Asyle des Nichtwissens

Begriff und Problem der Formalisierung – und als eine von deren möglichen Materialitäten soll das Formular im Folgenden verstanden werden – sind soziologische Klassiker, und sie sind es im Modus des Vorbehalts. Dieser Vorbehalt verdankt sich einer Gleichsetzung: Formalisierung gilt als Verwaltungstechnik, als Machtinstrument lebensängstlicher Bürokraten, die sich mit Ärmelschonern und Schreibmaschinen hinter Aktenschränken verschanzen, wo sie mit Haut und Haar ihrem staubigen Interesse verfallen, alles Lebendige zu entsaften, in anschlussfähige Siglen einzufassen und in Hängemappen aufzuknüpfen. (Der Computernerd, der diese ganze Assemblage in einem aktendeckelflachen Laptop unterzubringen vermag, ist nur deren pubertärer Verwandter; der Vorbehalt trifft ihn genauso.) Die Reserve gilt nicht der Arbeit an der Forschungsfrage selbst, sondern ihrer historisch-empirischen Wirklichkeit, den Rollen, Architekturen und Materialisationen. Die Möglichkeiten, dieser Wirklichkeit anders als im Modus der Verachtung und des Vorwurfs zu begegnen, bleiben unausgeschöpft (vgl. zu diesem Problem Stinchcombe 2001). Im Ergebnis werden Forschungsfragen gar nicht erst erkennbar, und Bürokratie wie Formalisierung bleiben gerade aufgrund des nachrangigen disziplinären Standings eher gemiedene Felder.

Das heißt: die soziologische Frage nach Begriff und Problem der Formalisierung ist, und das ist im Fach eben klassisch, vorformatiert durch die normative Erwartung eines kritisch-abweisenden Gestus, mithin: durch ein Beobachten von außen, durch eine stolze Selbstzurechnung zur lebendig-fleischigen Seite, durch den selbstverständlichen Ausschluss der Möglichkeit, Soziologie selbst könnte ein Fall oder eine Variante von Formalisierung sein. Dass auf den »Sommer der Theorie« (Felsch 2015) der Winter der empirischen Sozialforschung folgte, hat daran nichts geändert, weil das Problem selbst uninteressant und der reservierte Gestus damit zum Anachronismus geworden ist. Galt der sommerlich-hitzige Vorbehalt noch dem Wissen, als Wissenschaft von der Gesellschaft von den Phänomenen und Formen der Gesellschaft nicht ausgenommen sein zu können, so dass jede soziologische Aussage gewissermaßen zugleich vorbeugend und entschuldigend in einem distanzierenden Gestus vorgetragen werden müsse, so verlässt sich der winterlich-kühle Forschergeist ganz auf eine angesichts der Kleinteiligkeit der Spezialfragen schlechterdings nicht zu bestreitendende externe Position, die Interesselosigkeit nicht bloß zur methodologischen Norm, sondern zum Inbegriff professioneller Würde und dergestalt dann auch zur Marketingstrategie macht. Wissen wird zur nüchtern, unaufgeregt und mit Abstand zu betrachtenden, auf einem grünen Tisch ausgebreiteten Landkarte, Forschung zum Verfahren, deren weiße Flecken zu identifizieren und zu beschriften sind mit: »Forschungslücke!«.Footnote 1

