FormalPara Zusammenfassung

Die Prävalenz schwerer und chronischer psychischer Erkrankungen wird auf 1–2 % der Erwachsenenbevölkerung geschätzt. Neben der großen Erkrankungslast verbinden sich hiermit vor allem auch deutliche Risiken hinsichtlich der Teilhabe an Bildung, Arbeit, Wohnen und sozialem Leben. Zudem gehen schwere psychische Erkrankungen mit einer deutlich reduzierten somatischen Gesundheit und Lebenserwartung einher. Entsprechend hoch sind die verschiedenen Bedarfe der Betroffenen. Eine erforderliche umfassende und multiprofessionelle Behandlung in einem ambulanten Setting, die sich an den individuellen und im zeitlichen Verlauf auch an den wechselnden Bedarfen orientieren muss, wird in Deutschland nur zögerlich umgesetzt. Dabei stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, die darauf gerichtet sind, eine personenzentrierte und koordinierte Versorgung und Überwindung von Sektoren- und Sozialgesetzgebungsgrenzen zu ermöglichen. Der Beitrag skizziert die besondere Lebens- und Versorgungssituation schwer psychisch kranker Menschen und greift dabei Aspekte psychiatrischer Pflege und der Pflegebedürftigkeit i. S. des SGB XI, § 14 auf.

The prevalence of severe and chronic mental illness is estimated at 1–2 % of adults. In addition to the burden of disease, there are significant risks associated with participation in education, work, housing and social life. Severe mental illness is also associated with significantly reduced somatic health and life expectancy. The different needs of those affected are correspondingly high. A necessary comprehensive and multiprofessional treatment in an outpatient setting must be oriented towards individual and changing needs. In Germany, such treatment is implemented only hesitantly. Various instruments are available that are aimed at enabling person-centered and coordinated care and overcoming sectoral and social legislation boundaries. The article outlines the specific living and care situation of severely mentally ill people and takes up aspects of psychiatric care and the need for care in the sense of Social Code (SGB) Book XI, § 14.

1 Zur Definition schwerer psychischer Erkrankungen

Die Beschreibung der Situation erwachsener schwer psychisch kranker Menschen, einschließlich der Versorgungserfordernisse, erfordert zunächst eine Definition der Personengruppe. Nach einer Schätzung im Rahmen des Gesundheitsmonitorings des Robert Koch-Instituts (RKI) liegt die Gesamtprävalenz psychischer Störungen unter den 18- bis 79-jährigen Erwachsenen in Deutschland bei knapp 28 % (Jacobi et al. 2014). Diese Zahl ist als Gesamtzahl derjenigen Personen zu verstehen, die in einem Zwölf-Monats-Zeitraum zumindest zeitweilig unter den Symptomen einer psychischen Erkrankung gelitten haben. Dabei erfüllte etwa jede dritte Frau (33,3 %) und etwa jeder vierte bis fünfte Mann (22,0 %) die Kriterien für mindestens eine der erfassten psychiatrischen Diagnosen. Angststörungen stellten mit ca. 15 % die größte Störungsgruppe dar, gefolgt von unipolaren Depressionen (7,7 %) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7 %). Obwohl von einer hohen Krankheitslast bei vielen der Betroffenen auszugehen ist, liegt nicht bei allen der erkrankten Personen eine schwere und chronische psychische Erkrankung vor.

Schwere psychische Erkrankungen (engl. severe mental illness) sind als ein diagnoseübergreifendes Konstrukt zu verstehen. Definiert werden können sie über (1) das Vorliegen (irgend)einer psychiatrischen Erkrankung (z. B. Schizophrenie, Bipolare Erkrankung, schwere Depression, schwere Persönlichkeitsstörungen), (2) eine Erkrankungs- bzw. Behandlungsdauer von mindestens zwei Jahren und (3) eine deutliche und quantifizierbare psychosoziale Beeinträchtigung (Ruggeri et al. 2000). In epidemiologischen Studien ließ sich aufzeigen, dass eine so definierte Patientengruppe deutlich schwerer beeinträchtigt war und mehr Hilfen in Anspruch nahm als eine Gruppe leichter erkrankter Personen, auf die diese Kriterien nicht zutrafen (Parabiaghi et al. 2006). In der internationalen Literatur werden auch andere Kriterien für eine Definition schwerer psychischer Erkrankungen diskutiert, wie beispielsweise das der erforderlichen Behandlungsintensität bzw. des Ausmaßes an formellen und informellen Hilfen sowie von Gefährdungsaspekten (Slade et al. 1997; Ceron et al. 2014; Delespaul 2013). Gleichzeitig wird das Kriterium der Behandlungsdauer kritisch diskutiert, da diese durchaus von anderen Faktoren wie z. B. der Behandlungsorganisation oder den Finanzierungsvoraussetzungen abhängen kann (Delespaul 2013). Auch müssen eine lange Erkrankungsdauer und Chronizität nicht zwingend mit einschneidenden Beeinträchtigungen in psychosozialen Bereichen einhergehen. Dagegen lässt die Behandlungsintensität Rückschlüsse auf den Behandlungsbedarf der Betroffenen zu, ist diesem aber nicht gleichzusetzen.

