Zusammenfassung
Virtuelle Realität (VR) entwickelt sich immer mehr zu einem wichtigen Bildungswerkzeug für den MINT-Bereich. So können VR-Lernumgebungen Lernprozesse im Schulunterricht positiv unterstützen, indem sie beispielsweise unsichtbare Phänomene sichtbar machen (z. B. submikroskopische Vorgänge auf Teilchenebene) oder Orte aufgesucht werden, die normalerweise nicht erreichbar wären (z. B. im Rahmen einer virtuellen Exkursion). Bisher mangelt es im Schulalltag jedoch an geeigneten VR-Lernumgebungen. Dies liegt auch daran, dass potenziellen Entwicklerinnen und Entwicklern bisher keine unterrichtsbezogenen Designkriterien vorliegen, an denen sie sich bei VR-Konzeptionen orientieren könnten. Im Rahmen des hier vorgestellten Forschungsprojekts werden aktuell relevante Kriterien ermittelt und als Gestaltungsprinzipien für die Erstellung von VR-Lernumgebungen formuliert. Das methodische Vorgehen orientiert sich an dem Design-based-Research-Ansatz. Die Ergebnisse der empirischen Studie fokussieren das räumliche Präsenzerleben. Es werden Gestaltungsprinzipien zu den Bereichen „Selbstlokation“, „Handlungsmöglichkeiten“ sowie „Nutzungshäufigkeit“ abgeleitet.
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10.1 Lernen in der virtuellen Realität
Virtuelle Realität
ist eine computergenerierte, interaktive Welt, die die Nutzenden vollständig umgibt und durch die Ansprache eines oder mehrerer Sinne mittels geeigneter Systeme besonders immersiv erlebt werden kann (Bormann, 1994; Sherman und Craig, 2003).
Virtuelle Realität (VR) birgt als digitales Medium großes Potenzial für die Weiterentwicklung des MINT-Unterrichts im 21. Jahrhundert. Es gibt allerdings nur wenige Studien darüber, wie die Integration von VR-Elementen im schulischen Alltag gelingen kann (Pellas et al., 2020). VR macht es möglich, Orte und Phänomene nachzubilden, die für das bloße Auge nicht sichtbar oder für den Menschen unzugänglich sind (Huang, 2019). Für Lern- und Bildungsangebote wird VR bisher kaum genutzt (Bitkom, 2021). Herausforderungen wie der große Zeitbedarf, mögliche kognitive Überlastung der Lernenden und ein fehlgeleiteter Aufmerksamkeitsfokus wurden noch nicht hinreichend untersucht (Zender et al., 2018). Die einzelnen Aspekte des Lernens in VR werden beispielsweise von Johnson-Glenberg (2019) allgemein analysiert, allerdings geschieht dies ohne direkten Bezug zum schulischen Unterricht. Um VR-basierte Lernumgebungen für den MINT-Unterricht zu legitimieren, sollten durch sie auch die Kompetenzbereiche gefördert werden. Für den Bereich der Erkenntnisgewinnung könnte dies funktionieren, wenn beispielsweise Experimente und Lernaufgaben in VR gute Kennwerte in Bezug auf Wiedergabetreue und Realismus aufweisen (Pellas et al., 2020). Zudem können immersive Erfahrungen den Wissenserwerb und das Merken und Erkennen von Objekten effektiv unterstützen sowie die Zufriedenheit, das Interesse und den Enthusiasmus der Nutzenden steigern (Pollard et al., 2020). Durch den Einbezug von verschiedenen Sinnen (haptisch, optisch, auditiv und kinästhetisch) kann zudem das konzeptionelle Lernen durch Bewegungen verbessert werden (Johnson-Glenberg et al., 2020). Johnson-Glenberg (2019) formulierte VR-Gestaltungsprinzipien, die auch bei der Konzeption der in Abschn. 10.2 beschriebenen VR-Lernumgebung berücksichtigt wurden:
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Erleichtern Sie die kognitive Anstrengung.
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Verwenden Sie geführte Erkundung.
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Geben Sie sofortiges, umsetzbares Feedback.
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Testen Sie häufig mit der richtigen Gruppe.
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Bauen Sie Gelegenheiten zur Reflexion ein.
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Verwenden Sie die Handsteuerung für aktives, körperbasiertes Lernen.
