombinierten Antigen-/Antikörper-AssaysAssays der vierten Generation») sowie die Einführung der Polymerase-Kettenreaktion-(PCR)-Untersuchungen in das Blutspender-Screening beigetragen, womit das diagnostische Fenster für Hepatitis B und C, aber auch für Hepatitis A, HIV- und Parvovirus B19-Infektionen auf ein Minimum reduziert werden konnte. Dies kann als ein grosser Erfolg labormedizinischer Technologieentwicklung gewertet werden (vgl. Schmidt und Seifried 2017).

Die Infektionsübertragung erfolgt daher überwiegend innerhalb spezifischer Populationen. In der Schweiz sind Präventionsmassnahmen für den Drogenbereich seit 2015 in der «Nationalen Strategie Sucht» und ausserdem im Rahmen der Bekämpfung der Ausbreitung sexuell übertragbarer Infektionen verankert und gelten neben HIV-Infektionen besonders der Prävention von Hepatitis B und C.

Anders als im Fall von HBV-Infektionen steht keine wirksame Impfung gegen Hepatitis C zur Verfügung, so dass für eine erfolgreiche Prävention das Unterbrechen der Übertragungswege unerlässlich ist. Neben dem beschriebenen Fokus auf das Verhalten von Risikogruppen steht das Erkennen Infizierter durch geeignete Teststrategien im Vordergrund.

Für positiv Getestete mit einer chronischen Hepatitis C stehen seit 2014 hochwirksame Medikamente zur Verfügung («direct acting antivirals», DAAs), mit denen unabhängig vom Genotyp des Virus Heilungsraten von über 90 % erzielt werden können (siehe zum Beispiel Zeuzem 2017). Vor 2014 konnten von den sechs Genotypen der Hepatitis C nur die Varianten 1, 2 und 3 mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 bis 80 % geheilt werden, so dass eine gezielte Therapie die Bestimmung des jeweiligen Genotyps zur Voraussetzung hatte (Bruggmann 2018).

Vor dem Hintergrund des Ziels, Hepatitis C bis 2030 zu eliminieren, stellt sich die Frage nach dem Kosten/Nutzen-Verhältnis von Screening-Programmen, um symptomlose Virusträger zu identifizieren; insbesondere nach der Kosteneffektivität einer bevölkerungsweiten Screening-Strategie im Vergleich zu zielgruppenspezifischen Tests (Patel et al. 2021). Als allgemein anerkannt gelten Tests von Schwangeren, um eine vertikale Transmission auf Ungeborene zu vermeiden, von Blutspendern und von Risikopersonen (Fretz et al. 2013). Zahlreiche gesundheitsökonomische Studien (vgl. hierzu bei Helsper et al. 2012; Nakamura et al. 2008; Stein et al. 2004; Wong et al. 2015; Tatar et al. 2020) stimmen im Ergebnis überein, dass risikobasierte Screening-Strategien fast immer eine attraktive Kosten/Nutzen-Relation aufweisen, während bevölkerungsweite Screening-Programme zurückhaltender bewertet werden, weil sie in vielen Kontexten die üblichen Schwellenwerte für die geforderte Kosteneffektivität nicht erreichen.

Das könnte einem systematischen Review der Kosteneffektivität von Screening-Strategien zufolge unter Umständen sogar für Programme, die Schwangere oder Gefängnisinsassen adressieren (anders als eindeutig kosteneffektive Screening-Strategien, die sich an Neugeborene, Drogenabhängige oder andere Risikogruppen wenden), die Kosteneffektivität in Frage stellen (Coward et al. 2016). Diese Bewertung würde sich allerdings bei einer – für die Schweiz anzunehmenden – höheren Zahlungsbereitschaft als der in England und Wales üblichen Grenze von 30.000 GBP/QALY oder dem für die Niederlande zitierten Schwellenwert von 20.000 EUR/QALY für Public Health-Interventionen (vgl. hierzu bei Helsper et al. 2017) ins Positive umkehren (siehe Abb. 4.31).

Abb. 4.31
figure 31

Screening-Strategien auf Hepatitis C: Kosteneffektivität in Abhängigkeit von der Zielgruppe. «Hochrisikogruppe» war je nach in den Review eingeschlossener Studie unterschiedlich definiert; primär Drogenabhängige und Empfänger von Blutprodukten; GBP, Pfund Sterling; LYG, Life Year Gained; negative ICER-Werte bedeuten «Dominanz» (höhere Effektivität bei geringeren Kosten). Eigene Darstellung in Anlehnung an Coward et al. (2016)

In den USA mit zirka 2,7 Mio. an chronischer Hepatitis C Erkrankten (nach Angaben des Center for Disease Control, CDC 2013) empfiehlt das CDC seit 2020, dass alle Einwohner im Alter über 18 Jahren mindestens einmal im Leben auf Hepatitis C getestet werden sollten (Havens und Anderson 2020). Eine US-amerikanische Studie zeigte, dass ein einmaliges bevölkerungsweites Screening (in Verbindung mit DAA-Therapie; vgl. Abschn. 4.6.6) verglichen mit Neugeborenen-Screening kosteneffektiv ist, sofern die Rate Antikörper-positiver Menschen 0,07 % übersteigt (Eckman et al. 2019).

In einer aktuellen französischen Studie wurde die Kosteneffektivität von fünf alternativen Screening-Strategien untersucht; in dieser Arbeit auf der Grundlage einer Markov-Modellierung erwies sich ein universelles Screening Erwachsener als wirksamer und ökonomisch vorteilhaft, freilich unter der Voraussetzung, dass eine Therapie frühzeitig, mithin vor der Entwicklung einer Leberfibrose, initiiert wird (Deuffic-Bourban et al. 2018).

In sämtlichen ökonomischen Modellierungen beeinflussen die Prävalenz in der Zielgruppe (=> «pre-test probability») und die Kosten der medikamentösen Therapie die Kosteneffektivität entscheidend, während die Kosten der Labortests selbst nicht entscheidend ins Gewicht fallen (vgl. Tab. 4.45).

Tab. 4.45 Direkte medizinische Kosten in der Schweiz. Eigene Darstellung; Datenquellen: Blach et al. (2019); BAG Analysenliste (2021)

Als Zwischenfazit lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass weder die Eindämmung der Hepatitis B noch der Hepatitis C ohne leistungsfähige labormedizinische Verfahren denkbar wären, ganz zu schweigen von der Chance, eine Elimination dieser häufig einen schweren chronischen Verlauf nehmenden Erkrankungen in den Blick zu nehmen. Der gesellschaftliche Nettonutzen entsprechender Programme wird massgeblich von der Prävalenz der HBV- und HCV-Infektionen in einer Population bestimmt und von den Kosten der medikamentösen Behandlung, sowie schliesslich der gesellschaftlichen Zahlungsbereitschaft für Gesundheitsgewinne.

4.6.5 Labordiagnostik bei Verdacht auf Hepatitis

Bei Verdacht auf eine Hepatitis ist Diagnostik hinsichtlich einer viralen Genese unerlässlich. Virale Hepatitiden zählen zu den meldepflichtigen Infektionskrankheiten (Datenquelle: BAG 2019). Eine Identifikation des Erregers der Hepatitis ist für das weitere therapeutische Vorgehen erforderlich (Pondé 2017).

Der klinische Befund und unspezifische Laborwerte lassen eine differenzierte Diagnose, um welche Art der Hepatitis es sich handelt, nicht zu.

Eine eingehende Anamnese kann erste wertvolle Hinweise bezüglich des Infektionswegs geben (Impfstatus, Reisegewohnheiten, soziokulturelle Faktoren), setzt aber ein hohes Mass an Kooperation des Patienten voraus. Serologische akute Phase Marker (Antikörpertest) zum Nachweis von anti-HAV-IgM, anti-HBc, anti-HCV, anti-HDV, anti-HEV-IgM sind verfügbar (Pondé 2017). Der Nachweis ist allerdings erst einige Zeit nach Infektion möglich. Es steht eine Vielzahl hoch-sensitiver und spezifischer serologischer sowie molekularer «nucleic acid detection»-Detektionsmethoden zur Verfügung (vgl. bei Prasidthrathsint und Stapleton 2019).

Die Diagnose einer HAV- oder HEV-Infektion hat zwar primär keine therapeutische Konsequenz, ist aber unter epidemiologischen Gesichtspunkten sinnvoll. Auch in Anbetracht der geringen Kosten lässt sich ein HAV- und HEV-Screening bei Verdacht auf virale Hepatitis so begründen.

Wegen der Gefahr der Chronifizierung und Entwicklung einer Leber-zirrhose und eines hepatozellulären Karzinoms ist bei Verdacht auf HBV- und HCV-Infektion eine entsprechende Labordiagnostik zwingend. Diese hat unmittelbaren Einfluss auf das therapeutische Vorgehen. Im Folgenden sollen wesentliche Aspekte bezugnehmend auf Hepatitis C näher betrachtet werden.

4.6.6 Spezielle Aspekte der Hepatitis C

Die Diagnose einer Infektion mit dem Hepatitis C Virus basiert auf dem Nachweis von HCV-RNA mittels sensitiver Methoden (Detektionsuntergrenze ≤15 IU/ml). Die Serokonversion zu Anti-HCV Antikörper, bestimmt mittels Enzym-Immunassay (EIA), belegt das Vorliegen einer Hepatitis C (EASL 2017). Beide Parameter sind geeignet, zwischen gegenwärtiger und vorangegangener Infektion zu unterscheiden. Sie erlauben aber nicht die Differenzierung von akuter und chronischer HCV-Infektion (Pondé 2017). Ein Persistieren beider Parameter über vier bis sechs Monate begründet die Diagnose einer chronischen Hepatitis C (siehe hierzu EASL-Guideline 2016). Die gegenwärtig verfügbaren Tests zur Detektion von Anti-HCV-Antikörpern weisen eine sehr hohe Spezifität und Sensitivität auf, welche jeweils bei etwa 99 % liegt (vgl. Alborino et al. 2011; Sarrazin et al. 2018).

Die Genotypisierung ist wichtig für die Definition und Dauer einer auf den individuellen Patienten zugeschnittenen Therapie (Moradpour et al. 2018). Denn die sogenannten «direct acting antivirals» (DAAs) entfalten ihre Wirksamkeit zum Teil hochspezifisch nur gegen definierte Geno- oder gar Subtypen (vgl. Prasidthrathsint und Stapleton 2019; Schmidt et al. 2014). Erreicht man mit dieser Therapie keine Sustained Viral Response (SVR), dann sollte eine Resistenzbestimmung gegenüber DAAs folgen (vgl. Schweizerische «Association for the Study of the Liver», SASL; zum Beispiel Moradpour et al. 2018).

Diagnostischer Stufenprozess

Anti-HCV Nachweis. Zum Screening oder zur Bestätigung der Verdachtsdiagnose HCV-Infektion wird mittels serologischer Assays auf anti-HCV Antikörper untersucht. Die Spezifität und Sensitivität dieser Assays ist extrem hoch. Gleiches gilt für die Detektion einer Serokonversion (Alborino et al. 2011).

Sollte das Ergebnis des Tests auf Anti-HCV-Antikörper positiv ausfallen, dann muss die Diagnose gemäss S3-Leitinie durch einen HCV-RNA-Nachweis gesichert werden (vgl. Abb. 4.32).

Abb. 4.32
figure 32

Virologisch-serologische Diagnostik bei klinischem Verdacht auf eine HCV-Infektion. Quelle: S3-Leitlinie Hepatitis C (Sarrazin et al. 2018)

HCV-RNA Bestimmung. Die Bestimmung der HCV-RNA-Konzentration soll vor Beginn einer Therapie und zur Kontrolle des Therapieerfolgs durchgeführt werden. Diese Kontrollen haben unmittelbaren Einfluss auf das weitere therapeutische Vorgehen. Etablierter Parameter bezüglich der Ausheilung einer HCV-Infektion ist die nachgewiesene HCV-RNA-Negativität nach 12- bzw. 24-wöchiger Therapie (EASL 2017).

Geno-Typisierung. Vor Beginn einer Therapie soll eine Geno-Typisierung erfolgen (Moradpour et al. 2018). Eine korrekte Typisierung ist labordiagnostisch in mehr als 90 % aller Fälle möglich (Liu et al. 2015; vgl. auch Verbeeck et al. 2008). Eine Resistenztestung wird empfohlen zur Auswahl einer Re-Therapie von Patienten mit einem Versagen auf eine direkt antivirale Kombinationstherapie (Sarrazin 2016). Eine virale Resistenzanalyse vor Ersttherapie mit einem Interferon-freien Therapieregime gilt dagegen nicht als generell indiziert.

Sensitivität, Spezifität und prädiktiver Wert. Die Sensitivität von Anti-HCV-Suchtests der dritten Generation wird mit etwa 98 % angegeben und die Spezifität erreicht in Risikogruppen nahezu 100 % (Colin et al. 2001). In der Allgemeinbevölkerung weisen wegen der sehr geringen HCV-Prävalenz (d. h. Prä-Test-Wahrscheinlichkeit) negative (nicht-reaktive) Resultate im Anti-HCV-Immunoassay zwar negativ-prädiktive Werte von mehr als 95 % auf, positive (reaktive) Ergebnisse bedeuten jedoch lediglich positiv-prädiktive Werte von weniger als 20 % (Alter et al. 2003).

Im Rahmen der medizinischen Versorgung an Hepatitis C Erkrankter sind labormedizinische Untersuchungen von der Diagnose bis zur Beendigung des therapeutischen Vorgehens unverzichtbar; sie bestimmen Differenzialdiagnose, Optimierung des Therapiekonzepts, Monitoring der Therapie, gegebenenfalls nötige Anpassungen der Therapie, Feststellung der Ausheilung (Tab. 4.46).

Tab. 4.46 Laboruntersuchungen im Verlauf einer HCV-Infektion. Eigene Darstellung in Anlehnung an Moradpour et al. (2018)

Mit den seit 2014 verfügbaren hochwirksamen DAAs können Heilungsraten von über 90 % erzielt werden (Zeuzem 2017).

Seit dem 1. Oktober 2017 wurde nach Preissenkungen (die Medikationskosten betrugen anfänglich 60.000 CHF bis 120.000 CHF und wurden auf rund 30.000 CHF reduziert) eine bis dahin geltende Limitation auf fortgeschrittene Lebererkrankungen aufgegeben, so dass die DAAs heute in der OKP-finanzierten Grundversorgung allen Schweizern zugänglich sind. Neben dem medizinischen Nutzen einer Therapie der Hepatitis C mit DAAs belegen zahlreiche Kosteneffektivitätsstudien, dass diese in fast allen Fällen ein mindestens akzeptables, wenn nicht gutes Kosten/Nutzen-Verhältnis aufweisen oder bei mittel- bis langfristiger Betrachtung sogar Gesundheitskosten einsparen können (für die Genotypen 2 bis 6 siehe zum Beispiel He et al. 2017; spezifisch auch für die Beendigung der früheren Schweizer Limitation auf fortgeschrittene Fälle Blach et al. 2019).

Den Kosten der Behandlung von über 30.000 CHF je Patient in der Schweiz (2017) stehen Kosten der erweiterten Basisdiagnostik (Anti-HCV, PCR, Genotypisierung, Staging) von etwa 640 CHF gegenüber (Blach et al. 2019).

Nach alledem lässt sich konstatieren, dass – nicht nur im Zusammenspiel mit wirksamen therapeutischen Optionen, sondern auch mit Blick auf das Public Health-Ziel der Elimination der übertragbaren Hepatitiden – der Labormedizin eine überragende Rolle zukommt. Wenn man mit Philip Bruggmann (2018) die Bekämpfung der Hepatitis C in der Schweiz als eine «Erfolgsgeschichte» beschreiben will, dann muss man im gleichen Moment anerkennen, dass diese erst durch die moderne hochsensitive und spezifische Labordiagnostik der Hepatitis-Virus-Infektionen bis hin zur Genotypisierung der Varianten ermöglicht worden ist.

Deren Nutzen kann auf allen sechs von Fryback und Thornbury (1991) vorgeschlagenen Ebenen der Evidenz («Level») als belegt gelten, von der technischen und diagnostischen Validität der Testverfahren über den therapeutischen Impact bis hin zum patientenrelevanten Nutzen und einem entscheidenden Beitrag zu einer guten Kosten/Nutzen-Relation der medizinischen Versorgung.

