2.1 Blended Learning in komplexen Inhaltsdomänen

Die entwickelten virtuellen Labore orientieren sich inhaltlich an dem Thema „Gewässeranalytik“ und bieten einen verbindenden Ansatz der Fächer Biologie, Chemie und Erdkunde. Sie erweitern reale Laborversuche um eine virtuelle Lernumgebung (Neff et al., 2021). Zur kognitiven Entlastung der Lernenden werden die Gestaltungsprinzipien nach Clark und Mayer (2011) berücksichtigt. Mayer (2009) entwickelte Experimente, in deren Verlauf Teilnehmenden isoliert diskrete Merkmale einer multimedialen Repräsentation dargeboten wurden. Die abgeleiteten Designkriterien wurden anhand des Transferwissenszuwachses ermittelt und erfüllen die Forderungen des von Mayer (2009) vorgeschlagenen Modells zum Prozess des Lernens mit Multimedia. Des Weiteren wird durch eine optimierte Oberflächenstruktur der virtuellen Labore den Erkenntnissen der Cognitive Load Theory (u. a. Chandler & Sweller, 1991) Rechnung getragen. So wurden beispielsweise Grafiken und Animationen eigens für die vorliegende Lernumgebung erstellt, um eine gleichermaßen einheitliche wie auch fokussierte Darstellungsform sicherzustellen. Insbesondere die Vermeidung irrelevanter Bildinhalte (Seductive Details) wurde dabei berücksichtigt.

Im Fokus des Blended-Learning-Konzeptes – virtuelle Labore dienen zur digitalen Vor- und Nachbereitung realer Experimentiereinheiten – steht neben den fachlichen Inhalten das Ziel der kompetenten und zielgerichteten Nutzung digitaler Werkzeuge und Technologien für Problemlösung, Konstruktion von Wissen sowie Datenanalyse (Redecker, 2017; KMK, 2017). Diese Fertigkeiten werden verstärkt von Lehrenden eingefordert. Folglich ist einerseits eine Förderung des Kompetenzzuwachses auf der Seite der Lehrenden als auch andererseits ein Beitrag zur Befähigung an der gesellschaftlichen Teilhabe im digitalen Raum für die Lernenden ein Ziel dieser Lerneinheit (Ghomi et al., 2020; Koehler & Mishra, 2009).

In diesem Zusammenhang wurden die Potenziale multimedialer Lernmedien und deren Nutzung hinterfragt. Insbesondere für inhaltlich komplexe und stark verzweigte Themengebiete (vgl. „ill-structured domains“ der Cognitive Flexibility Theory nach Spiro et al. (1988)) gilt die Nutzung multipler Repräsentationen als förderlich für den Erwerb von Transferwissen. Dabei werden Lernende gezielt durch multiple rezeptive Kanäle angeregt. Bezogen auf die virtuellen Labore zur Gewässeranalytik sind die Kriterien der „ill-structuredness“ einer komplexen Inhaltsdomäne als erfüllt zu betrachten: Die Komplexität der im Ökosystem (Fließ-)Gewässer interdependenten Bedingungsfaktoren sowie fallabhängig wechselnde Problemstellungen und Lösungen spiegeln gleichermaßen die Komplexität des realen Lerngegenstandes als auch der zu vermittelnden Inhaltsdomäne wider. Somit erscheint eine Einbindung sinnstiftender digitaler multipler Repräsentationen entlang der aus der Cognitive Flexibility Theory abgeleiteten Random Access Instruction (Spiro et al., 1992) und deren Gestaltungskriterien zielführend.

Im Folgenden wird die inhaltliche Struktur der virtuellen Labore exemplarisch am Kurs zur Sauerstoffsättigung eines Gewässers dargestellt, diese in den rheinland-pfälzischen Lehrplänen verortet sowie ausgewählte Aspekte des begleitenden Forschungsvorhabens erläutert.