Räumliche Präsenz kann als die subjektive Erfahrung eines Nutzenden oder Betrachtenden definiert werden, sich physisch in einem vermittelten Raum zu befinden, obwohl es sich nur um eine Illusion handelt (Hartmann et al., 2015).
Als ein wichtiges Kriterium der VR für den Lernerfolg wird das räumliche Präsenzerleben angesehen (Hofer, 2013). Es steht in Abhängigkeit zur Immersion, welche mit einem objektiven Level an Sensortreue verbunden ist, die ein VR-System generieren kann. Ein hohes Immersionslevel kann die Motivation und das Engagement stärker steigern als ein niedriges (Huang et al., 2020). Wirth et al. (2007) postulieren, dass räumliches Präsenzerleben ein komplexer, andauernder Prozess ist und kein beständiger Zustand. Räumliches Präsenzerleben lässt sich in die zwei Bereiche Selbstlokation und Handlungsmöglichkeiten unterteilen (Wirth et al., 2007).
Selbstlokation: Um die individuelle Position festlegen zu können, sind Informationen der eigenen Bewegung als auch aus der Umwelt notwendig (Barry & Burgess, 2014). Es gibt Hinweise aus den Kognitionswissenschaften, dass Menschen zur Bestimmung der Selbstlokation beide Arten von Informationen nutzen und diese nach Zuverlässigkeit gewichten (Nardini et al., 2008). Daher muss die gewählte VR-Hardware die körpereigenen Bewegungen so präzise wie möglich in der virtuellen Repräsentation wiedergeben. Ebenso müssen die Umweltinformationen aus der VR-Umgebung verlässlich und beständig sein. Bei einer realitätsnahen Umgebung setzt dies eine Umsetzung der uns bekannten Naturgesetze voraus, aber auch die Einhaltung von realitätsnahen Distanzen zwischen Objekten mit realitätsnahen Proportionen.
Handlungsmöglichkeiten: In der Realität sind Interaktionen zwischen Menschen und Objekten allgegenwärtig. In der Virtualität werden Beziehungen und Interaktionen nachgebildet. Greifen, Bewegen etc. steigern die Motivation und tragen mit sofortigem Feedback zum Lernen bei (Tai et al., 2020). Interaktionsmöglichkeiten in VR, wie die freie Erkundung visueller Elemente sowie deren Mobilität, sind zentrale Aspekte für den Wissenserwerb (Pellas et al., 2020). Der Einsatz des Körpers in VR und die damit verbundenen Interaktionen mit der Umwelt tragen beim Embodied Learning („verkörpertes Lernen“) dazu bei (Johnson-Glenberg, 2019), dass die Lernenden selbst aktiv sind und nicht passiv dabei zusehen, wie von anderen Lerngegenstände verändert werden (Kontra et al., 2015).
10.2 Konzeption einer fächerübergreifenden VR-Lernumgebung
Die in Abschn. 10.1 genannten theoretischen Aspekte wurden bei der Konzeption der fächerübergreifenden Lerneinheit „CO2-Ausgasung in Fließgewässern“ berücksichtigt. Diese kann im Fach Chemie zum Thema „Kohlenstoffkreislauf“ im Themenfeld 11 „Stoffe im Fokus von Umwelt und Klima“ (MBWWK, 2014) und im Fach Erdkunde zum Thema „Geofaktoren als Lebensgrundlage“ im Lernfeld II.1 (MBWWK, 2016) eingesetzt werden. Die Lerneinheit adressiert zudem das Sustainable Development Goal 13 „Maßnahmen zum Klimaschutz“ und leistet dabei einen Beitrag zum Unterziel 13.3 im Sinne der Aufklärung und Sensibilisierung im Bereich der Abschwächung des Klimawandels. Inhaltlich thematisieren drei VR-Lernstationen ausgewählte Bereiche des globalen Kohlenstoffkreislaufs mit einer relevanten, aber bisher noch wenig untersuchten Quelle von CO2 – den Fließgewässern – und einer effizienten Senke von CO2, nämlich dem Baumwachstum.