Die Definition schwerer psychischer Erkrankungen nach Ruggeri et al. (2000) ist Grundlage der S3-Leitlinien „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) (Gühne et al. 2019). Eine Schätzung über die Größenordnung schwer psychisch kranker Menschen für Deutschland basierend auf den Versorgungsdaten psychisch kranker Menschen aus typischen Versorgungszusammenhängen geht von einer Prävalenz zwischen 1 und 2 % aus. Das entspräche in etwa 500.000 bis 1 Mio. Menschen zwischen 18 und 65 Jahren (Gühne et al. 2015). Repräsentative Untersuchungen dazu liegen bisher nicht vor. Daneben muss berücksichtigt werden, dass insbesondere Demenzerkrankungen auch als schwere psychische Erkrankungen zu verstehen sind. Es wird geschätzt, dass in Deutschland rund 1,6 Mio. Menschen mit Demenz leben. Jährlich treten etwa 300.000 Neuerkrankungen auf (Bickel 2020). Demenzielle Störungen gehen mit gravierenden Funktionseinbußen und Einschränkungen bei den Aktivitäten des täglichen Lebens einher, die Erkrankungsprozesse verlaufen über lange Zeit, die Auswirkungen für das psychosoziale Netzwerk sind erheblich. Häufig werden intensive psychosoziale Hilfen, psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung sowie professionelle Pflege in Anspruch genommen. Die Behandlung demenzieller Erkrankungen erfordert einen eigenen Zugang. Sie steht im vorliegenden Beitrag nicht im Fokus.

Auch Suchtstörungen sind häufig schwere psychische Erkrankungen im Sinne der oben zitierten Definition. Dies gilt für die Schwere der Beeinträchtigung, die Vielfalt der psychosozialen Einschränkungen, für Beeinträchtigungen des sozialen Funktionsniveaus, die häufig intensive Inanspruchnahme des Versorgungssystems sowie die in der Regel längere Zeitdauer der Erkrankung. Es wird geschätzt, dass in Deutschland ca. 4 Mio. Menschen von einer Abhängigkeit von Alkohol und Drogen betroffen sind. Daneben spielen auch Nikotinabhängigkeit und der Missbrauch von Schmerz-, Schlaf- oder Beruhigungsmitteln eine erhebliche Rolle (Pabst et al. 2013). Insbesondere schwere psychische Erkrankungen gehen häufig mit komorbider Suchtproblematik einher.

Obwohl der Term „schwere psychische Erkrankung“ als ein diagnoseübergreifender Ansatz zu verstehen und diagnoseunabhängig vor allem durch die erheblichen krankheitsbedingten Konsequenzen für die Betroffenen selbst, deren Angehörige und die Gemeinschaft gekennzeichnet ist, bleibt dieser sehr heterogen in seinem Beschreibungsbild.

2 Die besondere Lebenssituation schwer psychisch kranker Menschen

Die Personengruppe der Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen ist v. a. durch die Auswirkungen ihrer schweren und anhaltenden psychischen Erkrankung gekennzeichnet, die zum einen oftmals mit einer insgesamt schlechteren körperlichen Gesundheit verbunden ist und sich zum anderen durch deutliche Einschränkungen in verschiedenen Funktions- und Lebensbereichen sowie bei der Teilhabe am sozialen Leben zeigt.

Zu nennen sind unter anderem niedrige Beschäftigungsraten in dieser Bevölkerungsgruppe. Bei Patientinnen und Patienten mit der Diagnose einer Schizophrenie liegt die durchschnittliche Arbeitsrate im europäischen Vergleich zwischen 10 und 20 % (Marwaha und Johnson 2004). Befragungen von Menschen in stationär-psychiatrischer Behandlung in Deutschland ergaben, dass lediglich 21 % ein festes Arbeitsverhältnis hatten (Mernyi et al. 2018) bzw. 34 % der Befragten zum Untersuchungszeitpunkt in Arbeit bzw. in regulärer Ausbildung bzw. im Studium waren (Jäckel et al. 2020). In einer multizentrischen Beobachtungsstudie in Süddeutschland zeigte sich eine vergleichbare Arbeitsrate von 28 % auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. 5 % der Befragten gaben darüber hinaus an, in einer beschützten Form tätig zu sein; 26 % waren arbeitslos und 23 % waren aufgrund ihrer psychischen Erkrankung vorzeitig berentet (Gühne et al. 2021a). Psychische Erkrankungen bilden seit vielen Jahren die Hauptursache für ein vorzeitiges gesundheitsbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Mittlerweile wird bei 43 % der Frühverrentungen ein Zusammenhang mit psychischen Störungen gesehen (DRV 2020).

Auch für die umschriebene Gruppe der Menschen mit seelischen Behinderungen in der Eingliederungshilfe konnte in der BEASCAP-Studie aufgezeigt werden, dass die Betroffenen gegenüber der Allgemeinbevölkerung häufiger mit fehlenden Schul- und Ausbildungsabschlüssen ins Berufsleben starten (Speck und Steinhart 2018). Vielen der Betroffenen bleibt als Beschäftigungsoption oft „nur“ eine Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Der Anteil der psychisch kranken Menschen in den Werkstätten steigt stetig an und lag 2020 bei mehr als 20 % und bot damit ca. 60.000 Menschen mit psychischer Erkrankung eine Berufsbildungs- bzw. Beschäftigungsmöglichkeit (BAG WfbM 2020). Neben den beschützten Werkstätten stehen den Betroffenen auch Tagesstätten oder Tagesförderstätten zur Verfügung. Formal ergibt sich hiermit allerdings kein arbeitnehmerähnlicher Status; die Betroffenen erhalten kein Arbeitsentgelt. In Deutschland finden sich ca. 14.000 solcher Plätze (Doose 2012).