2.2 Virtuelles Labor zur Sauerstoffsättigung eines Gewässers

Die Vorstellung der Inhalte des virtuellen Labors zur Sauerstoffsättigung erfolgt entlang der dem Kurs immanenten Struktur (1. Orientierung, 2. Grundlagen, 3. Experiment, 4. Anwendung, 5. Reflexion; Abb. 2.1), welche hier um fachliche Hintergrundinformationen für Lehrende ergänzt wurden. Im Zuge der Lerneinheit können vorrangig die Inhalte des Themenfelds 9: Den Stoffen auf der Spur für das Fach Chemie, aber auch des Themenfelds 5: Ökosysteme im Wandel für das Fach Biologie des Lehrplans in der Sekundarstufe I in Rheinland-Pfalz erarbeitet oder vertieft werden (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur, 2014). Die Ausrichtung auf eine instrumentelle quantitative Maßanalytik schafft zudem explizite Anknüpfungspunkte für den Chemieunterricht in der Oberstufe im Baustein „Analytik in Anwendungen“ (Grundfach Chemie) durch fachübergreifende Gewässeruntersuchungen in Verbindung mit dem Fach Biologie (Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung Rheinland-Pfalz, 1998b).

Abb. 2.1
figure 1

Verlauf der Lerneinheit. Dargestellt ist die Zuordnung der Bausteine der virtuellen Labore zu den jeweiligen Doppelstunden (je 90 min)

Die Erarbeitung der Inhalte mithilfe der virtuellen Labore wird sowohl in der Phase der Vorbereitung (Doppelstunde 1) als auch in der Phase der Nachbereitung (Doppelstunde 3) in Partnerarbeit umgesetzt. Die experimentell ausgerichtete Phase (Doppelstunde 2) findet in Kleingruppenarbeit im Freiland („außerschulische Lernumgebung“) statt (Abb. 2.1). Das vorangestellte virtuelle Labor zu „Aufbau und Bedienung der Messgeräte“ wird als Hausaufgabe von den Lernenden eigenständig vorbereitet.

Der grundlegende Aufbau („Bausteinprinzip“) sowie die Sequenzierung der Inhalte sind an die instruktionspsychologisch fundierten Lehr-Lern-Schritte nach Leutner und Wirth (2018) angelehnt. Die fünf grundlegenden Bausteine gliedern jedes virtuelle Labor ähnlich, sodass ein hoher Wiedererkennungswert und eine einfache Orientierung gewährleistet werden. Die Bausteine sind inhaltlich wie folgt strukturiert:

2.2.1 Orientierung

Der Einstieg mithilfe eines authentischen Videoberichts zum Thema Sauerstoffmangel in Gewässern erzeugt eine realistische Problemstellung. So schafft der Kontext anknüpfungsfähiges Wissen mit Relevanz für Alltag und Berufswelt und bildet die Intentionen des Lehrplans für das Fach Chemie mit ab (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur, 2014). Zur Einführung in die Messmethoden zum Parameter Sauerstoff werden die Winkler-Titration sowie elektrochemische Messverfahren benannt. Weiterhin werden Lernvoraussetzungen und Lernziele formuliert (Tab. 2.1). Der für alle virtuellen Labore identische Wegweiser dient zur Transparenz der Struktur und der Bedienelemente des Kurses.

Tab. 2.1 Lernziele im virtuellen Labor zur Sauerstoffsättigung sowie adressierte Bildungsstandards (KMK, 2005) und Anforderungsbereiche (AFB). F = Fachwissen, E = Erkenntnisgewinnung, K = Kommunikation, B = Bewertung

2.2.2 Grundlagen

Sauerstoff ist eine der bedeutendsten Lebensgrundlagen in aquatischen Ökosystemen. Für die Löslichkeit von Sauerstoff in Wasser gilt das Gesetz von Henry. Die physikalische Löslichkeit von Gasen in Flüssigkeiten in Abhängigkeit vom Partialdruck des jeweiligen Gases über der Flüssigkeit sowie einer temperaturabhängigen Konstante wird hier dargelegt und visuell unterstützt. Die Problematik des Teilchen-in-Kontinuumskonzepts wird in Anlehnung an die Empfehlung nach Schmidt (2010) im Sinne der metakonzeptuellen Kompetenz thematisiert.

