6.1 Einführung

Das Projekt aSTAR – Kompetenzvermittlung in einer VR-basierten Umgebung zur Arbeitsgestaltung, beschäftigte sich mit der Frage, wie virtuelle Realitäten (VR) gestaltet sein müssen, um die bisherige Arbeit von Krankonstrukteur*innen optimal zu unterstützen, indem eine prospektive Sicht auf nachgelagerte Serviceprozesse ermöglicht wird. Dies gilt insbesondere für die nachgelagerten Montage- und Wartungsprozesse, die bereits in einem frühen Stadium des Entwurfsprozesses berücksichtigt werden müssen, um effizient und benutzerfreundlich zu sein. Es sollte daher ein Ansatz für einen erweiterten und virtuellen Kompetenztransfer entlang der Wertschöpfungskette entwickelt werden, dessen Ausgangspunkt eine VR-basierte Lernumgebung darstellt, die den Austausch, die Wissensvermittlung und die gemeinsame Bewertung von Konstruktionen und Arbeitsprozessen ermöglicht.

Die Einbettung der VR-Technologie in das bestehende Arbeitsumfeld erforderte zunächst eine umfassende Betrachtung der bestehenden Arbeitsprozesse und eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit interdisziplinären Fragestellungen, die in diesem Bericht beschrieben und diskutiert werden. Im Laufe des Projektes bestätigte sich die These, dass die VR umfangreiche Potenziale bietet, um bestehende Arbeitsprozesse zu unterstützen und erweitern zu können. Diese Potentiale umfassen unter anderem die Perspektivübernahme, den Wissenstransfer, die Prospektivität, die Ergonomie und die Zusammenarbeit in der VR, sowie die prospektive Konstruktionsarbeit. Im Kontext der angesprochenen Arbeitsprozesse eröffnet VR die Möglichkeit, Computer-Aided Design (CAD)-Konstruktionen in unterschiedlichen Umgebungen darzustellen und aus allen Perspektiven – sowohl räumlich als auch bezogen auf andere Personen – zu betrachten. Durch die Simulation der Montage- und Wartungsprozesse bietet VR unter anderem einen Raum zum Testen, Entwickeln von Ideen, Vermitteln formaler Lerninhalte und Sensibilisieren für Aspekte der Arbeitssicherheit (siehe Abb. 6.1). Die im Forschungsprojekt entwickelten VR-Szenarien beinhalten die virtuelle Simulation von Montage- und Wartungsszenarien verschiedener Kranmodelle in unterschiedlichen Umgebungen.

Abb. 6.1
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Screenshot des VR-Montagszenarios

Darüber hinaus ist es den Krankonstrukteur*innen möglich, ihre CAD-Zeichnung direkt in die VR zu übertragen, dort zu betrachten und das Zusammenspiel von Modell und Umgebung sowie die Montage- und Wartungsprozesse bereits während des Konstruktionsprozesses zu bewerten. Auf diese Weise können mögliche Komplikationen in den nachgelagerten Montage- und Wartungsprozessen erkannt und vermieden werden, was wiederum zu Kosten- und Zeiteinsparungen führt. Ein weiterer Einsatzbereich für die entwickelten VR-Szenarien ist die Aus- und Weiterbildung von Servicemitarbeiter*innen. Obwohl die VR-Szenarien den Montage- und Wartungsprozess vereinfacht darstellen, enthalten sie dennoch Inhalte zur Sensibilisierung im Bereich der Arbeitssicherheit und schaffen einen Raum, in dem Prozesse trainiert und erprobt werden können. Insgesamt konnten im Projektverlauf die genannten Einsatz- und Anwendungsbereiche spezifiziert und herausgearbeitet sowie Leitfäden für die erfolgreiche Implementierung und Integration der Technologie entwickelt werden. Die regelmäßigen Evaluationen und Feedbackschleifen ermöglichten eine breite Betrachtung der Anwendung aus unterschiedlichen Perspektiven. Um die nachhaltige Integration der entwickelten VR-Technologie in bestehende Arbeitsprozesse zu gewährleisten und gleichzeitig deren Übertragbarkeit auf weitere Arbeitskontexte sicherzustellen, ist diese Betrachtung besonders entscheidend.

6.2 Stand der Forschung

Das Forschungsprojekt aSTAR hat in verschiedenen Bereichen interdisziplinäre Forschung initiiert oder fortgeführt.

6.2.1 VR in der Arbeitswelt

Der Zweck von Virtualität besteht nicht primär in der Überwindung von Zeit und Raum, sondern darin, aktuell Unverfügbares – zur Erkundung, Interaktion oder Manipulation – verfügbar zu machen (Krüger, 2019). VR setzt damit die Möglichkeit des Erlebens und Erfahrens virtueller Objekte, Prozesse und Personen voraus, die abhängig davon sind, ob die erschaffene Realität als authentisch wahrgenommen wird oder nicht. Eine virtuelle Realität kann daher nicht für sich real (im Sinne echter Realität) oder irreal (im Sinne eines Konstrukts) sein. Ihr ,Wesen‘ als eine spezifische Wirklichkeit, ihre erfahrbare Beschaffenheit und Stofflichkeit kommen erst in der Relation zwischen Mensch und VR, d. h. in ihrer Nutzung zum Vorschein. Der Gehalt einer VR spiegelt sich demnach in den simulierten Eigenschaften virtueller Objekte (Textur, Geometrie, Physik etc.), der Nachvollziehbarkeit simulierter Prozesse und der Plausibilität des Verhaltens virtueller Charaktere wider, wie sie sich z. B. am „characterhood“ von virtuellen Figuren im Medium des Computers zeigt (Harth, 2020). Vor diesem Hintergrund ist radikal konstruktivistischen Perspektiven auf VR zu widersprechen, die davon ausgehen, dass für Virtualität „die Frage der realen Realität ganz und gar gleichgültig ist“ (Esposito, 1998, S. 270). Die „alternative Realitätsdimension“ der VR mit ihren „wahren virtuellen Objekten“ (ebd.) ist gerade nicht unabhängig von dem impliziten und expliziten Wissen über die reale Welt zu denken: Erst im Abgleich und in Verbindung mit der Realität wird VR mit Sinn erfüllt und auf diese Weise erfahrbar gemacht. Dazu gehört, dass der Umgang mit VR eine soziotechnische Praxis darstellt, die – wie auch der Umgang mit ,echten‘, mehrdimensional erfahrbaren Objekten (Optik, Haptik, Geruch etc.) – auf einer komplexen sinnlichen Wahrnehmung, einem experimentell explorativen Vorgehen, einer großen Nähe zum Gegenstand und einem erlebnisbezogenen Denken beruht (Böhle, 2017). Grundvoraussetzung für die Erfahrbarkeit von VR ist demnach eine nachvollziehbare und vor dem Hintergrund bestehenden impliziten und expliziten Wissens plausible Konstruktion des virtuellen Raums, um ein Eintauchen, mit allen Sinnen‘, d. h. mental-kognitiv und körperlich-leiblich zu ermöglichen. Dies kann durch Detailgrad und Performance sowie durch symbolische Bezüge zur Realität unterstützt werden (Harth, 2020). VR wird damit zu einem Erfahrungsraum, der auf eigenständige Strukturen, Ästhetiken und Logiken verweist. Vollständig realisiert wird die Erfahrung von VR hingegen erst als eine sinnliche und sinnhafte Konstruktion: In ihrer Nutzung wird die außer-virtuelle Welt aktiv mitvergegenwärtigt, so dass die in der ganzheitlichen Immersion entstehenden Reize mit bestehendem implizitem und explizitem Wissen verbunden und in neues implizites und explizites Wissen transformiert werden.

6.2.2 Kompetenzentwicklung durch VR

Mit den vorhergehenden Ausführungen wird klar, dass es sich im Kontext von VR nicht nur um das Was der Kompetenzentwicklung, sondern auch um das Wie handelt (siehe dazu Heinlein et al., 2021). Darauf macht auch die Kompetenzforschung aufmerksam: Formale Aspekte des Arbeitshandelns (z. B. Aufgabenbeschreibungen, Anforderungskataloge, Ziele und messbare Ergebnisse) hängen unmittelbar mit dem Arbeitsprozess und den dort aufgehobenen Möglichkeiten, ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen, zusammen (Bergmann, 2000; Erpenbeck & von Rosenstiel, 2007; Kauffeld, 2006). Begreift man das menschliche Arbeitshandeln als ein wechselseitiges Verhältnis von objektivierenden Anteilen (damit ist ein planmäßiges, distanziertes und analytisches Vorgehen basierend auf explizitem Wissen gemeint) und subjektivierenden Anteilen (exploratives, assoziatives und ganzheitlich-komplexes Handeln basierend auf implizitem Wissen), lassen sich Qualifikationen eher auf der objektivierenden, Kompetenzen eher auf der subjektivierenden Seite verorten.

Als berufliche Handlungskompetenz lassen sich daher diejenigen „Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensbestände“ fassen, „die eine Person, ein Team oder eine Organisation bei der Bewältigung konkreter sowie vertrauter als auch neuartiger Arbeitsaufgaben handlungs- und reaktionsfähig machen und sich in der erfolgreichen Bewältigung konkreter Arbeitsanforderungen zeigen“ (Kauffeld & Paulsen, 2018, S. 14). Folgt man dieser Definition, dann sind Kompetenzen keine beliebigen Handlungsfähigkeiten in allen nur denkbaren Lern- und Handlungsgebieten, sondern solche Fähigkeiten, die ein produktives und innovatives Handeln in offenen und komplexen, bisweilen unvorhersehbaren Situationen erlauben (Sevsay-Tegethoff, 2004, S. 273). Kompetenzen erhalten ihre Bedeutung demnach auch und insbesondere im Umgang mit Unwägbarkeiten, bei denen ein planmäßig-rationales Handeln an Grenzen stößt (ebd., S. 277). Dieser informelle Lernprozess findet selbstgesteuert statt, d. h. er ist eingebunden in alltägliche Arbeitsabläufe und mündet unter geeigneten Rahmenbedingungen und bei hinreichender Offenheit der Mitarbeiter*innen in einen Zuwachs von Kompetenzen. Dafür sind Gestaltungsverfahren nötig, die sensibel für die Aneignung impliziten (Erfahrungs-) Wissens sind. Dies schließt Wissens- und geistige Arbeit nicht aus. Für die Entwicklung arbeitsbezogener Kompetenzen ist dementsprechend ein praktisch situiertes Lernen in der und durch die Arbeit grundlegend (Bauer & Munz, 2004; Bauer et al., 2006, 2012; Sauer & Trier, 2012).

Im Projekt wurden vor diesem Hintergrund die folgenden Kompetenzen anhand von Interviews mit Beschäftigten und Arbeitsprozessanalysen herausgearbeitet und unterschieden, die durch die VR-basierte Simulation fallspezifisch und gegenstandsbezogen entwickelt und gefördert werden sollen:

Prospektives Handeln: Durch den Einblick in den Erfahrungsraum der vor- bzw. nachgelagerten Bereiche und durch das Erleben und Erfahren ihrer spezifischen Herausforderungen kann vorausschauendes Handeln gestärkt werden. Organisationsinterne und -externe Unsicherheiten und Unwägbarkeiten werden proaktiv antizipiert und die eigene Tätigkeit vorausschauend daran ausgerichtet. Damit verbunden ist die Erweiterung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen zur Bewältigung ungeplanter Veränderungen.

