11.1 Einleitung

Graphen sind typische Darstellungen, um die Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Größen aufzuzeigen, und spielen daher eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung von Informationen in den Naturwissenschaften. Sie werden in der Regel im Mathematikunterricht der Sekundarstufe eingeführt und sind Teil des schulischen und universitären Curriculums in verschiedenen MINT-Kontexten (Leinhardt et al., 1990; Glazer, 2011). Über das rein mathematische Verständnis des funktionalen Zusammenhangs hinaus sind Graphen ein wichtiges Instrument zur Visualisierung von Trends in Messdaten und damit ein interdisziplinäres Werkzeug für die Vermittlung quantitativer Informationen im Rahmen der 21st Century Skills (National Research Council, 2012).

In den letzten Jahrzehnten hat die Forschung jedoch gezeigt, dass viele Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten mit der Interpretation von Graphen haben (Glazer, 2011). Dies gilt insbesondere für kinematische Graphen (McDermott et al., 1987; Beichner, 1993; Ivanjek et al., 2016), d. h. für Zeit-Position-, Zeit-Geschwindigkeit- und Zeit-Beschleunigung-Graphen. Studien belegen, dass es den Schülerinnen und Schülern oft an ausreichendem mathematischen Verständnis mangelt (Leinhardt et al., 1990; Christensen et al., 2012), aber auch die vorhandene Kenntnis mathematischer Verfahren, wie z. B. die Berechnung der Steigung oder der Fläche unter einer Kurve, impliziert keinen erfolgreichen Transfer in die Kinematik (Planinic et al., 2012; Ceuppens et al., 2019). Die aufgezeigten Lernschwierigkeiten und Lernprozesse beim Problemlösen lassen sich anhand von kognitiven Prozessen untersuchen.

Kognitive Prozesse bei der Interpretation von Graphen sind eng mit visuellen Wahrnehmungsprozessen verknüpft, z. B. beim Extrahieren relevanter Informationen aus Graphen. Deshalb erlaubt es die Blickdatenanalyse, Einblicke in Lern- oder Problemlösungsprozesse mit Graphen zu gewinnen (Lai et al., 2013; Susac et al., 2018).

In dieser Arbeit verwenden wir Eyetracking, um die visuellen Strategien von Schülerinnen und Schülern beim Lösen von Aufgaben zu linearen Graphen in einem mathematischen und kinematischen Kontext zu untersuchen. Zu diesem Zweck haben wir die Blickdaten von Schülerinnen und Schülern mit Eyetrackern aufgezeichnet, während sie ähnliche Items eines von Ceuppens et al. (2019) validierten Testinstruments lösten (Abb. 11.1). Ähnlich bedeutet, dass die Items die gleichen Oberflächenmerkmale aufweisen und das gleiche mathematische Lösungsverfahren erfordern.

Abb. 11.1
figure 1

Itempaar Nr. 2 aus dem verwendeten Testinstrument; links: mathematischer Kontext (M2), rechts: kinematischer Kontext (K2)

An einem ausgewählten Itempaar zeigen wir, dass sich das Blickverhalten zwischen dem mathematischen und dem kinematischen Kontext signifikant unterscheidet. Dabei werden zwei Stichproben zur Analyse verwendet: Zunächst werden Schülerinnen und Schüler betrachtet, die beide Aufgaben des Itempaars bearbeitet haben (N = 126). Danach reduziert sich die Stichprobe auf Personen, die sowohl das Mathematik-Item als auch das Physik-Item korrekt gelöst haben (N = 104). Daraus lassen sich kontextabhängig unterschiedliche Lösungsstrategien ableiten.