Sauerstoffeinträge in Gewässer können physikalischer wie auch biogener Natur sein. Physikalische Einträge kommen durch intensiven Kontakt mit dem Luftsauerstoff, insbesondere bei starker Durchmischung, Verwirbelung und höheren Fließgeschwindigkeiten des Wasserkörpers zustande. Belebte Bereiche im Wasserkörper, etwa durch Wind, Wellen oder ein unebenes Flussbett, begünstigen dabei aufgrund der erhöhten Kontaktfläche mit der Luft die Diffusion von Sauerstoff in das Wasser (Abb. 2.2). Durch die Abgabe von Sauerstoff in das Gewässer im Zuge ihrer Assimilation bestimmen Wasserpflanzen den biogenen Beitrag zur Sauerstoffsättigung. Diese Vorgänge bieten Anknüpfungspunkte zum Fach Biologie, insbesondere zu Themenfeld 4: Pflanze, Pflanzenorgane, Pflanzenzellen, sowie für einen fächerverbindenden Unterricht.

Abb. 2.2
figure 2

Darstellung der theoretischen Grundlagen mit interaktiven Elementen

Bakterielle Atmung und der Abbau organischer Materie sind auf Sauerstoff angewiesen. Der biologische Sauerstoffbedarf gilt daher auch als Gradmesser für die biologische Aktivität eines Gewässers. Insbesondere eutrophe Wasserkörper sind aufgrund des erhöhten Gehaltes an absterbender organischer Materie von hoher Sauerstoffzehrung betroffen. Darüber hinaus benötigen auch chemische Abbauprozesse Sauerstoff zur Oxidation. Fehlt dieser Sauerstoff, kann das so vorliegende reduzierende Milieu zur Freisetzung weiterer Nähr- und Schadstoffe und damit zu einer weiteren Beeinträchtigung des Gewässers führen (Smol, 2008). Ein Querbezug zum Chemielehrplan-Themenfeld 11: Stoffe im Fokus von Umwelt und Klima unter Berücksichtigung der Interdependenz von Nährstoffeinträgen und Sauerstoffsättigung eines Gewässers sowie zu dem damit verbundenen Stickstoffkreislauf ist intendiert (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur, 2014).

Ferner zehren auch sauerstoffproduzierende Wasserpflanzen im Zuge ihres Tag-Nacht-Zyklus bei Dunkelheit Sauerstoff. Die Lernenden interpretieren zunächst ein Diagramm, welches die Sauerstoffsättigung im Tagesverlauf im Laborversuch zeigt und begründen den Verlauf anhand der zuvor dargelegten Prozesse. Anschließend erfolgt der Transfer auf den Tagesverlauf anhand realer Messdaten (Abb. 2.3). Zur Vertiefung in der Sekundarstufe II eignen sich die Pflichtbausteine zur Photosynthese in Theorie und Praxis, in denen Assimilation und Tag-Nacht-Zyklen von Wasserpflanzen und damit die Sauerstoffsättigung eines Gewässers näher betrachtet werden können. Im virtuellen Labor können hierzu reale Messdaten des Tagesverlaufs mit Labormesswerten abgeglichen und ebenfalls auf einen Jahresverlauf angewandt werden.