Nachvollzug: Die Arbeitszusammenhänge des Services können durch die erlebbare Simulation von prägenden Ausschnitten und typischen Herausforderungen im Kontext der spezifischen Konstellationen und Herausforderungen vor Ort (z. B. bei Kund*innen) in ihrem Ablauf verstanden und sinnhaft nachvollzogen sowie im Gesamtzusammenhang der Wertschöpfung bzw. Wertschöpfungskette verortet werden. Damit verbunden ist eine Einsicht in die Sinnhaftigkeit von möglicherweise zunächst unklaren oder als unsinnig wahrgenommenen, eventuell auch vom Standard abweichenden Vorgehensweisen in der Praxis.

Innovation: Die VR-Umgebung bietet ein sicheres Umfeld für folgenloses Ausprobieren und Erproben. Zudem führt sie auch an atypische Lösungswege heran und eröffnet neue Einblicke in die Arbeitspraxis vor- und nachgelagerter Bereiche und Prozesse. Damit wird eine innovationsförderliche Perspektivenerweiterung angestoßen. So kann die VR-Umgebung sowohl für erweiterte Möglichkeitsräume in Bezug auf die eigene Arbeit als auch bezüglich der bereichsübergreifenden Kooperation sensibilisieren und die Beteiligten darin unterstützen, diese aktiv zu suchen oder selbst zu erzeugen. Dadurch werden Innovationsfähigkeit und proaktive Gestaltungskompetenz gefördert.

Transfer: Das Ausprobieren und geschützte, experimentelle Kennenlernen von arbeitsbezogenen Herausforderungen in der VR fördert die Abstraktion und Übertragung der erlebten Eindrücke und Erkenntnisse auf andersförmige oder neue Anforderungen der Praxis. Vor dem Hintergrund des eigenen Erfahrungswissens am Gegenstand zu lernen, erleichtert das Identifizieren, Verstehen und Extrahieren von Kernprinzipien typischer Herausforderungen und Lösungswege, um sie in die eigene Arbeitspraxis zu übertragen.

Anerkennung: Eng verbunden mit dem besseren Nachvollzug der Arbeitsrealitäten Anderer und ihrer Komplexität durch das Erleben, Erfahren und Bearbeiten in der VR, wird auch die Fähigkeit zur Anerkennung der jeweiligen Arbeitsleistung gefördert. Die Erkenntnis, dass hinter – von außen betrachtet – vermeintlich einfachen und klaren Arbeitsprozessen oftmals bei näherem Blick unerwartete und vielfältige Herausforderungen liegen, ist eine Grundvoraussetzung für anerkennendes bzw. würdigendes und ganzheitliches Arbeitshandeln.

Perspektivenübernahme: Durch die in der VR gemachten Erfahrungen wird die Fähigkeit zur wechselseitigen Perspektivenübernahme gefördert. Ein kompetenter Umgang bedeutet hier die Fähigkeit, gezielt in relevanten Situationen der eigenen Arbeit die Perspektive anderer Tätigkeitsbereiche und ihrer Beschäftigten einzunehmen, um so die eigenen Handlungsannahmen zu überprüfen und mögliche Konsequenzen für Andere vorausschauend zu antizipieren und zu reflektieren.

Vor dem Hintergrund dieses Kompetenzverständnisses und der Charakteristika von VR lassen sich die folgenden Anforderungen an die Gestaltung VR-basierter Lernumgebungen ableiten:

  • Eine nachhaltige Kompetenzvermittlung benötigt einen konkreten Gegenstandsbezug und Möglichkeiten zum praktischen Erleben und Erfahren, d. h. Erfahrungsräume und dort aufgehobene Gelegenheiten zur Aneignung. Typisch dafür sind Ausprobieren, Selbstaneignung, alltägliche Praxis, Training, Schulung durch erfahrene Personen, gemeinsames Arbeiten am Gegenstand, begleitetes Lernen und Abschauen bzw. Nachahmen. Die Herausforderung besteht darin, VR-basierte Lernprozesse so zu gestalten, dass implizite und explizite Wissensbestände gleichermaßen adressiert werden und eine gegenstandsbezogene, d. h. erfahrungs- und kompetenzförderliche Lernsituationen entsteht.

  • Kompetenzen sind inkorporierte, personengebundene Bündel von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen, die zu selbstorganisiertem Handeln und Problemlösen in unsicheren und komplexen Situationen befähigen. Insofern muss eine kompetenzförderliche VR-Lernumgebung den Mitarbeiter*innen gezielt solche Situationen als Erfahrungsgelegenheiten zur Verfügung gestellt werden, die inhaltlich und aus ihrer Problem- und Lösungslogik heraus auf die zu entwickelnden Kompetenzen verweisen.

  • Auch wenn sich Kompetenzen nicht im eigentlichen Sinne von einem Individuum zum anderen übertragen lassen, können individuelle Kompetenzen in ihrer Entäußerungspraxis an bestimmten herausfordernden Situationen und entsprechenden Bewältigungsformen festgemacht werden. VR-basierte Lernumgebungen bieten die Chance, arbeitsbezogene Situationen und Bewältigungspraxen mit einer inhaltlichen Lerndidaktik zu simulieren und in der VR anderen Personen als Erfahrungsgelegenheit zur Verfügung zu stellen.

  • Wesentlich für die Aneignung von Kompetenzen ist, dass sie mit bereits bestehenden Erfahrungen verknüpft werden. Für VR-Lernumgebungen bedeutet dies, dass die Lerngelegenheiten an das vorhandene alltags- und arbeitsspezifische implizite und explizite Wissen der Mitarbeiter*innen anschließen sowie eine übertragbare innere Logik und Relevanz aufweisen müssen.

  • Der Transfer des in der VR (weiter-)entwickelten Wissens und Könnens in die Arbeitswelt stellt sich jedoch nicht von selbst ein, sondern muss durch arbeitsorganisatorische Maßnahmen unterstützt und nachhaltig gesichert werden (Bossard et al., 2008). Geeignete Möglichkeiten dafür sind kontinuierliche Verbesserungsprozesse oder nachhaltige Integrationsmaßnahmen der VR-Nutzung in bestehende Arbeitsprozesse.

Der Anspruch, mit der VR-Gestaltung an die Arbeitspraxis und das situative Erleben anzuschließen und Kompetenzen zu adressieren, erfordert demnach ein methodisches Vorgehen, dessen Qualität substanziell von der Partizipation der involvierten Beschäftigtengruppen abhängt. Eine detaillierte Beschreibung des methodischen Vorgehens findet sich in Heinlein et al. (2021).

6.2.3 VR-basierte Arbeitsgestaltung

Ein wesentlicher Teil des Projekts befasste sich mit der Entwicklung einer VR-basierten Umgebung zur Arbeitsgestaltung (Weigel et al., 2022). Die kontinuierlichen Evaluationen und Feedbackschleifen ermöglichten es, die Integration der VR-Technologie in bestehende Arbeitsprozesse hinsichtlich unterschiedlichster Fragestellungen zu betrachten und zu analysieren. Um VR-Szenarien und die Erweiterung der Konstruktionsarbeit durch die CAD-Visualisierung von Kranen in VR erfolgreich in bestehende Arbeitsprozesse zu integrieren und letztlich einen Mehrwert zu schaffen, müssen u. a. die in Abschn. 2.2 herausgestellten Gestaltungskriterien berücksichtigt werden. Grundsätzlich stellte sich bei der Entwicklung der VR-Umgebung zunächst die Frage, wie realitätsnah und detailgetreu die VR-Inhalte abgebildet werden müssen, um das verfolgte Ziel zu adressieren. Diese Frage bezog sich dabei nicht nur auf die abgebildeten Inhalte, sondern auch auf das haptische Feedback. Soll die VR-Simulation Konstrukteur*innen in die Lage versetzen, die Perspektive von Servicemitarbeiter*innen bei der Wartung oder Montage einzunehmen und sich so bewusst zu machen, an welchen Stellen es bei seiner Konstruktion zu Komplikationen kommen kann, dann muss die VR so gestaltet sein, dass sie die wichtigsten Inhalte zur Problemerkennung abbildet (Weigel et al., 2020b). Bei VR-Szenarien zu Wartung und Montage im Rahmen der Vermittlung von Lerninhalten muss die Frage nach dem eigentlichen Ziel gestellt werden. Zum Beispiel kann das reale Gewicht beim Heben schwerer Bauteile nicht anhand von haptischem Feedback realitätsgetreu abgebildet werden. Da das Heben und Bewegen schwerer Lasten bei der Kranmontage aber zu Herausforderungen führen kann (durch einen fehlenden Gabelstapler oder aus Platzmangel), ist eine Abbildung dieser Herausforderung dringend notwendig. An dieser Stelle musste sich eine alternative Lösung überlegt werden, die die Herausforderung ohne die haptische Rückmeldung des tatsächlichen Gewichts so abbildet, dass eine Sensibilisierung für Konstrukteur*innen durch das VR-Szenario ausreichend stattfinden kann.

Betrachtet man den Prozess der Integration der VR-Technologie in den CAD-Prozess genauer, so stellt sich zunächst die Frage, ob ein zusätzlicher Technologiewechsel im Arbeitsprozess nicht überwiegend mit negativen Faktoren verbunden ist. Während Unterbrechungen in der Literatur überwiegend mit negativen Auswirkungen auf den Arbeitsprozess betrachtet wurden, konnten bei einem geplanten und sachgerechten Einsatz der VR-Technologie Bedingungen identifiziert werden, die die negative Wahrnehmung der möglichen Unterbrechung durch den Wechsel zwischen CAD-Programm und VR-Technologie minimieren. Dies bedeutet, dass unter Berücksichtigung der identifizierten Faktoren der Technologiewechsel als eine Anreicherung und Erweiterung der Arbeit angesehen werden kann (Weigel et al., 2022). Um eine nachhaltige Integration der entwickelten VR-Technologie in den Konstruktionsprozess zu gewährleisten, ist es nicht nur wichtig, dass die VR-Umgebung eine Perspektive bietet, die über die Grenzen der CAD-Ansicht hinausgeht, sondern auch, dass Mitarbeiter*innen frei wählen können, wie und zu welchem Zeitpunkt sie ihre Arbeit durch den VR-Einsatz ergänzen. Darüber hinaus sollte das VR-Setup fest installiert sein, damit die Nutzung von VR ohne großen Aufbau- und Zeitaufwand erfolgen kann.

