3.1 Flipped Classroom

Das Ziel bei der aus den USA stammenden Unterrichtsmethode „Flipped Classroom“ ist die Erhöhung der aktiven Lernzeit zur Intensivierung von Lerninhalten im Unterricht, indem die sonst fest im Unterricht verankerte Wissensvermittlung auf eine häusliche Vorbereitungsphase ausgelagert wird (Bergmann & Sams, 2012). Typischerweise werden zur Wissensvermittlung Lernvideos eingesetzt, mit denen sich die Lernenden zu Hause asynchron in ihrem individuellen Lerntempo selbstständig mit den fachlichen Inhalten der nächsten Unterrichtsstunde auseinandersetzen. Die in diesem Selbstlernprozess auftretenden Fragen und Probleme gilt es zu Beginn des Unterrichts zu sammeln und zu lösen (Al-Samarraie et al., 2020). Eine gute methodische Möglichkeit stellt dabei der Einsatz einer Think-Pair-Share-Phase (Lyman, 1981) dar, da alle Lernenden aktiviert werden (Think), untereinander in den Austausch kommen (Pair) und so Hemmnisse für eine gemeinsame Diskussion (Share) abgebaut werden können. Im Flipped Classroom kann das emotionale Erleben von Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit in einer besonderen Weise unterstützt werden, was sich nach der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1993) positiv auf ein intrinsisch motiviertes Handeln der Lernenden auswirken kann. Der Grad der Erfüllung dieser drei psychologischen Grundbedürfnisse ist dabei prägend für die Entwicklung intrinsischer Motivation (Klieme & Rakoczy, 2008; Schiefele, 2009).

3.2 Interesse und Interessengenese

In der pädagogischen Interessenforschung stehen Interesse und intrinsische Motivation in einem starken Zusammenhang (Schiefele, 2009). Interesse bezieht sich stets auf eine Interaktion zwischen einer Person und einem spezifischen Gegenstand (Krapp, 2010; Renninger et al., 1992). Durch diese Personen-Gegenstands-Beziehung ist Interesse mit einem subjektiven Erleben assoziiert (Krapp, 1998) und bildet sich vor allem in Handlungen ab, in denen neben dem Wunsch nach Wissenserwerb bzgl. des Interessensgegenstandes (epistemische Tendenz) auch emotionale und wertbezogene Valenzen erfahren werden können (Krapp, 2007). Individuelles Interesse kennzeichnet eine habituelle Handlungsbereitschaft bzw. eine motivationale Disposition und ist in diesem Sinne als ein relativ stabiles und situationsübergreifendes Persönlichkeitsmerkmal zu verstehen (Hartinger, 1997; Krapp, 1998; Krapp & Prenzel, 2011). Der psychische Zustand während einer laufenden Interessenshandlung wird als aktuelles Interesse beschrieben und ist durch eine periphere Leistungsfähigkeit, Ausdauer und emotionale Anteilnahme gekennzeichnet (Krapp, 1992; Krapp & Prenzel, 2011). Aktuelles Interesse, das auf die Interessantheit eines Gegenstandes zurückzuführen ist, wird auch als situationales Interesse bezeichnet.

In der pädagogischen Psychologie gelten Interessen als zentrale motivationale Komponenten und wichtige Bedingungsfaktoren des schulischen Lernens und werden häufig als Prädiktoren der Leistung (Krapp, 1992; Pekrun & Schiefele, 1996) sowie der bewussten Entscheidung von Lernenden für einen schulischen Fächerschwerpunkt angesehen (Abel, 2002; Roeder & Gruehn, 1996). Die Aufrechterhaltung vorhandener und die Entwicklung neuer stabiler und überdauernder individueller Interessen stellen deshalb eigene zentrale Ziele schulischer Bildung dar (Schiefele, 1981, 1986; Wittenmöller-Förster, 1993).