Station (1) Messung der CO 2 -Ausgasung von Fließgewässern
Fließgewässer gelten als Hotspots der CO2-Ausgasung (Raymond et al., 2013). Zur quantitativen Bestimmung der Ausgasung wird eine Floating Chamber verwendet, welche aus einer mit einem CO2- und einem Temperatursensor bestückten Kunststoffschüssel besteht, die mittels einer Poolnudel auf dem Wasser treiben kann und durch Alufolie vor Messfehlern aufgrund variierender Sonneneinstrahlung geschützt wird. Die Floating Chamber deckt beim Aufsetzen auf die Wasseroberfläche den Bereich darunter gasdicht ab, wodurch die CO2-Konzentrationsänderung im Innenraum gemessen werden kann (Rawitch et al., 2021). Trotz der einfachen Konstruktion liefert diese Messmethode auch für aktuelle umweltwissenschaftliche Forschungsprojekte valide Daten, die per Bluetooth an ein Tablet gesendet und grafisch in Echtzeit aufbereitet werden.
In der VR-Lernumgebung arbeiten die Schülerinnen und Schüler an einem Tisch und erhalten dort automatisiert Erklärvideos zu ihren aktuellen Arbeitsschritten. Diese werden zusätzlich in Textform eingeblendet. Die Teilnehmenden bauen so die Sensoren in die Floating Chamber ein (Abb. 10.1) und platzieren anschließend die schwimmende Apparatur zur Messung der Ausgasung in den Fluss. Zur Deutung des Prozesses auf submikroskopischer Ebene steht die „chemische Lupe“ zur Verfügung. Diese ermöglicht eine modellhafte Betrachtung der CO2-Ausgasung auf Teilchenebene und hebt einen der entscheidenden Vorteile der VR hervor: Unsichtbares lässt sich sichtbar machen.
Station (2) Einflussfaktoren auf die CO 2 -Ausgasung in Fließgewässern
Der Eintrag von kohlenstoffhaltigem Material, darunter beispielsweise Totholz als natürliche Quelle, findet zunächst über angrenzende Landflächen sowie durch im Gewässer lebende Pflanzen statt (Bodmer et al., 2016). Der Abbau des Materials durch Mikroorganismen sorgt für eine CO2-Übersättigung des Fließgewässers (Bodmer et al., 2016). Die Geschwindigkeit, mit der CO2 an die Luft abgegeben wird, steigt unter anderem durch eine Zunahme der Turbulenz des Gewässers, beispielsweise durch ein unebenes Flussbett oder eine erhöhte Fließgeschwindigkeit (Vachon et al., 2010). Die tatsächliche Ausgasung ist zudem von der Lichtverfügbarkeit (z. B. Tag-Nacht-Zyklus) abhängig, da ein Teil des ausgasenden CO2 unmittelbar von fotosynthetisch aktiven Lebewesen (z. B. Pflanzen) fixiert wird, woraus eine nächtliche Zunahme der Ausgasung folgt (Gómez-Gener et al., 2021). In der VR-Lernumgebung können die Schülerinnen und Schüler die Auswirkung der vier genannten Einflussfaktoren im Sinne einer Variablenkontrollstrategie (hohe oder niedrige Turbulenz, viel oder wenig Pflanzenbewuchs, Dunkelheit oder Tageslicht, viel oder wenig Totholz) auf die CO2-Ausgasung von Fließgewässern erproben. Der jeweilige Einflussfaktor lässt sich mithilfe eines Hebels hinzuschalten. Zu jeder Einstellung werden Lernaufgaben eingeblendet, die interaktiv beantwortet werden können (Abb. 10.2).
Station (3) CO 2 -Speicherkapazität von Bäumen
Bäume gelten als natürliche CO2-Senken, da sie durch den Prozess der Fotosynthese CO2 binden. Nach Bastin et al. (2019) könnte durch die Erneuerung natürlicher Wälder der atmosphärische CO2-Gehalt um 30 % reduziert werden. Von besonderer Bedeutung sind dabei ältere Bäume, da die jährliche Aufnahme von CO2 im Laufe des Baumwachstums immer weiter zunimmt (Stephenson et al., 2014). Während junge Bäume in den ersten Jahren ihres Wachstums nur wenige Kilogramm Biomasse im Jahr generieren, können alte Bäume jährlich mehrere tausend Kilogramm CO2 fixieren (Stephenson et al., 2014). In der VR-Lernumgebung lassen die Schülerinnen und Schüler mithilfe einer Simulation einen Baum in 2, 10 oder 50 Jahresschritten wachsen. Auf einem Control-Panel wird dazu passend die Masse des Baumes im jeweiligen Alter angegeben. Die Teilnehmenden erhalten die Aufgabe, die Baummasse und das jeweilige Baumalter mithilfe von Pins in ein Diagramm zu übertragen, um so die Wachstumskurve des Baums zu visualisieren (Abb. 10.3). Abschließend wird ein Videoausschnitt eingeblendet, indem erklärt wird, wie Baumwachstum und Jahreszeiten die CO2-Speicherkapazität von Wäldern beeinflussen.