6.3 Methodik

Für die im Projekt entwickelten VR-Szenarien wurde der Design Science Research (DSR) Ansatz verfolgt (Hevner et al., 2004). Als etablierter Ansatz im Forschungsfeld der Wirtschaftsinformatik ist dieser in zwei Bereiche gegliedert: Während der erste Bereich die Entwicklung eines neuen IT-Artefakts beschreibt, befasst sich der zweite Bereich mit der Erweiterung oder Optimierung eines bestehenden IT-Artefakts (March & Smith, 1995). Für die Entwicklung der VR-Szenarien wurde eine induktive Strategie verfolgt, d. h. es wurde ein Artefakt für ein spezifisches Problem entwickelt, welches in bestehenden Arbeitsabläufen identifiziert werden konnte (Iivari, 2015). Die Lösung wurde dann verallgemeinert, um eine Klasse von Problemen anzugehen. Die Annahme war, dass es erst nach der Einführung des IT-Artefakts in die Arbeitspraktiken möglich sein würde, theoretische Ansätze zur Arbeitsnutzung und -veränderung zu untersuchen und zu entwickeln (Hevner et al., 2004). Die Forschung innerhalb des Projektes folgte den sechs Phasen des DSR-Ansatzes (Peffers et al., 2007): Problemidentifikation, Zieldefinition einer Lösung, Design und Entwicklung, Demonstration und Evaluation und Kommunikation.

Zu Beginn wurden bestehende Arbeitsprozesse in der Konstruktion und der Arbeit im Service (Montage, Wartung & Reparatur) umfänglich analysiert und prozesshaft abgebildet, um darauf aufbauend einen präzisen Ansatz für die Entwicklung und Integration der VR-Szenarien erstellen zu können. Die erste Herausforderung bestand darin, die Prozesse genau zu verstehen und das zugrunde liegende Prozesswissen zu identifizieren. Gleichzeitig wurden bestehende Best Practices untersucht und die technischen Möglichkeiten zur Implementierung einer VR-Umgebung identifiziert. Nachdem ein Überblick über die Ausgangssituation und die Umsetzbarkeit der VR-Umgebung vorlag, wurden die Anforderungen an den Demonstrator definiert, auf deren Grundlage die eigentliche Entwicklung durchgeführt werden konnte. Mitarbeiter*innen und tatsächliche Nutzer*innen bewerteten regelmäßig, ob der VR-Demonstrator den Anforderungen entsprach und wie er sich erfolgreich in bestehende Arbeitsabläufe integrieren ließ. Das Feedback der Mitarbeiter*innen wurde in den nächsten Entwicklungsschritten berücksichtigt und der VR-Demonstrator konnte entsprechend angepasst werden. Die Evaluationsschleifen (Wiederholung der Schritte 3–5) wurden so lange durchgeführt, bis der VR-Demonstrator die identifizierten Anforderungen erfüllte (siehe Abb. 6.2).

Abb. 6.2
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Überblick der durchgeführten Methodik

Während der gesamten Projektlaufzeit wurden die aus den Evaluationen gewonnenen Daten umfassend analysiert und ausgewertet. Der Einsatz von VR wurde aus einer Vielzahl von Perspektiven betrachtet, die in den Ergebnissen dargestellt werden. Auf Basis der Daten wurden theoretische Ansätze entwickelt und Zusammenhänge verschiedener Einflussfaktoren untersucht, welche Auswirkungen auf die Integration und Nutzung der VR-Szenarien zur Arbeitsgestaltung haben.

Der letzte Schritt des DSR-Ansatzes beinhaltet die Kommunikation innerhalb des Projektteams und über die Grenzen der Anwendungspartner*innen hinweg. Die Kommunikation der Forschungszwischenergebnisse erfolgte an ausgewählte Zielgruppen, für die die Erkenntnisse von besonderer Relevanz sind. Interessierte hatte die Möglichkeit, sich über den Projektstand und aktuelle Berichte aus dem Projektverlauf auf der erstellten Projektwebseite zu informieren. Die Forschungsergebnisse wurden außerdem auf Ausstellungen, Konferenzen und in Publikationen präsentiert. Eine detailliertere Erläuterung der einzelnen Forschungsstränge findet sich weiter unten.

6.4 Ergebnisse

Die im Projekt entwickelten VR-Demonstratoren (VR-Montage- und Wartungsszenario) bauen auf die CAD2VR-Lösung auf. Der in CAD konstruierte Kran kann in die VR geladen und dort bewertet werden. Die entwickelten VR-Umgebungen dienen als Demonstrator für die Forschungsergebnisse. Darüber hinaus wurde eine Wissensplattform entwickelt, die eine gezielte Suche und Organisation von Informationen zu Krantypen und Hebezeugen (einschließlich Montage- und Wartungsanleitungen) und damit Montage- und Wartungsunterstützung ermöglicht. Mit den Anwendungen konnten sowohl während der Entwicklung als auch nach der Integration in bestehende Arbeitsprozesse, Daten erhoben werden. Die zu Beginn des Projektes prognostizierten Anwendungs- und Einsatzbereiche konnten folglich gezielt berücksichtigt werden und ermöglichten eine umfassende Untersuchung der Einflussfaktoren für eine effektive Integration der VR-Anwendungen.

Im Folgenden werden die ausgearbeiteten Einsatzbereiche der VR-Anwendungen untersucht und mit den erhobenen Daten aus den Evaluationen angereichert (siehe Abb. 6.3). Die Interviewauszüge zeigen, in welchen Bereichen welche Einflussfaktoren im Hinblick auf die Gestaltung und den Arbeitsprozess wichtig sind und wie deren Berücksichtigung die Integration der VR-Anwendungen effektiver gestalten kann.

Abb. 6.3
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Überblick der Ergebnisse

6.4.1 Allgemeines

Zunächst konnte festgestellt werden, dass die Einbindung innovativer Technologien wie VR in bestehende Arbeitsprozesse eine grundlegende Offenheit gegenüber innovativer Unternehmensentwicklung voraussetzt (Weigel et al., 2021a). Es sollte ein Interesse an neuen Technologien und deren potenziellen Einsatzbereichen im Unternehmenskontext und für die Gestaltung und Entwicklung des Arbeitsumfelds vorliegen. Es erscheint besonders wichtig, das nötige Bewusstsein über diese Einsatzbereiche zu schaffen. Wenn Mitarbeiter*innen die Potentiale der Technologie nicht bekannt sind, fällt es ihnen schwer, einen Mehrwert in deren Integration in bestehende Arbeitsprozesse zu erkennen. Die Projektorganisation zeigte, dass die Verfolgung eines frühzeitigen partizipativen Entwicklungsansatzes eine besonders positive Auswirkung auf das Interesse und die Teilnahmebereitschaft der Mitarbeiter*innen am Projekt hatte (Weigel et al., 2021c). Der frühe und kontinuierliche Einbezug einzelner Mitarbeiter*innen führte zu einem Austausch über das Projekt, was wiederum zu einem erhöhten Interesse an der VR-Technologie und ihrem geplanten Einsatz zur Folge hatte.

„Ich denke, dass hängt von den Leuten selbst ab. Also man muss der Technik gegenüber offen sein. [...] Es gibt ja dann doch durchaus den ein oder anderen Kollegen, der jetzt kurz vor der Rente ist, der sicherlich auch seine Freude daran hätte [...] Ich würde jetzt, wenn mir ein Kollege auf dem Flur begegnet und fragt, wie war es, dann würde ich sagen, auf jeden Fall musst du das auch mal ausprobieren, war eine coole Erfahrung und finde, eigentlich ist das für alle geeignet und denke, da kann sich jeder mal nochmal was mitnehmen.” – Manfred, Konstrukteur, 37 Jahre

Das Projekt und die damit verbundene Entwicklung und Integration der VR-Anwendung wurde vermehrt Bestandteil der Kommunikation unter den Mitarbeiter*innen innerhalb des Unternehmens. Das Projektteam konnte feststellen, dass das Interesse zunehmend stieg. Die Mitarbeiter*innen machten sich eigenständig Gedanken über mögliche Integrationswege der VR-Anwendung und zeigten sich besonders offen gegenüber der Teilnahme an Evaluationen.

„[...] man müsste es halt einbauen, sodass man vielleicht sogar die Möglichkeit hat die VR standardmäßig irgendwo in einem Raum stehen zu lassen, sodass die Set-up Zeit kürzer ist und man nicht erst noch irgendwie was aufbauen muss als Set-up sondern wirklich einloggen, Programm starten, VR starten und los.” – Dennis, Konstrukteur, 25 Jahre

Während der Evaluationen ließ sich erkennen, dass für die Mitarbeit die grundsätzliche Verfügbarkeit und Zugänglichkeit zu der VR-Anwendung eine wichtige Rolle spielt. Die Nutzung der VR zur Evaluation der Konstruktion ist im Hinblick auf ihren vergleichsweisen geringen zeitlichen Aufwand besonders interessant. Wenn die VR als festes Set-up im Unternehmen installiert ist und vor der Nutzung keine Installations- und Einrichtungsaufwände anfallen, können Konstrukteur*innen eigene CAD Zeichnung direkt in die VR-Umgebung laden und sich in die VR begeben.

„Klar, man müsste es halt einbauen, sodass man vielleicht sogar die Möglichkeit hat die VR standardmäßig irgendwo in einem Raum stehen zu lassen sodass die Set-up Zeit kürzer ist und man nicht erst noch irgendwie was aufbauen muss als Set-up sondern wirklich einloggen, Programm starten, VR starten und los.“ – Dennis, Konstrukteur, 25 Jahre

Eine effiziente Bedienung innovativer Technologien wie VR stellt besondere und vor allem zunächst neue Anforderungen an die potentiellen Mitarbeiter*innen. Immersive VR-Technologie erfordert zunächst eine Eingewöhnungsphase. Mitarbeiter*innen müssen sich im virtuellen Raum zurechtfinden und zunächst lernen, auf welche Art und Weise mit der Umgebung interagiert werden kann. Bei dem Betreten der VR sprachen viele Mitarbeiter*innen von einer nötigen, kurzen Orientierungs- bzw. Eingewöhnungsphase. Für die Unterstützung bei der Steuerung wurde in das VR-Szenario ein Onboarding Tutorial zur Steuerung integriert. Das Tutorial und eine anschließende Eingewöhnungsphase unterstützten die Mitarbeiter*innen insofern, dass sie anschließend flüssig in das VR-Szenario einsteigen und mit ihrer Umgebung interagieren konnten.

„Ja, weil es erst mal was Neues war für einen, man noch nicht so routiniert ist, ja, weil es interessant war und, ist ja wie, wenn man Computer spielt. Wenn man irgendwas Neues hat, dann vergeht ja die Zeit auch schneller, wenn man sich irgendwo mal reinfinden muss und so, geht die Zeit ja recht flott rum.“ – Veronica, Konstrukteurin, 29 Jahre

„[…] und dann haben wir es ja nochmal von vorne gemacht und dann waren wir auch viel schneller. Also ich hatte das Gefühl, man gewöhnt sich relativ schnell daran. Ich nehme mal an, wenn ich das jetzt nochmal machen würde, würde ich wahrscheinlich zweidrittel der Zeit maximal brauchen.“ – Manfred, Konstrukteur, 37 Jahre

Durch die Evaluationsschleifen im Entwicklungsprozess konnte insgesamt beobachtet werden, dass die Mitarbeiter*innen mit jeder Evaluation und jedem Einstieg in die VR-Umgebung sicherer wurden. Sie schafften es besser, ihre eigene Position in der realen Umgebung einordnen zu können und hatten weniger Angst vor hypothetischen Kollisionen mit der virtuellen Umwelt. Die Bedienung wurde flüssiger und der Fokus lag weniger auf der Bedienung als auf dem tatsächlichen Arbeitsprozess. Auch die gemeinsame Nutzung im Multiuser Modus verhalf Mitarbeiter*innen dabei, sich insgesamt wohler zu fühlen. In den folgenden Abschnitten werden die angeschnittenen Themenbereiche genauer erläutert.