Hinsichtlich des Teilhabebereichs Wohnen lässt sich die Situation vor allem für die Menschen in Eingliederungshilfe beschreiben. In Deutschland waren Ende 2019 417.234 volljährige Menschen mit Behinderung im Bereich Wohnen auf Leistungen der Eingliederungshilfe angewiesen. Nahezu ein Drittel der Menschen im stationären Wohnen wies eine seelische Behinderung auf. Im bundesweiten Durchschnitt waren ca. 70 % der Leistungsberechtigten in ambulant unterstützten Wohnformen von einer seelischen Behinderung betroffen. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass rund 158.500 Menschen mit seelischer Behinderung Leistungen des ambulant betreuten Wohnens erhielten und rund 60.000 Menschen in Wohnheimen lebten (BAGüS 2021). Wohnheime stellen für Menschen mit hohen und komplexen Versorgungsbedarfen oftmals die einzige Möglichkeit zum Wohnen mit der erforderlichen Unterstützung dar. Diese „Sonderwohnformen“ sind nicht selten wohnortfern und oft mit einem Verlust an Eigenständigkeit und auch mit beeinträchtigten Teilhabechancen verbunden (DGSP 2012). Eine Besonderheit stellt das Wohnen in geschlossen geführten Wohnformen, z. T. in Pflegeheimen nach SGB XI dar. Die Datenlage dazu ist äußerst begrenzt (Jenderny et al. 2020), weshalb hierbei auch von einer „Blackbox“ gesprochen wird (Steinhart et al. 2013).

Nicht alle schwer psychisch kranken Menschen beziehen Hilfen der Eingliederungshilfe. Ältere Befunde gaben bereits Hinweise darauf, dass ein Teil der Betroffenen in inadäquaten Wohnverhältnissen lebt. Querschnittsdaten aus einer Stichprobe von Risikopersonen, die aufgrund von Mietschulden, anstehenden Zwangsräumungen und ähnlichen Notlagen in Gefahr waren, ihre Wohnung zu verlieren, verwiesen auf eine Prävalenz psychischer Erkrankungen von knapp 80 % (Salize et al. 2006). Im Rahmen der querschnittlichen WOHIN-Studie wurde die Wohnsituation von Menschen in psychiatrischer (teil-)stationärer Behandlung (N = 540) einer Klinik in Berlin über einen Sechs-Monats-Zeitraum im Jahr 2016 erfasst. Der ganz überwiegende Anteil der Befragten (Gruppe 1) lebte in einer Mietwohnung (64,9 %) bzw. in Wohneigentum (3,8 %). Fast 20 % der Befragten gaben an, in einem betreuten Setting zu leben (Gruppe 2): 9 % im Betreuten Wohnen, 5,7 % in einer therapeutischen Wohngemeinschaft und in einem geringeren Umfang in therapeutischen Pflegeeinrichtungen (1,5 %), Altenheimen (1,3 %) oder im Klinikum (0,8 %). Immerhin 13 % gaben an, wohnungslos zu sein (Gruppe 3). Fehlende Schulabschlüsse waren im Ergebnis einer multinomialen logistischen Regression signifikant mit Obdachlosigkeit verknüpft; für ein Wohnen mit Betreuung schienen ein Single-Status sowie ein fehlender Schulabschluss bzw. ein Sonderschulabschluss mit Schwerpunkt Lernen relevant (Schreiter et al. 2019).

Betrachtet man die Gruppe wohnungsloser Menschen in Deutschland, deren Zahl über die letzten Jahre zugenommen hat, zeigt sich basierend auf einer systematischen Zusammenschau von elf Beobachtungsstudien und einer Metaanalyse, dass die Prävalenz psychischer Erkrankungen (Achse-I-Störungen) unter wohnungslosen Personen in Deutschland (N = 1.220) auf 77,4 % [95 %-KI: 71,3–82,9] geschätzt werden kann. Besonders hervor traten dabei substanzbezogene Störungen mit einer gepoolten Prävalenz von 60,9 % [95 %-KI: 53,1–68,5]; hierbei vor allem die Alkoholabhängigkeit mit einer Prävalenz von 55,4 % [95 %-KI: 49,2–61,5] (Schreiter et al. 2017).

Befunde verweisen auch auf eine nachteilige sozioökonomische Situation. In einer aktuellen Studie, in der schwer psychisch kranke Menschen in (teil-)stationärer Behandlung befragt wurden, gaben knapp zwei Drittel der Befragten an, über ein monatliches Haushaltseinkommen zu verfügen, das unter dem durchschnittlichen Nettoeinkommen eines privaten Haushalts in Deutschland im Vergleichsjahr liegt (Gühne et al. 2021b), das auf 3.580 € geschätzt wird. Die Höhe des Haushaltseinkommens psychisch erkrankter Menschen, das auch international unter dem der Allgemeinbevölkerung bleibt, ist von verschiedenen Faktoren abhängig; zu nennen sind hier vor allem das Bildungsniveau und die Erwerbsintensität, aber auch Geschlecht und Familienkonstellationen (Kawakami et al. 2012; Levinson et al. 2010).

In einer bereits weiter oben zitierten Studie konnte beispielhaft für Menschen mit seelischen Behinderungen in der Eingliederungshilfe aufgezeigt werden, dass die Befragten gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich seltener in einer festen Partnerschaft leben (24 % vs. 80 %) (Speck und Steinhart 2018).

Mit Blick auf die allgemeine Gesundheit gehen schwere psychische Erkrankungen mit deutlich erhöhten Risiken somatischer Komorbidität (Leucht et al. 2007) und Mortalität (DeHert et al. 2011) einher. Das Mortalitätsrisiko ist um das Zwei- bis Dreifache gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht (DeHert et al. 2011). Dabei ist die Mehrheit der Todesfälle auf eine schlechte körperliche Gesundheit (v. a. kardiovaskuläre Erkrankungen, Atemwegserkrankungen und Diabetes mellitus) zurückzuführen. Die Gründe für die hohe Morbidität sind vielfältig und lassen sich auf verschiedenen Ebenen (Individuum, Versorgungssystem, soziale Determinanten) verorten (Laursen 2019; Liu et al. 2017). Ein ungünstiger gesundheitsbezogener Lebensstil, unerwünschte Nebenwirkungen der Psychopharmakotherapie und eine ungenügende somatische Behandlung sind dabei besonders hervorzuheben.