10.3 Evaluation der VR-Lernumgebung im Design-based-Research-Ansatz
Als Forschungsmethode zur Ermittlung von Gestaltungsprinzipen für VR-Lernumgebungen im MINT-Unterricht wurde der Design-based-Research-Ansatz (DBR) gewählt. DBR ermöglicht das iterative Durchlaufen von Designschritten für eine kleinschrittige Bewertung aller erforderlichen Komponenten und Einflüsse des Designs auf das Lernen (Euler, 2014). Ausgangspunkt der DBR-Forschung ist ein relevantes Bildungsproblem, für welches Lösungen zu finden sind (Reinmann, 2017). Im Rahmen des Forschungsprojekts ist das Bildungsproblem die Gestaltung einer immersiven VR-Lernumgebung für den schulpraktischen Alltag.
Zur Lösung des Problems wurde das sechsstufige DBR-Modell nach Euler (2014) verwendet (Abb. 10.4, dunkelgrau markierter Bereich). Dieses Modell wurde mit den Gestaltungshinweisen für VR-Lernumgebungen aus dem Ingenieurwesen nach Vergara et al. (2017) erweitert (Abb. 10.4, hellgrau markierter Bereich). Diese Kombination bildet den Makrozyklus des Projekts, der wiederum in sechs iterative Mikrozyklen unterteilt ist (Abb. 10.5). Die Mikrozyklen ermöglichen die stufenweise Konzeption und Evaluation der VR-Lernumgebung unter Berücksichtigung der Designkriterien „Realismus“ (Mikrozyklus 1), „Bewegungsradius“ (Mikrozyklus 2), „Geräuschkulisse“ (Mikrozyklus 3) und „Handlungsmöglichkeiten“ (Mikrozyklus 4–6), die maßgeblich zur geforderten Authentizität der Umgebung beitragen (Gilbert, 2016). Ziel ist es, im Rahmen des Prozesses Antworten auf folgende Forschungsfragen zu erhalten:
(1) Welche Gestaltungsprinzipien müssen beachtet werden, um eine immersive VR-Lernumgebung zu entwickeln? (2) Welche Erkenntnisse lassen sich aus den Ergebnissen des Designprozesses für das räumliche Präsenzerleben (Handlungsmöglichkeiten und Selbstlokation) sowie die Motivation ableiten?
Zur Beantwortung der Forschungsfragen erhielten Schülerinnen und Schüler aus vier Klassen der zehnten Jahrgangsstufe (N = 95, Alter: MW = 15.8, SD = .67, Geschlecht: 51.6 % weiblich) die Möglichkeit, sich jeweils einzeln in der VR-Lernumgebung zu bewegen (vgl. Mikrozyklen 1–6 Abb. 10.5). Direkt nach dem Absetzen der VR-Brille wurden die Probanden in jedem Mikrozyklus dazu aufgefordert, einen Fragebogen zu bearbeiten, der die Konstrukte des räumlichen Präsenzerlebens (Vorderer et al., 2004), Realismus (Poeschl & Doering, 2013) und der aktuellen Motivation sowie ab dem vierten Mikrozyklus zusätzlich die empfundene Lerneffektivität (Zhang et al., 2017), die wahrgenommene Bedienbarkeit (Venkatesh & Davis, 2000) und die subjektive Auswirkung von virtueller Realität auf die Motivation und das Lernen (Zhang et al., 2017) erfasst.