Lernumgebungen sollten in der Folge so gestaltet sein, dass sie eine Interessengenese auf Basis psychologischer Wirkmechanismen unterstützen. Orientierung für eine Transformation vom situationalen zum individuellen Interesse gibt hierbei beispielsweise das Rahmenmodell von Hidi und Renniger (2006), das eine Weiterentwicklung des Drei-Stufen-Modells von Krapp (2002) darstellt. Im Modell sind vier Phasen zu erkennen, die kontinuierlich ineinander übergehen (Abb. 3.1). In Phase 1 geht es um die Auslösung eines situationalen Interesses durch externe „Trigger“ (Catch-Komponenten), beispielsweise durch das Wecken von Neugier oder auch eine kognitive Aktivierung (Hidi & Renninger, 2006). Eine Internalisierung und Identifikation soll in Phase 2 durch externe Prozesse (Hold-Komponenten) initiiert werden, um eine wertbezogene Valenz zum Lerngegenstand aufzubauen. In diesem Zusammenhang gewinnt die Erfüllung der psychologischen Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit immer mehr an Bedeutung (Deci & Ryan, 1993). Auf der nächsten Ebene (Phase 3) setzen sich die Lernenden bereits volitional und intrinsisch motiviert mit einem Gegenstand auseinander und das individuelle Interesse wächst. Sind kognitive, emotionale und wertbezogene Komponenten des Interesses umfangreich ausgebildet, ist die höchste Stufe im Modell erreicht (Phase 4). Die Lernenden entscheiden dann selbst ohne externe Anreize, mit welchen Inhalten sie sich volitional beschäftigen möchten.

Abb. 3.1
figure 1

Vier-Phasen-Modell der Interessenentwicklung nach Hidi und Renninger (2006)

3.3 Beschreibung der Studie

3.3.1 Das Würzburger Flipped-Classroom-Projekt

Im Würzburger Flipped-Classroom-Projekt wurden die Ideen der Unterrichtsmethode (siehe 3.1) auf den Physikunterricht übertragen und das in Abb. 3.2 dargestellte Ablaufschema für eine Unterrichtseinheit abgeleitet.

Abb. 3.2
figure 2

Ablaufschema für eine Unterrichtseinheit im Flipped Classroom (Lutz et al., 2022, CC BY 2.0)

Ausgehend von dem dargestellten Modell (Abb. 3.2) startete 2018 in Würzburg ein Flipped-Classroom-Projekt zwischen den Universitäten Würzburg, Tübingen, Frankfurt und der FU Berlin, um einen forschungsbasierten und praxisorientierten Lehrgang (Design-Based Research) zur E-Lehre im Physikunterricht der Sekundarstufe I zu entwickeln. Neben dem Aufbau eines konzeptionellen Verständnisses war es ein zentrales Ziel, die Interessengenese der Lernenden über die ersten drei Phasen nach Hidi und Renninger (2006) zu unterstützen (Abb. 3.1). Aufbauend auf der bereits in der fachdidaktischen Forschung bewährten Unterrichtskonzeption des Elektronengasmodells (Burde, 2018) wurden unter Berücksichtigung des SAMR-Modells (Puentedura, 2006) sowie weiterer Lerntheorien, wie beispielsweise der Cognitive Load Theory (Sweller et al., 2011), der kognitiven Theorie des multimedialen Lernens (Mayer, 2014) oder auch des integrativen Modells des Text- und Bildverständnisses (Schnotz & Bannert, 2003), neue digitale Unterrichtsmaterialien entwickelt. Jede Lerneinheit beginnt mit einem Lernvideo (nach den Kriterien von Kulgemeyer, 2020), an das sich interaktive Quizfragen und ein zusammenfassender Hefteintrag anschließen. Lernvideos erweisen sich als besonders geeignete Catch-Komponenten, da sie sich positiv auf Aufmerksamkeit, Bedeutungsempfinden und Engagement auswirken können (Hartsell & Yuen, 2006) und so situationales Interesse auslösen können (Phase 1). Durch die asynchrone und individuelle Nutzung der Lernmaterialien erfahren die Lernenden ein hohes Maß an Autonomie, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, da sie selbst entscheiden, wann, wo und wie sie lernen (Phase 2). Die erlebte soziale Eingebundenheit wird durch mehr Gruppenarbeitsphasen im Unterricht gesteigert. Interessierten Schülerinnen und Schülern stehen innerhalb der Lernmaterialien umfangreiche zusätzliche Angebote zur Verfügung, um sich mit einem Thema zu beschäftigen (Phase 3), z. B. zusätzliche Lernvideos, interaktive Bildschirmexperimente oder auch Impulse zum selbstständigen Recherchieren (z. B. zur Funktionsweise eines Thermometers). Weitere Details zur Entwicklung der Unterrichtseinheiten und zu ersten Ergebnissen des Nutzungsverhaltens durch Lernende finden sich bei Lutz et al. (2020, 2022).