Die enorme Krankheitslast für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen verbunden mit negativen Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit und den mittel- und langfristigen Krankheitsfolgen, die in verschiedenen Funktions- und Lebensbereichen deutlich werden, resultieren in komplexen Behandlungserfordernissen. Dafür stehen in Deutschland umfassende medizinische, psychotherapeutische, psychosoziale und pflegerische Hilfen zur Verfügung.

3 Die besondere Versorgungssituation schwer psychisch kranker Menschen

Infolge der Psychiatriereform konnte in Deutschland eine deutliche Verbesserung der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen erreicht werden. Das Prinzip der Gleichstellung mit somatisch erkrankten Personen mündete in einer Umgestaltung der großen psychiatrischen Anstalten in moderne Krankenhäuser und Abteilungen und dem Aufbau einer vielfältigen gemeindepsychiatrischen Versorgungsstruktur. Dennoch werden eine Unter- und Fehlversorgung psychisch kranker Menschen immer wieder dokumentiert (z. B. Jacobi et al. 2014). Die Kluft, die sich zwischen Behandlungsnotwendigkeit und tatsächlich erfolgter Behandlung zeigt (engl. treatment gap), wird in Europa für schizophrene Erkrankungen auf knapp 18 % geschätzt. Für andere Störungsbilder liegt die unbehandelte Prävalenz deutlich höher (Kohn et al. 2004).

Die Hilfen setzen sich aus unterschiedlichen Säulen zusammen. Zum einen betrifft das Leistungen der medizinischen Behandlung, die vor allem im SGB V (gesetzliche Krankenversicherung) geregelt sind. Diese werden in Praxen der Allgemeinmedizin sowie niedergelassener Fachärzte und Fachärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, in Psychotherapiepraxen sowie in Psychiatrischen Institutsambulanzen erbracht. Ergänzende im SGB V verankerte ambulante Leistungen sind durch die häusliche psychiatrische Krankenpflege, durch ambulante Ergo- oder auch die Soziotherapie möglich. Eine komplexe und multiprofessionelle Versorgung wird vor allem im Rahmen (teil-)stationärer Behandlung ermöglicht. Auch die Selbsthilfeförderung ist im SGB V geregelt.

Zum anderen betrifft das die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie zur Teilhabesicherung. Obwohl die Möglichkeiten zur beruflichen Teilhabe hierzulande sehr vielgestaltig sind, finden sich viele der Betroffenen unter beschützten Arbeitsverhältnissen, hier insbesondere in den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) oder auch in Tages- bzw. Tagesförderstätten wieder (Gühne und Riedel-Heller 2015). Leistungen zur sozialen Teilhabe werden erbracht, um die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erleichtern. Dazu gehören insbesondere die Befähigung und Unterstützung einer möglichst selbstbestimmten Lebensführung im eigenen Wohn- und Sozialraum. Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) wurden die Leistungen der Eingliederungshilfe in das SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) eingefügt. Damit wurde dieses zu einem Leistungsgesetz erhoben. Den betroffenen Menschen wird damit perspektivisch der Zugang zu Leistungen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation wesentlich erleichtert (Konrad 2018).

Neben dem SGB V und dem SGB IX findet die Versorgung erwachsener psychisch kranker Menschen unter Beteiligung weiterer Kostenträger und unter der Regelung durch die verschiedenen Sozialgesetzbücher statt, wie beispielsweise die der Arbeitsagenturen (SGB III), der Jobcenter (SGB II), der Rentenversicherungsträger (SGB VI) oder der Pflegeversicherung (SGB XI). In den Sozialgesetzbüchern sind jedoch in erster Linie die Rahmenbedingungen auf Bundesebene geregelt. Auf Landesebene stellt sich die Angebotslandschaft sehr unterschiedlich dar. Die einzelnen Angebote können nicht nur unterschiedliche Namen tragen, sondern auch inhaltlich anders ausgerichtet sein. Viele niedrigschwellige Angebote, zu denen beispielsweise auch Kontakt- und Beratungsangebote gehören, werden zudem aus öffentlichen Mitteln der Länder und Kommunen finanziert.