11.2 Theorie

11.2.1 Lernschwierigkeiten bei linearen Graphen

Die Lernschwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern in Bezug auf Graphen im Kontext von Mathematik und Physik lassen sich in drei Hauptaspekte gliedern. Erstens haben Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten, die beiden Disziplinen Mathematik und Physik angemessen zu verknüpfen (Ivanjek et al., 2016; Wemyss & van Kampen, 2013), obwohl diese eng miteinander verbunden sind (Redish & Kuo, 2015). Gründe dafür sind ein domänenspezifisches Lernen (Pollock et al., 2007) und die mangelnde Fähigkeit, Wissen von der Mathematik auf die Physik zu übertragen (Christensen & Thompson, 2012). Zweitens haben Schülerinnen und Schüler Probleme, mehrere externe Repräsentationen kompetent zu nutzen (z. B. Ainsworth, 2006; Nieminen et al., 2010), insbesondere beim Wechsel zwischen verschiedenen Repräsentationen (Even, 1998). Drittens bereitet insbesondere der hohe Abstraktionsgrad von Graphen Schwierigkeiten, da die Lernenden mathematische Objekte mit Prozessen in der realen Welt in Beziehung setzen müssen. In diesem Zusammenhang haben McDermott et al. (1987) Fehlvorstellungen identifiziert, die den Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler beim Verknüpfen von kinematischen Graphen zugrunde liegen. Bei der Verknüpfung von Diagrammen mit physikalischen Konzepten stellten sie die folgenden spezifischen Schwierigkeiten fest: die Unterscheidung zwischen Steigung und Höhe, die Interpretation von Höhen- und Steigungsänderungen, die Verknüpfung eines Diagrammtyps mit einem anderen, die Zuordnung der Informationen in einem Text zu einer grafischen Darstellung und die Interpretation der Fläche unter einem Diagramm. Bei der Zuordnung von Diagrammen zur realen Welt wurden folgende Schwierigkeiten festgestellt: Die Art der Bewegung wird als graphische Darstellung genutzt, so wird z. B. eine kontinuierliche Bewegung als durchgehende Linie dargestellt oder zwischen dem Verlauf einer Bewegung und dem Verlauf des Graphen nicht unterschieden. Weitere Schwierigkeiten zeigen sich bei der Darstellung einer negativen Geschwindigkeit in einem Zeit-Geschwindigkeit-Diagramm, der Darstellung einer konstanten Beschleunigung in einem Zeit-Beschleunigung-Diagramm und der Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Bewegungsdiagrammen.

Viele der oben genannten Schwierigkeiten wurden von Ceuppens et al. (2019) in einer Studie über lineare Funktionen im Kontext von Kinematik und Mathematik mit Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse untersucht. Hierbei identifizierten Ceuppens et al. Probleme mit der Repräsentationsform Formel und bei der Interpretation von Funktionen mit negativer Steigung, insbesondere im kinematischen Kontext. Bei Items mit negativen Steigungen wurde das Vorzeichen im mathematischen Kontext von den Lernenden berücksichtigt, im kinematischen Kontext aber häufig ignoriert. Verwechslungen von Ordinatenabschnitt und Steigung sowie eine Verknüpfung von der Form des Graphen mit der Form der Bewegung wurden hingegen nur selten beobachtet.

11.2.2 Visuelle Aufmerksamkeit während des Problemlösens und Eyetracking-Forschung im Zusammenhang mit (linearen) Graphen

Eyetracking ist eine Methode zur Untersuchung der visuellen Aufmerksamkeit durch Aufzeichnung und Analyse der Augenbewegungen. Die Augenbewegung kann als eine Abfolge von Fixationen (Augenstopps) und Sakkaden (Sprünge zwischen Fixationen) beschrieben werden. Vordefinierte Bereiche im Blickfeld, sogenannte Areas of Interest (AOI), werden verwendet, um Eyetracking-Metriken wie die Total Visit Duration (TVD, kumulierte Zeiten zwischen der ersten Fixation in und der ersten Fixation außerhalb eines AOI) und Transitionen (Sakkaden zwischen AOIs) zu definieren (Tobii, 2016). Um ein angemessenes Verständnis von linearen Graphen zu erlangen, müssen die Lernenden Informationen aus dem Diagramm extrahieren und diese mit ihrem Vorwissen kombinieren. Solche Prozesse der Informationsextraktion und der Konstruktion mithilfe von Graphen werden durch die Cognitive Theory of Multimedia Learning (CTML, z. B. Mayer, 2009) beschrieben. Die CTML beschreibt drei Hauptprozesse des Problemlösens und Lernens: Selektion (Extraktion von sensorischen Informationen), Organisation (Aufbau einer kohärenten internen Repräsentation durch Informationsstrukturierung) und Integration (Verknüpfung interner Repräsentationen wie Achsenwerte oder Achsintervalle in Graphen mit dem Langzeitgedächtnis).