3.3.2 Forschungsfragen und Hypothesen

Aus der dargestellten Theorie wird deutlich, dass im Flipped Classroom zentrale Elemente der Interessengenese besonders adressiert werden können. In der Folge lassen sich daraus Unterschiede in der Entwicklung des individuellen Interesses an Physik in Abhängigkeit mit der Unterrichtsmethode vermuten. Neben der Unterrichtsmethode sind auch relevante Kovariaten (Geschlecht, Zweigwahl, Hausaufgabendisziplin, vgl. 3.3.4) in der Analyse zu berücksichtigen. Insgesamt leiten sich für die Erhebung folgende Forschungsfragen und Hypothesen ab:

  1. 1.

    Zeigt sich zu Interventionsbeginn ein Zusammenhang zwischen dem individuellen Interesse und den Kovariaten Geschlecht und Zweigwahl?

    An bayerischen Gymnasien entwickeln die Schülerinnen und Schüler im Fach Natur und Technik erste grundlegende naturwissenschaftliche Kompetenzen und entscheiden sich am Ende der 7. Jgst., ob sie einen Zweig mit naturwissenschaftlicher und technischer Orientierung (\(NTG\)-Zweig) oder mit musischen, sprachlichen bzw. wirtschaftlichen Schwerpunkten (Nicht-NTG-Zweige, kurz \(nNTG\)) einschlagen. Daraus resultiert Hypothese 1.a:

    H 1.a: Schülerinnen und Schüler, die sich bewusst für den naturwissenschaftlichen Schwerpunkt entschieden haben, zeigen ein höheres Interesse am Fach Physik als Schülerinnen und Schüler, die einen nicht naturwissenschaftlichen Schwerpunkt gewählt haben.

    Schülerinnen zeigen im Vergleich zu Schülern häufig ein geringeres Interesse am Fach Physik (Hoffmann et al. 1998). Daraus leitet sich Hypothese 1.b ab:

    H 1.b: Schüler zeigen ein höheres Interesse am Fach Physik als Schülerinnen.

  2. 2.

    Inwieweit prägen die Unterrichtsmethode und die Kovariaten die Veränderung des individuellen Interesses während der Intervention?

    Das Interesse an Physik nimmt bei Schülerinnen und Schülern in der Mittelstufe im Laufe der Schuljahre ab (Hoffmann et al., 1998). Mehrere Studien zeigen, dass bei Schülerinnen im traditionellen Physikunterricht der Rückgang im Interesse stärker ausfällt als bei Schülern, wodurch sich die „Geschlechterschere“ immer weiter öffnet. Im Kontext des Flipped Classroom gibt es empirische Hinweise auf einen Wechselwirkungseffekt zwischen der Unterrichtsmethode und dem Geschlecht bzgl. der Motivationsentwicklung zugunsten von Schülerinnen, die mit der Unterrichtsmethode Flipped Classroom unterrichtet werden (Finkenberg, 2018). Da Interesse als bedingte Ursache für intrinsische Motivation angesehen wird (Schiefele, 2009), folgt Hypothese 2.a:

    H 2.a: Es zeigt sich ein Wechselwirkungseffekt zwischen der Unterrichtsmethode und dem Geschlecht bezüglich der Veränderung des individuellen Interesses während der Intervention.

    Im Flipped Classroom stellen Hausaufgaben für Schülerinnen und Schüler im Sinne des Vier-Phasen-Modells der Interessenentwicklung Catch-Komponenten dar. Daher ist davon auszugehen, dass bei einer hohen Hausaufgabendisziplin die Ausprägung individuellen Interesses begünstigt wird, was zu Hypothese 2.b führt:

    H 2.b: Es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen der Hausaufgabendisziplin und der Interessensentwicklung.

3.3.3 Studiendesign

Physik wird zwar am bayerischen Gymnasium unabhängig von der Zweigwahl in der 8. Jgst. unterrichtet. Aber im NTG-Zweig steht den Schülerinnen und Schülern pro Woche eine zusätzliche Physik-Unterrichtsstunde zur Verfügung. Diese Stunden dienen der experimentellen und eigenständigen Auseinandersetzung mit physikalischen Inhalten. Im Sinne der Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan, 1993) lassen sich dadurch die psychologischen Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit besonders fördern. Zur Berücksichtigung dieser heterogenen Gruppen untersuchen wir die Forschungsfragen in einem Zweigruppenmodell in Abhängigkeit der Zweigwahl.