Zwei der vier Klassen (n = 46) durchliefen den ersten und zweiten Mikrozyklus, die anderen zwei Klassen (n = 49) den zweiten bis sechsten Mikrozyklus. Diese Aufteilung hatte organisatorische Gründe, zum einen, weil die Erhebung durch Schulferien unterbrochen und der Klassenverband anschließend in der Kursstufe aufgelöst wurde, sowie zum anderen, weil im zweiten Mikrozyklus die Probanden in drei Subgruppen aufgeteilt worden sind und so noch eine ausreichend große Stichprobe gewährleistet werden konnte. Im ersten Mikrozyklus wurde der Realismus der Grundfläche untersucht. Die Grundfläche bildete eine der Realität nachempfundene Grünfläche – der Queichpark in Landau – mit realistischen 3D-Objekten (Bäume, Gras, Fließgewässer etc.) ab. Anhand der Fragebogenergebnisse zu den Konstrukten „Realismus“ sowie „räumliches Präsenzerleben“ wurden beispielsweise die Wasseroberfläche, Licht- und Schattenverhältnisse sowie die Bewegung der Vegetation durch Wind optimiert. Zur Analyse des Bewegungsradius wurden im zweiten Mikrozyklus die vier Klassen auf drei verschiedene Radien aufgeteilt (2×2 m, 4×4 m und 6×6 m), um zu erfassen, inwieweit sich Bewegungsmöglichkeiten auf das räumliche Präsenzerleben auswirken. Im dritten Mikrozyklus wurden in die VR-Lernumgebung mit dem unter Berücksichtigung der Praxistauglichkeit erfolgversprechende Radius von 4×4 m realistische Umgebungsgeräusche implementiert und hinsichtlich des Effekts auf den Realismus sowie das räumliche Präsenzerleben evaluiert. Mit Abschluss dieses Zyklus und der Optimierung hinsichtlich der untersuchten Schlüsselfaktoren ist die grundlegende Konzeption der virtuellen Umgebung abgeschlossen. Schlussendlich wurden in den Mikrozyklen vier bis sechs die drei Lernstationen mit erstmaligen Handlungsmöglichkeiten getestet. Hierbei wurden die Probanden durch Arbeitsaufträge angeleitet in und mit der VR-Lernumgebung zu interagieren, um konkrete Aufgaben zu bearbeiten (vgl. Abschn. 10.2 und Abb. 10.1 bis 10.3). Um das Potenzial der drei Lernstationen sowie deren Gestaltung und Umsetzung zu evaluieren, wurden die empfundene Lerneffektivität (Zhang et al., 2017), die wahrgenommene Bedienbarkeit (Venkatesh & Davis, 2000) sowie die subjektive Auswirkung von virtueller Realität auf die Motivation und das Lernen (Zhang et al., 2017) erfragt.
Gestaltungsprinzip 1: Bewegung durch den virtuellen Raum kann als Schlüsselfaktor für eine verbesserte Selbstlokation dienen
Wie der Verlauf der Selbstlokation in Abb. 10.6 zeigt, steigen die Werte mit einem kleinen Effekt signifikant (F(5,270) = 3.821, p = .002, ηG2 = .067) mit Zunahme an verlässlichen Umweltinformationen sowie der Zunahme an Informationen aus der eigenen Bewegung. Das bedeutet, dass ein erhöhter Bewegungsradius von 4×4 m sowie die Ergänzung von ortsbezogenen, realitätsnahen Geräuschen die Selbstlokation positiv beeinflussen. Der höchste Wert wurde bei der ersten Station im vierten Mikrozyklus erreicht. Hier wurde im Gegensatz zur zweiten und dritten Station zur Bearbeitung der Aufgabe der maximale Bewegungsradius genutzt. Dabei musste selbstständig ein Gegenstand zusammengebaut und transportiert sowie eine realitätsnahe Distanz zwischen dem Tisch mit dem Arbeitszubehör und dem Fluss zurückgelegt werden. Die Gewichtung der Informationen aus Umwelt und eigener Bewegung waren ausreichend hoch und überzeugend genug, um eine hohe Selbstlokalisation zu erzeugen, was wiederum zu einem erhöhten räumlichen Präsenzerleben und damit einem möglichen erhöhten Lern- und Trainingseffekt führt.