Die folgende Verbindung zwischen CTML und Eyetracking ermöglicht eine theoriebasierte Interpretation der Eyetracking-Daten: Die Total Visit Duration (TVD, Fixationsdauer) wird mit Prozessen der Selektion und Organisation von Informationen aus dem visuellen Stimulus assoziiert, Blickwechsel (Transitionen) stehen in Zusammenhang mit Integrationsprozessen (z. B. Alemdag & Gagiltay, 2018; Scheiter et al., 2019; Schüler, 2017). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Eyetracking eine nicht-intrusive Methode ist, um Informationen über die visuelle Aufmerksamkeit und die kognitive Verarbeitung bei Problemlösungsprozessen zu erhalten.

Im Rahmen von Eyetracking-Studien zu linearen Graphen in verschiedenen Kontexten fanden Susac et al. (2018) heraus, dass Studierende der Physik Items im Kontext von Physik und Finanzen erfolgreicher lösten als Psychologiestudierende. Physikstudierende hatten auch eine signifikant höhere Fixationsdauer auf Graphen als Psychologiestudierende. Eine Replikationsstudie dieser Arbeit von Klein et al. (2019) mit Wirtschaftsstudierenden anstelle von Psychologiestudierenden zeigte einen höheren Lernerfolg von Physikstudierenden im Vergleich zu Wirtschaftsstudierenden. Sie stellten jedoch fest, dass beide Studierendenkohorten ähnlich viel visuelle Aufmerksamkeit auf den Graphbereich richteten. Diese Ergebnisse von Klein et al. (2019) zeigen, dass allein die Untersuchung der visuellen Aufmerksamkeit auf den gesamten Graphbereich nicht ausreichend ist. Um den unterschiedlichen Lernerfolg der Studierenden abbilden zu können, sollte der Graphbereich in weitere Bereiche eingeteilt und so detaillierter untersucht werden.

Bislang gibt es unserem Wissen nach keine Eyetracking-Studie zum Vergleich visueller Aufmerksamkeitsprozesse bezüglich linearer Graphen im Kontext der Mathematik mit anderen Kontexten, insbesondere mit der Physik. Darüber hinaus gibt es noch Defizite in Eyetracking-Studien zu mathematischen Problemlöseprozessen und -repräsentationen in der Sekundarstufe (Strohmaier et al., 2020). Die vorliegende Studie soll diese Lücken füllen.

11.3 Forschungsfrage

Für unsere Eyetracking-Studie haben wir das validierte Testinstrument von Ceuppens et al. (2019) verwendet, da es Items sowohl in kinematischen als auch in mathematischen Kontexten enthält. Während Ceuppens et al. (2019) Schülerinnen und Schüler der Klasse 9 untersuchten, setzten wir das Testinstrument bei Lernenden in der Eingangsphase der Sekundarstufe II ein. Ziel war es, zu überprüfen, ob sich die durch das Blickverhalten dargestellten kognitiven Prozesse bei der Interpretation von linearen Graphen in verschiedenen Kontexten für diese Jahrgangsstufe unterscheiden. Insbesondere interessiert uns das Blickverhalten von erfolgreichen Schülerinnen und Schülerinnen, die ähnliche Items im Mathematik- und im Physikkontext richtig lösten. Die Wahl dieses Forschungsschwerpunkts begründet sich darin, dass der kompetente Umgang mit Graphen im Allgemeinen und mit linearen Graphen im Besonderen in der Oberstufe vorausgesetzt wird und als Grundlage für die Entwicklung vieler neuer Lerninhalte im MINT-Kontext gesehen werden kann. Die Forschungsfrage der Studie lautet wie folgt:

Unterscheiden sich (bei erfolgreichen Schülerinnen und Schülern) das Blickverhalten und somit die Selektions- und Organisationsprozesse beim Lösen ähnlicher Items im Mathematik- und Kinematikkontext?

11.4 Methodik

11.4.1 Material

Das Testinstrument besteht aus 24 Items, die einem validierten Test von Ceuppens et al. (2019) entnommen und wörtlich ins Deutsche übersetzt wurden. Um Sequenzeffekte zu vermeiden, wurden den Schülerinnen und Schülern alle Items in zufälliger Reihenfolge vorgelegt und abwechselnd mit Physik- oder Mathematik-Items begonnen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit konzentrieren wir uns bei der Blickdatenanalyse auf das Itempaar Nummer 2 (M2 bzw. K2 nach Nomenklatur von Ceuppens; Abb. 11.2). Hier sollten die Schülerinnen und Schüler die Funktion mit der größten Steigung einmal aus zwei streng monoton steigenden, linearen Funktionen und einmal aus zwei linear steigenden Zeit-Position-Funktionen identifizieren.