Im Rahmen der Studie wurden die beteiligten Klassen nach der eingesetzten Unterrichtsmethode in zwei Treatmentgruppen aufgeteilt. Die nach dem Flipped Classroom unterrichteten Klassen bildeten die \(flip\)-Gruppe, während die klassisch unterrichteten Klassen die \(kla\)-Gruppe bildeten. Die entwickelten Unterrichtsmaterialien (siehe 3.1) kamen in beiden Gruppen nahezu identisch zum Einsatz. Eine Ausnahme bildeten die Erklärvideos, die nur der \(flip\)-Gruppe zur Verfügung standen. Außerdem mussten in der \(flip\)-Gruppe die interaktiven Aufgaben in der häuslichen Vorbereitung direkt nach den Erklärvideos und noch vor dem Unterricht bearbeitet werden. In der \(kla\)-Gruppe wurden die gleichen Aufgaben erst nach dem Unterricht als Hausaufgabe eingesetzt und um ein bis zwei schriftliche Aufgaben erweitert. Damit sollte die Zeit ausgeglichen werden, die die Lernenden in der \(flip\)-Gruppe für das Schauen der Erklärvideos benötigen. Die Interventionsdauer umfasste in beiden Gruppen jeweils 12 Unterrichtseinheiten.

3.3.4 Erhobene Variablen und Messinstrumente

Das individuelle Interesse wurde über vier von Habig (2017) adaptierte Items gemessen. Da sich individuelles Interesse aus Fach- und Sachinteresse zusammensetzt (Hoffmann et al., 1998), wurden beide Komponenten bei der Zusammenstellung des Fragebogens gleichmäßig berücksichtigt. Mit zwei der enthaltenen Items wurde dabei die Anstrengungsbereitschaft der Lernenden berücksichtigt. Auf einer vierstufigen Likert-Skala mussten die Schülerinnen und Schüler sowohl vor als auch nach der Intervention folgende Aussagen hinsichtlich des Grades ihrer Zustimmung bewerten:

  • Ich freue mich bereits auf die nächste Physikstunde. (\(FInt1\))

  • Was wir im Physikunterricht machen, interessiert mich. (\(SInt1\))

    Warum strengst du dich im Physikunterricht an?

  • … weil mir der Physikunterricht Spaß macht. (\(FInt2\))

  • … weil mich Physik interessiert. (\(SInt2\))

Die Reliabilität des Fragebogens ist mit \(\alpha =.90\) (Cronbach’s \(\alpha\)) sehr hoch.

Als Kovariaten wurden neben dem Geschlecht (\(M\), \(W\)) auch das Wahlverhalten der Schülerinnen und Schüler über die Zugehörigkeit zum Schulzweig erhoben. Außerdem stellt im Flipped Classroom die Bearbeitung der Hausaufgabe eine wichtige Komponente für den darauf aufbauenden Unterricht und somit eine weitere zu berücksichtigende Kovariate dar. Deshalb wurde erfasst, wie viele enthaltene Multiple-Choice-Aufgaben die Lernenden in den Hausaufgaben angekreuzt haben.

3.3.5 Beschreibung der Stichprobe

Die beschriebene Erhebung wurde im Schuljahr 2021/2022 bis Ende Januar in insgesamt \(99\) Klassen der 8. Jgst. an bayerischen Gymnasien durchgeführt. Tab. 3.1 gibt einen Überblick über die Anzahl der teilnehmenden Klassen und beteiligten Schülerinnen und Schüler aufgeteilt nach Zweig und Methode. Zur Analyse der Hausaufgabendisziplin wurden die Daten von allen 1734 Schülerinnen und Schülern genutzt. Bei der Interessensentwicklung können nur Datensätze genutzt werden, die zumindest eine teilweise Bearbeitung sowohl im Prä- als auch im Posttest aufweisen. Aus diesem Grund reduziert sich der Datensatz hier auf 1487 Schülerinnen und Schüler. Die Datenreduktion verteilt sich gleichmäßig auf alle beteiligten Klassen und ist auf rein statistische Gründe (z. B. Krankheit) zurückzuführen.