Darstellung der Mittelwerte (MW) und Standardabweichungen (SD) der Skala Selbstlokation. Selbstlokation ist eine Subskala des räumlichen Präsenzerlebens (Vorderer et al., 2004)
Gestaltungsprinzip 2: Handlungsmöglichkeiten beeinflussen das Präsenzerleben maßgeblich
Die Ergebnisse zu den Handlungsmöglichkeiten zeigen, dass die gewählten Interaktionen das räumliche Präsenzerleben mit einem mittleren Effekt signifikant (F(5,121.01) = 6.84, p < .001, ηG2 = .22) beeinflussen (Abb. 10.7). Obwohl bei den ersten drei Mikrozyklen ohne Controller gearbeitet wird, liegen die Werte zu den Handlungsmöglichkeiten über dem Skalenmittelwert. Dennoch steigt ab dem vierten Mikrozyklus der Wert durch die Interaktionen im Rahmen der drei Stationen nochmals an. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass das Design der Stationen mit seinen realistischen Aktionen überzeugen konnte und so das räumliche Präsenzerleben maßgeblich förderte.
Darstellung der Mittelwerte (MW) und Standardabweichungen (SD) der Skala Handlungsmöglichkeiten. Handlungsmöglichkeiten sind eine Subskala des räumlichen Präsenzerlebens (Vorderer et al., 2004)
Gestaltungsprinzip 3: Nutzungshäufigkeit – ein mehrfacher Einsatz von VR-Lerneinheiten trägt zur Motivationssteigerung bei
Da Lernen in VR für viele der Probanden ungewohnt ist, könnte ein Neuigkeitseffekt sich potenziell auf die intrinsische Motivation und das Engagement auswirken (Huang et al., 2020). Tritt dieser Effekt auf, wäre die anfängliche Motivation hoch ausgeprägt und würde bei wiederholter Nutzung abnehmen (Jensen & Konradsen, 2018). In einer Studie von Huang et al. (2020) wurde jedoch festgestellt, dass es keinen systematischen oder starken Rückgang der Motivation oder des Engagements gibt, je häufiger die VR-Lernumgebung genutzt wurde. Diese Erkenntnis kann mit den vorliegenden Ergebnissen repliziert werden (Abb. 10.8). Während das Interesse mit einem kleinen Effekt signifikant steigt (F(5,270) = 2.72, p = .021, ηG2 =.047), nimmt die Misserfolgsbefürchtung der Probanden deskriptiv von Mikrozyklus zu Mikrozyklus ab. Diese Tendenz ist jedoch nicht signifikant (F(5,270) = 1.20, p = .31, ηG2 = .022). Die Ergebnisse verdeutlichen, dass der wiederholte Einsatz der konzipierten VR-Lernumgebung nicht vom Neuigkeitseffekt beeinflusst wird.
Darstellung der Mittelwerte (MW) und Standardabweichungen (SD) der Subskalen Interesse und Misserfolgsbefürchtung aus dem Fragebogen zur aktuellen Motivation (Rheinberg et al., 2001)
10.4 Fazit
Um praxistaugliche und kompetenzfördernde VR-Lernumgebungen für den schulischen Unterricht zu entwickeln, sind zahlreiche inhaltliche und technische Hürden zu bewältigen. Evidenzbasierte Designhinweise würden eine wichtige Hilfestellung bei der Konzeption solcher Umgebungen liefern. Daher wurde im Rahmen des vorgestellten Projekts zunächst ein schulrelevanter VR-Prototyp erstellt, im Anschluss mit Schülerinnen und Schülern erprobt und hinsichtlich des Designkriteriums „räumliches Präsenzerleben“ evaluiert. Aus den Ergebnissen der empirischen Studie lassen sich allgemeine Gestaltungsprinzipien zu den Bereichen „Selbstlokation“, „Handlungsmöglichkeiten“ sowie „Nutzungshäufigkeit“ ableiten. Diese lauten wie folgt:
Gestaltungsprinzip (1): Ein erhöhter Bewegungsradius sowie die Ergänzung von ortsbezogenen, realitätsnahen Geräuschen erhöhen die Selbstlokation und damit das räumliche Präsenzerleben.
Gestaltungsprinzip (2): Realistische Interaktionen und realitätsnahe Naturgesetze für die zu nutzenden Gegenstände steigern das räumliche Präsenzerleben signifikant.
Gestaltungsprinzip (3): Durch eine mehrfache Nutzung der VR-Umgebung wurde eine signifikante Zunahme des Interesses mit einem kleinen Effekt festgestellt. Ebenso wurde ein Rückgang der Misserfolgsbefürchtung festgestellt, welcher aber nicht signifikant war. Dies stützt die Ergebnisse von Huang et al. (2020).
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