Abb. 2.3
figure 3

Gegenüberstellung des Sauerstoff-Tagesverlaufs im Laborversuch und in der realen Messdatenerhebung in einem Gewässer

Zur Beurteilung eines Gewässers sind sowohl der absolute Sauerstoffgehalt als auch die prozentuale Sauerstoffsättigung relevant. Während die Sättigung als prozentualer Anteil des bei gegebener Wassertemperatur maximal möglichen Sauerstoffgehalts Aufschluss über die Güte eines Gewässers geben kann, können die meisten Fische temperaturunabhängig Sauerstoffgehalte unter 4 mg/L nicht tolerieren (Smol, 2008).

2.2.3 Experiment

Die Messung des Sauerstoffgehalts erfolgt mittels einer galvanischen Elektrode (Abb. 2.4). Hierbei handelt es sich um einen amperometrischen Mackereth-Sensor mit Blei-Anode und Silber-Kathode, welche in Natriumhydroxid als Elektrolyt eingebettet und zum zu messenden Medium hin mittels einer permeablen Membran abgeschlossen sind (Mackereth, 1962). Die Blei-Atome der Anode werden oxidiert und liegen anschließend als Pb2+-Ionen in gelöster Form vor (Formel 2.1). Die Übertragung der freigewordenen Elektronen an die Kathode ermöglicht eine Reduktion der durch die Membran eindringenden Sauerstoff-Moleküle zu Hydroxydionen (Formel 2.2). So entsteht Blei(II)-Hydroxid (Formel 2.3). Möglich wird diese Reaktion durch die geringfügige Löslichkeit von elementarem Blei in Natronlauge. Die galvanische Fülllösung in der Elektrode enthält 35 % Natronlauge (0,5 M) und stellt somit gleichermaßen das Wasser für die Kathodenreaktion als auch ein elektrolytisches Medium für das galvanische Blei-/Silber-Element bereit.

$${\rm{{Anodenreaktion}}}:\quad \quad Pb_{\left( s \right)} { } \to { }Pb_{{\left( {aq} \right)}}^{2 + } { + 2 }e^{ - }$$
(2.1)
$${\rm{{Kathodenreaktion:}}}\quad \quad {{O}}_{{{2(g)}}} {{ + 2H}}_{{2}} {{O}}_{{{(l)}}} { + 4}e^{ - } \to {4 }OH_{{\left( {aq} \right)}}^{ - }$$
(2.2)
$${\rm{{Gesamtreaktion:}}}\quad \quad {{2Pb}}_{{{(s)}}} {{ + O}}_{{{2(g)}}} {{ + 2H}}_{{2}} {{O}}_{{{(l)}}} { } \to {{ 2Pb(OH)}}_{{{2(s)}}}$$
(2.3)
Abb. 2.4
figure 4

Simulation der Sauerstoffmessung im virtuellen Labor. Rechts im Bild der schematische Aufbau des Mackereth-Sensors

In besonderem Maße wird durch die Nutzung analytischer Instrumente nach aktuellem Stand der Technik der Forderung des Lehrplans nachgekommen, wonach „in einem zeitgemäßen Chemie-Unterricht … auch die moderne Analytik Eingang [findet]“ (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur, 2014, S. 82). Weitere fächerübergreifende Anknüpfungen ergeben sich mit dem Fach Physik, insbesondere im Themenfeld 11: Sensoren im Alltag (Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur, 2014).

Als Leitfragen zur Datenerhebung und -auswertung im Verlauf der realen Experimentiereinheit dienen taxonomisch aufeinander aufbauende, kompetenzorientierte Aufgabenstellungen. Die Versuchsdurchführung wird den Lernenden sowohl in Form einer druckbaren Anleitung wie auch als Lehrvideo einer exemplarischen Durchführung bereitgestellt. Darüber hinaus werden die beschriebenen Elektrodenvorgänge in eine interaktive Simulation eingebettet (Abb. 2.5).

Abb. 2.5
figure 5

Simulation der Sauerstoffmessung im virtuellen Labor. Rechts im Bild die animierten Elektrodenvorgänge auf Teilchenebene

Eine Auswertung erfolgt mithilfe bereitgestellter Messdaten. Anhand der Messdaten und der Beschreibung der Messstellen sollen die Lernenden mögliche Zusammenhänge auch unter Berücksichtigung der Messzeitpunkte und möglicher Tendenzen erörtern.