Neben Versorgungslücken (Kohn et al. 2004) und spezifischen Zugangsbarrieren (Schnyder et al. 2014; Liu et al. 2017) gilt die Fragmentierung der Versorgung als eine der größten Barrieren für eine frühzeitige, komplexe, kontinuierliche und personenzentrierte Versorgung. Bezeichnet wird hiermit die strikte kostenrechtliche Trennung zwischen (teil-)stationärer und ambulanter Versorgung sowie zwischen den Zuständigkeitsbereichen der Sozialgesetzbücher für Behandlung, Rehabilitation, Teilhabe und Pflege (Schmid et al. 2013). Verschiedene Steuerungselemente zielen darauf, eine koordinierte und an den individuellen Bedarfen und Bedürfnissen ausgerichtete personenzentrierte Versorgung zu gewährleisten. Auf Einzelfallebene kann dies durch Lotsen bzw. Case Manager (Schmid et al. 2013; Schleuning und Weschehold 2000; Klie 2020) und auf regionaler Ebene u. a. im Rahmen der Arbeit durch die Gemeindepsychiatrischen Verbünde (Längle 2009) unterstützt werden. Auf überregionaler Ebene wird die Versorgung unter anderem durch die Gesetzgebung in Bundestag und Bundesrat sowie durch die Organe der Selbstverwaltung (Bramesfeld et al. 2018) gesteuert. So wurden beispielsweise mit dem § 140 SGB V die Bedingungen für eine Integrierte Versorgung (IV) definiert. Ziel hierbei ist, dass die Leistungen (stationär, ambulant, rehabilitativ) sektorenübergreifend erbracht werden. Dabei werden mit einzelnen oder mehreren Krankenkassen Pauschalen für die Behandlung einer definierten Personengruppe vereinbart. Definiert werden auch strukturelle Merkmale sowie spezifische Leistungsinhalte. Für Versicherte ist die Teilnahme freiwillig. Da es sich hierbei um Selektivverträge handelt, stellen diese Angebote keine flächendeckende, regelhafte Vollversorgung dar. Die Umsetzung gemeindepsychiatrischer, multiprofessioneller und aufsuchender Behandlungen mit dem Ziel einer personenzentrierten Versorgung und der Überwindung starrer Grenzen zwischen verschiedenen Behandlungsformen ist auch im Rahmen von Modellvorhaben nach § 64 SGB V möglich (Kuntz und Vater 2021). Ein zentraler Aspekt dieser „neuen“ Versorgungsformen ist, Menschen in psychischen Krisen die erforderliche Unterstützung so nah wie möglich an ihrer räumlichen und sozialen Umgebung zu gewähren (Greve 2021). Wichtige Impulse zur Weiterentwicklung des Versorgungssystems geben auch lokal oder bundesweit agierende Organisationen und Interessensvertretungen, wie z. B. die medizinischen, pflegerischen und weiteren Fachgesellschaften oder Interessenvertretungen von Betroffenen und Angehörigen.

Die Versorgung schwer psychisch kranker Menschen wird durch verschiedene Säulen getragen. Die komplexen Versorgungsbedarfe schwer und chronisch psychisch kranker Menschen machen jedoch sektoren- und sozialgesetzbuchübergreifende Hilfen sowie eine spezielle Koordination dieser erforderlich. Einen zentralen Bestandteil bilden hierbei neben den Leistungen der Angehörigen und der informellen Pflege (Laienpflege) auch die der professionellen Pflege.

4 Professionelle Pflegeleistungen

Im Folgenden werden verschiedene gesetzlich definierte Pflegebereiche mit Relevanz für die Versorgung schwer psychisch kranker Menschen aufgeführt. Grundsätzlich muss von Langzeitbedarfen ausgegangen werden, die allerdings in Abhängigkeit der Erkrankungsphase in ihrer Intensität individuell unterschiedlich sein können. Auch wenn keine umfassenden Zahlen zur Lebenssituation schwer psychisch kranker Menschen vorliegen, ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Betroffenen ambulant begleitet wird. Im ambulanten Bereich lassen sich mit Blick auf die gesetzlichen Grundlagen vor allem drei Bereiche häuslicher Pflege unterscheiden.

  1. (1)

    Die Häusliche Krankenpflege (HKP) nach § 37 SGB V erhalten Betroffene ergänzend zur ärztlichen Behandlung in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder an einem anderen geeigneten Ort, z. B. in betreuten Wohnformen. Sie beinhaltet unterschiedliche Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheit, hierbei z. B. die Unterstützung bei der Medikamenteneinnahme; sie umfasst dabei z. B. auch eine hauswirtschaftliche Versorgung mit dem Ziel, ein Verbleiben der betroffenen Personen im häuslichen Bereich zu ermöglichen. Der Anspruchszeitraum ist jedoch vergleichsweise kurz.

  2. (2)

    Die psychiatrische Häusliche Krankenpflege (pHKP) ist Bestandteil der Häuslichen-Krankenpflege-Richtlinie. Sie ist ärztlich verordnungspflichtig und wird ebenfalls von der Krankenkasse getragen. Das Selbsthilfepotenzial schwer psychisch kranker Menschen soll durch pHKP gestärkt werden. Durch Behandlungseinsichtsförderung und Beziehungsaufbau, Anleitung zur Alltagsbewältigung und Unterstützung in Krisensituationen sollen Krankenhausbehandlungen verkürzt oder verhindert werden. Eine Verordnung ist an bestimmte Diagnosen und Fähigkeitsstörungen gebunden. Zudem wird pHKP in Deutschland nicht flächendeckend vorgehalten und steht daher nicht allen Personen mit einem Pflegebedarf zur Verfügung (Hemkendreis und Hasslinger 2014).

  3. (3)