6.4.2 Kompetenzerweiterung durch die VR

Durch die Visualisierung des Krans in der VR-Umgebung und den Nachvollzug eines virtuellen Montage- oder Wartungsprozesses soll ein Raum zur Kompetenzentwicklung und ein Kompetenztransfer zwischen Mitarbeiter*innen eines gemeinsamen VR-Raums ermöglicht werden. Besonders der für Unternehmen so wertvolle Transfer von Erfahrungswissen kann durch die VR-Nutzung unterstützt werden (Weigel et al., 2021a). Für Konstrukteur*innen wird ein Raum geschaffen, in dem sich die eigene Konstruktion unter Servicegesichtspunkten betrachten lässt, wodurch sie mit typischen Herausforderungen von Montage- und Wartungsprozessen konfrontiert werden können. Durch die Nutzung der immersiven VR-Technologie lassen sich Situationen und Umgebungen besonders realistisch nachempfinden. Mit schwierigen Aufgaben oder Gegebenheiten und der Herausforderung der Entwicklung einer möglichen Lösung direkt konfrontiert zu sein, lässt Konstrukteur*innen Konstruktionen unter Servicegesichtspunkten evaluieren. Dies wiederum kann im nächsten Schritt zu einer Anpassung der Konstruktion durch die Berücksichtigung von Montage- und Wartungsbedingungen führen.

„Was ich natürlich gut finde an der VR ist, dass ich während der Konstruktion mal gerade eben was überprüfen kann. Das geht ja jetzt so nicht, weil jetzt ist der Punkt irgendwann mal fertig, und wird dann produziert, und dann baut man den einmal zusammen. Im VR kann man dann grad gucken, wie lassen sich denn diese beiden Teile jetzt mal grade montieren oder so. Das ist einfach in der Konstruktion schon viel besser zu begleiten” – Harald, Konstrukteur, 42 Jahre

Die Konstrukteur*innen erwähnten mehrfach, dass sie selbst kein Gespür für den Ablauf der Montage haben. Oft ist es mehrere Jahre her, dass sie bei einer Montage dabei waren; einige von ihnen haben noch nie eine Montage miterlebt. Dementsprechend haben sie nur eine geringe Vorstellung über die Bedingungen bei Kund*innen und welche (versteckten) Herausforderungen diese mit sich bringen. Die VR-Anwendung bildet über die eigentliche Montage hinaus Prozesse ab, mit denen Servicemitarbeiter*innen zusätzlich zum eigentlichen Montage- oder Wartungsprozess konfrontiert werden. Beispiele hierfür sind die Müllentsorgung und die Organisation von Kranteilen beim Kunden. Beides hängt nur indirekt mit der Konstruktion des Krans zusammen, führt aber bei der Montage vermehrt zu Herausforderungen. Es wurde bei den Evaluationen ersichtlich, dass die VR-Szenarien für die Sensibilisierung besonders geeignet sind.

Auch der realistische Visualisierungseffekt durch die VR bietet im Vergleich zu der Ansicht der Konstruktion in der Desktopdarstellung weitreichende Vorteile. Mitarbeiter*innen des Technischen Büros gaben an, dass sie die Krane gerne einmal in ihren richtigen Größenverhältnissen erleben würden. Sie sagten auch, dass sie sich die realistischen Maße nur schwer vorstellen können und es interessant fänden, den Kran nun in der VR im Vergleich zu der entsprechenden Umwelt erleben zu können. Dies lässt schlussfolgern, dass ein fehlendes räumliches Vorstellungsvermögen durch die VR-Nutzung kompensiert werden kann.

6.4.3 Vermittlung von formalen Lerninhalten

Die VR-Nutzung bietet besonders hinsichtlich der Vermittlung von Lerninhalten und dem Ausprobieren von Serviceprozessen einen hohen Mehrwert. In der virtuellen Umgebung können Arbeitsprozesse ähnlich wie in der Realität durchgeführt werden (Weigel et al., 2021a). Der Vorteil liegt besonders darin, dass durch falsch ausgeführte Arbeitsschritte keine Kosten für das Unternehmen entstehen, zusätzlich können Herausforderungen beliebig oft wiederholt und damit gezielt trainiert werden. Die Mitarbeiter*innen können auf diesem Weg für Herausforderungen in Serviceprozessen sensibilisiert werden, indem sie direkt mit den Folgen konfrontiert werden. Auch Aspekte der Sicherheit werden abgebildet. Dabei konnte festgestellt werden, dass die Mitarbeiter*innen auch im Nachgang an die VR-Nutzung an die einzelnen Arbeitsschritte zurückdenken und ihre Arbeit überdenken.

„Da kann man ja unterschiedliche Szenarien mal ganz einfach ausprobieren, ob ich jetzt so anfange oder so anfange, das könnte man ja gut erproben.“ – Harald, Konstrukteur, 42 Jahre

Trotzdem wird deutlich, dass die Mitarbeiter*innen sich darüber bewusst sind, dass sie die Realität und dass, was sie in den VR-Szenarien durchlebt haben, differenziert betrachten müssen. Die VR bietet einen Raum, der es erlaubt, Fehler zu machen, Abläufe zu trainieren, Bewusstsein für schwierige Arbeitsprozesse zu entwickeln oder Vorgehensweisen zu testen. Dabei dürfen Fehler passieren, die in der Realität teilweise mit hohen Kosten für das Unternehmen verbunden wären.

„Wenn es heißt, geh mal mit, würde ich sagen ja. Ich könnte schon sagen, jetzt muss das gemacht werden und das, ich habe so eine grobe Anleitung dadurch jetzt selbst in meinem Kopf und weiß, wie so Sachen funktionieren müssen. Aber alleine zutrauen hätte ich, glaube ich, noch ein bisschen zu viel Panik, was falsch zu machen. Liegt jetzt nicht daran, weil ich es noch nicht in echt gemacht habe, das ist vielleicht auch ein Faktor, aber halt auch einfach, weil einem, glaube ich, so ein bisschen die Routine fehlt.“ – Heike, Verkäuferin, 29 Jahre

„Zutrauen würde ich es mir nicht einen Kran zu montieren. Das dürfen ja auch nur Sachverständige oder sachkundige Leute, aber zumindest unterstützend wüsste ich halt schon mal so ungefähr, was jetzt auf einen zukommt und was so die einzelnen Schritte jetzt im Ablauf sind, dass man da schon mal vorher so einen Einblick bekommen hat.“ – Veronica, Konstrukteurin, 29 Jahre

Die Herausforderungen bei der Gestaltung von VR-Szenarien für das Trainieren von Arbeitsschritten und –prozessen bringt die grundlegende Frage mit sich, welcher Detailgrad für die verfolgten Ziele ausreichend ist und auf welche Prozesse sich konzentriert werden sollte. Durch z. B. das begrenzte Feedback hinsichtlich der Vermittlung des Gewichts einzelner Bauteile müssen Gestaltungslösungen erarbeitet werden, die ein Bewusstsein schaffen und für ausgewählte Inhalte sensibilisieren. Auch werden in den VR-Szenarien zeitliche Faktoren anders angesprochen als in der Realität: Während bei der Montage auf der Baustelle der Mörtel erst aushärten muss, bedient sich das VR-Szenario an der Abbildung einer Stoppuhr, welche die notwendige Zeit für die Aushärtung anzeigt. Im Laufe der Evaluationen ließen sich die Aspekte der Gestaltung hinsichtlich der Detailtreue schärfen. Es wurden Kompromisse gefunden, indem genau definiert wurde, welche Ziele die VR-Inhalte verfolgen und bei welchen Inhalten die Detailtreue besonders wichtig ist.

„Es ist halt einfach die Art der Darstellung. In der Realität hat man nicht so große glatte Flächen, also das ist dann das was einem so ein bisschen reinpasst, aber ich glaube auch ich weiß gar nicht ob so viel Detailtreue überhaupt nötig ist, denn eine Schraube ist immer noch eine Schraube, auch wenn sie kein Licht reflektiert. Und ich weiß auch gar nicht ob das in der VR so cool wäre, wenn sie Licht reflektiert oder ob man dann so reizüberflutet ist, dass es einen dann eher stören würde, als dass es hilft.“ – Dennis, Konstrukteur, 25

Die Experimente haben gezeigt, dass sich ein VR-Szenario zur Vermittlung von formalen Lerninhalten eignet. Insbesondere konnte eine verbesserte Objektidentifikation bei vorher unbekannten Komponenten festgestellt werden (beispielsweise Lagerbolzen oder Augenschrauben). Weiterhin zeigt sich, dass die Mitarbeiter*innen die Möglichkeit der VR-Betrachtung bevorzugen, weil sie ihnen einen genaueren Einblick bietet. Durch die gegebene Hands-on-Erfahrung konnten die Mitarbeiter*innen sich intensiv und realitätsnah mit den Arbeitsprozessen der Kranmontage und –wartung auseinandersetzen.

„Ja sehr. Also das ist was ganz anderes als davon zu lesen oder es erzählt zu bekommen, das selbst zu machen. Das ist schon ein sehr intensives Gefühl. Also bekommt man schon sehr genaue Einblicke.“ – IVu03 – Peter, Informatiker, 30 Jahre

„Also ich finde es auch im Rahmen einer Schulung sehr interessant, wo man jetzt sagt, okay, man kommt jetzt neu in so ein Unternehmen rein oder soll sich mehr vielleicht mit dem Produkt beschäftigen oder allgemein so diesen Bezug zu diesem Produkt aufbauen und dann ist das eine sehr gute Alternative, als wenn man sich zum Beispiel einfach so eine PowerPoint-Präsentation anguckt oder so wie jetzt zum Beispiel solche technischen Produktinfos erstellen, die sehr abstrakt sind und ich sage mal vom Informationsgehalt nicht das bieten, was jetzt so eine VR-Darstellung bietet.“ – Harald, Konstrukteur, 42 Jahre

„Also im Vergleich, dass ich jetzt als erfahrener Mensch jemanden erkläre, wie er einen Kran aufbaut, hier hat man halt noch die Möglichkeit, das selbst zu machen.“ – IVo07 – Jakob, Servicetechniker, 37 Jahre

Bei der Nutzung der VR-Simulationen durch Mitarbeiter*innen mit unterschiedlichen Kompetenzniveaus wurde deutlich, dass die Übertragung von arbeitsbezogenen Bewältigungspraxen einen wesentlichen Bestandteil des Austausches darstellt. Die VR-Simulationen boten durch die Abbildung typischer Lernszenarien einen Raum, arbeitsbezogene Situationen mit einer inhaltlichen Lerndidaktik zu simulieren, über die sich im Multiuser Modus untereinander ausgetauscht werden konnte. Dies regte nicht nur zu einer generellen Kommunikation in der VR an, sondern schaffte Raum für die Entwicklung gemeinsamer Strategien der Aufgabenbewältigung. Die Aufgabenbewältigung verlief dabei nicht wie zu vermuten einseitig (Kompetentere Mitarbeiter*innen leiten durch die), sondern wurde in den überwiegenden Fällen gemeinsam durchgeführt.