2.2.4 Anwendung

Im Kapitel Anwendung werden die Löslichkeit von Gasen in Flüssigkeiten am Beispiel der Aufsättigung des Gewebes beim Gerätetauchen und die Problematik der Dekompression thematisiert. Gleichermaßen wird auch die Kontextualisierung aus dem Einstieg erneut aufgegriffen. In der Vertiefung ist hierzu ein Experten-Interview hinterlegt, welches die Bedeutung anthropogener Einflüsse auf Fischsterben durch Sauerstoffmangel klar herausstellt. Abseits der naturwissenschaftlichen Fächer ergeben sich so Anknüpfungspunkte zum Fach Erdkunde im Lernfeld II.3 – Exogene Naturkräfte verändern Räume (Ministerium für Bildung, 2021).

2.2.5 Reflexion

Im virtuellen Labor werden neben der druckbaren Ergebnissicherung auch eine Selbstevaluation mit Verlinkung zu den jeweiligen Teilkapiteln zur Wiederholung sowie ein Exkurs angeboten. Der Exkurs zeigt Möglichkeiten auf, einer Sauerstoff-Untersättigung entgegenzuwirken. Dabei werden in diesem Kapitel auch die Nachteile solcher Eingriffe in ein Ökosystem betrachtet.

2.3 Evaluation der virtuellen Labore mit Logfile-Analysen

Das übergeordnete Ziel des Projektvorhabens ist eine nachhaltige Verankerung der virtuellen Labore als Innovation im Unterricht. Dazu bedarf es einer Evaluation hinsichtlich der Nutzung der virtuellen Labore sowie deren Eignung für den schulischen Unterricht sowohl aus der Perspektive der Lehrenden als auch der Lernenden. Zudem stellt sich die Frage nach Gelingensbedingungen für eine erfolgreiche Implementation der virtuellen Labore in den schulischen Kontext. Neff et al. (2020) entwickelten hierzu ein qualitativ-induktiv hypothesengeleitetes Modell zur Erfassung der Transferbarrieren.

Das Forschungsprojekt ist nahezu abgeschlossen und zeichnet sich durch die Beantwortung von vier Forschungsfragen aus. Forschungsfrage 1) widmet sich den im Modell postulierten Barrieren der Implementation. Lehrpersonen wurden in einem systematischen, mehrstufigen Verfahren mit Rückkopplung – einer Art Delphi-Studie – zu dem im Projekt entwickelten Modell befragt. Im Ergebnis wurde dem Modell eine gute Passung attestiert. Eine detaillierte Darstellung der Methodik sowie ein Überblick über die qualitativen und quantitativen Ergebnisse ist Neff et al. (2020) zu entnehmen. Forschungsfrage 2) bezieht sich auf die Sicht der Lehrenden hinsichtlich der Anforderungen an digitale Innovationen. Strukturierte, qualitative Rückmeldungen der Lehrenden, welche im Zuge der zuvor erwähnten Interviews gewonnen wurden, verweisen hier insbesondere auf das Erfordernis der Adaptierbarkeit und des unmittelbaren Feedbacks an die Lernenden (Neff et al., 2021). Forschungsfrage 3) setzt sich mit der aktuellen Motivation, dem Flow-Erleben sowie dem Cognitive Load seitens der Lernenden beim Nutzen der virtuellen Labore auseinander. Explorativ-deskriptive Ergebnisse weisen über alle Konstrukte auf eine positive Rezeption durch die Lernenden hin und attestieren der Lernumgebung eine akzeptable bis gute Usability. Messwiederholte Mittelwertsvergleiche über drei Testzeitpunkte zeigen teils signifikante Abweichungen im Verlauf der Erhebung (Neff et al., 2020).