    Träger der Häuslichen Pflege im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) sind die Pflegekassen. Im Rahmen der ambulanten Versorgung bei häuslicher Pflege können hierbei Pflegesachleistungen, Pflegegeld, Pflegehilfsmittel und Wohnumfeld-verbessernde Maßnahmen umgesetzt werden. Zudem erbringt die Pflegeversicherung Leistungen im Bereich von Kurzzeit-, Tages- oder Nachtpflege und vollstationärer Pflege. Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Leistungen der Pflegeversicherung ist die Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß § 18 SGB XI. Mit dem Pflegestärkungsgesetz II wurden im Jahr 2017 der Begriff und das Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit grundlegend geändert. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff geht von den Ressourcen der pflegebedürftigen Person und deren Selbstständigkeit aus. Damit verschwindet die ungleiche Behandlung von körperlich bedingten und geistig bzw. psychisch bedingten Beeinträchtigungen. Bezog sich Pflegebedürftigkeit zunächst vor allem auf körperlich bedingte Beeinträchtigungen, werden jetzt auch geistig und psychisch bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit stärker berücksichtigt (BMG 2017). Mit dem Neuen Begutachtungsinstrument (NBI) zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit werden neben den Bereichen Mobilität und Selbstversorgung, die in der Vergangenheit allein die Pflegebedürftigkeit bestimmten, auch die selbstständige Umsetzung ärztlicher Verordnungen, die Gestaltung des Alltagslebens sowie die Häufigkeit problematischer Verhaltensweisen und psychischer Problemlagen und die Einschränkung der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten erhoben. Die Pflegeleistung soll die festgestellten Beeinträchtigungen kompensieren. Sie wird gewährt, solange die Pflegebedürftigkeit besteht. Für die Leistungen der Pflege gilt aber der grundsätzliche Vorrang von Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe nach SGB IX. In der Begründung zu § 103 Abs. 2 SGB IX neue Fassung (n. F.) heißt es: „Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege haben auch nach Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs grundsätzlich unterschiedliche Aufgaben. Aufgabe der Pflege ist die Kompensation von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist die Förderung der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.“

Bei Hilfe- und Pflegebedarfen stehen sowohl betroffenen als auch angehörigen Personen Beratungsangebote zu den verschiedenen Leistungen zu. Neben den Leistungen der Pflegeversicherung finden sich Angebote von Wohlfahrtsverbänden, Selbsthilfeorganisationen, Kommunen oder auch Altenhilfeeinrichtungen. Allerdings wird der Begriff „Pflegeberatung“ (SGB XI) ganz unterschiedlich verwendet. Neben der Pflegeberatung zu Pflegeleistungen nach SGB XI (§ 7 SGB XI) soll beispielsweise durch die Pflegeberatung nach § 37 (3) SGB XI die häusliche Pflege bei existierender Pflegebedürftigkeit sichergestellt werden. Eine Pflegeberatung/Pflegeschulung nach § 45 SGB XI soll Pflegebedürftigen und informell pflegenden Personen individuelle Anleitung und Entlastung geben (Hendlmeyer et al. 2015).

Eine explizite psychiatrische pflegerische Versorgung findet sowohl in ambulanten als auch in (teil-)stationären Settings statt und ist in den Pflegeleistungen des SGB V und des SGB XI beschrieben. Nach wie vor liegt der Behandlungsschwerpunkt im Bereich der stationären Versorgung, dennoch richtet sich der Fokus vermehrt auf eine gemeindenahe und aufsuchende Arbeit (Wagner und Küssner 2008). Psychiatrische Pflege zielt – ausgehend von den individuellen Ressourcen der betroffenen Personen sowie einer gemeinsamen Klärung von Zielen (Vater 2021) – auf eine Unterstützung von Wachstum, Entwicklung und Recovery der Betroffenen (Richter et al. 2014; Lakeman 2012). Gemeinsam mit anderen Berufsgruppen leisten psychiatrische Pflegefachpersonen einen wichtigen Beitrag zur multiprofessionellen Behandlung (Bhugra et al. 2017). Aus den Ergebnissen verschiedener Assessmentinstrumente (Fiebig et al. 2017) und unter Berücksichtigung und Einbeziehung des sozialen Umfelds werden auf die individuellen Bedarfe zugeschnittene (pflegerische) Interventionen im Sinne einer personenzentrierten Versorgung abgeleitet, für die zunehmend wissenschaftliche Evidenz vorliegt (Sauter et al. 2011; Schädle-Deininger und Wegmüller 2017). Ein großes Handlungsfeld wird in der Begleitung und Unterstützung in Krisensituationen sowie im Umgang mit alltäglichen Herausforderungen gesehen. Übersichtsarbeiten belegen unter anderem die Wirksamkeit von Interventionen wie Adherence-Therapie, Motivational Interviewing, Medikamenten-Management und Hausbesuchen (Serobatse et al. 2014; Curran und Brooker 2007; Gray et al. 2016). Psychiatrisch pflegerisches Handeln kann in der Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen die Förderung des Gesundheitsverhaltens und die körperliche Gesundheit unterstützen (Happell et al. 2014; Bradshaw et al. 2005; Joseph et al. 2014). Psychiatrische Pflegefachpersonen sind, im Rahmen des multiprofessionellen Behandlungsprozesses, an der Umsetzung verschiedener psychosozialer Interventionen wie beispielsweise der Psychoedukation (Crowe et al. 2010) oder Skillstrainings (Nüsse 2021) beteiligt. Auch in Deutschland bilden Pflegefachpersonen die größte Berufsgruppe in der Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen ab. Um das volle Potenzial von professioneller Pflege vor allem auch in der ambulanten Versorgung schwer psychisch kranker Menschen nutzen zu können, sind weitere Anstrengungen erforderlich. In der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ wird deren Bedeutung für die Versorgung schwer psychisch kranker Menschen in einem Statement betont: „Ambulante Psychiatrische Pflege (APP) ist geeignet, den breiten und oft wechselnden Hilfebedarfen von Menschen mit schweren psychischen Störungen und ihren Angehörigen im direkten Lebensumfeld mit einer großen Vielfalt wirksamer Interventionen zu begegnen. APP soll als Hilfe in Krisenzeiten, als mittel- und längerfristige Unterstützung bei Funktionseinschränkungen, zur Herstellung/Förderung von Selbst- und Krankheitsmanagement sowie zur Förderung individueller Recovery-Prozesse verordnet werden. Da der Hilfebedarf nicht von der Diagnose abhängt, darf APP sich nicht auf definierte Diagnosegruppen beschränken.“ (Gühne et al. 2019, S. 39)