Eckdaten «Hepatitiden»

  1. a)

    Inzidenz und Prävalenz

    Gesamt: > 130 Neuinfektionen/Jahr mit Hepatitis-Viren (BAG 2019)

    A:

    Inzidenz/100.000:

    0,92 (BAG 2019; WHO 2018)

    B:

    Inzidenz/100.000:

    12,79 (BAG 2019; WHO 2018)

    C:

    Inzidenz/100.000:

    12,00 (BAG 2019; WHO 2018)

    E:

    Inzidenz/100.000:

    1,32 (BAG 2019; WHO 2018)

  2. b)

    Krankheitslast und Mortalität

    Gesamt:

    DALYs/100.000:

    1,701 (BAG 2019; WHO 2018)

    Gesamt:

    Mortalität/100.000:

    0,091 (BAG 2019; WHO 2018)

    HAV:

    DALYs/100.000:

    0,274 (BAG 2019; WHO 2018)

    HAV:

    Mortalität/100.000:

    0,010 (BAG 2019; WHO 2018)

    HBV:

    DALYs/100.000:

    0,285 (BAG 2019; WHO 2018)

    HBV:

    Mortalität/100.000:

    0,007 (BAG 2019; WHO 2018)

    HCV:

    DALYs/100.000:

    0,005 (BAG 2019; WHO 2018)

    HCV:

    Mortalität/100.000:

    N/A (BAG 2019; WHO 2018)

    HDV:

    DALYs/100.000:

    1,137 (BAG 2019; WHO 2018)

    HDV:

    Mortalität/100.000:

    N/A (BAG 2019; WHO 2018)

  3. c)

    Kosten aus Perspektive der OKP

    Gesamtkosten können nicht konkret beziffert werden; als massgebliche Kostentreiber sind jedoch HBV-/HDV- und HCV-Infektionen anzunehmen

  4. d)

    Kosten wesentlicher medizinischer/therapeutischer Massnahmen

    Durchschnittliche Therapiekosten pro Patient (2017): HCV: 31.000 CHF

    plus Kosten für Basisdiagnostik: 640 CHF (Blach et al. 2019)

  5. e)

    Kosten relevanter Labortests/-diagnostika (vgl. Analysenliste 2021)

    HAV Ig oder IgG, ql/qn:

    15,20/23,00 CHF (Pos. Nr. 3049.00/3050.00)

    HAV/HBV lgM:

    23,00 CHF (Pos. Nr. 3051.00/Pos. Nr. 3055.00)

    HBV HBc Ig, ql/qn:

    15,20/20,0 0CHF (Pos. Nr. 3053.00/3054.00)

    HBV HBs Ig oder IgG:

    20,00 CHF (Pos. Nr. 3057.00)

    HBV HBe Ig oder IgG:

    23,00 CHF (Pos. Nr. 3066.00)

    HCV Ig oder IgG, ql/qn:

    17,40/25,00 CHF (Pos. Nr. 3068.00/3069.00)

    HCV Ig- oder IgG-Spezifikation:

    66,00 CHF (Pos. Nr. 3070.00)

    HCV Genotypisierung:

    180,00 CHF (Pos. Nr. 3072.00)

    HDV/HEV Ig oder IgG:

    29,00 CHF (Pos. Nr. 3074.00/3076.00)

    HEV lgM:

    44,00 CHF (Pos. Nr. 3077.00)

Sepsis

Die Sepsis ist ein schweres, in seiner Häufigkeit und in seinen Folgen für die betroffenen Patienten, für das Gesundheitssystem und gesamtgesellschaftlich vermutlich immer noch massiv unterschätztes Krankheitsbild, auf das neueren Studien zufolge weltweit jeder fünfte Todesfall unmittelbar zurückgeführt werden kann. Mindestens zum Teil hängt diese Unterschätzung zusammen mit den konventionellen Standards der Gesundheitsberichterstattung, welche primär auf die Dokumentation der Grundkrankheit bzw. Grundursache von Morbidität und Mortalität ausgerichtet sind und deshalb neben Komorbiditäten auch die Sepsis als «gemeinsame Endstrecke» verschiedener Grunderkrankungen zu niedrig ausweisen.

Schweizer Meldedaten für das Jahr 2019 zufolge verstarben von 11.557 im Spital mit Sepsis behandelten Patienten 1947 oder 16,8 %. Eine Schweizer Krankheitskostenstudie wies für im Jahr 2001 intensivmedizinisch behandelte Sepsis-Patienten Spitalkosten von durchschnittlich 41.790 CHF pro Fall nach, wovon nur 9,5 % auf labormedizinische Routine-Untersuchungen und 5 % auf mikrobiologische Diagnostik entfielen, obwohl dieser eine wesentliche Rolle für die prognostisch entscheidende schnelle Diagnose und zielgenaue Therapie zukommen.

Präventionsstrategien zielen über die Umsetzung multimodaler Hygienekonzepte hinaus vor allem auf die Verhinderung vermeidbarer nosokomialer bzw. «Health Care-assoziierter» Infektionen («HAIs») und auf die Eindämmung von Antibiotikaresistenzen – in der Schweiz stehen hierfür die Programme «NOSO» und «StAR» des Bundesamts für Gesundheit.

4.6.7 Sepsis: Krankheitslast und -kosten

Die Sepsis ist ein schweres, in seiner Häufigkeit und in seinen Folgen für die betroffenen Patienten, für das Gesundheitssystem und gesamtgesellschaftlich vermutlich immer noch erheblich unterschätztes Krankheitsbild, auf das neueren Studien zufolge weltweit jeder fünfte Todesfall unmittelbar zurückgeführt werden kann; 49 Mio. Erkrankte verursachten demzufolge 11 Mio. Todesfälle im Jahr 2017 (vgl. hierzu bei Rudd et al. 2020).

Zum Teil lässt sich die Unterschätzung mit den konventionellen Standards der Gesundheitsberichterstattung erklären, die primär auf die Dokumentation der Grundkrankheit bzw. Grundursache von Morbidität und Mortalität ausgerichtet ist und deshalb neben Komorbiditäten auch die Sepsis als «gemeinsame Endstrecke» verschiedener Grunderkrankungen systematisch zu niedrig ausweist.

So ging man auf der Basis epidemiologischer Studien noch bis vor kurzem von weltweit 31 Mio. Neuerkrankungen pro Jahr und einer Mortalität («Case Fatality Rate», CFR) von etwa 17 % oder fünf Millionen aus (vgl. Angus et al. 2001; Fan et al. 2016; Fleischmann et al. 2016; Hotchkiss et al. 2013; Rangel-Fraustro et al. 1995). Erst eine Reanalyse von Daten der Global Burden of Disease- (GBD-) Studie unter Berücksichtigung aller bekannten Sepsis-Ursachen, einschliesslich Verletzungen und nicht-übertragbarer Krankheiten, ergab die korrigierte, deutlich höhere Schätzung (Rudd et al. 2020). Dieser Studie folgend waren neben Infektionskrankheiten nichtübertragbare Krankheiten weltweit für 13,9 Mio. Sepsis-Neuerkrankungen und für 4,6 Mio. Sepsis-Todesfälle verantwortlich (Abb. 4.33).

Abb. 4.33
figure 33

Weltweite Inzidenz und Mortalität der Sepsis (2017). Inzidenz (Mio. Fälle; links, blaue Balken) und Mortalität (davon Prozent; rechts, graue Balken) gesamt und aufgegliedert nach ursächlichen Grundkrankheiten (Infektionskrankheiten, Verletzungen und nichtübertragbare Krankheiten). Eigene Darstellung; Analyse auf Basis der GBD-Daten für das Jahr 2017; Datenquelle: Rudd et al. (2020)

Damit stehen fast doppelt so viele Todesfälle als früher angenommen in einem kausalen Zusammenhang mit Sepsis (Rudd et al. 2020). Die wichtigsten Ursachen sind Durchfallerkrankungen und – mit weitem Abstand – Infektionen der unteren Atemwege; 41 % aller weltweiten Sepsisfälle (und 26 % der Sepsis-assoziierten Mortalität) entfallen auf Kinder unter fünf Lebensjahren (WHO 2020a).

Weltweit wird derzeit von einer jährlichen Inzidenz von 189 hospitalisierten Fällen je 100.000 Einwohner (95 %-Konfidenzintervall von 133 bis 267) und von einer Case Fatality Rate von 26,7 % (95 %-Konfidenzintervall von 22,9 % bis 30,7 %) ausgegangen, mit erheblichen regionalen Unterschieden (Abb. 4.34). Ein noch düstereres Bild ergibt sich aus Analysen der Sterblichkeit intensivmedizinisch behandelter Sepsis-Patienten, die sich weltweit um 42 % bewegt (Fleischmann-Struzek et al. 2020).

Abb. 4.34
figure 34

Inzidenz und Mortalität der Sepsis nach Weltregionen (Spitalfälle). Inzidenz (1/100.000; links, blaue Balken) und Mortalität (davon Prozent; rechts, graue Balken) gesamt und aufgegliedert nach Regionen (n.a., nicht anwendbar/keine Studiendaten verfügbar). Eigene Darstellung; Datenquelle: Fleischmann-Struzek et al. (2020)

Für die Schweiz liegt eine im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) durchgeführte Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums vor, der zufolge sich die 30-Tage-Mortalität von stationär behandelten Sepsis-Patienten in Schweizer Spitälern unter 25 % und damit im europäischen Rahmen bewegt (vgl. Tuch et al. 2018).

Über die Akutmortalität hinaus zieht eine Sepsis häufig schwere gesundheitliche Langzeitfolgen nach sich, die mit der wachsenden Zahl Sepsis-Überlebender zunehmend ins Bewusstsein rücken. Diese verlässlich zu erfassen und zu quantifizieren, ist ein methodisch anspruchsvolles Unterfangen, weil Sepsis-bedingte Einschränkungen von den gesundheitlichen Effekten allfälliger Grund- und Begleiterkrankungen abgegrenzt werden müssen (vgl. Shankar-Hari und Rubenfeld 2016). So wird in Follow Up-Studien regelmässig eine hohe Langzeitsterblichkeit gefunden (Schmidt et al. 2020; vgl. dazu auch Prescott et al. 2016).

Zu den gut dokumentierten Gesundheitsrisiken nach Überleben einer Sepsis zählen eine reduzierte Lebensqualität (z. B. Nesseler et al. 2013; Uthbertson et al. 2013), kognitive Einschränkungen (z. B. Iwashyna et al. 2010) und kardiovaskuläre Komplikationen (Ou et al. 2016; Yende et al. 2014). Für sie alle gilt, dass die kausale Rolle der Sepsis für diese Ereignisse letztendlich klärungsbedürftig bleibt (Shankar-Hari et al. 2016a). Gut belegt (aufgrund des Vorliegens einer Studie mit der Propensity Score-Methode unter Heranziehung einer Kontrollgruppe von «gematchten» hospitalisierten Patienten ohne Sepsis) ist der Zusammenhang zwischen dem Erleiden einer Sepsis und der erhöhten Wahrscheinlichkeit einer alsbaldigen Rehospitalisierung (von 40 % bis zu 63 % innert eines Jahres; Prescott et al. 2014, 2015), meistens aufgrund einer Infektionskrankheit (vgl. Krumholz et al. 2013).

Angesichts der Unklarheiten hinsichtlich der einer Sepsis kausal zuschreibbaren Gesundheitsfolgen bestehen zwangsläufig erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich der spezifischen Krankheitslast, welche über die Kennziffern Inzidenz und Mortalität hinaus die wegen Sepsis verlorene Lebenserwartung und -qualität quantifizieren müsste. Das gilt dann erst recht für die volkswirtschaftlichen Kosten der Sepsis, weshalb im Mittelpunkt der umfangreichen Literatur die direkten Kosten der Gesundheitsversorgung stehen. Der Median der Spitalkosten bewegte sich in den europäischen Studien um 37.400 US-$ (2014) pro Patient (Interquartilbereich von 16.800 bis 62.700 US-$; Arefian et al. 2017).

Eine Schweizer Untersuchung aus dem Jahr 2004 (Schmid et al. 2004) dokumentiert den Ressourcenverbrauch und die Kosten für 61 erwachsene Sepsis-Patienten auf den Intensivstationen der Universitätsspitäler Basel, Genf und Zürich im Jahr 2001 (siehe Abb. 4.35). Die direkten Gesamtkosten pro Patient betrugen im Mittel 41.790 CHF. Bei einer mittleren Verweildauer von 12,9 Tagen auf der Intensivstation entstanden Kosten pro Patient in Höhe von 8020 CHF (oder 622 CHF pro Tag) für Medikamente, 21.229 CHF (/pro Tag 1648 CHF) für Personal, 2726 CHF (/212 CHF) für Verbrauchsmaterial und 3803 CHF (/295 CHF) für Aufenthalt («Hotelkosten»). Für Routine-Laborleistungen entstanden Kosten in Höhe von 3982 CHF (/309 CHF), für mikrobiologische Untersuchungen zusätzlich 2030 CHF (/158 CHF).

Abb. 4.35
figure 35

Direkte medizinische Kosten der Sepsis in der Schweiz (2001). Kostenartenanalyse: Intensivmedizinische Behandlung der schweren Sepsis in der Schweiz (Daten von n = 61 erwachsenen Patienten aus den Universitätsspitälern Basel, Genf und Zürich im Jahr 2001). Eigene Darstellung; Datenquelle: Schmid et al. (2004)

Interessant ist der Vergleich mit den Daten einer Vorgängerstudie der gleichen Autoren in Deutschland (Moerer et al. 2002); die augenfälligsten Unterschiede bestehen in den höheren Gesamtkosten und in dem höheren Anteil an Personal- gegenüber niedrigeren Medikationskosten in der Schweiz. Der Anteil der Laborkosten einschliesslich Mikrobiologie lag in beiden Studien insgesamt bei unter 15 %.

Prävention vermeidbarer Infektionen und septischer Komplikationen

Effiziente präventive Strategien müssen sich an der epidemiologischen Ausgangslage orientieren. Sepsis bei Neugeborenen – speziell frühe post partum auftretende Early Onset-Fälle – und septische Komplikationen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt gelten als Indikator für Qualitätsmängel in der Gesundheitsversorgung und spielen aus Public Health-Sicht in hochentwickelten Ländern wie der Schweiz eine vergleichsweise geringe Rolle (vgl. Fleischmann-Struzek et al. 2018). Hier stehen demgegenüber vermeidbare nosokomiale (beziehungsweise «Health Care-assoziierte») Infektionen («HAIs») und die Eindämmung von Antibiotika-Resistenzen im Vordergrund (vgl. WHO 2020a).

4.6.8 Health Care-assoziierte Infektionen (HAIs)

SwissNOSO, die auf Anregung des Bundesamts für Gesundheit 1994 entstandene Gruppe von Experten auf den Gebieten der Infektionskrankheiten und der Spitalhygiene, schätzt auf der Basis von Punktprävalenzerhebungen, dass HAIs in der Schweiz jährlich rund 70.000 Menschen neu betreffen und für 2000 Todesfälle verantwortlich sind (Sax und Pittet 2005). In Schweizer Spitälern mussten 5,9 % aller Patienten damit rechnen, eine nosokomiale Infektion zu erleiden – womit die Schweiz knapp über dem Mittelwert der Europäischen Union von 5,5 % lag (vgl. BAG 2019). Noch für das Jahr 2004 wurde sogar eine HAI-Rate von 7,2 % aller hospitalisierten Patienten berichtet (Sax und Pittet 2005). Neben den unmittelbaren gesundheitlichen Folgen führen HAIs nach Daten aus Jena zu sieben bis zehn Tage längeren Spitalaufenthalten und um 5800 EUR bis 15.200 EUR höheren direkten medizinischen Kosten (vgl. Arefian et al. 2016; Findeisen et al. 2018).