Nachfolgend wird auf die Forschungsfrage 4) ausführlicher eingegangen, welche die Nutzungsmuster der virtuellen Labore („digitale Lernpfade“) in den Fokus nimmt. Diese können anhand der im Lernmanagementsystem OpenOLAT erzeugten Logfiles erstellt werden. Bei OpenOLAT handelt es sich um ein einheitliches Lernmanagementsystem für die rheinland-pfälzischen Hochschulen und Universitäten, welches auf den Technologien HTML5, JavaScript und CSS basierend die browserbasierte und damit endgeräteunabhängige Gestaltung virtueller Inhalte bis hin zu interaktiven Simulationen und Prüfungssettings zulässt. Zur Datenauswertung werden aus den Rohdaten (anonymisierter nutzerbezogener Zeitstempel für jeden Kurs- und Kapitelaufruf) anonymisiert personenbezogene Bearbeitungsverläufe generiert und grafisch dargestellt. Darüber hinaus werden häufig wiederkehrende Klickmuster innerhalb des Kurses (Sequential Patterns) und deren Häufigkeiten ermittelt. Methodisch erfolgt die Auswertung der Nutzerdaten mithilfe des Statistikprogramms R. Jeder Kapitelaufruf innerhalb des Kurses wird mit einer anonymisierten Nutzerkennung und einem Zeitstempel versehen und abgelegt. So lässt sich der Bearbeitungsverlauf eines jeden Nutzenden sekundengenau nachvollziehen. Zur besseren Abgrenzung der einzelnen Arbeitsphasen werden die Logdateien in zwei Sessions je Schülerin und Schüler unterteilt. Diese Unterscheidung wird im Datenmanagement durch einen zeitlichen Abstand zwischen erstem und zweitem Aufruf des Kurses durch die jeweiligen Nutzenden realisiert, wobei die Bearbeitungspause an der Dauer der Durchführung der Realexperimente orientiert ist.

Ausgehend von diesen Grundannahmen kann eine grafische Betrachtung der Klickpfade und Verweildauern der Nutzenden innerhalb der jeweiligen Session vorgenommen werden. Abweichungen vom vorgesehenen Lernpfad ergeben sich direkt aus dem Klickmuster der jeweiligen Teilnehmenden im Abgleich mit der numerischen Kapitelstruktur der Lernumgebung. Auf diese Weise identifizierte persönliche Lernpfade der Lernenden können weiterhin auf ihre Relevanz untersucht werden. Hierzu erfolgt eine Mustererkennung mithilfe des SPADE-Algorithmus (Zaki, 2001). Dieser ermöglicht die Identifikation wiederkehrender Muster innerhalb eines nahezu beliebigen Datensatzes.

2.3.1 Ergebnisse des Sequential Pattern Mining

Die Ergebnisse zeigen ein heterogenes Bild der Verweildauern innerhalb der Kapitel über alle Nutzenden. Im Mittel lag die Verweildauer in den einzelnen Kapiteln bei 2:47 min (SD = 2:49 min, Median = 53 s, Range: 5 s bis 15:34 min). Auffällig ist hier die hohe Verweildauer innerhalb des Kapitels „1. Orientierung“ (Abb. 2.6). Da hier inhaltlich lediglich eine kurze Einführung in den Kontext durch ein Video (Laufzeit 2:25 min) und einen Textabschnitt sowie die Transparentlegung von Lernzielen und Bedienelementen erfolgt, ist dies wenig erwartungskonform.