Daten zur Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI aufgrund einer psychischen Erkrankung liegen für Deutschland unseres Wissens nicht vor. Rund 4 Mio. Menschen in Deutschland waren Ende 2019 im Sinne des SGB XI pflegebedürftig und erhielten Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung. Mehr als die Hälfte der Personen war 80 Jahre und älter (51,9 %). Im erwerbsfähigen Alter traf die Pflegebedürftigkeit im Jahr 2019 auf eine bis zwei von 100 gesetzlich krankenversicherten Personen zu. Der Anteil der pflegebedürftigen Personen zwischen 20 und 64 Jahren lag damit bei 16,9 %. Die Mehrzahl der pflegebedürftigen Menschen wurde 2019 (77,9 %) zu Hause versorgt. Dabei bezogen die Pflegebedürftigen in mehr als der Hälfte der Fälle ausschließlich Pflegegeld (57,4 %), in der Regel übernahmen hierbei allein die Angehörigen die Pflege zu Hause. Rund ein Fünftel der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland (22,1 %) wurde in Pflegeheimen betreut.

Weitere Daten weisen darauf hin, dass zumindest die Inanspruchnahme spezifischer fachärztlicher Behandlungen unter der Gruppe aller pflegebedürftigen Personen vergleichsweise hoch ist. So wurden Neurologen und Neurologinnen mit rund 18 % im Quartal häufig kontaktiert. Dabei erhielt knapp jede dritte Person in stationärer Pflege (30,3 %) durchschnittlich eine neurologische Behandlung pro Quartal; in der ambulanten Versorgung traf das im Vergleich auf 14 % der Personen zu. Der Unterschied zeigte sich auch in der Inanspruchnahme einer psychiatrischen Behandlung; allerdings war diese mit 4,8 % Besuchen pro Quartal deutlich geringer (9,9 % vs. 3,0 %). Umgekehrt lässt sich sagen, dass die Versorgungszahlen von Pflegebedürftigen in der ärztlichen Praxis insbesondere für die Fachrichtungen der Neurologie und Psychiatrie von hoher Relevanz sind. Der Anteil der Fälle an pflegebedürftigen Personen bei den niedergelassenen Ärzten lag im Jahr 2019 für die Neurologie bei 27,2 % und für die Psychiatrie bei 19,6 % (Jacobs et al. 2021). Ein Großteil der Pflegebedürftigkeit dürfte hierbei auf demenzielle Erkrankungen zurückgehen. Allerdings lässt sich auch der Anteil Demenzkranker an den Pflegebedürftigen nicht ohne Weiteres feststellen, weil einer Pflegebedürftigkeit (gleichzeitig) verschiedene Ursachen zugrunde liegen können. Deutlich wird dieser Aspekt an einer Schweizer Studie, in der aufgezeigt wurde, dass bei 45 % aller Personen in allgemeiner ambulanter Pflege mindestens ein erhebliches psychiatrisches Problem beobachtbar war, bei wenigen der Personen jedoch stand eine psychiatrische Behandlung im Vordergrund (Abderhalden et al. 2003).

Die pflegerische Versorgung beinhaltet unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen, Ziele und Unterstützungsformen und erfolgt in unterschiedlichen Settings. Neben der professionellen Pflege kommt der informellen Pflege durch Angehörige, Freunde, Nachbarn und andere unterstützende Personen eine große Bedeutung zu.

5 Die besondere Situation der An- und Zugehörigen

Insbesondere in der sog. „Langzeitpflege“ stellt die Pflegeversorgung durch pflegende Angehörige eine zentrale Säule dar. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass professionelle Pflege und das Laiensystem der Angehörigen, Freunde, Nachbarn etc. (informelle Pflege) bei der Versorgung zusammenwirken (Rothgang et al. 2020). Nach der Pflegestatistik versorgt diese Personengruppe drei Viertel der nach SGB XI anerkannten pflegebedürftigen Menschen (Jacobs et al. 2021). Die Zahl pflegender Angehöriger in Deutschland wird laut Pflegereport der Barmer aus dem Jahr 2018 auf rund 2,5 Mio. Menschen geschätzt. Frauen dominieren nach wie vor diesen Bereich. Nur ein Drittel aller Betroffenen war berufstätig; jede vierte Person hatte ihre berufliche Tätigkeit aufgrund der Pflege reduziert oder ganz aufgeben müssen. Die Hälfte der informellen Pflegepersonen versorgte mehr als zwölf Stunden täglich ihre pflegebedürftigen Familienmitglieder (Pflegereport 2018). Dabei sind die Angehörigen selbst durch die mit der Pflegetätigkeit verbundene Mehrbelastung sowohl gesundheitlichen als auch finanziellen Belastungen ausgesetzt (Hajek et al. 2017; Schmitz und Westphal 2015; Bom und Stöckel 2021). Vor allem im Hinblick auf die Gesundheit sind körperliche und psychische Belastungen der Angehörigen in den Blick zu nehmen. Die Auswirkungen hängen sehr vom spezifischen Pflegekontext und von soziodemografischen Faktoren ab (Bom und Stöckel 2021; Bohnet-Joschko und Bidenko 2021).