Es wird davon ausgegangen, dass zwischen 20 und 50 % aller HAIs mit gezielten Überwachungs- und Verhütungsmassnahmen vermieden werden könnten (Bundesrat 2016; vgl. auch Harbarth et al. 2003). Folgerichtig machte der Bundesrat mit der Strategie «Gesundheit2020» die Bekämpfung von HAIs zu einer gesundheitspolitischen Priorität (Bundesrat 2016). Die «Nationale Strategie zur Überwachung, Verhütung und Bekämpfung von healthcare-assoziierten Infektionen (Strategie NOSO)» beinhaltet ein multimodales Vorgehen, beginnend mit Standardhygienemassnahmen und Impfungen bis hin zu Governance-, Struktur- und Monitoringmassnahmen. Das Strategiedokument des Bundes setzt implizit eine funktionierende Labormedizin als gegeben voraus. Besonders augenfällig ist das beim Handlungsfeld Monitoring, das eine standardisierte Beobachtung und Erfassung in drei Bereichen erfordert: (a) HAI-Outcomes, (b) Bestimmung der Erreger und (c) Strukturen und Prozesse (Bundesrat 2016). So werden schon seit 2004 in der Schweiz Antibiotikaresistenzdaten von Mikrobiologie-Laboratorien systematisch gesammelt und im Schweizerischen Zentrum für Antibiotikaresistenzen (ANRESIS) am Institut für Infektionskrankheiten der Universität Bern analysiert (ANRESIS 2021; siehe unten).

Hier ergibt sich ein direkter Bezug zur Strategie des Bundes, der Verbreitung von Antibiotika-resistenten Erregern entgegenzuwirken (Projekt «Strategie Antibiotikaresistenzen», kurz «StAR»; Bundesrat 2015).

4.6.9 Antibiotika-Resistenzen

Eine Quantifizierung der gesellschaftlichen Auswirkungen des Problems der zunehmenden Antibiotika-Resistenzen ist aufgrund der Heterogenität und Unvollständigkeit der verfügbaren Daten derzeit nur in der Form von Schätzungen möglich. Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) geben 35.000 Todesfälle aus diesem Grund an; die Kosten für das Gesundheitssystem sollen sich auf 4,6 Mrd. US-Dollar pro Jahr belaufen (CDC 2019). Das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) bezifferte die ökonomische Belastung für Europa für das Jahr 2007 auf 1,5 Mrd. €, wovon 40 % auf Produktivitätsverluste entfallen sollten (ECDC 2009). Für das Jahr 2015 liegt eine Schätzung des ECDC von 670.000 mit Antibiotika-resistenten Bakterien infizierten Patienten in Europa vor, woraus 33.000 Todesfälle und eine Krankheitslast von 870.000 verlorenen gesunden Lebensjahren (Disability-Adjusted Life Years, DALYs) abgeleitet wurden (Cassini et al. 2019).

Ein vergleichsweise klareres Bild ergibt sich, wenn erfolgversprechende Eindämmungsstrategien betrachtet werden. Die Strategie des Bundesrates setzt auf einen sachgemässen, umsichtigen Antibiotikaeinsatz, ausgehend von der Feststellung: «Da der Einsatz von Antibiotika die Bildung von Resistenzen fördert, gehört die Senkung des Antibiotikaverbrauchs zu den wirksamsten Massnahmen.» Dafür braucht es neben der Infektionsvermeidung und gezielten Impfungen in der Wortwahl des Bundesrates (2015) «praxisnahe Laboruntersuchungen, [die dabei helfen,] den Entscheid für oder gegen den Einsatz eines bestimmten Antibiotikums zu fällen» (Bundesrat 2015). In der Schweiz erfolgt ein Monitoring auftretender Antibiotikaresistenzen im Humanbereich bereits seit 2004 durch ANRESIS am Institut für Infektionskrankheiten der Universität Bern (www.anresis.ch), das auf Routinedaten aus Spitälern und aus ambulanter Versorgung zurückgreift (Abb. 4.36).

Abb. 4.36
figure 36

Entwicklung wichtiger Antibiotika-Resistenzraten in der Schweiz. braun, ESCR-E.coli: Extended-spectrum cephalosporin-resistant Escherichia coli; gelb, ESCR-K.pneumoniae: Extended-spectrum cephalosporin resistant Klebsiella pneumoniae; rot, FQR-E.coli: Fluoroquinolone-resistant Escherichia coli; hellblau, MRSA: Methicillin-resistant Staphylococcus aureus; blau, PNSP: Penicillin-non-susceptible Streptococcus pneumoniae; grau, VRE: Vancomycin-resistant enterococci. Datenquelle: Swiss Centre for Antibiotic Resistance. (www.anresis.ch; Stand: 18. September 2021)

Über die vom Bundesrat erklärte Priorität einer Intensivierung «interdisziplinäre[r] Forschung und Entwicklung zur Entstehung, Verbreitung und Bekämpfung von resistenten Bakterien», einschliesslich einer «gezielte[n] Produkteentwicklung in den Bereichen antimikrobielle Substanzen und kosteneffiziente Diagnostik» (Bundesrat 2015) hinaus wird es vor allem auf eine konsequente Translation wissenschaftlicher Erkenntnisse in die medizinische Praxis ankommen. Das impliziert die Nutzung des Potenzials labordiagnostischer Tests für einen rationalen Antibiotika-Einsatz und die Zurückdrängung der immer noch verbreiteten «empirischen» Verschreibungen (vgl. Antonanzas und Goossens 2019; siehe auch O’Neill 2016).

Die zentrale Stellung der Labordiagnostik und hier vor allem der Mikrobiologie ist somit nicht auf die Identifikation der einer Infektion zugrundeliegenden Keime beschränkt, sondern umfasst die Prüfung der Erreger auf ihre Empfindlichkeit gegenüber Antibiotika, wofür verschiedene in vitro-Methoden zur Verfügung stehen, die eine Klassifikation in sensible, intermediär oder mässig empfindliche und resistente Bakterien erlauben. Bei gewissen Erregergruppen ist zusätzlich aus spitalhygienischen und epidemiologischen Gründen die Bestimmung des Resistenzmechanismus erforderlich (zum Beispiel für den Nachweis der Produktion von extended-spectrum Betalaktamasen, ESBL, und Carbapenemasen).

Diese Laboranalysen erlauben patientenbezogen eine schnelle und präzise Erreger-Diagnostik, die zielsichere Auswahl geeigneter Antibiotika und die Vermeidung unnötiger und schädlicher Antibiotika-Verordnungen. Auf Public Health-Ebene liefert sie unverzichtbare epidemiologische Informationen über die Ausbreitung von Erregern und Resistenzmechanismen, ohne die eine Konzeption effizienter Präventions- und Kontrollprogramme nicht möglich wäre (vgl. CDC 2013, 2019; Bundesrat 2015; O’Neill 2016).

Voraussetzung der Evaluation der Kosteneffektivität einer medizinischen Massnahme ist deren belegte klinische Effektivität. Einerseits spielen dafür test- und indikationsspezifische Parameter eine kritische Rolle, darunter die Testgenauigkeit (Sensitivität, Spezifität) und der Zeitbedarf bis zum Vorliegen eines Testresultats und der Einleitung therapeutischer Konsequenzen. Andererseits hängt der prädiktive Wert eines Tests auf Antibiotika-Resistenz entscheidend von deren Prävalenz (oder Prä-Test-Wahrscheinlichkeit) in einem bestimmten Setting ab.

Ein viel diskutiertes Beispiel für die Kosteneffektivität von Screening-Strategien auf Antibiotika-Resistenzen ist die Anwendung von Tests auf Methizillin-Resistenz von Staphylococcus aureus (MRSA). Gängige Techniken für das Screening auf MRSA basieren auf der PCR-Methode oder auf Kulturtechniken, die sich in ihren Testeigenschaften deutlich unterscheiden (Tab. 4.47).

Tab. 4.47 Screening auf MRSA: PCR-Tests und mikrobiologische Kulturen. Testeigenschaften von PCR-Tests und Kulturtechniken nach Tübbicke et al. (2012) und Harbarth et al. (2008)

Zahlreiche ökonomische Evaluationen des Screenings auf MRSA-Infektionen (oder Kolonisation) belegen – trotz Heterogenität – ein insgesamt gutes bis sehr gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis für Interventionen, die der Prävention nosokomialer MRSA-Infektionen dienen (siehe zum Beispiel Farbman et al. 2013). Die beste Wirksamkeit erzielen generell Strategien, die Screening, Dekolonialisierungsmassnahmen und Isolation der betroffenen Patienten kombinieren.

Für die Schweiz liegen aussagekräftige Analysen der Genfer Arbeitsgruppe um Stephan Harbarth vor (Murthy et al. 2010), die die Kosteneffektivität von drei Screening-Strategien auf MRSA bei Aufnahme auf eine chirurgische Station (PCR-Test-basiertes Screening aller Patienten; Screening auf MRSA-Risikofaktoren und Isolation; Aufnahme ohne Screening) aus der Perspektive eines Schweizerischen Spitals verglichen. Bei kalkulierten Vollkosten pro durchgeführten PCR-Test von 41,36 CHF erwies sich eine PCR-Test-basierte Screening-Strategie aller neu aufgenommenen Patienten als nur marginal teurer als kein Screening (Fallkosten 10.503 CHF versus 10.358 CHF; Jahr 2006), halbierte aber das Risiko einer nosokomialen MRSA-Infektion von 0,88 % auf 0,41 %.

Daraus liessen sich inkrementale Kosten von rund 31.000 CHF je statistisch vermiedene nosokomiale MRSA-Infektion errechnen (Murthy et al. 2010), was die Autoren auch unter Berücksichtigung der Limitationen ihrer Untersuchung mit Rekurs auf internationale Konventionen der Gesundheitsökonomie nicht als Beleg hinreichender Kosteneffektivität verstanden wissen wollen. Das Ergebnis steht im Gegensatz zu einem entscheidungsanalytischen Simulationsmodell einer Arbeitsgruppe der University of Pittsburgh (Pennsylvania) zu einer unmittelbar vergleichbaren Fragestellung (siehe Lee et al. 2009), welches eine geschätzte Kosteneffektivität von unter 50.000 US-Dollar je zusätzlich gewonnenem «qualitätsadjustierten Lebensjahr» (Quality-Adjusted Lify Year, QALY) ergab.

Die Effektivität von PCR-Test-basierten Screening-Strategien zeigt eine ausgeprägte Abhängigkeit von der epidemiologischen Prävalenzlage; bei marginalen Mehrkosten hängt die Kosteneffektivität PCR-Test-basierter Strategien dann auch von der gewählten Perspektive (zum Beispiel Spital versus Kostenträger versus gesamtgesellschaftlich) und weiteren Randbedingungen ab (vgl. Farbman et al. 2013; Harbarth et al. 2011). Für die Sinnhaftigkeit der Durchführung allgemeiner PCR-Tests auf MRSA in Schweizer Spitälern wurde daher ein Schwellenwert für die lokale Prävalenz von mindestens 5 % vorgeschlagen.

4.6.10 Diagnostik bei Sepsis-Verdacht

Die Hauptursachen einer Sepsis sind Pneumonien, intraabdominelle und den Harnwegstrakt betreffende Infektionen als Ursprung der Erregerausbreitung (Angus et al. 2001); am häufigsten werden die Erreger Staphylococcus aureus, Streptococcus pneumoniae, Escherichia coli, Klebsiella spp. und Pseudomonas aeruginosa isoliert (Liesenfeld et al. 2014; Abb. 4.36). Das Verständnis der «Sepsis» und ihre Definition haben sich seit 1992 («Systemic Inflammatory Response Syndrome», SIRS) mehrfach weiterentwickelt; mit Einführung der Sepsis-3-Definition im Jahr 2016 wurde der Begriff der «schweren Sepsis» offiziell abgeschafft (Seymour et al. 2016; Shankar-Hari et al. 2016b; Weis et al. 2017; Caraballo und Jaimes 2019).

Definitionen (nach «Sepsis-3»-Standard von 2016):

  • Sepsis: Lebensbedrohliche Organdysfunktion aufgrund einer fehlregulierten Wirtsantwort durch Infektionen;

  • Organdysfunktion: akute Veränderung des SOFA-Scores ≥2 Punkte als Folge einer Infektion (bei Patienten ohne vorbekannte Organdysfunktion Ausgangs-SOFA-Score = 0);

  • Septischer Schock: Vasopressorengabe erforderlich um bei persistierender Hypotonie einen => MAD ≥ 65 mmHg aufrechtzuerhalten und Serum-Laktat >2 mmol/l trotz adäquater Volumensubstitution.

Mit der Fokussierung auf Organschädigungen gilt die neue Definition als wegweisend für die Entwicklung neuer Behandlungskonzepte. Damit ist die Hoffnung verknüpft, dass deren Umsetzung – informiert durch mikrobiologische Diagnostik und Biomarker (vgl. Esposito et al. 2017, sowie die aktuelle Übersicht bei Heilmann et al. 2019) – zu verbesserter Organprotektion, besseren Outcomes und besserem Überleben sowie – durch geringeren Selektionsdruck auf Erreger – «zumindest theoretisch zu weniger Resistenzen gegenüber den eingesetzten Substanzen» (Weis et al. 2017) führen wird.

Bei Verdacht auf Sepsis sollte der SOFA-Score erhoben, als Baseline-Wert dokumentiert und mehrfach wiederholt werden. Verschlechtert sich der SOFA-Score über die Zeit akut um ≥2 Punkte, so liegt eine Sepsis vor (Singer et al. 2016).

Der SOFA-Score beinhaltet Erhebungen mehrerer Organ- und Funktionssysteme (Tab. 4.48). Das sind Atmung, Herzkreislauffunktion, Koagulation, Leber- und Nierenfunktion und der Glasgow Coma Scale (GCS)-Score. Für die Bestimmung des SOFA-Scores sind labormedizinische Untersuchungen unerlässlich. Dabei handelt es sich um Parameter, die im Rahmen der Notfallmedizin routinemässig bestimmt werden (Singer et al. 2016).

Tab. 4.48 Sepsis-Diagnostik: SOFA-Score. Quelle: SwissDRG AG (2018; mit freundlicher Genehmigung durch die SwissDRG AG)

Bei Verdacht auf Sepsis ist bezüglich der Diagnostik und dem Einleiten therapeutischer Massnahmen grundsätzlich grösste Eile geboten. Die Diagnosestellung kann mittels dem «qSOFA-Score» unter rein klinischen Gesichtspunkten binnen Minuten erfolgen. Mit einer antimikrobiellen Therapie soll innert einer Stunde nach Diagnosestellung begonnen werden. Diese muss dann in der Regel zunächst «empirisch» erfolgen, da binnen einer Stunde noch kein spezifischer Erregernachweis vorliegt.

Blutkulturen, unverändert ein «Goldstandard», müssen vor Beginn einer antimikrobiellen Therapie angelegt werden, wobei Ergebnisse in der Regel erst nach 24 bis 72 h vorliegen. Sobald Erreger definiert wurden, ist die antimikrobielle Therapie entsprechend anzupassen (vgl. WHO 2020a).

Stufenprozess der Diagnostik und «Ein-Stunden-Bundle»

Als massgeblich gilt die «Surviving Sepsis Campaign 2016» (vgl. Rhodes et al. 2017; Levy et al. 2018). Zielsetzung dieser Leitlinie ist es, Menschen mit Sepsis bereits eine Stunde nach Diagnosestellung möglichst optimal zu versorgen («Hour-1 Bundle»).

Das Augenmerk ist demzufolge auf die folgenden Aspekte zu richten:

  • Laktatkonzentration zu bestimmen (wenn initial >2 mmol/l, Kontrolle),

  • Blutkulturen anzulegen vor Antibiose,

  • Volumensubstitution (frühzeitig 30 ml/kg KG isotonische Kochsalzlösung),

  • Gabe von Vasopressoren (wenn der mittlere arterielle Druck ≤65 mm Hg beträgt),

  • Breitspektrum-Antibiotika- und gegebenenfalls antimykotische Therapie umgehend einzuleiten («empirische Therapie»).

Im weiteren Verlauf der Erkrankung sind regelmässige laborchemische Untersuchungen obligat, einschliesslich jener Parameter, die in die Berechnung des «SOFA-Scores» Eingang finden (vgl. Tab. 4.48). Ein Multiorgandysfunktionssyndrom ist mit dem SOFA-Score erkennbar, gegebenenfalls kann durch frühzeitige Intervention (zum Beispiel durch Beatmung oder Hämofiltration) einem Multiorganversagen vorgebeugt werden.

Nach Eingang der Ergebnisse der mikrobiologischen Untersuchung soll auf eine «gezielte Schmalspektrumantibiose» umgestellt werden (sogenannte «Deeskalationsstrategie»). Hintergrund hierfür ist, dass

  1. 1.

    die jeweiligen Erreger zielgerichteter angegangen werden können,

  2. 2.

    möglichen Resistenzentwicklungen entgegengewirkt wird,

    sowie

  3. 3.

    die Zeitdauer der Antibiose verkürzt werden kann (mit entsprechendem Einfluss auf die direkten Kosten).