Abb. 2.6
figure 6

Boxplot-Diagramm der Verweildauern aller Nutzenden (n = 16) über alle Teilkapitel

Insgesamt wurde das vorliegende virtuelle Labor von 23 Lerntandems bearbeitet. Nach zeilenweisem Ausschluss fehlender Werte sowie Unter- und Überschreitungen der plausiblen Verweildauern flossen die Nutzungsdaten von 16 Tandems in die Auswertung mit ein. Die Plausibilität der Verweildauern wurde hierzu anhand der erwarteten minimalen und maximalen Bearbeitungsdauer des jeweiligen Teilkapitels unter Berücksichtigung des inhaltlichen Umfangs und der Komplexität definiert und anhand der realen Daten abgesichert. Eine Analyse der Klickpfade zeigt deutliche Unterschiede sowohl in Reihenfolge als auch in Verweildauern innerhalb der Teilkapitel. Am Beispiel des vorliegenden Kurses lässt sich identifizieren, dass unter den 22 erfassten Lernpfaden nicht ein einziger entlang der stringenten Kapitelstruktur verläuft (Abb. 2.7 zeigt einen annähernd kontinuierlichen Bearbeitungsverlauf). Weiterhin ist feststellbar, dass unter Anwendung der zuvor beschriebenen Parameter alle Teilnehmenden mindestens ein Teilkapitel im Bearbeitungsverlauf nicht aufgerufen haben. Abb. 2.8 illustriert den Bearbeitungsverlauf eines Nutzenden: Deutlich erkennbar sind hier die Sprünge zwischen einzelnen Teilkapiteln sowie die Rückkehr zu bereits gestarteten Kapiteln. Des Weiteren zeigt sich, dass nicht für alle Nutzenden empirisch zwei Sessions (Vor- und Nachbereitung) abgrenzbar sind (Abb. 2.9).

Abb. 2.7
figure 7

Pfad-Plot User 1. Der Bearbeitungsverlauf stellt sich annähernd angelehnt an die Kapitelstruktur dar

Abb. 2.8
figure 8

Pfad-Plot User 2. Im Bearbeitungsverlauf sind deutliche Sprünge erkennbar, mehrfach erfolgten Aufrufe zurückliegender Teilkapitel sowie eine hohe Verweildauer im Kapitel „1. Orientierung“

Abb. 2.9
figure 9

Pfad-Plot User 10. Stetige Bearbeitung in der Vorbereitung, in der Nachbereitung erfolgt ausschließlich der Aufruf der Theoriekapitel. Die beiden Sessions sind durch eine vertikale Trennlinie abgegrenzt und fanden nicht tagesgleich statt

In der sequenziellen Mustererkennung treten überwiegend numerisch stringente Sequenzen zu Tage. Vereinzelt greifen die Teilnehmenden auf inhaltlich vorangestellte Teile der theoretischen Grundlagen zu einem späteren Zeitpunkt zu. Darüber hinaus ist eine auffällige Häufung der Zugriffe auf das Teilkapitel „2.2 Eintrag/Verbrauch O2“ ersichtlich. Dieses wird in verschiedensten Abfolgen aufgesucht. Insgesamt konnten mithilfe des Algorithmus 83 Nutzungssequenzen mit einem Supportfaktor > .4 (absolute Häufigkeit ≥ 7) identifiziert werden. Der Supportfaktor stellt dabei ein Maß für die Häufigkeit des Auftretens der Sequenz, nicht jedoch für deren Strenge (Konfidenz) dar und wird in Relation zur Gesamtzahl der identifizierten Sequenzen angegeben (Agrawal et al., 1996; Bensberg, 2001). Eine solche Sequenz ergibt sich beispielsweise aus der Abfolge der Kapitelaufrufe 3. Experiment \(\to\) 4. Anwendung \(\to\) 5.2 Selbstevaluation \(\to\) 2.6 Theorie-Check (Supportfaktor .5, absolute Häufigkeit 8).