6.4.4 Kollaboration

Bei der Durchführung der Evaluationen im Multiuser Modus konnten verschiedene Arten und Ausprägungen der Zusammenarbeit beobachtet werden (Weigel et al., 2021b). Diese kann man in Kooperation (Absprache von Aufgaben), interagierende Aufgaben (Pendel ausrichten) und Kollaboration (gemeinsame Nutzung der Hebebühne) unterscheiden.

Kooperation zeichnet sich dadurch aus, dass die Mitarbeiter*innen sich miteinander absprechen. In den Experimenten wurden unter anderem Absprachen über Aufgabenabläufe, das Organisieren von Werkzeugen und die Orientierung im Raum getroffen.

„Wenn einer von uns irgendwie einen Arbeitsschritt gemacht hat, dann hat der andere gesagt, okay, dann hole ich schon mal das, damit das bereitliegt und wir haben uns da schon ganz gut aufeinander abgestimmt, fand ich.“ – Manfred, Konstrukteur, 37 Jahre

„Wenn ich mein Werkzeug auf den Boden gelegt habe und er es schon mal ins Auto gebracht hat oder mal Sachen schon mal geholt hat, während ich jetzt auf der Leiter stand oder sowas. Also das sind, klar da merkt man die Unterstützung.“ – IVo03 – Felix, Informatiker, 21 Jahre

„Wenn einer schon was in der Hand hat, dass der andere dann schon mal den nächsten Schritt sich einliest. Ich denke, das hat ganz gut geklappt bei uns beiden. Dass wir so ein bisschen aufeinander geachtet haben, was macht der eine, was macht der andere.“ – Veronica, Konstrukteurin, 29 Jahre

Bei interagierenden Aufgaben ist der Fokus der Interaktion vorwiegend aufgabenbezogen. Die Aufgaben sind dabei mehrphasig und so gestellt, dass sie durch eine gemeinsame Bearbeitung einfacher oder effizienter werden. In unserem Anwendungsfall bietet sich das Ausrichten des Pendels als Beispiel an: Mitarbeiter*innen müssen die Leiter (oder die Hebebühne) nutzen, um das Pendel einzuhängen. Anschließend muss das Pendel vom Boden aus ausgerichtet werden. Dabei gibt es zwei Optionen: Entweder man steigt von der Leiter ab, justiert die Ausrichtschrauben und steigt wieder auf die Leiter, um das Pendel zu entfernen oder ein*e zweite*r Mitarbeiter*in übernimmt das Ausrichten, sodass Mitarbeiter*in 1 auf der Leiter stehen bleiben kann, um im Anschluss das Pendel zu entfernen.

„Beim Pendel und Ausrichten, also das sind halt Aufgaben mehr im Sinne von “die Aufgaben[teile] interagieren miteinander” als “man interagiert als Mensch tatsächlich miteinander”. Also Pendel einhängen, ausrichten, Pendel entfernen.“ – Dennis, Konstrukteur, 25 Jahre

Kollaboration fokussiert sich auf die tatsächliche Interaktion zwischen den Teilnehmern*innen. Die Entscheidungen, die während diesen Interaktionen gemeinsam getroffen werden, beeinflussen die Handlungen beider Mitarbeiter*innen gleichermaßen. So wird eine Absprache über das Hochfahren der Hebebühne sowohl die Handlung von Teilnehmer*in unten (Bedienung der Schalttafel) als auch die Handlung von Teilnehmer*in oben (der bewegt wird) beeinflussen. Weiterhin besteht bei einer solchen Kollaboration meist nicht nur eine Absprache, sondern ein konstanter Austausch über die gemeinsam zu erfüllende Aufgabe.

“Und bei der Hebebühne war es dann tatsächlich mehr so ‚Okay, mehr ein Stück nach links...‘ da war es dann tatsächlich mehr Mensch-zu-Mensch Interaktion.“ – Dennis, Konstrukteur, 25 Jahre

„Man konnte sich da gegenseitig noch so hoch- und runterfahren, und dadurch war auch noch mal so ein bisschen diese Zusammenarbeit gefordert“– Heike, Verkäuferin, 29 Jahre

Aus dieser Betrachtung und der Auswertung der Interviews lassen sich Bedingungen für die VR formulieren, die die Intention zur Zusammenarbeit der Mitarbeiter*innen dahingehend beeinflussen, zusammenzuarbeiten (Weigel et al., 2021b). Dies ist besonders relevant für die Gestaltung der VR, da die Bedingungen sich schlecht nachträglich einbauen lassen.

Notwendige Bedingungen stellen die Grundvoraussetzungen für die Zusammenarbeit in der VR dar. Sind diese Bedingungen erfüllt, bedeutet dies jedoch nicht, dass es zwangsläufig zu einer Kollaboration kommt; hierfür sind hinreichende Bedingungen erforderlich, die die Kollaboration im Multiuser-Setting fördern. Eine weitere Unterteilung kann in Technologie-, Aufgaben- und Nutzerbedingungen vorgenommen werden.

Als Grundvoraussetzung und damit notwendige Bedingung für die Nutzung von VR macht die Technologie in Form von einer Datenbrille (“head-mounted display”), zwei Controllern, umgebungsbegrenzender Sensorik, einem angeschlossenen Computer sowie der entsprechenden Software das Erleben und die Umsetzung von VR erst möglich. Sie beschreibt die Schnittmenge zwischen Nutzer*in und der virtuell gestalteten Realität und bietet die Möglichkeit der Interaktion. Als Technologiebedingungen sind die Handhabung der VR (also die intuitive Nutzung von Hardware und VR-Umgebung), der Detailgrad der Umgebung (bsp.: Wahrnehmung des Kranaufbaus), die Gestaltung der Avatare (Wahrnehmung anderer Mitarbeiter*innen als menschlich), die Immersion (Realistische Repräsentation des Szenarios), und die Kommunikation (auf Austausch fokussierte Aufgaben) zu nennen.

Auch im Bereich der Aufgaben gibt es notwendige Bedingungen. So muss der Aufbau der Aufgaben so gestaltet sein, dass eine Zusammenarbeit gefördert wird, und es muss ein bewusster Informationsaustausch zwischen den Mitarbeiter*innen stattfinden. Weitere hinreichende Bedingungen mit Bezug zur gestellten Aufgabe sind ein realistisches Design der Aufgabe (welches die Zusammenarbeit begünstigt), die Möglichkeit, die Aufgaben gemeinsam (also durch die Zusammenarbeit) effizienter zu erfüllen sowie die Beachtung des Schwierigkeitsgrades der Teilaufgaben (je einfacher die Aufgabe war, desto eher neigten die Mitarbeiter*innen dazu, sie allein statt in Zusammenarbeit zu lösen).

Als Nutzerbedingungen lassen sich die Beziehung der Mitarbeiter*innen untereinander, ein möglicher Perspektivwechsel (z. B.: die Übernahme der Rolle von Servicetechniker*innen), und ein Wissenstransfer in Form eines Austauschs von Erfahrung und Wissen identifizieren. Diese Bedingungen fördern eine Zusammenarbeit, sind aber nicht notwendig, damit diese möglich ist. Daher handelt es sich bei den Nutzerbedingungen um hinreichende Bedingungen (siehe Tab. 6.1).

Tab. 6.1 Bedingungen, die die Absicht zur Zusammenarbeit in VR beeinflussen (vgl. Weigel et al., 2021b)

Ein weiterer Punkt, der von den Servicemitarbeiter*innen genannt wurde ist, dass ein Szenario, das Kollaboration ermöglicht, realistischer ist, da auch in der Realität ein Kranaufbau meist zu zweit vorgenommen wird.

„Ja ich denke Vorteile einfach, dass man das Szenario viel besser durchspielen kann zu zweit. Man ist in der Regel in solchen Prozessen nicht allein unterwegs. Man kann sich Hilfestellungen geben.“ – Jakob, Servicetechniker, 37 Jahre

6.4.5 Training und Einüben von Serviceprozessen

Die VR-Szenarien bieten einen sicheren Raum für das Bearbeiten und Erproben von Serviceprozessen, ohne dass dabei gemachte Fehler Folgen in der Realität mit sich bringen (Weigel et al., 2021a). Ebenfalls können individuelle Herangehensweisen zunächst getestet werden. Die Arbeitsprozesse können dabei eigenständig am Gegenstand erprobt und erlernt werden. Dies ermöglicht die Generierung von Erfahrungswissen durch selbständiges Identifizieren, Verstehen und Extrahieren von Herausforderungen der abgebildeten Prozesse, welches zu einem späteren Zeitpunkt in die reale Arbeitspraxis übertragen werden kann.

Wenn jetzt ein neuer Kollege eingestellt wird, dass ich mir den packe und sage, lass doch mal zusammen so ein Kran in VR montieren, damit du weißt, wie das läuft und dann kann man sich ein bisschen unterhalten und begegnet sich dann denke ich nochmal ein bisschen anders.“ – Manfred, Konstrukteur, 37 Jahre

„Ich finde der Spaßfaktor ganz ehrlich ist an erster Stelle schon mal deutlich höher, weil man einfach sich mit dem Erlebnis direkt in dem Moment austauschen kann, was da gerade passiert. Das heitert die Situation auf. Auf der anderen Seite, es ist deutlich schöner, wenn jemand noch mit dabei ist, der nur noch guckt, was man tut, umgekehrt auch, mach doch mal so. Man kann sich gegenseitig helfen. Also das finde ich ein deutlich besseres Erlebnis. Als Schulungseffekt, wenn ich jetzt sage, ich möchte das nur aus Schulungsaspekten machen, ist es glaube ich nicht so tragisch, wenn man es alleine macht, aber zu zweit lernen ja beide was. Das ist ja auch eine kleine Teambuilding-Maßnahme vielleicht.” – Felix, Informatiker, 21 Jahre

Die Nutzung des Multiuser Modus ermöglicht zudem das kollaborative Be- und Erarbeiten der abgebildeten Aufgaben in der VR. In den Interviews wurden häufig der hohe Spaßfaktor und die Nutzung der VR als Maßnahme des Teambuildings erwähnt. Die Mitarbeiter*innen entwickelten Strategien zur erfolgreichen Bearbeitung der Aufgaben, tauschten sich über das VR-Szenario und die abgebildeten Prozesse aus und reicherten diese mit den Erzählungen über eigene Erfahrungen an. Dies führte ebenso zu einem Wissensaustausch über die Prozesse selbst, wie sie z. B. in der Realität ablaufen, und welche Herausforderungen sie mit sich bringen. Für neue Mitarbeiter*innen bietet die VR-Anwendung die Möglichkeit, sich mit den Montage- und Wartungsszenarien in einem geschützten Raum vertraut zu machen und dabei z. B. durch erfahrene Mitarbeiter*innen angeleitet zu werden.