Spezielle Aspekte der labormedizinischen Diagnostik bei Sepsis

Auch wenn mit dem einfachen «qSOFA»-Score eine schnelle Diagnose gestellt und frühzeitige therapeutisch interveniert werden kann, ist über die bereits angesprochenen Aspekte hinaus eine engmaschige Überwachung des Krankheitsgeschehens mittels laborchemischer, immunologischer und mikrobiologischer Untersuchungen unverzichtbar.

Neben den Routinebestimmungen von «Laborparametern 1. Ordnung» können «Laborparameter 2. Ordnung» und «Sepsiskenngrössen» für differentialdiagnostische Abklärungen indiziert sein, darunter Interleukin-6 (IL-6), Tumor Nekrose Faktor (TNF α, Kachektin, Lymphotoxin) und Lipopolysaccharid-bindendes Protein oder toxikologische Untersuchungen bei Verdacht auf Vergiftung (siehe u. a. bei Chen et al. 2019; Gressner und Arndt 2019). Zu den weiteren Kenngrössen zählen das C-reaktive Protein (CRP), die Interleukine 8 und 10 und Procalcitonin (vgl. Gressner und Arndt 2019).

Dabei unterscheidet sich die Wertigkeit der einzelnen Parameter durchaus. Das Anlegen von Blutkulturen (auf An- und Aerobier, gegebenenfalls Pilze) stellt auch heute noch den Goldstandard der Erregeridentifikation dar und sollte in jeden Fall vor Beginn einer antimikrobiellen, insbesondere antibiotischen oder antimykotischen Therapie erfolgen (vgl. Brunkhorst et al. 2018, S3-Leitlinie).

Diagnostischer Goldstandard: Blutkultur

Neben der Erregeridentifikation kann mit Keimwachstum in den Blutkulturen auch eine exakte Bestimmung der Antibiotikaempfindlichkeiten und -resistenzen der Sepsiserreger durchgeführt werden. Ein entscheidender Nachteil der Blutkulturen ist es allerdings, dass die Ergebnisse erst nach 12 bis 72 h vorliegen (Kumar et al. 2006), mit einer (Breitspektrum-)Antibiose aber innerhalb einer Stunde nach Diagnosestellung begonnen werden soll (Dellinger et al. 2013).

CRP und Procalcitonin (PCT)

Das C-reaktive Protein (CRP) ist ein unspezifischer Entzündungsparameter. Bei einer Sepsis ist es meist deutlich erhöht, unter suffizienter antimikrobieller Therapie dann schnell und deutlich rückläufig. CRP kann daher zu Verlaufskontrollen herangezogen werden.

Das Procalcitonin (PCT), die Vorstufe des Schilddrüsenhormons Calcitonin, ist bei gesunden Menschen im Serum nicht nachweisbar, aber bei massiven bakteriellen Infektionen deutlich erhöht. PCT steigt innerhalb weniger Stunden an und erreicht das Maximum bereits nach 24 h. Mittels PCT-Bestimmung ist eine akkurate Diagnose einer bakteriellen Sepsis in Abgrenzung zum «Systemic Inflammatory Response Syndrom» (SIRS) möglich mit einer (Metaanalysen zufolge) durchschnittlichen Sensitivität von 77 % (95 %-Konfidenzinterevall von 0,72 bis 0,81) und Spezifität von 79 % (95 %-KI von 0,74 bis 0,84; siehe Wacker et al. 2013). PCT-Werte von <0,5 ng/mL schliessen eine schwere Sepsis bzw. einen septischen Schock mit hoher Wahrscheinlichkeit aus, PCT-Werte >2 ng/mL machen eine schwere Sepsis beziehungsweise septischen Schock höchstwahrscheinlich.

Deshalb wurde zunächst angenommen, dass mit der PCT-Bestimmung ein idealer Test zur Identifikation von Sepsis-Patienten zur Verfügung stünde (vgl. Aloisio et al. 2019). Die Interpretation gemessener PCT-Werte erfordert jedoch die Berücksichtigung von Komorbiditäten wie Herzinsuffizienz und Nierenfunktionsstörungen, die ebenfalls zu erhöhten PCT-Werten führen können (Covington et al. 2018). Dessen ungeachtet handelt es sich bei PCT um den derzeit vermutlich am besten untersuchten Biomarker für Sepsis mit einer guten Fähigkeit, schnell zwischen bakterieller und viraler Genese einer Entzündungsreaktion zu differenzieren (Gregoriano et al. 2020).

Kommerziell verfügbare PCT-Tests wurden von der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) zugelassen für die Bewertung des Risikos, eine Sepsis zu entwickeln, bei Patienten, die eine intensivmedizinische Versorgung benötigen. Beschränkt ist dies allerdings auf den Tag der Aufnahme (Fan et al. 2016).

Die tägliche Bestimmung von PCT während der ersten fünf Tage stellt einen unabhängigen Indikator für die Mortalitätsrate bei Patienten mit Sepsis (Schuetz et al. 2017). Gegenwärtig verfügbare Daten zeigen, dass bei einem PCT-Wert <0,25 μg/l eine Antibiose nicht nötig ist und dass das regelmässige Bestimmen des PCT-Werts hilfreich ist, um zu bestimmen, wann eine Antibiose beendet werden kann.

Metaanalysen bei Patienten mit schweren respiratorischen Infektionen und auf Intensivstationen haben bestätigt, dass die regelmässige Bestimmung von PCT als Entscheidhilfe zum therapeutischen Vorgehen zu einer Reduktion der 30-Tage Mortalität führt, dass eine Antibiose durchschnittlich 1,2 bis 2,4 Tage früher beendet werden kann, und dass die Nebenwirkungen von Antibiotika so um 25 % gesenkt werden können (Wirz et al. 2018; Schuetz 2018).

Unbedingt zu beachten bleibt aber, dass PCT-Werte immer zusammen mit weiteren diagnostischen Instrumenten bewertet werden. Die Kosten einer PCT-Bestimmung belaufen sich in der Schweiz derzeit auf etwa 84 CHF.

4.6.11 Innovationsdynamik der Labormedizin

Eine adäquate antimikrobielle Therapie ist ein eigenständiger Prädiktor der Outcomes (oder der Prognose) bei Sepsis (Bloos et al. 2014). Die Surviving Sepsis Campaign 2016 fordert demzufolge, eine antimikrobielle Therapie innert einer Stunde nach Diagnosestellung einer Sepsis einzuleiten (vgl. Rhodes et al. 2017; Levy et al. 2018). Zu diesem Zeitpunkt liegen Ergebnisse von Blutkulturen naturgemäss noch nicht vor.

In den letzten Jahren wurde daher grosse Anstrengungen auf die Entwicklung von Schnellmethoden zur Detektion von Erregern und von antimikrobiellen Resistenzen fokussiert. Zunächst standen nur Schnelltests zur Verfügung, die an aus Blutkulturen gewonnenem Material angewendet werden konnten. Daher wurden Methoden entwickelt, die eine sofortige Erregerdetektion und Identifikation aus Vollblut, ohne vorherige Anlage einer Blutkultur, ermöglichen (Liesenfeld et al. 2014).

Der eigentliche revolutionäre Fortschritt bestand in der Entwicklung und Einführung von Nukleinsäureamplifikationstests mittels der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) – nach ihrer Erstbeschreibung 1985 – seit Mitte der 1990er-Jahre. PCR- und Sequenzierverfahren gehören heute zum Standardrepertoire mikrobiologischer Diagnostik. Jüngeren Datums ist die Einführung massenspektroskopischer Verfahren in die Routinediagnostik. Die Techniken zum direkten Erregernachweis aus Vollblut werden ständig weiterentwickelt und im nachfolgenden Abschn. 5.5.2, «Entwicklungspotenziale» aufgegriffen werden (vgl. hierzu u. a. bei Idelevich et al. 2018).

An dieser Stelle sei exemplarisch eine komplexe und sehr aufwendige Multiplex-PCR-Methodik benannt. Mit Hilfe des Assays «SeptiFast®» lassen sich bis zu 25 Mikroorganismen (Bakterien und Pilze) schnell und zuverlässig nachweisen. Das Spektrum deckt etwa 90 % der als Ursache für eine Sepsis infrage kommenden Erreger ab (Lehmann et al. 2008). Es wird eine Sensitivität von etwa 80 % (95 %-Konfidenzintervall von 0,70 bis 0,88) und eine Spezifizität von etwa 95 % (95 %-Konfidenzintervall von 0,93 bis 0,97) angegeben (Chang et al. 2013).

4.6.12 Nutzen der labormedizinischen Diagnostik bei Sepsis

Die unverzichtbare Rolle der Labordiagnostik im Rahmen der Diagnose und des Managements von Sepsispatienten ist nahezu selbst-evident. Angesichts der Komplexität der Diagnostik und der Bedeutung eines sehr schnellen Behandlungsbeginns für die Prognose bei Sepsis haben sich – erwartbar – Managementprotokolle und Massnahmen zur zielgerichteten Implementierung von Guidelines und Qualitätssicherung als kosteneffektiv oder sogar kostensparend und Outcomes-verbessernd erwiesen (zum Beispiel Asuncao et al. 2014; Calvert et al. 2017; Majid et al. 2019).

Positive Studienergebnisse liegen vor sowohl für den patientenbezogenen als auch für den gesellschaftlichen Nutzen des PCT-basierten Monitoring einer antibakteriellen Therapie. PCT-Messungen unterstützen vor allem die Unterscheidung von bakteriellen und viralen Infektionen und nichtinfektiösen Entzündungsprozessen; darüber hinaus wurde berichtet, dass sie die notwendige Dauer einer antimikrobiellen Therapie verkürzen helfen. Das reduziert das Risiko der Entwicklung von Antibiotika-Resistenzen, führt zu kürzeren Spitalaufenthalten der Patienten, spart damit direkte medizinische Kosten – und kann zahlreichen im Aussagetrend übereinstimmenden Studien zufolge sogar die klinischen Outcomes verbessern (vgl. u. a. bei Collins et al. 2019; Covington et al. 2018; De Oro et al. 2019; Gregoriano et al. 2020; Higgins et al. 2020; Iankova et al. 2017; Voermans et al. 2019; Westwood et al. 2015b; Wirz et al. 2018).

Besonders ermutigend sind erste positive gesundheitsökonomische Evaluationen der aufwendigen neuen molekularen Tests (vgl. Pliakos et al. 2018; Zacharioudakis et al. 2019).

Eckdaten «Sepsis»

  1. a)

    Inzidenz- und Prävalenzdaten

    Internationale Daten (Fleischmann et al. 2016; Rudd et al. 2020):

    73,6 bis 1180 spitalbehandelte Sepsis-Fälle je 100.000 Einwohner (2013); jährlich knapp 49 Mio. Sepsisfälle weltweit (2017), entspricht etwa 677,5 pro 100.000 Personenjahren

    Schweizer Daten (BAG 2021):

    Stationäre Sepsisfälle (2019): 18.900; davon >12.600 als Hauptdiagnose

  2. b)

    Krankheitslast und Mortalität

    Weltweit 11 Mio. Sepsis-assoziierte Todesfälle (2017), das entspricht knapp 20 % aller jährlichen Todesfälle (Rudd et al. 2020);

    durchschnittlich 154.000 Sepsisfälle (in Deutschland) pro Jahr mit rund 60.000 Todesfällen (2013; vgl. Fleischmann et al. 2016)

  3. c)

    Kosten (aus Perspektive der OKP)

    Jährliche Gesamtkosten (2013) der Sepsis (in Deutschland) werden auf 7,7 Mrd. EUR geschätzt (Fleischmann et al. 2016; vergleichbare Daten für die Schweiz liegen nicht vor)

  4. d)

    Kosten wesentlicher medizinischer/therapeutischer Massnahmen

    Mittlere Leistungsausgaben pro Sepsisfall: Europa, 37.400 USD (2014), nach Arefian et al. (2017); Deutschland, 27.500 EUR (2013) nach Fleischmann et al. (2016); Schweiz, 47.800 CHF (2001) nach Schmid et al. (2004)

  5. e)

    Kosten relevanter Labortests/-diagnostika (vgl. Analysenliste, 2021)

    Procalcitonin:

    84,00 CHF (Pos. Nr. 1619.00)

    CRP:

    10,00 CHF (Pos. Nr. 1245.00)

     

    14,20 CHF (Pos. Nr. 1245.01)

    Blutkulturen:

    50,00–155,00 CHF (Pos. Nr. 3304.00–3308.00)

    Schnelltests:

    14,80 CHF (Pos. Nr. 3469.00)

     

    18,00 CHF (Pos. Nr. 3469.01)

4.7 Labordiagnostik in der COVID-19-Pandemie

Die zu Jahresanfang 2020 über Europa und die Schweiz hereingebrochene COVID-19-Pandemie hat die Bedeutung einer leistungsfähigen Laboratoriumsmedizin schlagartig ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Vermutlich nie zuvor wurde in dieser Breite und angesichts der offenkundigen Konsequenzen so heftig über die Verfügbarkeit von Labortests, ihren Nutzen und ihre Aussagekraft diskutiert.

Vor dem Hintergrund der Dynamik des medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns im Verlauf der Pandemie, die mit der entscheidenden Phase der Recherchen für die vorliegende Arbeit zusammenfiel, stehen in diesem Abschnitt statt tagesaktueller Debatten vorrangig grundsätzliche Einsichten zur Bedeutung der Labormedizin und elementare Prinzipien der Testinterpretation im Zentrum der Betrachtung. Dazu gehören die Rolle der Labormedizin als Teil der kritischen Infrastruktur der Schweiz, die Abhängigkeit der Interpretation eines Testergebnisses vom jeweiligen Kontext, namentlich von der Fragestellung, von der Vor-Test-Wahrscheinlichkeit oder Prävalenz in einer bestimmten Zielpopulation, von der Sensitivität und der Spezifität des Tests, sowie von deren Ableitung aus der Genauigkeit des jeweiligen Testverfahrens.

Zudem werden die wesentlichen Eigenschaften der verfügbaren Tests (Antigentests, mit Fokus auf der meist eingesetzten Variante als Schnelltest; molekularbiologische Nukleinsäure-Amplifikations-Tests; Sequenzierung zur Mutationsanalyse des Virus; Antikörper-Nachweis-Tests) auf eine Infektion mit SARS-Cov-2 beschrieben.

4.7.1 Einleitung

Wahrscheinlich gab es kein Ereignis in der jüngeren Geschichte der Schweiz, das ähnlich der vom «Corona-Virus» SARS-CoV-2 verursachten und seit dem 1. Quartal 2020 in ganz Europa ausgebrochenen COVID-19-Pandemie die Bedeutung der Laboratoriumsmedizin ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit rückte.

Dabei zeigte sich sehr früh, dass die Verfügbarkeit ausreichender Kapazitäten – von einfachsten Materialien bis hin zu labortechnischer Ausrüstung und kompetentem Personal – keinesfalls in hinreichender Breite und Tiefe als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt werden kann.

Daraus ergeben sich wichtige Folgerungen für eine zukünftig bessere «Crisis and Pandemic Preparedness» (vgl. Abschn. 5.7.1). Über die blosse Erkenntnis hinaus, dass die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems entscheidend von der Verfügbarkeit leistungsfähiger Diagnostik abhängt, gehört dazu zwingend eine konsequente Vorbereitung auf potenzielle zukünftige Krisensituationen.

4.7.2 Kritische Infrastruktur

In der Tat wurde die Laboratoriumsmedizin vom Bundesrat bereits mit der «Nationalen Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen 2018–2022» («SKI-Strategie 2018–2022») als Bestandteil der kritischen Infrastrukturen in der Schweiz benannt. Unter deren sechs «besonders relevanten Gefährdungen» wurde das Auftreten einer «Epidemie/Pandemie» aufgelistet, auch wenn offenkundig ein besonderes Augenmerk möglichen «nuklearen und radiologischen, biologischen und chemischen Ereignissen, den sogenannten ABC-Ereignissen,» galt (zum Beispiel Bundesamt für Bevölkerungsschutz 2016).

Acht Prozesse wurden als «für die Leistungserbringung der Laboratorien von zentraler Bedeutung» identifiziert (nachstehend wörtlich zitiert aus Bundesamt für Bevölkerungsschutz 2016):

  1. 1.