Tab. 3.1 Überblick über die Anzahl der teilnehmenden Klassen sowie die Schülerinnen und Schüler aufgeteilt nach Zweig und Methode

3.3.6 Modellierung

Zur Beantwortung der Forschungsfragen bezüglich der initialen Ausprägung des Interesses an Physik und der Veränderung des Interesses während der Interventionszeit wurde ein latentes Veränderungsmodell (Latent Change Score Model, vgl. McArdle, 2009) gerechnet (Abb. 3.3). Das individuelle Interesse zu den Erhebungszeitpunkten \(T1\) (Prätest) und \(T2\) (Posttest) wird dabei als latenter Faktor mithilfe der vier Indikatorvariablen \(SInt1|2\) und \(FInt1|2\) modelliert. Damit ein Vergleich der Mittelwerte zwischen den Gruppen möglich ist, wird starke Invarianz hergestellt. Auf Ebene des Strukturmodells wird für jede Person das Interesse zum Zeitpunkt \(T2\) als Summe des Wertes bei Zeitpunkt \(T1\) (\(IntT1\)) und eines latenten Veränderungswertes (Latent Change Score, \(LCS\)) berechnet. Die Mittelwerte der latenten Variablen \(IntT1\) und \(LCS\) geben demnach die mittlere Ausprägung des Interessenkonstrukts zum Zeitpunkt T1 sowie seine mittlere Veränderung zwischen den Zeitpunkten \(T1\) und \(T2\) wieder. Die Varianzen \({\psi }_{IntT1}\) und \({\psi }_{LCS}\) der Variablen spiegeln die interindividuelle Variabilität in diesen Größen. Die Kovarianz \({\psi }_{IntT1,LCS}\) fasst den Zusammenhang zwischen Präwert und Veränderung des Interesses. Für die Modellidentifizierung wurde die Effect-Coding-Methode angewandt (Little et al., 2006). Zur Modellschätzung wurde die Software R (R Core Team, 2017) in Kombination mit dem Paket „lavaan“ (Rosseel, 2012) und ein Full-Information-Maximum-Likelihood-Schätzer (FIML mit robusten Standardfehlern, Option „mlr“ in „lavaan“) verwendet.

Abb. 3.3
figure 3

Latent Change Model. In der latenten Variable \(\mathrm{LCS}\) (Latent Change Score) wird die Veränderung des Interesses zwischen den Zeitpunkten T1 und T2 abgebildet

3.3.7 Ergebnisse

Das in Abb. 3.3 spezifizierte Modell reproduziert die Varianzen und Kovarianzen der manifesten Indikatorvariablen ausreichend gut, es kann von einer sehr guten Modellpassung ausgegangen werden (\({\chi }^{2}\left(13\right)={40.565}^{***}\), \(\mathrm{CFI}= .996\), \(\mathrm{RMSEA}=.040\), \(\mathrm{SRMR}=.015\); zur Einordung der Fit-Indizes siehe z. B. Hu & Bentler, 1999). In der gesamten Stichprobe liegt der globale Mittelwert der initialen Ausprägung des individuellen Interesses zum Erhebungszeitpunkt \(T1\) bei \(IntT1=1.802\) (\(\mathrm{SD}=.664\)) Skalenpunkten. Während der Interventionszeit nimmt das Interesse der Schülerinnen und Schüler im Mittel mit \(LCS={.348}^{***}\) (\(\mathrm{SD}=.603\)) Skalenpunkte ab. Die Kovarianz zwischen Präwert und Veränderung des Interesses liegt bei \({\psi }_{IntT1,LCS}={-.091}^{***}\), d.h., ein initial höher ausgeprägtes Interesse an Physik geht tendenziell mit einer stärkeren Abnahme des Interesses während der Intervention einher. Um die verschiedenen schulischen Rahmenbedingungen bei Klassen mit (\(NTG\)-Gruppe) bzw. ohne naturwissenschaftliche Schwerpunktsetzung (\(nNTG\)-Gruppe) zu berücksichtigen, wurde für die weitere Analyse ein Zweigruppenmodell mit der Gruppenvariable \(Zweig\) gerechnet, wobei starke Invarianz berücksichtigt wurde (Fit-Indizes: \({\chi }^{2}\left(38\right)={65.487}^{**}\), \(\mathrm{CFI}=.996\), \(\mathrm{RMSEA}=.032\), \(\mathrm{SRMR}=.018\)).