Abb. 11.2
figure 2

Itempaar Nr. 2 aus dem verwendeten Testinstrument; links: mathematischer Kontext (M2), rechts: kinematischer Kontext (K2). Der Diagrammbereich jedes Items ist in AOIs 1–8 unterteilt. AOIs mit deutlich längeren TVDs als im ähnlichen Item sind rot markiert (Stichprobe: M2 und K2 bearbeitet)

11.4.2 Stichprobe

An der Studie nahmen insgesamt 131 Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II (74 männlich, 56 weiblich, einmal keine Angabe, alle mit normalem oder korrigiertem Sehvermögen) aus vier Sekundarschulen in Rheinland-Pfalz teil. Die Stichprobe setzt sich aus folgenden Leistungsprofilen in Mathematik und Physik zusammen: Mathe-LK: 38,2 %, Mathe-GK: 55,7 %, keine Angabe (Mathe): 6,1 %, Physik-LK: 15,3 %, Physik-GK: 29,8 %, weder noch: 49,6 % und keine Angabe (Physik): 5,3 %. Die Schülerinnen und Schüler beteiligten sich freiwillig an der Datenerhebung, entweder in Freistunden oder im regulären Unterricht (mit Erlaubnis der Lehrkraft). Zum Zeitpunkt der Durchführung der Studie war Kinematik bei allen Teilnehmenden bereits im Unterricht behandelt worden. Die Schülerinnen und Schüler wurden für ihre Teilnahme mit einem 5 €-Gutschein belohnt. Im Rahmen dieser Arbeit werden zunächst nur die Teilnehmenden berücksichtigt, die das Mathematik-Item und das Physik-Item bearbeiteten (N = 126, 53 weiblich, 72 männlich, einmal keine Angabe). In einem nächsten Schritt wurde diese Stichprobe auf die Personen eingeschränkt, die sowohl das Mathematik-Item als auch das Physik-Item richtig gelöst haben (N = 104, 42 weiblich, 61 männlich, einmal keine Angabe).

11.4.3 Prozedur

Die Studie fand in der Bibliothek der Schule statt, wo zwei identische Eyetracking-Systeme (Tobii X3-120) aufgestellt waren. Zunächst beantworteten die Teilnehmenden einen kurzen Fragebogen zu ihren demografischen Daten. Danach wurde eine 9-Punkt-Kalibrierung durchgeführt, um eine vollständig angepasste und genaue Blickpunktberechnung zu erhalten. Anschließend wurden die 24 Items auf dem Computerbildschirm (1920 × 1080 px; Bildwiederholrate 75 Hz) angezeigt. Wenn die Schülerinnen und Schüler bereit waren, eine Antwort zu geben, drückten sie eine Taste, um zur nächsten Folie zu gelangen. Nachdem sie geantwortet hatten, wurden sie gefragt, wie sicher sie sich der Richtigkeit ihrer Antwort waren (4-stufige Likert-Skala, die von „sehr sicher“ bis „geraten“ reichte). Die Teilnehmenden konnten sich für die Beantwortung einer Frage so viel Zeit nehmen, wie sie benötigten. Sie erhielten keine Rückmeldung nach Abschluss eines Items und konnten nicht zu früheren Items zurückkehren.

11.4.4 Datenerhebung und -analyse

Leistungsdaten. Die Antworten wurden in Anlehnung an Ceuppens et al. (2019) dichotom codiert (0 für falsche Lösung, 1 für richtige Lösung). Antworten, bei denen die Teilnehmenden angaben, dass sie geraten hatten (14,7 % aller Angaben), wurden als falsch markiert.