Bei der Verwendung einer (im Arbeitsfeld) für die Meisten unbekannten Technologie stellt sich die Frage, wie gut die Mitarbeiter*innen mit der Technologie arbeiten können. Dabei spielen sowohl Technologieakzeptanz als auch die Steuerung der VR eine Rolle. Zu Beginn der Experimente gibt es häufig eine Phase der Einfindung in der VR. Die Interviewpartner*innen berichteten von anfangs schwieriger Steuerung und Orientierung, die aber mit der Zeit intuitiver (einfacher) wurde.

„Ja, erst mal so ein bisschen befremdlich so. Man muss sich erst mal so an die Arbeitsschritte, Tastenkombinationen gewöhnen, was man so alles machen kann. Richtig ausgenutzt hat man es, habe ich es wahrscheinlich nicht, aber so nach und nach hat man so ein bisschen was optimiert, sage ich mal so an Bewegungsabläufen. Man sollte sich erst mal so ein bisschen einfinden, sage ich mal.” – Veronica, Konstrukteurin, 29 Jahre

„Ich glaube beide mussten einfach das erste Mal die Situation ein bisschen verstehen, wo kann man sich wie helfen. Wir waren beide keine Servicemonteure und deswegen fand ich eigentlich, hat sich das nach fünf bis zehn Minuten so langsam eingespielt und wurde immer besser.” – Felix, Informatiker, 21 Jahre

Man sieht einen großen Nutzen von VR darin, Sicherheitsunterweisungen durchführen zu können, den Ablauf einer Montage Konstrukteur*innen verfügbar zu machen und schulen zu können. Besonders häufig wurde in den Interviews auf die Arbeitsabläufe Bezug genommen.

„Und wenn ich jetzt z. B. an Auszubildende denke oder Monteure, die neu anfangen, als Sicherheitsunterweisung auch auf jeden Fall und auch einfach mal z. B. Auszubildende die Technik jetzt näherzubringen, wie denn so ein Kran montiert wird.“ – Harald, Konstrukteur, 42 Jahre

„Aber ansonsten finde ich den Ablaufprozess eigentlich sehr, sehr gut und wobei ich halt die Montage lange nicht mehr gemacht habe. Also für mich war es auf jeden Fall nochmal ein guter Einstieg.“ – Felix, Informatiker, 21 Jahre

Dies lässt sich besonders gut erreichen durch die hohe Nähe zur Realität, da diese an das Erfahrungswissen der Mitarbeiter*innen ankoppelt. So berichten Mitarbeiter*innen davon, wie sie reflexartig reagieren oder von bestimmten Werkzeugen eine passende (sich mit ihrer Erfahrung deckende) Nutzung erwarten.

„Das sind aber diese Erfahrungen, die dann hochkommen. Dann sagt man, man greift in die Bühne, und die fährt vielleicht in dem Moment runter, und ich glaube, da würde man automatisch die Hand zurückziehen, also so reflexartig.“ – IVo04 Robert, Elektrokonstrukteur, 37 Jahre

Dabei sind sich die Mitarbeiter*innen möglicher Abweichungen von der Realität bewusst. So wird in den Interviews Arbeitssicherheit und Ordnung mehrfach thematisiert. Dabei steht vor allem das Benutzen von Werkzeugen und Entsorgen von „Abfällen” (z. B. Verpackungsmaterial) im Vordergrund.

„Ich würde auch auf einer Baustelle, glaube ich, nie im Leben um den Kran alles Werkzeug verteilen. Das würde ich einfach nicht machen. Das liegt dann nämlich auch im Weg.“ – IVu05 – Manfred, Servicetechniker, 53 Jahre

6.4.6 Zentrale Plattform und Augmented Reality

Die entwickelten VR-Lösungen stellen einen neuartigen und zentralen Baustein in der virtuellen Wissensvermittlung des Unternehmens dar. Daneben existieren jedoch weitere Wege, wie Wissen mittels Informationstechnologien erfasst wird. Hierzu zählen insbesondere die zahlreichen, über Jahre im Unternehmen gesammelten Wartungs- und Montageanleitungen.

Der Zugriff auf diese Ressourcen über verschiedene Wege – VR-Trainings, Netzlaufwerke oder andere Datenbanken – erschwert Mitarbeiter*innen deren zielgerichteten und effizienten Einsatz. Eine VR-Lösung mit dem Fokus der Kompetenzerweiterung sowie zum Einüben formaler Lerninhalte sollte daher nicht losgelöst von diesen weiteren Werkzeugen betrachtet werden.

Im Projekt wurde daher der Ansatz verfolgt, sowohl neue als auch bestehende Inhalte über einen Single Point of Contact zugänglich zu machen. Dazu wurde ein zentrales Content Management System (CMS) aufgesetzt, in dem sich Mitarbeiter*innen einen Überblick über die bestehenden VR-Inhalte verschaffen und ein Training buchen können.

Zudem wurde für die Servicetechniker*innen als Zielgruppe ein zentraler Datenbestand in die Plattform migriert. In Interviews hatte sich gezeigt, dass für Servicetechniker*innen insbesondere der Zugriff auf Teile der Wartungs- und Montageanleitungen ein essentieller Bedarf darstellt. In den Interviews wurden insbesondere die beiden folgenden Anwendungsfälle hervorgehoben:

  • Abruf von Informationen am Vortag der Fahrt zu Kund*innen: Mitarbeiter*innen wünschen sich einen schnellen Zugriff auf relevante Anleitungen, beispielsweise am heimischen PC, bereits am Tag vor der Abfahrt zu Kund*innen, um wesentliche Informationen zu prüfen und bei Bedarf herunterzuladen.

  • Abruf von Informationen beim Kund*innen vor Ort: Ergänzend wünschen sich Mitarbeiter*innen die Möglichkeit, auch beim Kund*innen vor Ort schnell auf Dokumente wie Parametertabellen zugreifen zu können. Als idealer Use Case wurde dabei identifiziert, mit einem QR Code Scanner einen Produktcode am Kran zu scannen und anschließend die wichtigsten Dokumente zu allen verbauten Komponenten auf einen Blick zu erhalten. Hierfür stehen den Monteur*innen Mobilgeräte in Form von Tablets oder Smartphones zur Verfügung, mit denen ein Zugriff auf die genannten Informationen möglich wäre.

Um sich diesen Anwendungsfällen zu nähern, wurde der bestehende Dokumentenbestand in einer skalierbaren Suchmaschine auf Basis von Elasticsearch indexiert.

Die Dokumente wurden dazu zunächst mittels Optical Character Recognition (OCR) erfasst, d. h. insbesondere ältere Dokumente, die technisch gesehen lediglich als eingescannte Bilder vorlagen, wurden durch im Volltext erfasste PDFs ersetzt.

Diese wurden in einem zweiten Schritt mittels Methoden des Natural Language Processing (NLP) analysiert und auf Basis von Worthäufigkeiten dem Produktkatalog des Unternehmens zugeordnet. Dieser Schritt war aufgrund der Anzahl an Dokumenten notwendig, um eine automatische Strukturierung anhand der für die Monteur*innen bekannten Produktstruktur zu erzielen.

Anschließend wurden die Dokumente in dem genannten CMS hochgeladen. Mitarbeiter*innen können dadurch nach älteren Dokumenten suchen und sich die wichtigsten Dokumente zu einem Produkt anzeigen lassen. Perspektivisch kann so zudem sichergestellt werden, dass sämtliche virtuelle Inhalte zu einem Produkt den Mitarbeiter*innen über einen einzigen Eintrittspunkt zugänglich gemacht werden (siehe Abb. 6.4).

Abb. 6.4
figure 4

Ausschnitt Dokumente auf der aSTAR Plattform

Zukünftig könnten sich aus den geschilderten Anwendungsfällen weitere Potenziale ergeben. So wäre auch denkbar, relevante Informationen aus den Anleitungen zu extrahieren und direkt im Display einer Datenbrille (AR) anzuzeigen, um den Griff zu einem separaten Mobilgerät zu vermeiden.

Gegenüber VR bietet Augmented Reality (AR) die Möglichkeit, die Realität mit virtuellen Objekten oder Informationen anzureichern. Bei der Nutzung von AR müssen Mitarbeiter*innen nicht in eine virtuelle Welt eintauchen, sondern können über die Nutzung einer AR- unterstützenden Technologie (z. B. AR-Brille, Tablet, oder Smartphone) virtuelle Objekte oder Informationen in die Realität projizieren. Dabei sind Mitarbeiter*innen nicht aus der realen Umwelt ausgeschlossen, wodurch sich AR besonders für Situationen eignet, in denen die Realität nicht virtuell ersetzt, sondern durch zusätzliche Informationen angereichert werden soll. In unserem Anwendungsfall handelt es sich dabei insbesondere um erlebbare Produktpräsentationen und Wartungsszenarien. Bei einer AR-basierten Produktpräsentation ist es möglich, das Produkt in seiner realen Größe an jedem beliebigen Ort zu platzieren. Ziel ist es, den Vertrieb durch AR als Verkaufstool zu unterstützen. Mitarbeiter*innen des Vertriebs haben somit die Möglichkeit, Kund*innen den Kran direkt in die Halle zu projizieren oder unterschiedliche Kranvarianten vorzustellen. Für Kund*innen entfällt dadurch die Notwendigkeit über eine gute räumliche Vorstellungskraft. Ebenfalls können mögliche Störkanten bereits im Verkaufsgespräch identifiziert und unterschiedliche Aufstellorte in der Halle getestet werden. Auch auf Messen kann die Unterstützung durch ein AR-Tool einen Mehrwert schaffen. Messebesucher*innen können z. B. durch die Nutzung einer AR-Brille unterschiedliche Krane in realen Größenverhältnissen betrachten, ohne dass dafür ein Installationsaufwand entsteht. Messebesucher*innen können dadurch besonders unkompliziert Einblicke in das gesamte Produktportfolio erhalten.

Zusätzlich ist der Einsatz des AR-Tools für die Wartungsunterstützung angedacht. Servicetechniker*innen können beim Kunden vor Ort durch die Nutzung des AR-Tools durch externes, geschultes Personal unterstützt oder auch angeleitet werden. Mit Hilfe von mobilen Endgeräten wie Smartphones oder AR-Brillen wird eine beidseitige Audio- und Videoverbindung geschaffen. Das externe Personal nutzt visuelle Elemente, um Servicetechniker*innen vor Ort auf Besonderheiten aufmerksam machen. Diese Elemente überlagern dann das Sichtfeld der Servicetechniker*innen, sodass Information an der passenden Stelle eingeblendet werden können. Auch standardisierte Prozesse, für die Schritt-für-Schritt Anleitungen vorliegen, können von der AR unterstützt werden.