Im Falle (schwerer) psychischer Erkrankungen sind alle nahestehenden Personen auf ganz unterschiedliche Art von verschiedenen Herausforderungen und Belastungen betroffen; diese können unabhängig von einer konkreten „Pflegerolle“ von Relevanz sein. Die einzelnen Angehörigen (Eltern, Geschwister, Partner, Kinder) und andere nahestehende Personen bringen jeweils unterschiedliche Erfahrungen, Fragen und Bedürfnisse mit (BApK e. V. 2021) und übernehmen verschiedene Aufgaben. Neben der Betreuung und der Aufrechterhaltung sozialer Kontakte übernehmen nahestehende Personen beispielsweise auch die Suche nach und Organisation von professionellen Versorgungsleistungen. Insbesondere die mit der psychischen Erkrankung der nahestehenden Person verbundenen emotionalen Belastungen können gravierend sein. Zu nennen sind hierbei beispielsweise Ängste und Sorgen aufgrund ungenügender Informationen, Unsicherheiten und Überforderungserleben mit den Krankheitszeichen der psychischen Erkrankung, Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht sowie Schuldgefühle und Sorgen hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten. Hinzu kommen nicht selten soziale Isolation, Zukunftsängste, Abgrenzungsprobleme, Trauer und Verlusterleben, Schamgefühle und Angst vor Stigmatisierung sowie ein verändertes Rollenerleben (Schmid et al. 2005). Die chronische Überlastung erhöht das Risiko für eigene psychische Beeinträchtigungen (Jungbauer et al. 2002, 2004). Erforderlich sind deshalb wirksame Unterstützungsangebote für Angehörige psychisch kranker Menschen sowohl im Hinblick auf die pflegerische Versorgung, wie z. B. das Modellprogramm „Familiale Pflege“ (Gröning et al. 2017), als auch unabhängig von ihrer Rolle als „pflegende“ Angehörige im Sinne des SGB XI.

6 Fazit

Die Versorgung schwer psychisch kranker Menschen erfordert eine komplexe Herangehensweise und langfristige Perspektive, die weit über eine „reine“ medizinische Behandlung hinausgeht. Vielmehr geht es darum, eine Versorgung zu ermöglichen, die sich an dem individuellen Lebensentwurf der Betroffenen orientiert und sich an den hiermit assoziierten Vorstellungen von Lebensqualität anpasst. Betrachtet werden muss der Mensch in seiner Gesamtheit und in seinem sozialen Gefüge mit all seinen Bedürfnissen, Zweifeln, Hoffnungen und Vorhaben. Die Versorgung schwer psychisch kranker Menschen muss gleichzeitig ein Spektrum an gesundheitlichen, psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosozialen Maßnahmen bei einem gelingenden Zusammenspiel aller Akteure und Akteurinnen umfassen und sich im Verlauf an den aktuellen Bedarfen mit wechselnder Intensität ausrichten.

Formen der aufsuchenden und multiprofessionellen Behandlung in der Gemeinde sind ein wichtiger Baustein im Rahmen einer solchen Behandlung. In der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ werden sie sowohl für die Behandlung in akuten Erkrankungsphasen als auch darüber hinaus mit der höchsten Empfehlungsstärke empfohlen (Gühne et al. 2019). „Wesentliche Aufgabe der multiprofessionellen gemeindepsychiatrischen Teams soll neben der bedarfsorientierten und flexiblen Behandlung die gemeinsame Verantwortung sowohl für die gesundheitliche als auch die psychosoziale Versorgung der Betroffenen sein und so die Behandlungskontinuität sichern.“ (Gühne et al. 2019, S. 38) Die Vorteile einer solchen Behandlung im Vergleich zur stationären Standardbehandlung wurden in internationalen Studien umfassend dargestellt (Murphy et al. 2015; NICE 2014; Dieterich et al. 2017). In Deutschland existieren bisher lokale Versorgungsangebote, die v. a. aus bestehenden regionalen Strukturen heraus und trotz erschwerter Finanzierungsvoraussetzungen entstanden sind. Möglichkeiten bestehen hier vor allem im Rahmen von regionalen Psychiatriebudgets (§ 64 SGB V) oder der Integrierten Versorgung (§ 140 SGB V). Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG) wurde die psychiatrische Akutbehandlung im häuslichen Umfeld (stationsäquivalente Behandlung, StäB) als Krankenhausleistung eingeführt. Auch damit verbindet sich eine Chance, die aufsuchende Behandlung in akuten Erkrankungsphasen stärker in Deutschland zu implementieren (Jahn et al. 2021; Knorr et al. 2021).

Das funktionale Basismodell der gemeindepsychiatrischen Versorgung von Steinhart und Wienberg (2017) bietet einen konzeptionellen Rahmen für die Ausformung der Sozial- und Gemeindepsychiatrie und beschreibt gleichzeitig den Mindeststandard einer bedarfsgerechten gemeindepsychiatrischen und umfassenden Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen. Die Grundidee dabei ist die Umsetzung der Forderung „ambulant vor stationär“. Eine Kernfunktion im Modell wird durch eine ambulante, multiprofessionelle und in Abhängigkeit der Bedarfe auch aufsuchende Behandlung und Unterstützung gebildet (Steinhart und Wienberg 2017). Das Modell ist sektorübergreifend ausgerichtet und sieht vor allem die Nutzung und Umsteuerung bestehender Ressourcen vor. Neben den mobilen multiprofessionellen Teams, die den personenbezogenen Kontakt pflegen und die verschiedenen Leistungen – z. B. auch zur sozialen Teilhabe oder Gesundheitsförderung – koordinieren, wird auch die Angehörigenarbeit berücksichtigt (Wienberg und Steinhart 2020). Angehörige und andere nahestehende Personen leisten einen immensen Beitrag in der Behandlung schwer psychisch erkrankter Menschen, der in seinem Umfang kaum erfassbar ist. Eine umfassende und streng an den Bedarfen ausgerichtete multiprofessionelle Behandlung schwer psychisch kranker Menschen könnte auch ihnen Entlastung bringen.