Der Vergleich der geschlechterübergreifenden Mittelwerte des Interesses zum Erhebungszeitpunkt \(T1\) offenbart signifikante Unterschiede zwischen den Schwerpunktgruppen. Für Schülerinnen und Schüler in der Gruppe \(nNTG\) ergibt sich ein mittlerer Interessenswert von \({IntT1}_{nNTG}=1.520 \left(SD=.636\right)\) Skalenpunkten, während sich Schülerinnen und Schüler in der \(NTG\)-Gruppe mit \({IntT1}_{NTG}=1.995 \left(SD=.611\right)\) deutlich interessierter an Physik zeigen (\(\Delta {\chi }^{2}\left(1\right)={168.92}^{***}\)). Der Unterschied in den mittleren Interessenswerten liegt mit einer Effektstärke von \(d=.765\) an der Grenze zu starken Effekten und ist daher äußerst bedeutsam. Die folgende Analyse in den jeweiligen Schwerpunktgruppen zeigt, dass der berichtete Unterschied zwar durch die ungleiche Zusammensetzung der Gruppen in Bezug auf das Geschlecht (Tab. 3.1) beeinflusst wird, aber bei Weitem nicht damit erklärt werden kann. In der Veränderung des Interesses während der Interventionszeit zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (\(LC{S}_{NTG}=-.358 \left(SD=.607\right), LC{S}_{nNTG}=-.340 \left(SD=.597\right), \Delta {\chi }^{2}\left(1\right)=.63\, n.s.\)).

Für einen detaillierten Blick auf die Zusammenhänge zwischen Präwert (\(IntT1\)) bzw. Veränderung des Interesses (\(LCS\)) mit der unabhängigen Variable Unterrichtsmethode (\(Meth\)) und den Kovariaten Geschlecht (\(Gesch\)) und Hausaufgabendisziplin (\(HA\)) wurde eine multiple Regression der beiden latenten Variablen auf diese Kovariaten gerechnet, wobei mögliche indirekte Effekte des Geschlechts bzw. der Unterrichtsmethode (über die Mediatorvariable Hausaufgabendisziplin) auf die Veränderung des Interesses berücksichtigt wurden. Tab. 3.2 zeigt die nicht standardisierten (\(B\)) und standardisierten (\(\beta\), nur latente Variablen standardisiert) Regressionskoeffizienten.

Tab. 3.2 Regressionskoeffizienten für Analyse im Zweigruppenmodell (Gruppenvariable: \(\mathrm{Zweig}\), starke Invarianz wurde hergestellt)

In der \(nNTG\)-Gruppe zeigen sich zum Erhebungszeitpunkt \(T1\) keine relevanten Unterschiede im Interesse zwischen Schülerinnen (\({IntT1}_{nNTG}^{W}=1.494\)) und Schülern \(({IntT1}_{nNTG}^{M}=1.579\)). In der \(NTG\)-Gruppe liegt das Interesse der Schüler zu Beginn der Intervention mit \({IntT1}_{NTG}^{M}=2.077\) signifikant bei mittlerer Effektstärke (\({\beta }_{Gesch}^{NTG}={.336}^{***}\)) über dem Interesse der Schülerinnen (\({IntT1}_{NTG}^{W}=1.872\)).

In beiden Gruppen zeigen sowohl die Unterrichtsmethode als auch das Geschlecht signifikante Zusammenhänge mit der Anzahl der während der Interventionszeit erledigten Hausaufgaben. Unabhängig von der Zweigwahl werden mehr Hausaufgabeneinheiten bearbeitet, wenn nach der Methode Flipped Classroom unterrichtet wird (\({\beta }_{Meth}^{NTG}={.379}^{***}\), \({\beta }_{Meth}^{nNTG}={.391}^{***}\)). Zusätzlich zeigen Schülerinnen eine höhere Hausaufgabendisziplin als Schüler (\({\beta }_{Gesch}^{NTG}={-.237}^{***}\), \({\beta }_{Gesch}^{nNTG}={-.315}^{***}\)). Zwischen der Veränderung des Interesses während der Intervention und der Anzahl der bearbeiteten Hausaufgaben zeigt sich in keiner der beiden Gruppen ein relevanter Zusammenhang, sodass die Anzahl der bearbeiteten Hausaufgaben keine Mediatorvariable für indirekte Effekte der Unterrichtsmethode bzw. des Geschlechts auf die Entwicklung des individuellen Interesses an Physik darstellt. Während sich in der Gruppe \(nNTG\) keinerlei signifikante Zusammenhänge zwischen der Veränderung im Interesse und der unabhängigen Variable bzw. der Kovariaten ergeben, wird in der Gruppe \(NTG\) ein signifikanter Wechselwirkungseffekt von Geschlecht und Unterrichtsmethode beobachtet (\({\beta }_{Gesch:Meth}^{NTG}={-.380}^{*})\). Der Zusammenhang wird weiter betrachtet, indem die Analyse auf die Gruppe der Schülerinnen und Schüler im \(NTG\)-Zweig begrenzt wird.