6.4.7 Darstellung von Wartungsbedingungen und –umgebungen

Durch die ausschließliche Arbeit in CAD Programmen fehlt es trotz der Darstellung im dreidimensionalen (3D) Raum oft an der nötigen Vorstellungkraft für Größenverhältnisse. Um Herausforderungen bei der Wartung oder Montage bereits während der Konstruktion berücksichtigen zu können, ist es von Bedeutung, dass diese Vorstellungskraft vorhanden ist, um sowohl Abstände zu möglichen Störkanten als auch Höhen und Größenverhältnisse für die nachgelagerte Servicearbeit optimal berücksichtigen zu können (Weigel et al., 2022). Die Projektion des Krans in die VR-Umgebung ermöglicht es Konstrukteur*innen, eigene Konstruktionen in realistischen Größenverhältnissen betrachten zu können. Dieser kann sich um den Kran bewegen, von allen Seiten betrachten und im Verhältnis zu der Umgebung realistisch wahrnehmen. Dies unterstützt Konstrukteur*innen dabei, mögliche Herausforderungen frühzeitig zu erkennen und die eigene Konstruktion dahingehend anzupassen, nachgelagerte Montage- und Wartungsprozesse so gut wie möglich berücksichtigen zu können.

„[…] weil man einfach ein Gefühl kriegt, wie die geometrischen Körper sich nun mal wie viel Raum die einnehmen, was wann wie montiert wird.“ – Felix, Informatiker, 21 Jahre

“Als Konstrukteur konstruiert man irgendwas und da erschreckt man sich manchmal, wenn man unten in die Halle kommt und sieht die Sachen dann, das kommt öfter mal vor.” – Harald, Konstrukteur, 42 Jahre

Die Darstellungen von Störkanten oder komplexen Situationen bei der Wartung oder Montage eines Krans beschränken sich in der VR-Umgebung auf ausgewählte Situationen. Die Darstellung umfasst im Vorhinein identifizierte Situationen, die bei der Wartung oder Montage regelmäßig vorkommen und dennoch zu Problemen führen. Dafür wurde es durch die Mitarbeiter*innen als besonders positiv empfunden, dass sich die VR-Umgebung sehr nah an der Realität befindet und der Detaillierungsgrad als dementsprechend hoch wahrgenommen wurde.

„Es war positiv, dass da einfach die VR sehr nah an der Realität ist. Die Feinmotorik ist dann echt natürlich was anderes, klar, aber rein vom Arbeitsablauf, dass ich wirklich die Leiter raussuche, sie an der richtigen Stelle aufstellen muss, das ist ja vom Detaillierungsgrad 1:1 wie in echt.“ – Harald, Konstrukteur, 42 Jahre

„Die Umgebung [..] fand ich schon bei der Montage sehr real“ – IVu04, Fabian, Servicetechniker, 52 Jahre

Besonders interessant war es zu sehen, wie Informationen und Wissen durch die Mitarbeiter*innen automatisch aus der Realität adaptiert wurden. Auch Verhaltensmuster und typische Bewegungen für ausgewählte Arbeiten wurden automatisch durchgeführt, obwohl keine Notwendigkeit für die erfolgreiche Absolvierung der Aufgabe bestand. Zum Beispiel wichen viele Mitarbeiter*innen Objekten aus, die ihnen zu nah kamen oder bückten und knieten sich für das Bohren oder Nachziehen der Schrauben auf den Boden. Dies ließ sich besonders durch die Beobachtung der Mitarbeiter*innen während der VR-Evaluation erkennen. Die Nutzung des VR-Szenarios im Multiuser Modus führte ebenso dazu, dass die Mitarbeiter*innen sich gegenseitig vor Gefahren warnten, welche allerdings nur in der Realität tatsächliche Gefahren darstellen würden. Die Mitarbeiter*innen waren sich über mögliche Gefahren in der Realität intuitiv bewusst und kommunizierten diese während der Nutzung:

„[…] Hebebühne erst runterfahren, sonst verkeilt sie sich nachher“ – Manfred, Servicetechniker, 53 Jahre

„Jetzt habe ich eine Macke in die Tür gemacht.“ – Heike, Verkäuferin, 29 Jahre

„Aber pass auf, ist Strom drauf.“ – IVo06 – Anna, Informatikerin, 27 Jahre

Auch Bedenken, die Kund*innen bei der Entscheidung für einen Kran haben könnten, wurden in der Evaluation adressiert. Hier wird die VR als ein mögliches Tool gesehen, um beiden Seiten (Verkäufer*innen und Kund*innen) eine gemeinsame Kommunikationsgrundlage zu bieten. Durch die 3D-Darstellung in Originalgröße, die die VR gegenüber CAD-Zeichnungen bietet, könnten Kund*innen Einblicke in die zukünftige Optik des Krans gegeben werden und es kann auf dieser Grundlage gemeinsam mit Verkäufer*innen über mögliche Lösungen diskutiert werden. Auch Bedenken seitens der Kund*innen hinsichtlich der Kranlösungen könnten im Vorfeld minimiert werden.

„Das kann ich mir schon vorstellen, […] mit dem Kunden mal in die VR einzusteigen und sich das Ganze mal anzugucken. […] Dann kann man dem auch manche Details einfach mal erklären oder der kann auch mal Sachen ausprobieren, wo er vielleicht im Vorfeld bedenken hat, und könnte die Bedenken z. B. ausräumen“ – Harald, Konstrukteur, 42 Jahre

Die Integration der VR-Technologie in die Konstruktionsarbeit stellt auf den ersten Blick zunächst eine Unterbrechung des Konstruktionsprozesses dar. Diese Tatsache verleitete zu der Motivation, zunächst auf theoretischer Basis die technologiebedingten Unterbrechungen genauer zu untersuchen. Im Zuge der Evaluation wurden die Mitarbeiter*innen mit entsprechenden Fragen hinsichtlich der VR-Nutzung während des Konstruktionsprozess befragt. Es zeigte sich, dass die Bedenken hinsichtlich einer zusätzlichen Unterbrechung der Arbeit gering ausfielen. Die Mitarbeiter*innen beschrieben die Nutzung der VR während der Konstruktionsarbeit als eine Erweiterung der Arbeit. Die VR-Nutzung ermöglicht eine zusätzliche Perspektive die Arbeit und verfolgt dabei das Ziel, die Konstruktion hinsichtlich Herausforderungen nachgelagerter Serviceprozesse zu sensibilisieren.

„Und ich glaube dann ist es halt wie überall, wenn du was ausgedruckt brauchst, gehst du auch zum Kopierer. Es ist einfach nur, also für mich ist das einfach nur ein Wechsel zu einem anderen Arbeitsmittel, wie man ja sonst auch alle Möglichkeiten hat.”“– Dennis, Konstrukteur, 25 Jahre

„Naja also ich generiere einen Mehrwert daraus. Dann ist es ja keine Unterbrechung sondern dann ist es ja nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Ziel. Also ich meine wenn ich jetzt nicht die CAD Zeichnung bräuchte sondern ich bräuchte da ein anderes Programm an meinem Computer und das wäre schon immer so gewesen, dann würde ich das ja auch nicht als Unterbrechung empfinden sondern als nächsten logischen Schritt.“ – Dennis, Konstrukteur, 25 Jahre

Für eine erfolgreiche Implementierung der VR ist es von besonderer Bedeutung, dass die abgebildeten Szenarien keine negativen Folgen haben. In unserem Anwendungsfall würde sich das dadurch zeigen, dass Konstrukteur*innen nach der VR-Nutzung die Probleme von Servicemitarbeiter*innen nicht versteht oder sogar verharmlosen, weil diese nicht in ausreichender Weise abgebildet wurden.

„Ja, das kann durchaus passieren. Also gut, ich denke mal, jedem ist klar, oder sehr wahrscheinlich ist jedem klar, dass so eine Montage nicht so schnell und gerade jetzt so diese großen Bauteile, dass die nicht so einfach montiert werden können. Aber es kann durchaus sein, dass das dann so ein bisschen verharmlost wird.“ – Robert, Elektrokonstrukteur, 37 Jahre

Eine zusätzliche Herausforderung besteht in der Darstellung der Umgebungsbedingungen und in der Abbildung von möglichen Störkanten in der VR. Die Umgebungsbedingungen und Existenz von möglichen Störkanten sind individuell abhängig von den Gegebenheiten bei Kund*innen. Diese können nicht ständig neu abgebildet werden und erfordern deshalb in gewisser Weise eine zusammenfassende, aber aussagekräftige Berücksichtigung für die grundsätzliche Möglichkeit zur Sensibilisierung.

Ja, ich denke mal so die meisten Probleme bereitet es, wenn die Baustelle nicht so ganz zugänglich ist. Jetzt hatten wir jede Menge Platz, aber ist ja auch schwierig abzubilden, dass dann irgendwie zwischen zwei Maschinen zu machen, wenn man nicht so viel Raum hat und den genauen Bandabstand bemessen muss.” – Manfred, Konstrukteur, 37 Jahre

6.4.8 Erweiterung der Perspektive und Sensibilisierung

Es gibt unterschiedliche Gründe, weshalb ein Perspektivwechsel innerhalb des Unternehmens oder zwischen Unternehmen angestrebt wird (Weigel et al., 2020b). Zum einen kann ein Perspektivwechsel zu Kosteneinsparungen verhelfen, wenn beispielsweise wie in unserem Anwendungsfall Fehler in der Konstruktion eines Kranes aufgedeckt werden können, bevor ein Prototyp gebaut wird. Dies stellt eine Kompetenzerweiterung der Konstrukteur*innen dar.

„So hat man natürlich Sachen, man hat einen Prototyp gebaut und da ändert man dann garantiert noch mal was dran, weil in der Montage dann irgendwelche Sachen auffallen. Das könnte die VR durchaus auch einsparen.“ – Harald, Konstrukteur, 42 Jahre

Dies geschieht dann, wenn Konstrukteur*innen sich schon während der Konstruktion der Montage- und Wartungsbedingungen bewusst sind. Die VR bietet Konstrukteur*innen die Möglichkeit, eine Montage quasi „hautnah” zu erleben, ohne dafür 1–5 Arbeitstage (die Zeit, die eine reale Kranmontage braucht) in einer Halle zu stehen und aufgrund von Sicherheitsrisiken nur zusehen zu dürfen.

„[…] dass man da mehr das Gespür für bekommt, nochmal für die Montage und wie das alles so funktioniert, dass man das einfach nochmal richtig erlebt hat. Die meisten Konstrukteure von uns, die habe ja schon ewig keine Montage mehr mitgemacht oder so. Da bekommt man das einfach nochmal so vor Augen geführt.“ – Harald, Konstrukteur, 42 Jahre

Ein Perspektivwechsel ist aber nicht nur für diese Anwender*innengruppe interessant. Ein*e Mitarbeiter*in der IT-Abteilung sprach nach der VR-Erfahrung davon, mit welcher IT die Servicemitarbeiter*innen am besten auszurüsten seien. Dort hat die persönliche Erfahrung der Mobilität der Servicemitarbeiter*innen zu einem Umdenken für den eigenen Verantwortungsbereich, der mit der Situation interagiert, geführt.