    Kernprozesse:

    1. a)

      Prä-Analytik:

    Probenvorbereitung

    (inkl. Entnahme, Lagerung und Transport);

    1. b)

      Analytik:

    Analyse von Proben

    Analyseverfahren entwickeln

    Rollout von Analyseverfahren

    1. c)

      Post-Analytik:

    Ergebnisübermittlung

    (inkl. Befunddarstellung und Ausübung der Meldepflicht)

  2. 2.

    Supportprozesse:

    Unterhalt und Qualitätssicherung der Laborgeräte und -systeme

    Workflow-Management

    Abfallentsorgung

):Die Beurteilung, inwieweit die getroffenen Vorkehrungen zur Vorbereitung auf eine Ausnahmesituation wie die COVID-19-Pandemie hinreichend waren, und vor allem, welche Schlussfolgerungen daraus für die Vorbereitung auf ein effektives Krisenmanagement in der Zukunft zu ziehen sein werden, ist ausdrücklich nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Einige allgemeine, nicht abschliessende Hinweise mit Bezug auf die Rolle der Laboratoriumsmedizin finden sich im nachfolgenden Kap. 5, «Zukunftspotenziale», unter Abschn. 5.7.1.

4.7.3 Sachgerechte Anwendung und Interpretation diagnostischer Tests

Stattdessen sollen im Folgenden am Beispiel der COVID 19-Pandemie grundlegende Prinzipien der sinnvollen Anwendung und sachgerechten Interpretation diagnostischer Tests betrachtet werden. Das erscheint deshalb geboten, weil zwar «Testen, Testen, Testen» wortwörtlich als Strategie der Pandemie-Bekämpfung allgemein anerkannt worden ist (Tedros Adhanom Ghebreyesus 2020; in der Folge, Kumleben et al. 2020, Manabe et al. 2020, u. v. a. m.), aber zugleich bis in Fachkreise hinein nicht durchgängig davon ausgegangen werden kann, dass Testergebnisse richtig interpretiert und daraus sachgerechte Schlussfolgerungen gezogen werden (vgl. Seifried et al. 2021).

So untersuchte eine Arbeitsgruppe um den Risikoforscher Gerd Gigerenzer im Sommersemester 2016 das für die korrekte Interpretation diagnostischer Tests notwendige statistische Verständnis von Medizinstudenten im letzten Studienjahr (n = 169, 62,5 % weiblich, Alter [im Median] 25 Jahre) sowie von Professoren und erfahrenem Lehrpersonal (n = 16 Universitätsprofessoren und Oberärzte) an der Berliner Vorzeigeinstitution Charité mittels eines 10 Items (mit je vier Antwortmöglichkeiten) umfassenden Multiple Choice-Tests («Quick Risk Test»; Jenny et al. 2018).

Die Studierenden gaben im Median nur 53,8 % (Interquartilbereich, IQR, von 44,4 % bis 68,5 %) richtige Antworten; je eine Frage zum Bayes-Theorem und zu Mortalitätsraten als wichtigstem Erfolgsmass für Krebs-Screening-Massnahmen wurde sogar nur zu 22,5 % bzw. 17,2 % richtig beantwortet, also mit weniger als der Zufallswahrscheinlichkeit von 25 %.

Aber auch die 16 «Senior Educators» an der Charité erzielten nur eine Quote von 75 % richtigen Antworten bei einer Zufallswahrscheinlichkeit von 1:4 oder 25 %. Die Studienautoren folgerten, dass sowohl Studierende als auch erfahrenes Lehrpersonal an dieser Universität Schwierigkeiten hatten mit der Anwendung des Bayes-Theorems für die Bestimmung des positiven prädiktiven Werts diagnostischer Tests und mit wichtigen Screening-bezogenen Konzepten.

4.7.4 Ziele von Tests

Die Anwendung diagnostischer Tests ist kein Selbstzweck, sondern dient der Unterstützung von Entscheiden durch die Bereitstellung relevanter Informationen. Eine klare Vorstellung vom Ziel einer Testdurchführung – also eine definierte Fragestellung – ist entscheidende Voraussetzung für ein sinnvolles Vorgehen. Dabei muss grundsätzlich unterschieden werden zwischen Diagnostik, Screening und Surveillance (vgl. CDC 2021).

Diagnostik dient der Bestätigung oder dem Ausschluss einer SARS-CoV-2-Infektion bei einem Individuum, das zum Beispiel eine verdächtige Symptomatik zeigt oder das in engem Kontakt mit infizierten oder unter Infektionsverdacht stehenden Personen stand.

Screening dient der Identifikation infizierter Personen, bei denen kein spezieller Verdacht auf eine SARS-CoiV-2-Infektion besteht, also weder Symptome vorliegen noch ein Kontakt mit dem Erreger bekannt ist. Ziel von Screening-Massnahmen ist insbesondere die Aufdeckung unbekannter, asymptomatischer Fälle, um die Weiterverbreitung des Virus durch diese zu unterbinden. Typische Beispiele sind Tests am Arbeitsplatz, in Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, in Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten, oder bei Reiserückkehrern aus Risikogebieten.

Surveillance (oder «Public Health Surveillance») dient der systematischen Datensammlung und -analyse zum Zweck der epidemiologischen Forschung und der Ableitung und Evaluation von Massnahmen der Pandemiebekämpfung (vgl. Thacker und Birkhead 2008). Ziele sind das Erkennen von Trends, Abschätzung der Dimension des Problems, Monitoring von Varianten (Auftreten, Häufigkeit, Infektiosität, Pathogenität, Resistenzen und «Immune Escape», usw.), Messung der Wirksamkeit von Interventionen und Programmen zur Bekämpfung der Pandemie (Vandenberg et al. 2020).

Public Health Surveillance findet auf der Populationsebene statt und dient nicht (oder jedenfalls nicht direkt) individuellen diagnostischen oder therapeutischen Entscheiden. Datensammlung und -analyse im Rahmen epidemiologischer Forschung wird im Regelfall in anonymisierter oder pseudonymisierter Form durchgeführt.

4.7.5 Verfügbare Tests auf SARS-CoV-2-Infektion

Grundsätzlich stehen Tests zur Verfügung, die auf dem Nachweis des Virus oder typischer Bestandteile desselben beruhen (Antigen-Tests) oder die Abwehrreaktion des infizierten Organismus erfassen (Antikörper-Tests).

Zum direkten Virusnachweis geeignet sind Antigentests, molekularbiologische PCR- oder Nukleinsäure-Amplifikations-Tests (NAATs) und die SARS-CoV-2-Genomsequenzierung zum Nachweis von Virusvarianten (siehe zum Beispiel Vandenberg et al. 2020; Peeling et al. 2021).

4.7.5.1 Antigentests (überwiegend Schnelltests)

Antigentests («Antigen-Detection Rapid Diagnostic Tests», Ag-RDTs) sind Immunoassays, die Virus-spezifische Proteine in einer Probe nachweisen, die entweder von der Person selbst oder von einer speziell geschulten Fachkraft (zum Beispiel in einer Apotheke) aus der Nase oder (besser) aus dem Nasen-Rachen-Raum («nasopharyngeal») entnommen wird. Sie sind demzufolge im Regelfall für die «Point-of-Care» («PoC»)-Anwendung geeignet. Wird die Probe, deren Entnahme als unangenehm empfunden wird, nicht ordnungsgemäss gewonnen, kann der Test falschnegativ ausfallen; das heisst, dass aufgrund eines typischen präanalytischen Fehlers die diagnostische Verlässlichkeit statistisch schlechter ausfallen wird als die analytische Validität der Schnelltests das ermöglichen würde. Das gilt besonders für Selbsttests, deren Kosten in der Schweiz vom Bund folgerichtig nicht übernommen werden.

Die meisten Schnelltests bestehen aus Teststreifen, auf denen sich an zwei Stellen Antikörper befinden; an einer Stelle gegen Proteine des Virus, an einer zweiten Stelle zur Kontrolle der Funktion des Tests Proteine der normalen Schleimhaut. Es ist möglich (und wurde am Beispiel der «Omikron-Variante» des SARS-CoV-2-Virus von einer Genfer Arbeitsgruppe belegt; vgl. Bekliz et al. 2021), dass verschiedene Mutanten des Virus unterschiedlich gut erkannt werden.

Antigen-Schnelltests haben den Vorteil, dass sie vergleichsweise kostengünstig sind (zum Zeitpunkt des Abschlusses der Recherchen für diesen Text bestehende Regelungen zur Kostenübernahme waren in einem BAG Faktenblatt vom 18. Dezember 2021 zusammengefasst; siehe dort) und ein Testergebnis innert 15 bis 30 min liefern.

Im Rahmen der «Nationalen Teststrategie SARS-CoV-2», die vom BAG seit dem Beginn der Pandemie fortlaufend angepasst wurde, um die jeweils aktuelle epidemiologische Lage und die Verfügbarkeit geeigneter Analyse-Methoden zu reflektieren, übernahm der Bund zum Zeitpunkt der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit mit dem Jahresanfang 2022 nur die Kosten für SARS-CoV-2-Schnelltests zur Fachanwendung, die in der EU für die Ausstellung des digitalen COVID-Zertifikats zugelassen und auf einer «White List» des BAG namentlich aufgeführt sind, nicht aber für Selbsttests (BAG «Faktenblatt» vom 18. Dezember 2021).

4.7.5.2 Molekularbiologische Nukleinsäure-Amplifikations-Tests (NAATs)

Nukleinsäure-Amplifikations-Tests (Nucleic Acid Amplification Tests, NAATs) beruhen auf molekularbiologischen Verfahren, die durch die Vermehrung auch kleinster Mengen von Nukleinsäuren (DNA oder RNA) den Nachweis der Erbsubstanz von Pathogenen erlauben, im Fall von COVID-19 des SARS-CoV-2-Virus. Die wichtigste Methode ist die Polymerase-Kettenreaktion (Polymerase Chain Reaction, PCR), mit der sich mit flankierenden «Primern» (Oligonukleotiden) definierte DNA-Abschnitte mittels sich zyklisch wiederholender Replikation in vitro automatisiert exponentiell vervielfältigen lassen. Nach erfolgter Amplifikation können die PCR-Produkte aufgereinigt und analysiert werden. Zu den wichtigsten Weiterentwicklungen und Varianten der klassischen PCR-Reaktion zählen die Realtime-PCR, Multiplex-PCR und die RT-PCR.

Nachdem es sich bei SARS-CoV-2 um ein RNA-Virus handelt, muss das virale Genom zunächst in sein DNA-Komplement transkribiert werden, welches dann mit den üblichen PCR-Assays detektiert werden kann. Genau dies leistet das Reverse Transkriptase-PCR- («Reverse Transcriptase»-, kurz RT-) PCR-Verfahren. Nach Isolierung der mRNA wird diese mittels des Enzyms reverse Transkriptase in komplementäre cDNA umgeschrieben, die dann als Matrize in die eigentliche PCR-Reaktion eingesetzt werden kann, unter Verwendung von Primern, die spezifisch für die gesuchte Zielsequenz sind.

Realtime- oder [Quantitative] Echtzeit-PCR (auch «qPCR») ermöglicht durch den Einsatz von Fluoreszenz-markierten Sonden und Kalibratoren eine Quantifizierung des PCR-Produkts, was im Fall der SARS-CoV-2-Diagnostik in Kombination mit dem RT-PCR-Verfahren eine näherungsweise Bestimmung der «Viruslast» erlaubt und deshalb für Abschätzungen der Infektiosität verwendet wird. Das ist deshalb von Bedeutung, weil das PCR-Verfahren so sensitiv ist, dass damit nicht nur das Erbgut von vermehrungsfähigen Viruspartikeln, sondern auch das Vorhandensein von RNA von gar nicht mehr vermehrungsfähigen Viren nachgewiesen werden kann.

Bei einem typischen PCR-Test auf SARS-CoV-2 wird dieses «RT-qPCR»-Verfahren eingesetzt. Das Viruserbgut aus einer Probe, wie einem Rachenabstrich, wird dann also in einen DNA-Doppelstrang transkribiert und in wiederholten Replikationszyklen vermehrt. Mit jedem PCR-Zyklus verdoppelt sich die Zahl der DNA-Stränge. Nutzt man zur Markierung SARS-CoV-2-spezifischer Gensequenzen exakt «passende» fluoreszierende Signalmoleküle, dann nimmt mit der Zahl der spezifischen cDNA-Stränge auch das Fluoreszenzsignal zu. Die Zahl von Zyklen, ab der das Signal messbar wird, wird als «Cycle Threshold» (oder Schwellenwertzyklus) oder Ct-Wert bezeichnet. Je grösser der Ct-Wert, desto geringer ist folglich die «Viruslast» und damit ceteris paribus die Infektiosität. Ein hoher Ct-Wert bedeutet aber nicht immer, dass ein Patient eine geringe Viruslast im Nasopharynx aufweist. Ausser einer schwachen, erst beginnenden oder bereits abklingenden Infektion kann insbesondere auch eine suboptimale Probenentnahme Ursache eines hohen Ct-Werts sein. Weitere Faktoren wie zum Beispiel unterschiedliche Kontagiosität der verschiedenen Virusvarianten, unterschiedliche PCR-Verfahren in verschiedenen Laboratorien und damit verknüpfte Herausforderungen hinsichtlich einer Standardisierung erschweren die Ermittlung von belastbaren allgemeingültigen Cutoff-Werten (Gressner und Arndt 2019; Rao et al. 2020a, b; Vandenberg et al. 2020; Engelmann et al. 2021; Stang et al. 2021; u. a. m.).

Grundsätzlich sind RT-qPCR-AssaysFootnote 10 zutreffender als semiquantitativ denn als «quantitativ» zu charakterisieren; sie waren ursprünglich als qualitative (dichotome oder «Ja/Nein»-) Tests konzipiert. Es ist vor allem nicht eindeutig, ab welchem Wert keine relevante Infektiosität mehr gegeben ist. Inka Engelmann und ein Team von Wissenschaftlern der Universitäten Lille und Aix-Marseille in Frankreich (2021) nennen einen Cutoff-Wert von 34 und zitieren weitere Studien, denen zufolge bei Ct-Werten über 35 in geeigneten Zellkulturen klinische Isolate nurmehr in weniger als 8 % zytopathische Effekte verursachten. Das Nationale Zentrum für Infektionsprävention (Swissnoso) hat sich in einer «Entscheidunghilfe zu diagnostischen Methoden für COVID-19-Infektionen in der Akutversorgung (Version 2, Stand 18. Mai 2021)» der Empfehlung eines Cutoff von ≥35 («sehr niedrige Viruslast») angeschlossen; demzufolge sind aus derzeitiger Sicht nur Ct-Werte unter 35 mit Blick auf das Infektionsrisiko als richtig-positiv («true positive») einzustufen.

Bei an COVID-19 erkrankten Patienten wurde ein prognostischer Zusammenhang gefunden zwischen niedrigeren Ct-Werten und einem ungünstigen Krankheitsverlauf, etwa vermehrter Notwendigkeit intensivmedizinischer Versorgung, längeren stationären Aufenthalten und höherer Kurzzeitmortalität (Rajyalakshmi et al. 2021; u. a. m.). In einer retrospektiven klinischen Studie (von im März 2020 SARS-CoV-2-infizierten Patienten aus dem Referenzlabor des Amedeo di Savoia-Spitals an der Universität Turin im Piemont, Norditalien) unterteilten Mattia Trunfio und Kollegen (2021) 200 COVID-19-Patienten in drei Gruppen anhand des Ct-Werts in nasopharyngealen Proben, die zum Zeitpunkt der Diagnosestellung und maximal fünf Tage nach Symptombeginn gewonnen wurden. Sie definierten die Gruppen wie folgt: Gruppe A mit einem Ct-Wert ≤20 (Median, 18,9; n = 55), Gruppe B mit 20 < Ct ≤ 28 (Median 22,9; n = 55); Gruppe C mit Ct >28 (Median 34,0; n = 90). Die Gruppen unterschieden sich in Krankheitsschwere (Irrtumswahrscheinlichkeit von p = 0,023), Mortalität (p = 0,023), Zahl der Symptome (p < 0,01) und den Langzeit-Outcomes nach sechs Monaten (p < 0,01) auch nach Confounder-Kontrolle (untersuchte intervenierende Variablen oder «Confounder» waren Alter, Geschlecht, Zahl der Begleiterkrankungen bzw. Komorbidität, sowie Zeit zwischen Symptombeginn bis Probenentnahme) in einer multivariaten Analyse statistisch signifikant, mit durchgängig schlechteren Outcomes bei niedrigeren Ct-Werten (und p = 0,022 in der linearen Regression; Trunfio et al. 2021). Bei der Interpretation dieser interessanten Ergebnisse ist zu beachten, dass sich die Situation abhängig von der jeweiligen Virusvariante und ihrer Pathogenität wie auch beispielsweise der Immunkompetenz der Infizierten erheblich unterscheiden kann.