2.3.2 Diskussion und Ausblick

Die teils stark von den Inhalten und deren geschätzter Bearbeitungsdauer abweichenden realen Verweildauern könnten aus den unterschiedlichen Ansprüchen an die Lernsituation innerhalb der Tandems resultieren. Ebenso geben die exemplarisch aufgeführten zahlreichen Rückgriffe auf Teilkapitel der theoretischen Grundlagen Anlass zu der Annahme, dass durch Reflexionsprozesse innerhalb der Tandems ein Rückbezug zur Theorie erforderlich wurde. Weiterhin legt die aktive Sessiondauer bezogen auf die zur Verfügung stehende Gesamtzeit einen Rückgang der Konzentrationsfähigkeit gegen Ende der Lerneinheit nahe, was sich auch durch die teils überdurchschnittlich langen Kapitelaufrufe zeigt.

Eine stärkere Integration der fachlichen Inhalte in den Verlauf der Lerneinheit könnte eine geringere Klickzahl und damit möglicherweise eine effizientere Bearbeitung im Sinne effizienterer Klickmuster und damit optimiert adaptierte Lernpfade ermöglichen.

Insbesondere die Aufrufe des Theoriekapitels (2) im Anschluss an die Selbstevaluation (5.2) verweisen auf eine tendenziell häufige Nutzung der in der Lernumgebung integrierten Hyperlinks. Diese werden in der Selbstevaluation abhängig von der eigenen Kompetenzeinschätzung interaktiv als Link dargeboten. Dieses Feedback-Angebot scheint von den Lernenden angenommen zu werden.

Methodisch ist anzumerken, dass die präsentierten Daten zum Nutzerverhalten in einem nichtklinischen Setting generiert wurden. Insbesondere die Bearbeitung der virtuellen Labore im Tandem, welche aufgrund mangelnder technischer Ressourcen in der Durchführung angezeigt war, lässt hier nur eine bedingte Generalisierbarkeit der Ergebnisse zu und begrenzt gleichzeitig den Stichprobenumfang.

Für weitere Erhebungen dieser Art erscheint eine direkt nutzerbezogene Erhebung der Logfiles unerlässlich, um so einerseits stärker personenorientierte Auswertungen als auch andererseits einen Abgleich mit weiteren erhobenen Personendaten (Neff et al., 2021) zu ermöglichen. Hierzu wäre jedoch ein stärker klinisches Vorgehen mit deutlich erhöhter Verfügbarkeit digitaler Endgeräte erforderlich, was jedoch gleichzeitig mit dem Risiko des Verlusts der Authentizität des Lernsettings einherginge. Weiterhin zeigte sich deutliches Optimierungspotenzial hinsichtlich des Auswertungsaufwandes. Die Nutzung entsprechend präparierter Endgeräte oder Websites mit speziellen Tools zur Logfile-Erhebung und -Analyse könnte hier nach Abwägung datenschutzrechtlicher Vorbehalte eine erhebliche Erleichterung mit sich bringen. Ergänzend ist eine inhaltliche Erfassung der Tätigkeiten der Lernenden während der Bearbeitung der virtuellen Lernumgebung als sinnvoll zu erachten. Mit den vorliegenden Daten können lediglich Aussagen über den Aufruf und das Zeitfenster bis zum nächsten Kapitelaufruf getroffen werden. Screencasts oder videografierte Durchführungen erscheinen hier als zielführende Ergänzung der Logfile-Analyse.

Perspektivisch ermöglichen (ad hoc) generierte Sequential Patterns der Nutzenden in einer virtuellen Lernumgebung die probabilistische Vorhersage der weiteren Schritte eines Lernpfades. Etwa aus dem Online-Marketing bekannte Strategien des Typs „Kunden, die Artikel x und Artikel y kauften, interessierten sich auch für Artikel z“, könnten in der Anwendung auf ein Lernsetting dynamische Links oder Inhalte zur Vertiefung und Wiederholung einbinden. Auf diese Weise könnte die Auflösung starrer Lernpfade zugunsten personalisierter Lernerlebnisse einen bedeutenden Beitrag für Individualisierung und integratives Lernen im (naturwissenschaftlichen) Unterricht leisten.