Blickdaten. Die Datenerfassung und die Erstellung der AOIs erfolgte mit der Software Tobii Studio. Für die Zuordnung der Augenbewegungstypen wurde der Standard-I-VT-(Identification-by-Velocity-Threshold-)Algorithmus der Software verwendet (Schwelle: 30°/s für die Geschwindigkeit; Salvucci & Goldberg, 2000). Die Ergebnisse von fünf Teilnehmenden wurden aufgrund der schlechten Qualität der Blickbewegungsdaten ausgeschlossen. Für die Blickdatenanalyse wurden die Items auf den Diagrammbereich beschränkt. Die AOIs wurden so gewählt, dass grafisch relevante Strukturen von je einem AOI abgedeckt werden ( Abb. 11.2). So werden z. B. Bereiche der Achsen oder Bereiche der linearen Funktion in AOIs zusammengefasst. Es wurde die Eyetracking-Metrik TVD (Selektion/Organisation) berücksichtigt (vgl. Abschn. 11.2, 11.2.2). Mit einem nicht-parametrischen Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test wurde geprüft, ob sich die zentralen Tendenzen der TVD in den abhängigen Stichproben (M2 und K2 bearbeitet bzw. M2 und K2 richtig gelöst) unterscheiden. Die analysierten Datensätze erfüllten die für die Durchführung des Wilcoxon-Tests erforderlichen Annahmen. Ein Schwellenwert von p = 0,05 wurde verwendet, um das Signifikanzniveau des Effekts in allen durchgeführten Tests zu bestimmen. Um die Falschentdeckungsrate aufgrund von Mehrfachtests zu kontrollieren, wurden die p-Werte mit dem Benjamini-Hochberg-Verfahren (Benjamini & Hochberg, 1995) korrigiert. Die Effektgröße r (für nicht-parametrische Daten, vgl. Fritz et al. 2012) mit 95 % Konfidenzintervall (berechnet mittels Bootstrapping mit 1000 Replikationen) wurde für alle Wilcoxon-Tests mit signifikanten Ergebnissen ermittelt und kann nach Cohens Richtlinien interpretiert werden (kleiner Effekt: r = 0,1; mittlerer Effekt: r = 0,3; starker Effekt: r = 0,5; Cohen, 1988).

11.5 Resultate und Diskussion

In diesem Abschnitt werden zunächst die Ergebnisse der Analyse der Eyetracking-Daten für das Itempaar Nr. 2 für die Stichprobe der Schülerinnen und Schüler, die M2 und K2 bearbeitet haben, vorgestellt. Danach werden die Ergebnisse der Eyetracking-Analyse für eine weitere Stichprobe aus Personen, die Item M2 und Item K2 richtig gelöst haben, präsentiert.

11.5.1 Itempaar Nr. 2 (M2 und K2 bearbeitet)

Relative TVD. Die Ergebnisse des Wilcoxon-Tests (p-Werte mit Effektgrößen r für signifikante Ergebnisse) sind in Tab. 11.1 zusammen mit der mittleren, relativen TVD für jede AOI des Itempaares Nr. 2 dargestellt. Hierbei wurde die TVD der einzelnen AOIs jeweils relativ zur TVD des gesamten Graphbereichs (AOI 8) berechnet. Alle signifikanten Ergebnisse beziehen sich auf längere, relative TVDs als in dem jeweils anderen Item und sind in Abb. 11.2 visualisiert. Die beiden Achsenbeschriftungen (AOI 1 und 5), die x-Achse (AOI 4) und der Koordinatenursprung (AOI 3) wurden in Item K2 signifikant länger betrachtet als in Item M2. In Item M2 wurden die beiden linearen Funktionen (AOI 6 und 7) signifikant länger als in Item K2 betrachtet.

Tab. 11.1 Durchschnittliche, relative TVD (Mean) pro Area of Interest (AOI) mit Standardfehler (SE) für das Kinematik-Item (K) und das Mathematik-Item (M). Die korrigierten p-Werte des Wilcoxon-Tests (p (adj.)) und Effektgrößen r mit 95 % Konfidenzintervallen (CI) sind für alle Wilcoxon-Tests mit p < 0,05 angegeben (Stichprobe: M2 und K2 bearbeitet)

11.5.2 Itempaar Nr. 2 (M2 und K2 richtig gelöst)

Eine Einschränkung der Stichprobe ausschließlich auf Personen, die sowohl Item M2 als auch Item K2 richtig beantwortet haben, führt zu einer Verstärkung der in Abschn. 11.5.1 gemachten Beobachtungen. Es werden nun alle Achsenbereiche in Item K2 länger als in Item M2 betrachtet (Abb. 11.3). Die Ergebnisse des Wilcoxon-Tests sind in Tab. 11.2 zusammengefasst.