„Für uns in der IT ist relevant dann einfach zu wissen, okay die sind an unterschiedlichsten Stellen zugange, die stehen oben auf der Leiter oder auf der Bühne. Das ist dann wiederum, was wir bei der Ausstattung der Leute berücksichtigen können.“ – Felix, Informatiker, 21 Jahre

Neben diesen konkreten Vorteilen, die eine Nutzung von VR zum Perspektivwechsel bildet, führt ein Perspektivwechsel auch zu einem generell besseren Verständnis des Aufgabenfelds der Servicemitarbeiter*innen und dem allgemeinen Respekt vor der Arbeit.

„Ich habe auf jeden Fall jetzt mehr Verständnis dafür, was die so machen und wie die es machen, und vor allem auch dafür, dass es noch mal etwas komplexer ist als das ist.” – Heike, Verkäuferin, 29 Jahre

"Das ist eigentlich das, was Gold wert ist, sage ich mal jetzt bei so einer Montage, also warum wir auch heute in der Entwicklung auch bei so einer Montage auch mitmachen, einfach mal, um zu sehen, oder aus dem Wissen der oder Erfahrung auch von den Personen einfach auch zu schöpfen.” – Robert, Elektrokonstrukteur, 37 Jahre

„Ich habe es mir natürlich nicht bildlich vorstellen können. Ich wusste, der Service, der montiert einen Kran und wartet den, aber das war es dann auch schon. Und jetzt, wenn man diese Schritte mal durchspielt, dann bekommt man natürlich ein genaueres Gefühl, wie lange dauert das, welche Schritte müssen gemacht werden, welche Bedingungen müssen eingehalten werden[..]. – Peter, Informatiker, 30 Jahre

6.4.9 Innovationsraum

Neben der Nutzung der VR für Schulungen oder einen Perspektivwechsel eröffnet sich die Nutzung als Innovationsraum als ein weiteres Anwendungsgebiet. Bei der Nutzung der VR als Innovationsraum können Mitarbeiter*innen zusammen den VR-Raum betreten und dort über bestehende Lösungen diskutieren. Sie haben ebenso die Möglichkeit, bei der Durchführung eines Montage- oder Wartungsprozesses auftretende Herausforderungen zu analysieren oder die Konstruktion frühzeitig zu evaluieren. Mitarbeiter*innen können unterschiedliche Ideen austauschen und auch abteilungs- und organisationsübergreifend von dem Wissensaustausch profitieren.

„Das kann ich mir schon vorstellen, mit dem Monteur oder vielleicht auch mit dem Kunden mal in die VR einzusteigen und sich das Ganze mal anzugucken. (...) Und dann kann man dem auch manche Details einfach mal erklären oder der kann auch mal Sachen ausprobieren, wo er vielleicht im Vorfeld bedenken hat (…), oder man könnte dem Monteur einfach mal zeigen, so habe ich mir das vorgestellt, der probiert das mal grade in der VR aus und kann sagen, ja, kann ich mir so vorstellen oder nein, das kann ich mir so nicht vorstellen.“ – Harald, Konstrukteur, 42 Jahre

Dabei lässt sich durch gemeinsames Ausprobieren mit einer geringeren Hemmschwelle ein Flow-Zustand erreichen, in dem gemeinsame Ideen generiert werden können. Die Zusammenarbeit auf einem Kompetenzlevel ermöglicht hierbei einen ebenbürtigen Austausch von Ideen und Ansätzen.

„Gut, zu zweit findet man eher zu einem Lösungsergebnis, als wenn man jetzt alleine irgendwie vor einer Wand steht. Ich finde, wenn man im Team arbeitet und miteinander spricht, kommt man eher zu einem Lösungsziel, als wenn man jetzt irgendwas alleine macht. Das ist eigentlich immer besser, wenn man mit einem sprechen kann. Wenn der eine auf was nicht kommt, dann hat der andere eine Idee und so.“ – Veronica, Konstrukteurin, 29 Jahre

Zusätzlich reduziert die Nutzung der VR die Hemmschwelle zum Ausprobieren dadurch, dass keine Sicherheitsrisiken bestehen oder Kosten durch Fehler entstehen. Die VR bietet einen Raum zum Ausprobieren am Gegenstand. Das Wissen rund um den Aufbau des Krans wird nicht nur indirekt durch die abgebildeten Prozesse vermittelt, sondern durch das eigene Handeln und Ausprobieren generiert.

„ (…) Angenommen da ist irgendwas, was sich für die Wartung dann schwierig gestaltet und man kann dann kommunizieren und sagen ‚Okay, bei der nächsten Edition von dem Kran, vielleicht machen wir den Sicherungskasten auf die andere Seite, damit man besser drankommt.“ – Dennis, Konstrukteur, 25 Jahre

Die entwickelte VR-Anwendung ermöglichte die Nutzung durch zwei Mitarbeiter*innen gleichzeitig, sodass ein gemeinsames Eintauchen in das gleiche Szenario möglich war, obwohl sich beide Mitarbeiter*innen in der Realität an unterschiedlichen Orten aufhielten. Die gemeinsame Montage des Krans und die Möglichkeit, kollaborierenden Mitarbeiter*innen sehen und hören zu können, löste in den Mitarbeiter*innen ein von ihnen beschriebenes Gefühl der Sicherheit aus. Sie hatten das Gefühl, nicht auf sich gestellt zu sein und verspürten weniger Stress hinsichtlich der Bewältigung der Montageschritte, aber auch der VR-Nutzung. Während ein*e Proband*in beispielsweise die nächsten Arbeitsschritte beschrieb, konnte zeitgleich bereits notwendiges Werkzeug und Material gesucht oder der Arbeitsplatz aufgeräumt werden. Proband*innen stellten sich gegenseitig Fragen und unterstützen sich bei der Arbeit, brachten sich Werkzeug, profitierten von unterschiedlichem Wissen und teilten sich die Arbeit untereinander gezielt auf. Auch die Steuerung und Bedienung der VR-Technologie konnte gemeinsam sicherer angegangen werden.

„Ich glaube aber auch, dass die Hemmschwelle digital geringer ist. Also dass man digital eher nochmal nachfragt und guckt und ausprobiert, als man es normalerweise tun würde.” – Dennis, Konstrukteur, 25 Jahre

„Man kann zusammenarbeiten, wie ich eben schon gesagt habe, das ist dann so ein flüssiger Ablauf, der da entsteht.“ – Heike, Verkäuferin, 29 Jahre

6.5 Diskussion und Ausblick

Die Projektergebnisse lassen sich in praktisches und theoretisches Wissen gliedern. Grundsätzlich bestand die Herausforderung darin, bestehende Arbeitsprozesse in der Konstruktion durch den Einsatz innovativer VR-Technologie zu unterstützen und zu erweitern. Die VR-Technologie soll eine frühzeitige Berücksichtigung besonderer Herausforderungen nachgelagerter Serviceprozesse ermöglichen. Dazu wurde zunächst die Montage des Krans in unterschiedlichen Umgebungen entwickelt. In diesem Szenario konnte die Montage nach einem vorgegebenen Ablauf von Beginn bis Ende virtuell durchgeführt werden. In dem Montageszenario gab es an einigen Stellen Möglichkeiten zur Reflektion einzelner Arbeitsschritte, in denen es in der Realität vermehrt zu Herausforderungen kommt. Zusätzlich konnte die Montage durch zwei Mitarbeiter*innen gleichzeitig durchgeführt werden. Dieses erste VR-Montageszenario ermöglichte im Zuge der durchgeführten Evaluationen eine erste Betrachtung unterschiedlicher Einflussfaktoren auf die Nutzung der VR, die Gestaltung der VR-Umgebung, die Zusammenarbeit in der VR und den Wissensaustausch zwischen den Mitarbeiter*innen. Die durchgeführten Evaluationsschleifen mit den Mitarbeiter*innen ermöglichten einen besonders nutzerzentrierten und partizipativen Ansatz. Die Mitarbeiter*innen des Anwendungspartners waren über den gesamten Projektverlauf der Ausgangs- und Orientierungspunkt für die Entwicklung der Szenarien. Sie hatten die Möglichkeit, in regelmäßigen Evaluationsschleifen ihr Feedback einzubringen und konnten somit als wichtiger Teil der erfolgreichen Umsetzung und nachhaltigen Implementierung des Projektziels beitragen.

Im Zuge des Projektes wurde darauf aufbauend eine VR-Design-Softwarelösung entwickelt, die eine individuelle Gestaltung der VR-Umgebung ermöglicht. Die Option zur individuellen Gestaltung und Anpassung der Umgebung ist besonders wichtig, um kundenspezifische Herausforderungen abbilden zu können oder die Montage- und Wartungsszenarien regelmäßig überarbeiten und anpassen zu können. Für die Gestaltung der VR-Umgebung benötigen Mitarbeiter*innen keine Programmierkenntnisse. Objekte können auf einfache Weise importiert und platziert, sowie in ihrer Größe verändert werden. 3D Konstruktionen können direkt aus dem Konstruktionsprogramm in die VR-Umgebungen übertragen und dort in unterschiedlichsten Umgebungen evaluiert werden.

Der Verlauf des Projektes erlaubte die Gewinnung wichtiger Erkenntnisse hinsichtlich des Designs der VR-Umgebung zur Evaluation, als Trainingsumgebung für Serviceprozesse und als Innovationsraum zur gemeinsamen Ideenentwicklung. Außerdem wurden Lösungen für die Darstellung von Störkanten und typischen Herausforderungen in Serviceprozessen sowie zur Vermittlung formaler Lerninhalte gefunden. Die regelmäßigen Evaluationsschleifen ermöglichten eine kontinuierliche Anpassung und gezieltere Ausrichtung des Designs der VR auf den Nutzungszweck. Es wurde letztendlich ein ganzheitliches VR-Konzept entwickelt, welches eine flexible Nutzung und Gestaltung zu unterschiedlichsten Zwecken erlaubt und sich auf diverse Anwendungsbereiche übertragen lässt.

Im Zuge des Projektes war es neben der Entwicklung der VR-Szenarien, VR-Software, Wissensplattform und CAD2VR-Anwendung möglich, theoretische Wegweiser und Strategien zu entwickeln, die einen Einsatz der VR-Technologie in kleinen und mittelständischen Unternehmen unterstützen können. Es sollten Best Practices und Guidelines entwickelt werden, die bei der Integration der VR-Technologie als Unterstützung und Leitfäden dienen. Die Einbindung in bestehende Arbeitsprozesse soll damit möglichst fließend und zielführend gestaltet werden. Um dies zu ermöglichen, wurden die Einsatzbereiche systematisch untersucht und die jeweiligen Herausforderungen an die Einbindung und die Gestaltung der VR herausgestellt, die wiederum von dem Ziel der Anwendung abhängig sind und deshalb differenziert betrachtet werden müssen.

Förderhinweis und Danksagung

Das Forschungsprojekt aSTAR wird im Rahmen des Programms „Zukunft der Arbeit“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Europäischen Sozialfonds (ESF) gefördert (Förderkennzeichen 2L18B010–2L18B013) und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen und Autoren.

Die Autorinnen und Autoren danken allen Personen und Unternehmen die maßgeblich daran mitgewirkt, dass diese Arbeit nun in dieser Form vorliegt.

Ein besonderer Dank gilt allen Teilnehmer*innen dieser Forschung, ohne die diese Arbeit nicht hätte entstehen können.