Das Zweigruppenmodell mit der Gruppenvariable \(Gesch\) im \(NTG\)-Zweig reproduziert den signifikanten Unterschied (\(\Delta {\chi }^{2}\left(1\right)={21.503}^{***}\)) in der mittleren Ausprägung des Interesses für Schülerinnen (\(n=352\)) und Schüler (\(n=528\)) zu Beginn der Intervention \(({IntT1}_{NTG}^{W}=1.880, {IntT1}_{NTG}^{M}=2.080).\) Während die Unterrichtsmethode bei Schülern keinen relevanten Zusammenhang mit der Entwicklung des Interesses aufzeigt (\(LC{S}_{klassisch}^{M}=-.299, LC{S}_{flipped}^{M}\) =\(-.359\), \(\Delta {\chi }^{2}\left(1\right)=.953 \,n.s.\)), fällt das Interesse der Schülerinnen im klassischen Unterricht mit \(LC{S}_{klassisch}^{W}=-.496\) Skalenpunkten während der Interventionszeit signifikant stärker (\(\Delta {\chi }^{2}\left(1\right)={7.700}^{**}, {\beta }_{Meth}^{W}={.311}^{**}\)) als bei Schülerinnen, die mit der Methode Flipped Classroom unterrichtet wurden (\(LC{S}_{flipped}^{W}=-.316\)). Im klassischen Unterricht wird ein signifikanter Unterschied (\(\Delta {\chi }^{2}\left(1\right)={7.130}^{**}\)) im Interesse an Physik zwischen Schülerinnen (\(LC{S}_{klassisch}^{W}=-.496\)) und Schülern (\(LC{S}_{klassisch}^{M}=-.299\)) beobachtet (Geschlechterschere). In der Gruppe der Schülerinnen und Schüler, die mit der Methode Flipped Classroom unterrichtet wurden, kann hingegen kein signifikanter Unterschied (\(\Delta {\chi }^{2}\left(1\right)=.567, n.s.\)) in der Entwicklung des Interesses an Physik zwischen Schülerinnen (\(LC{S}_{flipped}^{W}=-.316\)) und Schülern (\(LC{S}_{flipped}^{M}\) =\(-.359\)) festgestellt werden.

3.3.8 Limitationen der Studie

Die vorliegende Feldstudie vergleicht die Interessensentwicklung von Schülerinnen und Schülern im Hinblick auf die eingesetzte Unterrichtsmethode. Zwar wurden den teilnehmenden Lehrkräften für den Interventionszeitraum Unterrichtsmaterialien vorgegeben, jedoch blieb den Lehrkräften ein großer Spielraum in der Ausgestaltung des Unterrichts, sodass nicht von einer homogenen Intervention ausgegangen werden kann. Die Einhaltung der Rahmenvorgaben (Abb. 3.2) wurde nicht erhoben. Ebenso wurden keine Daten zu den Einstellungen der Lehrkräfte in Bezug auf die vorgegebenen Unterrichtsmethoden erhoben, sodass der Anteil der Varianz in der Veränderung des Interesses der Lernenden, der auf die Persönlichkeit der Lehrkräfte zurückgeht, nicht abgeschätzt werden kann. Gleiches gilt in Bezug auf die Schülerinnen und Schüler. Ihre Einschätzungen zu der eingesetzten Unterrichtsmethode, beispielsweise die subjektiv wahrgenommene Arbeitsbelastung, könnten weitere wichtige Prädiktoren für die Entwicklung im Interesse darstellen.

3.4 Diskussion

Das Wahlverhalten der Schülerinnen und Schüler zeigt einen starken Zusammenhang mit dem Interesse am Fach Physik. Lernende, die sich für den NTG-Zweig entschieden haben, weisen ein signifikant erhöhtes Interesse an Physik auf als Lernende anderer schulischer Schwerpunkte (Gruppe \(nNTG\)). Dieser beobachtete Befund kann als konsistente Folge des Wahlverhaltens interpretiert werden, da eine bewusste Entscheidung für einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt u. a. auf einem erhöhten Interesse für das entsprechende Fach und einem erhöhten Leistungsvermögen fußt (Abel, 2002; Roeder & Gruehn, 1996). Hypothese 1.a wird bestätigt.