Damit hängt die Interpretation und die Aussagekraft der Ct-Werte von zahlreichen Parametern ab – darunter nicht zuletzt, wie bereits eingangs betont, die konkrete Fragestellung, also das mit der RT-qPCR-Diagnostik verfolgte Ziel: sollen Infektionsketten unterbrochen werden (Übertragbarkeit?); soll eine Aussage zur Prognose einer individuellen COVID-19-Erkrankung getroffen werden; oder soll – und gegebenenfalls aus welchem Anlass – eine Infektion nachgewiesen bzw. ausgeschlossen werden?

Eine weitere vielversprechende Option – wenn auch in der Systematik der vorliegenden Arbeit mit Blick auf eine Routineanwendung vorläufig noch den Zukunftspotenzialen zuzuordnen – stellt der Einsatz von Multiplex-PCR-Techniken dar, die ihren Nutzen in der Erregerdiagnostik bei Blutstrominfektionen bereits unter Beweis stellen (vgl. die Abschnitte zu «Infektiologie/Sepsis», 4.6.11 und 5.5.2). Multiplex-PCR-Techniken beruhen auf der Kombination zahlreicher Einzel-PCR-Reaktionen zu einem einzigen gemeinsamen Reaktionsansatz. Dafür müssen nicht mehr unterschiedlich lange DNA-Fragmente amplifiziert werden, die danach elektrophoretisch differenziert werden; vielmehr kann eine Multiplex-PCR auch als («Real Time»-) qPCR unter Einsatz von unterschiedlich fluoreszenzmarkierten Gensonden erfolgen. Auf diese Weise können Multiplex-Panel-Tests zu definierten, bei Atemwegsinfektionen differenzialdiagnostisch relevanten Erregern (neben SARS-CoV-2 beispielsweise Adeno-, Rhino- und andere Coronaviren; Influenza A- und B-Viren; respiratorische Synzytialviren, RSVs) zusammengestellt werden, die eine schnelle und perspektivisch sogar am «Point-of-Care» patientennah erfolgende diagnostische Abklärung ermöglichen (vgl. Gressner und Arndt 2019; Vandenberg et al. 2020).

Die Turn-Around-Zeiten der SARS-CoV-2-PCR-Diagnostik betrugen zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung auf Hochdurchsatzsystemen üblicherweise vier bis sechs Stunden, jedoch konnten sie teilweise bereits bis auf unter zwei Stunden – bei sehr beschränktem Durchsatz sogar eine Stunde – gesenkt werden. In der Praxis ist die Skalierbarkeit der molekularen Testung per se begrenzt und es besteht ein Trade-Off zwischen Effizienzgewinnen durch grössere Batches und der Wartezeit bis zur Verfügbarkeit der Testergebnisse, was zu einer strukturellen Begünstigung grosser Laboreinheiten führt. Die hohe Sensitivität und Spezifität der PCR-Tests machen die molekularbiologischen Verfahren zum gegenwärtigen Goldstandard für die Detektion einer SARS-CoV-2-Infektion (vgl. zum Beispiel Vandenburg et al. 2020; Peeling et al. 2021; u. a.).

Im Rahmen der mit Januar 2022 gültigen Version der «Nationalen Teststrategie SARS-CoV-2» des BAG wurden molekularbiologische Analysen vom Bund unter grosszügig definierten Voraussetzungen mit einem dynamischen Tarif vergütet, der mit Jahresanfang 2022 bei steigender Anzahl durchgeführter Analysen von 82,00 CHF bis auf 64,00 CHF sank. Zum Vergleich werden für einen immunologischen Antigentest (und zwar gleichermassen für Schnelltests als auch für automatisierte Tests in professionellen Labors) bei gegebener Indikation 6,00 CHF vergütet. In beiden Fällen kommen weitere Kosten im Rahmen der Prä- und Postanalytik hinzu, vor allem Probenentnahme, Überwachung derselben, ausführliches Arzt-Patientengespräch (vgl. Pandemietarif 351; BAG 2021; auch FMH 2021). Die Kosten der Durchführung einer molekularbiologischen Bestätigungsanalyse nach einem negativen Ergebnis eines Schnelltests wurden vom Bund nicht übernommen, im Unterschied zu PCR-Bestätigungstests nach einem positiven Antigentest (BAG Faktenblatt vom 18. Dezember 2021).

Pooling: Die Sensitivität der molekularbiologischen PCR-Methoden erlaubt die Durchführung gepoolter Test, zum Beispiel von Speichelproben einer grösseren Gruppe von symptomlosen Personen etwa in Gesundheitseinrichtungen, Betrieben, Vereinen oder Schulen mit dem Ziel der frühzeitigen Entdeckung von möglicherweise ansteckenden Personen. Das ermöglicht Effizienzgewinne insbesondere bei repetitiven Tests zur Prävention lokaler Ausbrüche; auf ein positives Testergebnis muss eine Bestätigungsanalyse mittels Einzel-PCR oder laut aktueller BAG-Empfehlung alternativ eines Schnelltests zur Fachanwendung folgen.

4.7.5.3 Sequenzierung

Grundsätzlich war die partielle oder vollständige Genomsequenzierung von SARS-CoV-2 als Alternative oder Ergänzung zu einer molekularbiologischen Mutationsanalyse zum Nachweis einer oder mehrerer «besorgniserregender Virusvarianten» («Variants of Concern») nur aus epidemiologischen Fragestellungen (Public Health Surveillance) angezeigt.

Eine Kostenerstattung der Sequenzierung erfolgte in der Schweiz dementsprechend nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen wie etwa bei begründetem Verdacht auf das Vorliegen einer Variant of Concern, bei schweren individuellen Verläufen in Spitälern, bei stark immunsupprimierten Patienten und bei auffälligen oder grossen Ausbrüchen. Dann übernahm der Bund die Kosten einer Vollsequenzierung; dabei betrug der Höchstbetrag der Kostenerstattung mit Jahresanfang 2022 197,00 CHF (BAG Faktenblatt vom 18. Dezember 2021).

4.7.5.4 Antikörpertests

Zum Nachweis der Wirtsreaktion auf eine Virusinfektion stehen Antikörpertests zur Verfügung. Sie sind nicht zum Nachweis einer aktiven Infektion geeignet, weil das Immunsystem bis zur Bildung spezifischer Antikörper Zeit braucht. Mit anderen Worten, in der Frühphase der Erkrankung fallen Antikörpertests notwendigerweise falsch-negativ aus. Die mediane Zeit bis zur Serokonversion, also bis zum Auftreten nachweisbarer spezifischer Antikörper, wird auf der Basis von Beobachtungsstudien für IgM-Antikörper mit 5 bis 13 Tagen, für IgG-Antikörper mit 12 bis 14 Tagen nach Symptombeginn berichtet (vgl. Guo et al. 2020; Zhao et al. 2020; Long et al. 2020; Lou et al. 2020; alle zitiert nach Arznei-Telegramm [Anonymus] 2020).

Es stehen unterschiedliche technische Verfahren zur Antikörper-Bestimmung zur Verfügung; nicht alle Fragen jenseits der analytischen Sensitivität und Spezifität der einzelnen Tests können abschliessend beantwortet werden (vgl. Ejazi et al. 2021). Offen waren zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung insbesondere Fragen zum Umfang der Immunität gegen Virusvarianten (Korrelation mit Infektionsrisiko, Übertragungsrisiko, Hospitalisierung, Notwendigkeit intensivmedizinischer Versorgung, Mortalität) und Dauer derselben. Jedoch lassen sich mithilfe von Antikörperbestimmungen in repräsentativen Studien Schätzwerte ableiten zur wahren Prävalenz, wobei unbedingt berücksichtigt werden muss, dass gerade bei niedrigen Prävalenzraten mit einem relativ hohen Anteil falsch-positiver Testergebnisse gerechnet werden muss, selbst wenn die analytischen Eigenschaften der benutzten Testverfahren sehr gut sind (siehe dazu den nachfolgenden Abschn. 4.7.6).

Die Sensitivität der verschiedenen Testverfahren folgt der pathogenetischen Entwicklung und ist deshalb in hohem Mass abhängig vom Stadium der Infektion. Schon vor Symptombeginn ist Virusmaterial nachweisbar mittels molekulargenetischen Tests (PCR) und (weniger sensitiv) mit Immunoassays, was mit den Phasen der Infektiosität korreliert (Abb. 4.37; vgl. hierzu bei Sethuraman et al. 2020). Spezifische Antikörper sind erst später nachweisbar, typischerweise zuerst IgM gefolgt von IgG (siehe oben und Abb. 4.37, nachstehend).

Abb. 4.37
figure 37

Sensitivität der Tests auf SARS-CoV-2 im Zeitverlauf bezogen auf den Zeitpunkt des Symptombeginns. Eigene Darstellung. Die geschätzten Zeitintervalle und Raten des Virusnachweises beruhen auf einer Synthese von Daten aus mehreren Studien; sie sollten als Näherungswerte betrachtet werden; die Wahrscheinlichkeit des Nachweises einer SARS-CoV-2-Infektion wird zu Illustrationszwecken nur schematisch dargestellt

4.7.6 Testeigenschaften und -aussagekraft

Die zentralen labormedizinischen Kenngrössen sind wie folgt definiert (siehe auch Abschn. 3.4):

  • Die analytische Sensitivität beschreibt die Nachweisstärke eines Labortests.

  • Die diagnostische Sensitivität ist die Fähigkeit eines Labortests, möglichst alle Erkrankten zu erfassen.

  • Die analytische Spezifität beschreibt, inwieweit ein Labortest (nur) das misst, was er vorgibt zu messen.

  • Die diagnostische Spezifität ist die Fähigkeit eines Labortests, gezielt ein Krankheitsbild zu erfassen und somit Fehlzuordnungen gering zu halten.

4.7.6.1 Sensitivität und Spezifität

Die analytische Sensitivität und Spezifität sind keine absoluten Grössen, sondern abhängig von den Eigenschaften eines Tests und dem festgelegten Cutoff-Wert (manchmal auch als «Testtrennwert» bezeichnet) für die Unterscheidung von «positiven» versus «negativen» Testergebnissen. Erst mit dem Cutoff-Wert wird also ein positives Testergebnis definiert.

Häufig liefern Tests kein dichotomes («Ja/Nein»-) Ergebnis, sondern einen kontinuierlichen Messwert. Die Wahrscheinlichkeit eines als positiv oder negativ interpretierten Testergebnisses ist dann abhängig von den Verteilungen oder «Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen» der Resultate (a) bei Vorliegen der Erkrankung bzw. Infektion und (b) bei Nichtvorliegen der Erkrankung bzw. Infektion und vom festgelegten Cutoff (siehe Abb. 4.38).

Abb. 4.38
figure 38

Verteilung von Testergebnissen. Eigene Darstellung. Schematische Wahrscheinlichkeitsdichtefunktionen bei Erkrankung/Infektion (oben) und bei Nichterkrankung/Nichtinfektion (unten). Verschiebt man den Cutoff-Wert (1, gestrichelte Linie) nach rechts (2, gepunktete Linie), dann verändern sich dementsprechend die Anteile der richtig-positiven Ergebnisse (Spezifität) nach oben und der richtig-negativen Ergebnisse (Sensitivität) nach unten

4.7.6.2 Receiver Operating Characteristic- oder ROC-Kurve

Die analytische Genauigkeit oder Güte eines Tests kann daran bemessen werden, wie sicher er zwischen richtigpositiven und falschpositiven Ergebnissen zu trennen vermag. Dieses Prinzip liegt der Konstruktion von «Receiver Operating Characteristic» (ROC)-Kurven zugrunde, für die Paare von Sensitivität und Spezifität, die sich aus unterschiedlichen Schwellenwerten (Cutoffs) ergeben, in einem x,y-Koordinatensystem von links unten (Wertepaar 0,0) nach rechts oben (Wertepaar 1,1) eingetragen werden (Abb. 4.39).

Abb. 4.39
figure 39

Receiver Operating Characteristic- (ROC-) Kurve. Skizze einer ROC-Kurve basierend auf Messwerten eines diagnostischen Tests im Vergleich zu einem Goldstandard. vertikal: Sensitivität oder Rate richtigpositiver Befunde; horizontal, 1 minus Spezifität oder Rate falschpositiver Befunde. Ein idealer Test würde perfekte Sensitivität und perfekte Spezifität vereinen und damit eine rektanguläre «Kurve» durch die linke obere Ecke des Diagramms beschreiben; Ein hypothetischer Test ohne jegliche Aussagekraft (stets gleich hohe Rate richtig- und falschpositiver Befunde) würde eine Linie von links unten (0,0) nach rechts oben (1,1) beschreiben und hätte eine Area under the Curve (AUC) von 0,5; ein idealer Test hätte eine AUC von 1,0. Allgemein gilt, dass ein Test umso besser ist, je grösser seine AUC in der ROC-Analyse ausfällt

Dabei gilt die Konvention, auf der x-Achse die abnehmende Spezifität (also «1 minus Spezifität» oder Rate der falschpositiven Befunde) und auf der y-Achse die zunehmende Sensitivität (Rate der richtigpositiven Befunde) abzutragen.

Die Bezeichnung Receiver Operating Characteristic- oder ROC-Kurve hängt mit der Herkunft des Konzepts aus der Militärforschung im Zweiten Weltkrieg zusammen, als es für die Analyse der Signale von Radarempfängern entwickelt wurde. Es galt dem Ziel, zwischen positiven Signalen und blossem Rauschen zu differenzieren (vgl. Peterson et al. 1954; Altman und Bland 1994).

Wenn die ROC-Kurve direkt aus den gemessenen Daten ermittelt wird, dann repräsentiert jeder Punkt auf der Kurve einen empirisch ermittelten Cutoff-Wert mit seiner zugehörigen Sensitivität (oder Rate richtigpositiver Befunde, vertikal) und Spezifität (negativ ausgedrückt als Rate falschpositiver Befunde, horizontal) und hat die Gestalt einer Treppenfunktion (Abb. 4.39). Bei mathematischer Interpolation mittels logistischer Regression ergibt sich das Bild einer geglätteten Kurve.

Ein Test ist dann umso besser, je grösser die Area under the Curve (AUC) seiner Wertepaare unter der ROC-Kurve ausfällt; liegt die Kurve eines Tests durchgängig links über der Kurve eines (zweiten) Vergleichstests, dann dominiert er den zweiten, liefert also beständig aussagekräftigere Testergebnisse. ROC-Kurven erlauben somit einen Vergleich von Tests über eine Vielzahl möglicher Grenzwerte hinweg.

4.7.6.3 Cutoff-Wert

Für die Festsetzung des Cutoff-Werts gibt es keine universell richtige, vom Kontext unabhängige Formel. Allgemein gilt, dass es für einen Test, der das Vorliegen einer Erkrankung bestätigen soll, vor allem auf grössere Spezifität ankommt, während beim Screening auf eine okkulte Erkrankung bzw. Infektion ein Grenzwert mit grösserer Sensitivität und vergleichsweise geringerer Spezifität bevorzugt wird. Für epidemiologische Fragestellungen wiederum wird man besonderen Wert darauf legen, dass der gewählte Grenzwert keinen systematischen Fehler («Bias») verursacht.

Zur Bestimmung «optimaler» Cutoff-Werte stehen darüber hinaus verschiedene mathematische und statistische Verfahren zur Verfügung. Ein häufig umgesetzter Vorschlag besteht in der Bestimmung des Punktes, an dem die Sensitivität und die Spezifität gleich hoch sind, weil dann das Produkt beider und infolgedessen die AUC des ROC-Plot maximiert werden. Ein anderer Vorschlag besteht darin, die Summe von Sensitivität und Spezifität zu maximieren, was dem «Youden-Index» (definiert als Sensitivität plus Spezifität minus 1) gleichkommt. Wieder andere Vorschläge beruhen auf dem Bayes-Theorem und nutzen die Bedeutung der Vortest-Wahrscheinlichkeit (oder Prävalenz) für den Vorhersagewert von Testergebnissen (vgl. dazu zum Beispiel Habibzadeh et al. 2016).