Abb. 11.3
figure 3

Ähnliches Itempaar Nr. 2 aus dem verwendeten Testinstrument; links: mathematischer Kontext (M2), rechts: kinematischer Kontext (K2). Der Diagrammbereich jedes Items ist in AOIs 1–8 unterteilt. AOIs mit deutlich längeren TVDs als im ähnlichen Item sind rot markiert (Stichprobe: M2 und K2 richtig gelöst)

Tab. 11.2 Durchschnittliche, relative TVD (Mean) pro Area of Interest (AOI) mit Standardfehler (SE) für das Kinematik-Item (K) und das Mathematik-Item (M). Die korrigierten p-Werte des Wilcoxon-Tests (p (adj.)) und Effektgrößen r mit 95 % Konfidenzintervallen (CI) sind für alle Wilcoxon-Tests mit p < 0,05 angegeben (Stichprobe: M2 und K2 richtig gelöst)

Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse der Eyetracking-Analyse eine höhere Informationsentnahme aus den Achsenbereichen bei Item K2 als bei Item M2, insbesondere für die Teilstichprobe der Lernenden, die beide Items korrekt gelöst haben. Außerdem zeigt die Analyse, dass die Lernenden im Mathematik-Item länger auf die Funktionsgraphen schauen als im Physik-Item. Dies deutet darauf hin, dass korrekte Lösungsstrategien in Physik stärker als in Mathematik von Informationen auf den Achsen abhängen. In Mathematik sind die Achseninformationen oft redundant, sodass ihnen weniger Beachtung geschenkt wird und hier mehr Fokus auf die Funktionsgraphen gelegt werden kann.

11.6 Zusammenfassung und Ausblick

In dieser Eyetracking-Studie wurde ein validiertes Testinstrument zu linearen Graphen im mathematischen und kinematischen Kontext bei Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe II eingesetzt. Anhand eines ausgewählten ähnlichen Itempaares zum Vergleich der Steigung zweier linearer Graphen konnte gezeigt werden, dass sich das Blickverhalten zwischen dem kinematischen und dem mathematischen Kontext grundlegend voneinander unterscheidet. So war die visuelle Aufmerksamkeit auf den Funktionsgraphen im mathematischen Kontext signifikant höher, während bei der Lösung des Kinematik-Items die Achsenbereiche signifikant länger fixiert wurden. Dieser Kontextabhängigkeit von visueller Strategie bei Schülerinnen und Schülern sollten sich Lehrkräfte bewusst sein. Sie sollte auch bei der Erstellung von Lernmaterialien sowie der didaktischen Unterrichtsplanung angemessen berücksichtigt werden. Dadurch wird Transferschwierigkeiten von mathematischen Prozeduren in spezifische Kontexte vorgebeugt. Eine gezielte Verknüpfung von Mathematik- und Physikunterricht könnte dabei einerseits dazu beitragen, den Transfer mathematischer Verfahren zur Lösung physikalischer Problemstellungen zu fördern, andererseits aber auch die Mathematik mit einer Anwendung zu verbinden.

Das Testinstrument enthält noch weitere Itemtypen, bei denen als Nächstes untersucht werden soll, inwieweit sich aus der Analyse des Blickverhaltens auch bei diesen Itemtypen Erkenntnisse über Unterschiede in den visuellen Lösungsstrategien sowie Transferschwierigkeiten gewinnen lassen. Hierbei ist insbesondere eine Triangulation der Eyetracking-Daten mit verbalen Daten der Schülerinnen und Schüler zu deren Lösungsstrategien vorgesehen, um tiefergehende Einblicke in deren Lernschwierigkeiten zu gewinnen. Perspektivisch könnten die Erkenntnisse in einer adaptiven Lernumgebung genutzt werden, um Schwierigkeiten bei der Übertragung mathematischer Verfahren in physikalische Zusammenhänge während des Lösungsprozesses anhand der Blickdatenerfassung zu erkennen und auf dieser Grundlage automatisch Hilfestellungen anzubieten, noch bevor die Aufgabe falsch gelöst wurde. Diese Studie ist ein erster Ansatz auf der Suche nach geeigneten Kriterien zur Entscheidungsfindung. Darauf aufbauend können Untersuchungen in Echtzeit stattfinden.