In der \(NTG\)-Gruppe liegt das Interesse bei den Schülerinnen vor Interventionsbeginn signifikant unter dem Wert der Schüler. Somit finden sich bei den Lernenden in der Studie die aus der Literatur zu erwartenden Interessensunterschiede in Abhängigkeit vom Geschlecht (Hoffmann et al., 1998). Hypothese 1.b wird für diesen Zweig bestätigt. In der \(nNTG\)-Gruppe ergibt sich allerdings kein signifikanter Unterschied im Interesse.

In der vorliegenden Studie zeigt sich bei Schülerinnen eine signifikant höhere Bereitschaft zum Absolvieren der Hausaufgaben als bei ihren Mitschülern. Mögliche Ursachen können unter anderem in einer höheren Selbstdisziplin und Pflichterfüllung seitens der Schülerinnen liegen (Duckworth & Seligman, 2006; Spinath et al., 2014). Die vermehrte Beschäftigung mit physikalischen Inhalten außerhalb der Schule kann als positives Ergebnis gewertet werden. Zwischen der Anzahl der bearbeiteten Hausaufgabeneinheiten und der Veränderung im Interesse an Physik zeigt sich allerdings kein signifikanter Zusammenhang. Geschlecht und Methode beeinflussen zwar die Anzahl der erledigten Hausaufgaben, haben aber über diese keine indirekten Effekte auf die Interessensentwicklung. In der Folge muss Hypothese 2.b verworfen werden. Eine plausible Erklärung liegt darin, dass sich die Schülerinnen und Schüler meistens nicht volitional und intrinsisch motiviert mit der Hausaufgabe auseinandersetzen, sondern die Erledigung als notwendige Pflicht ansehen (extrinsische Motivation). Vor diesem Hintergrund könnte der Effekt der Methode auf die Hausaufgabendisziplin durch eine erhöhte wahrgenommene Relevanz für die folgende Unterrichtsstunde erklärt werden.

In den vorliegenden Daten nimmt das Interesse an Physik bei den Lernenden in Übereinstimmung mit bisherigen Befunden unabhängig von Zweig, Geschlecht und Methode innerhalb des Interventionszeitraums von ca. acht Wochen deutlich ab (Hoffmann et al., 1998). Die beschriebene Geschlechterschere (Barmby et al., 2008; Hoffmann et al., 1998) öffnet sich auch in der vorliegenden Studie im NTG-Zweig innerhalb des klassischen Unterrichts weiter. Im Gegensatz zu Schülerinnen, die klassisch unterrichtet werden, sinkt beim Einsatz der Methode Flipped Classroom das Interesse der Schülerinnen weniger stark. Die Veränderung während des Interventionszeitraums liegt dann im Bereich der Werte der Schüler. Diese zeigen keinen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Veränderung ihres Interesses und der Unterrichtsmethode. Die Hypothese 2.a wird im NTG-Zweig bestätigt. Demnach kann Flipped Classroom dazu beitragen, die Ausprägung der Geschlechterschere zu vermindern bzw. aufzuhalten.

Haben sich Schülerinnen und Schüler gegen einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt entschieden, so zeigt sich unabhängig von der Unterrichtsmethode kein signifikanter Unterschied in der Interessensveränderung zwischen den Geschlechtern. Die bewusste Entscheidung gegen einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt und das eher als niedrig einzuschätzende Interesse an Physik scheinen die Haltung der Schülerinnen und Schüler gegenüber Naturwissenschaften so zu prägen, dass die eingesetzte Unterrichtsmethode nicht relevant wird.

3.5 Fazit und Ausblick

Die Unterrichtsmethode Flipped Classroom führt nicht generell zu einer Interessenssteigerung, kann aber dazu beitragen, das Auseinanderdriften des Interesses an Physik zwischen Schülerinnen und Schülern aufzuhalten und hat daher seinen Platz im Methodenrepertoire für einen abwechslungsreich gestalteten Physikunterricht. In der pädagogischen Interessenforschung wird angenommen, dass der Entwicklungsschritt vom situationalen zum individuellen Interesse (Abb. 3.1) mit einer Veränderung motivationsrelevanter Bestandteile der Persönlichkeitsstruktur einhergeht und deshalb eher selten und zudem auch zeitlich verzögert eintritt (Krapp, 1998, 2002). Eine Person kann nicht alle kurzzeitig als interessant eingestuften Gegenstände in die eigene Persönlichkeitsstruktur integrieren und filtert im Transformationsprozess entsprechend aus (Krapp, 1998). In weiteren Analysen soll deshalb auch das situationale Interesse in Abhängigkeit von der Unterrichtsmethode untersucht werden.