4.7.7 Interpretation von Testergebnissen

In der Praxis ist der prognostische Wert von Test- und Diagnoseverfahren von entscheidender Bedeutung. Die prädiktiven Werte (oder auch «Vorhersagewerte») von Testverfahren beschreiben die Wahrscheinlichkeit, dass ein Patient tatsächlich den Zustand (Infektion, Infektiosität, Erkrankung/Stadium, usw.) aufweist, den der Labortest anzeigt (vgl. Köbberling 1991; Knottnerus und Buntinx 2011;siehe Seiten 54 ff.).

4.7.7.1 Prädiktiver Wert

Der positive prädiktive Wert (Positive Predictive Value, PPV) eines diagnostischen Verfahrens gibt die Wahrscheinlichkeit an, wie viele Personen, bei denen ein medizinischer Test positiv ausgefallen ist, auch tatsächlich erkrankt sind (richtig positives Testergebnis). Der positive prädiktive Wert ist abhängig von der Prävalenz einer Erkrankung in der fraglichen Population. Bei einer häufig vorkommenden Krankheit ist die Wahrscheinlichkeit, auch tatsächlich betroffen zu sein, demnach um einiges höher als bei selten vorkommenden Erkrankungen.

Der negative prädiktive Wert (Negative Predictive Value, NPV) gibt an, wie viele Personen, bei denen ein medizinischer Test negativ ausgefallen ist, auch tatsächlich gesund sind (= richtig negatives Testergebnis). Auch dieser hängt von der Prävalenz einer Erkrankung ab. PPV und NPV sind demnach keine konstanten Eigenschaften eines Tests. Bei sinkender Prävalenz der Erkrankung und folglich anteilig weniger tatsächlich Erkrankter innerhalb einer Untersuchungspopulation steigt die Wahrscheinlichkeit bei einem positiven Test, dass dieser ein falsch-positives Ergebnis anzeigt (vgl. Bautsch 2009).

4.7.7.2 Bayes-Theorem

Die Bestimmung der prädiktiven Werte gelingt mit Anwendung des Theorems von Bayes auf einfache Weise, wie sich anhand einer klassischen Vierfeldertafel zeigen lässt (Abb. 4.40; vgl. Gelman et al. 2004).

Abb. 4.40
figure 40

Vierfeldertafel. Während die vertikalen Spalten die Testeigenschaften (Sensitivität, Spezifität) abbilden, wird die klinische Fragestellung in den horizontalen Zeilen reflektiert: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer Krankheit, wenn ein Test positiv ausgefallen ist? PPV = a/(a + b). Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem negativen Testergebnis die Erkrankung tatsächlich nicht vorliegt? NPV = d/(c + d)

Das Bayes-Theorem (oder der «Satz von Bayes») behandelt ein dem Grunde nach sehr einfaches, im Alltag aber oft übersehenes Phänomen der Statistik. In der Labormedizin ist das Bayes-Theorem von zentraler Bedeutung für die Interpretation von Testergebnissen.

Bei jedem positiven Testergebnis (zum Beispiel, ein COVID-Schnelltest zeigt eine Infektion an) stellt sich für den Betreffenden (Arzt und Patient) die Frage, ob dieser Befund stimmt und wie sicher er ist – oder anders ausgedrückt, wie wahrscheinlich es ist, dass der Betreffende es tatsächlich mit einer SARS-CoV-2-Infektion zu tun hat.

Die entscheidende Einsicht, welche das Bayes-Theorem für den Umgang mit konditionalen oder bedingten Wahrscheinlichkeiten vermittelt, ist, dass die Wahrscheinlichkeit nach einem positiven Test nicht nur von der Qualität des Tests (also seiner diagnostischen Sensitivität und Spezifität) abhängt, sondern ebenso von der Wahrscheinlichkeit vor dem Test (oder der «Prävalenz» des fraglichen Zustands in der fraglichen Population).

4.7.7.3 Testinterpretation

Die Genauigkeit eines Tests wird durch das Wertepaar Sensitivität und Spezifität beschrieben mit den Definitionen

  • Sensitivität = [a/(a + c)] ×100 % = TP/(TP + FN)

  • Spezifität = [d/(b + d)] × 100 % = TN/(TN + FP)

und a = TP = true positive oder richtigpositiv, b = FP = false positive oder falschpositiv, c = FN = false negative oder falschnegativ und d = TN = true negative oder richtignegativ (Abb. 4.40).

Diese Daten lassen direkt den Schluss auf die Zahl der gesunden und der infizierten Personen mit einem positiven und einem negativen Testergebnis zu: Die Sensitivität sagt aus, wieviel Prozent der Infizierten ein positives Testergebnis haben werden. Die Spezifität sagt aus, wieviel Prozent der Nichtinfizierten tatsächlich ein negatives Testergebnis haben werden.

Die klinische Fragestellung ist demgegenüber genau umgekehrt, denn die Personen mit und ohne Infektion sind gerade nicht bekannt. Bekannt sind stattdessen die Testergebnisse, aus denen auf das tatsächliche Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Zustands geschlossen werden soll.

Hierfür müssen drei Arten von Wahrscheinlichkeiten im Prozess der klinischen Diagnosestellung unterschieden werden,

  • die a priori-Wahrscheinlichkeit (oder «pre-test probability») des fraglichen Zustandes, also die Wahrscheinlichkeit der Diagnose bevor ein diagnostischer Befund oder Testergebnis vorliegt – das entspricht der Prävalenz mit Prev = (a + c)/(a + b + c + d);

  • die konditionalen oder bedingten Wahrscheinlichkeiten, also (a) die Wahrscheinlichkeit, dass ein Befund (ein bestimmtes Testergebnis) in jedem diagnostizierten Fall des infrage stehenden medizinischen Zustandes («Krankheit») beobachtet wird (auch: «Sensitivität» einer diagnostischen Massnahme) und (b) die Wahrscheinlichkeit, dass ein negativer Befund (oder Testergebnis) in jedem Fall des Nichtvorliegens des fraglichen medizinischen Zustands beobachtet wird (auch «Spezifität»);

  • die a posteriori-Wahrscheinlichkeit (oder «post-test probability»), also die Wahrscheinlichkeit einer Diagnose oder eines Zustands nach Vorliegen eines Befundes oder Testergebnisses.

Für die klinische Fragestellung sind ersichtlich die a posteriori-Wahrscheinlichkeiten («Vorhersagewerte» oder «prädiktive Werte»; vgl. Abb. 4.40 oben) entscheidend,

  • Positive Predictive Value (PPV) = [a/(a + b)] × 100 % = TP/(TP+FP);

  • Negative Predictive Value (NPV) = [d/(c + d)] × 100 % = TN/(TN+FN)

mit a = TP = true positive oder richtigpositiv, b = FP = false positive oder falschpositiv, c = FN = false negative oder falschnegativ und d = TN = true negative oder richtignegativ.

Durch einfache Umformungen gelangt man zu

  1. (1)

    PPV (Positive Predictive Value D+ [of a positive test result T+]):

    $$ p\left({D}_{+}|T+\right)=\frac{\left( Sensititvit\ddot{a}t\right)\bullet \left(\Pr \ddot{a} valenz\right)}{\left( Sensitivit\ddot{a}t\bullet \Pr \ddot{a} valenz\right)+\left(1-\Pr \ddot{a} valenz\right)\bullet \left(1- Spezifit\ddot{a}t\right)} $$

und

  1. (2)

    NPV (Negative Predictive Value D- [of a negative test result T-]):

    $$ p\left({D}_{-}|T-\right)=\frac{\left( Spezifit\ddot{a}t\right)\bullet \left(1-\Pr \ddot{a} valenz\right)}{Spezifit\ddot{a}t\bullet \left(1-\Pr \ddot{a} valenz\right)+\left(1- Sensitivit\ddot{a}t\right)\bullet \Pr \ddot{a} valenz} $$

sowie

  1. (3)

    Diagnosewahrscheinlichkeit trotz negativem Test T-

    (Probability of Diagnosis D+ [after negative test])

    $$ p\left({D}_{+}|T-\right)=\frac{\left(\Pr \ddot{a} valenz\right)\bullet \left(1- Sensitivit\ddot{a}t\right)}{\Pr \ddot{a} valenz\bullet \left(1- Sensitivit\ddot{a}t\right)+\left(1-\Pr \ddot{a} valenz\right)\bullet \left( Spezifit\ddot{a}t\right)} $$

Sowohl der positive als auch der negative prädiktive Wert (PPV und NPV) gehen immer von einer für die betrachtete Stichprobe vorgegebenen Prävalenz bzw. Prätest-Wahrscheinlichkeit aus. Die stets notwendige Neuberechnung von PPV und NPV bei anderen Prävalenzraten in einer bestimmten Population kann rechnerisch unter Zuhilfenahme von Likelihood Ratios elegant umgangen werden (siehe dazu auch Abschn. 3.4), man kann dann mit der individuellen a priori-Wahrscheinlichkeit (gestützt auf Prävalenz und moduliert zum Beispiel durch Anamnese, Symptome usw.) «spielen».

Entscheidend für die Interpretation von Testergebnissen ist die Einsicht, dass der Vorhersagewert eines Testergebnisses von der Vortest-Wahrscheinlichkeit und damit der Prävalenz beeinflusst wird, und zwar in der Weise, dass mit steigender Prävalenz der PPV zunimmt und der NPV abnimmt. Daraus mussten sich unmittelbare Konsequenzen ergeben für die Veranlassung und die Interpretation von Testergebnissen im Rahmen des Management der COVID-19-Pandemie.

4.7.8 SARS-CoV-2-Testergebnisse in der Pandemie

Wenn, wie soeben abstrakt gezeigt, die Prävalenz in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt einen grossen Einfluss auf den Vorhersagewert von Tests hat, dann erscheint es sinnvoll, bestimmte typische Situationen zu unterscheiden. Nachfolgend sollen zum Zweck der Illustration mehrere plausible Szenarien betrachtet werden für

  • (1) die Allgemeinbevölkerung ohne Symptome oder Risikokontakte,

  • (2) symptomfreie Personen mit Risikokontakten (zum Beispiel medizinisches Personal);

  • (3) Personen mit COVID-19-typischen Symptomen.

Für jede der drei Gruppen betrachten wir die prädiktiven Werte für hypothetische Tests mit

  • (a) einer klinischen SensitivitätFootnote 11 von 60 % und einer Spezifität von 97 % wie für Antigen-Schnelltests unter Alltagsbedingungen angenommen (Seifried et al. 2021) und näherungsweise in einer asymptomatischen Stichprobe in Spanien beschrieben (Fernandez-Montero et al. 2021);

  • (b) einer (analytischen) Sensitivität von 80 % und einer Spezifität von 97 % wie von der WHO für Antigen-Schnelltests gefordert (WHO 2020b, c);

  • (c) einer klinischen Sensitivität von 80 % und einer Spezifität von 99 % (wie für den Roche-Antigentest in einer Risikogruppe mit engen Kontakten zu Infizierten oder milden Symptomen in Spanien beschrieben; Fernandez-Montero et al. 2021);

  • (d) einer Sensitivität von 98 % und einer Spezifität von 99 % (wie für korrekt durchgeführte PCR-Tests mindestens zu erwarten); ohne eine weitergehende Berücksichtigung des Ct-Wertes als einem wahrscheinlichen Prädiktor der Infektiosität über den in den Laboratorien etablierten Cutoff-Wert für die Ja/Nein-Entscheidung bezüglich des Vorliegens einer Infektion hinaus.

In einem weiteren Szenario könnte man analysieren, wie sich ein rationales Pandemie-Management im Lichte neuerer Befunde zum Ct-Wert fortentwickeln könnte. Bei hinreichend sicherem Wegfall der Infektiosität bestünde beispielsweise keine Notwendigkeit der Isolation, der Quarantäne und der Kontaktnachverfolgung mehr. Dies käme einem höheren Anteil von mit den üblichen PCR-Tests – bezogen auf den Endpunkt «Infektiosität» – falschpositiv getesteter Personen gleich, was die Zahlenverhältnisse deutlich verschieben müsste. An dieser zunächst – zum Zeitpunkt des Endes Recherchen im ersten Quartal 2022 – noch spekulativen Betrachtung, die hier wegen ihres hypothetischen Charakters nicht durchgerechnet wurde, lässt sich die Notwendigkeit eng verzahnter labormedizinischer und epidemiologischer Forschung ebenso ablesen wie ihr absehbarer Nutzen, sobald eine Translation der Erkenntnisse über die diagnostische und prognostische Bedeutung von Ct-Werten und ihre Verlässlichkeit in ein effizienteres Pandemie-Management möglich wird.

Grundsätzlich dienen alle Szenarien ausschliesslich der Illustration der mathematischen bzw. statistischen Beziehungen zwischen den drei Schlüsselvariablen Sensitivität, Spezifität und Prävalenz. Weitere Faktoren wie Qualität der Probenentnahme und generell Präanalytik, einschliesslich Zeitpunkt der Probenentnahme und ihr Einfluss auf die Viruslast, die Rolle von Nachweisbarkeitsschwellen («Limits of Detection»), das Auftreten neuer Mutanten des Virus u. ä. m. bleiben ausgeklammert, sind aber in der Praxis von unter Umständen hoher Relevanz. Gleiches gilt für Kontextvariablen wie die Verfügbarkeit von Tests, ihre Turn-Around-Zeiten und durchaus auch die mit den Teststrategien verbundenen Kosten.

4.7.8.1 Szenario zur Situation in der Allgemeinbevölkerung

ohne Krankheitssymptome und ohne Risikokontakte mit einer angenommenen wahren Prävalenz von 0,5 %

Bei einer wahren Prävalenz von 0,5 % ergeben sich die Werte in Tab. 4.49 in Abhängigkeit von der angenommenen Sensitivität («Sens») und Spezifität («Spec») der vier nicht ganz hypothetischen Tests a bis d (a, 60 % Sens/97 % Spec wie für viele Antigen-Schnelltests – insbes. Selbsttests – unter Alltagsbedingungen zu erwarten, wie auch für den Roche-Antigen-Schnelltest bei einer asymptomatischen Stichprobe in Spanien beschrieben; b, 80 % Sens/97 % Spec wie von der WHO für Schnelltests gefordert; c, 80 % Sens/99 % Spec wie für den Roche-Schnelltest in einer Stichprobe mit erhöhtem Risiko gefunden; d, 98 % Sens/99 % Spec, wie von PCR-Tests vermutlich übertroffen.

Tab. 4.49 Vorhersagewert von Testergebnissen: Szenario «Symptomfreie Allgemeinbevölkerung»; Angenommene Prävalenz 0,5 %. TP, FP, FN, TN: absolute Zahlen von richtigpositiven (TP), falschpositiven (FP), falschnegativen (FN) und richtignegativen (TN) Fällen in einer Kohorte von 10.000 Personen. a, b, c, d beziehen sich auf die vier Felder der Vierfeldertafel in Abb. 4.40 (oben). Sens, Sensitivität; Spec, Spezifität; hypothetisch zugeordnete Tests: AgT-1, Antigen-Schnelltest im Alltag; WHI, WHO-Empfehlung für Antigen-Schnelltests; AgT-2, Antigen-Schnelltest Roche; PCR-T, PCR-Test in der Routineanwendung [ohne differenzierte Berücksichtigung des Ct-Werts]. PPV, positiver Vorhersage wert (positive predictive value); NPV, negativer Vorhersagewert (negative predictive value)

Die prädiktiven Werte (NPVs) zeigen für den Zeitpunkt der Testung eine grosse Sicherheit bei einem negativen Testergebnis; falschnegative Befunde sind bei korrekter Testdurchführung in dieser Situation auch mit gewöhnlichen Antigen-Schnelltests ausserordentlich selten. Dagegen weist die hohe Zahl falschpositiver Fälle mit assoziierten prädiktiv-positiven Werten von bestenfalls um 30 % darauf hin, dass bei einer niedrigen Prävalenz eine anlasslose bevölkerungsweite Testung von sehr eingeschränktem Nutzen ist. Bei Tests mit den von der WHO empfohlenen Eigenschaften müssten 330 bis 340 von 10.000 Personen wegen Infektionsverdacht isoliert und als Verdachtsfall (vgl. dazu Tab. 4.50 und 4.51) in der Folge einem PCR-Bestätigungstest unterzogen werden. Bei 300 oder rund 90 % von ihnen (alle mit einem positiven Schnelltest) würde die Bestätigung einer Infektion misslingen, also nicht positiv ausfallen. In diesen Fällen wären die Isolation und alle damit verbundenen Kosten ebenso wie die Follow-Up-Untersuchungen ohne jeden Nutzen.

Tab. 4.50 Vorhersagewert von Testergebnissen: Szenario «Symptomfreie Risikogruppe mit Exposition»; Angenommene Prävalenz 5,0 %. TP, FP, FN, TN: absolute Zahlen von richtigpositiven (TP), falschpositiven (FP), falschnegativen (FN) und richtignegativen (TN) Fällen in einer Kohorte von 10.000 Personen. Sens, Sensitivität; Spec, Spezifität; hypothetisch zugeordnete Tests: AgT-1, Antigen-Schnelltest im Alltag; WHI, WHO-Empfehlung für Antigen-Schnelltests; AgT-2, Antigen-Schnelltest Roche; PCR-T, PCR-Test in der Routineanwendung [ohne differenzierte Berücksichtigung des Ct-Werts]. PPV, positiver Vorhersage wert (positive predictive value); NPV, negativer Vorhersagewert (negative predictive value)
Tab. 4.51 Vorhersagewert von Testergebnissen: Szenario «Symptomfreie Risikogruppe mit Exposition»; Alternativ angenommene Prävalenz von 10,0 %. Legende wie Tab. 4.49 und 4.50. PPV, positiver Vorhersage wert (positive predictive value); NPV, negativer Vorhersagewert (negative predictive value)

Mit einem guten, fachlich korrekt angewendeten und klinisch validierten immunologischen Schnelltest (hier simuliert als Antigen-Test 2, AgT-2, in Anlehnung an Fernandez-Montero et al. 2021, u. a.) gelänge es immerhin, 80 % der Infizierten zu identifizieren, so dass bei einem negativen Ergebnis nur noch mit 10 unerkannten Fällen zu rechnen wäre; auch die Zahl der falschpositiv getesteten Personen würde um ein Drittel sinken.

Es bleibt angesichts unvollständiger Informationen über die Kostenfolgen letztlich ein gesellschaftlich zu treffender, politischer Entscheid unter Unsicherheit, wie hohe Kosten man angesichts eines begrenzten Nutzens für vertretbar hält oder ob man in dieser Situation regelmässige Testungen auf besonders exponierte Risikogruppen fokussieren will.

Entscheidend für einen rationalen Umgang mit diesen Risiken ist aber in jedem Fall das korrekte Verständnis derselben und die Einsicht, dass ein Testergebnis – natürlich abhängig von den Eigenschaften des jeweiligen Tests – eine vorbestehende Wahrscheinlichkeit zwar verändert, aber nicht aushebeln kann.

4.7.8.2 Szenario zur Situation in einer symptomfreien Risikogruppe

mit einer angenommenen wahren Prävalenz von 5,0 % (oder alternativ einer Prävalenz von 10 %)

Bei einer Risikopopulation, in der von einer Prävalenz der SARS-CoV-2-Infektion von rund fünf Prozent auszugehen ist, wie zum Beispiel bei Personen mit engem Kontakt zu Infizierten oder bei im Gesundheitswesen in der Patientenversorgung oder in der Pflege Tätigen, kann es sinnvoll sein, eine hohe Testsensitivität relativ höher zu gewichten als die Spezifität. Schnelltests mit den von der WHO empfohlenen Eigenschaften wiesen dann immer noch einen hohen (negativen) prädiktiven Wert (NPV) eines negativen Testergebnisses von rund 99 % auf (Tab. 4.50) und ergäben damit bei hinreichend dichter repetitiver Anwendung ein hoch anmutendes Mass an Sicherheit für die negativ Getesteten und die von ihnen betreuten Personen. Zu bedenken ist jedoch auch hier, dass diese Werte stark von weiteren Variablen beeinflusst werden, wie dem Zeitpunkt des Tests, der Dauer der Validität eines negativen Befunds (die sich bei Antigen-Schnelltests auf einige Stunden beschränken kann), der Qualität der Probenentnahme und natürlich der Qualität des konkret verwendeten Tests.

Den rund 500 bis 700 positiv Getesteten müsste dann sinnvollerweise eine Follow-Up-Testung mit einem spezifischeren Test angeboten werden, um vermeidbaren Schaden durch eine unnötige Isolation und Quarantäne von Kontaktpersonen zu vermeiden. Dafür infrage kommen dann, wie hier dargelegt, aus testtheoretischer Sicht ausschliesslich PCR-Tests mit einem hohen negativen Vorhersagewert auch bei Pretest-Wahrscheinlichkeiten in einer Grössenordnung um 50 % (siehe Tab. 4.52, weiter unten).

Tab. 4.52 Vorhersagewert von Testergebnissen: Szenario «Symptomatische Hochrisikogruppe»; Angenommene Prävalenz 50 %. Legende wie Tab. 4.49 und 4.50. PPV, positiver Vorhersage wert (positive predictive value); NPV, negativer Vorhersagewert (negative predictive value)

Alternativ lässt sich das gleiche Szenario mit einer angenommenen Prävalenz von 10 %, also 1000 tatsächlich infizierten Menschen in einer angenommenen Kohorte von 10.000, durchrechnen (siehe Tab. 4.51). Deutlich sichtbar wird beim Vergleich der Werte in den Tab. 4.50 und 4.51 der rasch abnehmende negative prädiktive Wert der Schnelltests mit zunehmender «wahrer» Prävalenz (oder «Prätest-Wahrscheinlichkeit»). Die Prätest-Wahrscheinlichkeit entspricht jener nach einem positiven Schnelltest im vorherigen Szenario «Symptomfreie Allgemeinbevölkerung» bzw. «anlassloses bevölkerungsweites Screening» und zeigt, dass ein verlässliches «Freitesten» nur mit PCR-Tests (mit angesichts der eher konservativen Annahmen bis zu allenfalls 20 falschnegativen Fällen) gelingt, während bei wiederholter Anwendung von immunologischen Schnelltests mit einer dreistelligen Zahl falschnegativer Testergebnisse gerechnet werden müsste (Tab. 4.51).

4.7.8.3 Szenario einer Gruppe mit typischen COVID-19-Symptomen

mit einer angenommenen wahren Prävalenz von 50 %

Das könnte die Situation bei einem lokalen Ausbruch reflektieren oder von Personen in einem Hotspot, die COVID-19-typische Symptome entwickelt haben. Die positiven Vorhersagewerte geben jetzt wenig Anlass zu Sorge (Tab. 4.52), ganz anders als die negativen, die für alle Antigentests erwarten lassen, dass eine vierstellige Anzahl Infizierter unerkannt blieben. Da die Prätest-Wahrscheinlichkeit von zirka 50 % ziemlich gut derjenigen nach einem einfachen positiven Test in einer symptomfreien Risikopopulation entspricht, zeigt das Ergebnis eindrücklich, wie wenig sinnvoll es wäre, nach einem positiven Antigen-Schnelltest ein «Freitesten» mit einem weiteren, diesmal negativen Antigen-Schnelltest vorzusehen. Denn es müsste zu unerkannten positiven Fällen in einer Grössenordnung von 17 bis 30 % der beim zweiten Anlauf negativ getesteten Menschen führen (bei negativen Vorhersagewerten, NPVs, zwischen 70 und 83 %, Tab. 4.52).

Das heisst, anders ausgedrückt, dass ein negatives Antigentest-Ergebnis in dieser Situation in keiner Weise geeignet ist, eine SARS-CoV-2-Infektion auszuschliessen. Das gilt unabhängig von der zeitlichen Begrenzung seiner Aussagekraft und seiner korrekten Durchführung.

Umgekehrt gilt bei anlasslosen Tests, dass ein positiver Antigentest einen Verdacht auf eine SARS-CoV-2-Infektion begründet, aber angesichts der hohen Zahl falschpositiver Befunde bei niedrigen Prävalenzen keinesfalls beweist.

Am ehesten können repetitive Antigentests eine sinnvolle Rolle spielen in Settings mit mittlerem Risiko und grosser Gefahr der Weiterverbreitung, vor allem, wenn davon vulnerable Gruppen betroffen sind. Auch dann stehen sie in Konkurrenz mit gepoolten PCR-Tests, wobei hier weitere Aspekte wie Verfügbarkeit, Turn-Around-Zeiten und Kosteneffektivität ins Spiel kommen.

In jedem Fall bedarf der sachgerechte und zweckmässige Einsatz der zahlreichen labormedizinischen Möglichkeiten neben der Verfügbarkeit ausreichender Ressourcen sorgfältiger Abwägung und damit einem hohen Mass an ärztlicher, speziell diagnostischer, labormedizinischer und epidemiologischer Kompetenz.

4.7.9 Fazit: «Testen – Testen – Testen»

Die Möglichkeiten der Laboratoriumsmedizin in der Infektiologie und damit auch in der Situation der Pandemie haben eine äusserst dynamische Entwicklung erlebt. Intensive Forschung und Entwicklung wird absehbar weitere nutzenstiftende Möglichkeiten hervorbringen. Stellvertretend seien auf die SARS-CoV-2-Pandemie bezogen neben den Techniken zur Sequenzierung des Virusgenoms die Entwicklung verbesserter Point-of-Care- und Multiplex-PCR-Tests ebenso genannt wie die Standardisierung und Qualitätssicherung der Cycle Threshold-Bestimmungen auf der Basis unterschiedlicher RT-qPCR-Plattformen und der parallelen interdisziplinären klinischen und epidemiologischen Forschung zur Ermittlung von belastbaren Referenz- und Grenzwerten für Aussagen zu Prognose und Infektiosität.

Schon heute wäre ein erfolgreiches Pandemie-Management ohne die Verfügbarkeit valider Laboratoriumsdiagnostik undenkbar. Der rationale Einsatz der technologischen Möglichkeiten setzt erkennbar eine kritische Masse labormedizinischer Kompetenz und Ressourcen voraus. Erst recht wird das für innovative Weiter- und Neuentwicklungen und deren Translation in die klinische Praxis zum Nutzen der Schweizer Bevölkerung gelten.

Die Leistungen sowohl der internationalen als auch der Schweizer Labormedizin in der COVID-19-Krise illustrieren nachdrücklich den Wert der Disziplin als einem wissensbasierten Dienstleistungsbereich, der alle Merkmale eines Hochtechnologie-Sektors aufweist.

4.8 Nutzen der Labormedizin: Zwischenfazit

In den vorangegangenen Abschnitten wurde – exemplarisch und ohne jeden Versuch der Vollständigkeit – der klinische (patientenbezogene) und gesellschaftliche (populationsbezogene, das heisst Public Health- und gesundheitsökonomische) Nutzen labordiagnostischer Verfahren in den aufgrund ihres Beitrags zur Krankheitslast der Schweizer Bevölkerung wichtigsten Indikationsgebieten untersucht.Footnote 12 Regelmässig hängt der Nutzen einer Diagnostik von den aus ihr folgenden Konsequenzen ab; vielfach handelt es sich dabei um therapeutische Massnahmen, es können aber beispielsweise auch Public Health-bezogene Interventionen sein.

Die im Rahmen der vorliegenden Studie untersuchten Beispiele decken das gesamte Continuum of Care (vgl. Abb. 4.41, siehe hierzu auch IFCC / Hallworth et al. 2015) ab, von

  • Screening und Risikostratifizierung, zum Beispiel der Erkennung von individuellen genetischen Risiken wie MMR-Genmutationen für die Entwicklung bestimmter Darmkrebserkrankungen (hereditäre nicht-polypöse Kolonkarzinome, HNPCC, oder «Lynch-Syndrom») oder von Keimbahnmutationen (vor allem der BRCA1-, BRCA2-, PALB2-, RAD51C-Gene), die mit hoher Wahrscheinlichkeit das Auftreten einer Brustkrebserkrankung nach sich ziehen;Footnote 13 Einsatz immunologischer Tests auf okkultes Blut im Stuhl (iFOBT) als Teil von Strategien zur Früherkennung und Prävention kolorektaler Karzinome; Hepatitis C-Diagnostik bei Risikogruppen oder sogar bevölkerungsweit im Rahmen einer Strategie zur vollständigen Elimination der Krankheit; Monitoring von Antibiotikaresistenzen (mit ANRESIS) und Prävention Health Care-assoziierter Infektionen (HAIs); Setting-abhängige-Präventionsstrategien mittels PCR-Tests auf Infektion oder Kolonisation mit resistenten Pathogenen (wie MRSA) vor stationärer Aufnahme der Patienten;

    über

  • die verlässliche Diagnostik und Differenzialdiagnostik zum Beispiel der rheumatoiden Arthritis, bei der frühzeitige Diagnose mithilfe des Nachweises hochspezifischer Anti-Citrullinierte-Proteine-Antikörper (ACPA) einen Therapiebeginn vor dem Eintreten irreversibler Erosionen und funktioneller Einschränkungen ermöglicht; Diagnose eines akuten Myokardinfarkts mithilfe Tests auf hochspezifisches kardiales Troponin; kausale Abklärung depressiver Störungen zum Beispiel durch eine Hypothyreose; Diagnose einer lebensbedrohlichen Sepsis einschliesslich Detektion der Erreger und ihrer Therapieempfindlichkeit (s.u.);

    und

  • die Ermöglichung auf molekular definierte Ziele gerichteter Therapien («Targeted Therapies»); zum Beispiel in der Onkologie mittels Tests auf EGFR- oder BRAF-Mutationen wie auch ALK- bzw. ROS1-Genfusionen bei nicht-kleinzelligem Lungenkrebs; auf KRAS-, NRAS- und BRAF-Mutationen und auch auf Mikrosatelliteninstabilität (MSI) bei Darmkrebs, sowie auf Hormon- (Östrogen-, Progesteron-) und vor allem HER2-Rezeptorstatus bei Brustkrebs; aber auch in der Infektiologie mittels Genotypisierung und erforderlichenfalls Resistenzbestimmung der Viren bei Hepatitis C; oder mittels eines ganzen Arsenals an Techniken von Blutkulturen bis zu komplexen molekularbiologischen Multiplex-PCR-Assays zur schnellen Erregerdetektion und Resistenztestung bei Sepsis;

    bis hin zu

  • Steuerung und Erfolgskontrolle von Behandlungen, was im Rahmen des «Therapeutic Drug-Monitoring» (TDM) nicht nur für Arzneimittel mit engem therapeutischen Fenster wie etwa Lithium oder Carbamazepin unverzichtbar ist, sondern auch für andere Neuropsychopharmaka aus den Gruppen der Antidepressiva, der Antipsychotika und der Antikonvulsiva und darüber hinaus für die Therapie der rheumatoiden Arthritis und entzündlicher Darmerkrankungen mit hochpreisigen Biologika nicht nur verbesserte Therapieergebnisse, sondern vielfach sogar Einsparungen verspricht; Bestimmung der Notwendigkeit und vor allem auch der Möglichkeit der idealerweise frühzeitigen Beendigung einer antibiotischen Therapie bei bakteriell verursachter Sepsis mittels Procalcitonin-Bestimmungen; schliesslich dem Monitoring der Therapietreue (oder «Adhärenz»).

Die hier auf ihren Nutzen und wo immer möglich ihre Kosten/Nutzen-Relation geprüften Verfahren repräsentieren nur einen Ausschnitt des breiten Spektrums der labormedizinischen Leistungserbringung. Dennoch lässt ihre Analyse ein klares Muster erkennen: In grosser Regelmässigkeit ist die Labordiagnostik nur für einen kleinen Anteil der direkten medizinischen Kosten verantwortlich. Selbst in der intensivmedizinischen Versorgung von Sepsispatienten, die in hohem Mass von mikrobiologischen, molekularbiologischen und laborchemischen Informationen abhängt, bleibt der gesamte Anteil der Laboruntersuchungen an den medizinischen Kosten unter 15 %. Fast immer erweist sich der leitliniengerechte Einsatz der evaluierten labordiagnostischen Verfahren als kosteneffektiv, nicht selten sogar kostensenkend. Diese Beobachtungen gelten nicht zuletzt auch für neuere, methodisch immer anspruchsvollere, aber auch genauere und schnellere diagnostische Verfahren, deren Entwicklung die Innovationsdynamik der Labormedizin und den von ihr generierten Zusatznutzen eindrücklich belegen.

Abb. 4.41
figure 41

Labordiagnostik im Continuum of Care. Eigene Darstellung