Dass dieses Weiße eigens hergestellt werden kann und hergestellt werden muss, um Einträge in diesen Karten bestreiten, vergleichen, variieren zu können, führt – ich kürze eine lange Geschichte rabiat ab – zu einem Wissenschaftsverständnis, das »Form« als Grundbegriff akzeptiert (vgl. Latour 2007, 386 f., der in den Fußnoten nicht nur auf engl. forms verweist, sondern auch auf franz. fromages). Form und Formular sind im Prozess von Beobachtung und Beschreibung darin identisch, dass sie Informationen ermöglichen und damit jede Bedeutung kontextualisieren und prozessieren. Letztauskünfte oder endgültige Bescheide verlieren im Medium der Form ihre Plausibilität (vgl. Leifer 1992). Der »Lückentext« (Vismann 2000, 160) des Formulars führt daher nicht nur das Wissens- und Kontrollbedürfnis einer Autorität vor Augen, sondern stellt einen subversiven Spielraum zur Verfügung, der präzise an der Stelle lokalisiert ist, wo das Bedürfnis auftritt.Footnote 2 Wo ein Formular ist, da steht nicht nur die Erwartung des Ausfüllens einer Lücke vor Augen (Information im Sinne des Sicheinfindens in eine Aufgabe oder Stelle, in eine Bestimmung oder eine Position), sondern auch die Erwartung der Reflexion über den Sinn dieser Information und den Variantenreichtum ihrer Mitteilung. Vermutlich kann man, einem Vorschlag Luhmanns (1987, 40 ff.) folgend, erstere als normative, letztere als kognitive Erwartungen qualifizieren; über das Formular ließe sich dann sagen, dass es normative und kognitive Erwartungen in einer Form (der Lücke) verknüpft. Es orientiert und desorientiert also zugleich. Nicht zuletzt sind Formulare Bekenntnisse zum Nichtwissen – eine Behörde, die über Formulare kommuniziert, weist jedenfalls ihr Wissen als begrenzt aus und gibt Anlass, über den Sinn dieser Begrenzung zu reflektieren (vgl. Campe 2003 für diese Situation als Gründungsszene der Statistik).

Administrativ mag dieses Bekenntnis der Erwartung einer Mitwirkungsbereitschaft korrespondieren, und diese wiederum mag als autoritäre Zumutung erfahren werden. Doch zeigt in einem Formular jede autoritäre, alles umspannende, niemals irrende Herrschaftsform ihre Grenzen, und zwar nachvollziehbar für die Beherrschten – denn die Lücke führt Nichtwissen und Angewiesensein auf Mitwirkung vor Augen. Das gilt sicherlich sowohl in der Binnenkommunikation einer Organisation, die ihre Mitglieder durch Formulare als diejenigen adressiert, die etwas (wenn auch nur: etwas Bestimmtes) zu sagen haben, wie auch in der Kommunikation mit den Publika oder der Klientel einer Organisation. Ein Gott müsste nicht mit Formularen arbeiten, weil in seinem Blick alle Lücken gefüllt wären und nichts Weißes mehr leer bliebe. »Die vollkommene Erkenntnis«, notiert daher Cassirer (1910, 150) bezogen auf die Forschungshypothese, »könnte auf dieses asylum ignorantiae verzichten: für sie würde die Wirklichkeit klar und übersichtlich in tatsächlichen Wahrnehmungen gegeben und erschöpft sein.« Was die Hypothese in der Forschung, ist das Formular in der Administration: ein Asyl des Nichtwissens.

Was daran so unbeliebt ist, dürfte daher nicht die Mitwirkungserwartung sein, sondern die Versachlichung jeglicher personalen Zurechnung: das Nichtwissen, das hier zugestanden und ausgeglichen werden soll, gilt nicht der Höchstpersönlichkeit, sondern Verhaltens- und Identitätsaspekten von Personalität schlechthin. Das heißt: zur Geltung kommt gerade das Allgemeine des Besonderen. Und auch individuelle Expertise in einer Sachfrage kann nicht zur Geltung kommen, weil mit der Frage auch die Antworten formatiert sind. Man soll, heißt das, Informationen eintragen, sich aber nicht zu Wort melden. Formulare sind »pretexts for storytelling« (Weick 1979, 264; vgl. für ein Beispiel Garfinkel 1967), die zum Erzählen verführen, aber der Verführung keine Erfüllung folgen lassen. Daher die Enttäuschung, und daher vermutlich auch die verbreitete Neigung zum ›Mehr desselben‹, zur Überbietungsgeste durch Zusatzeinträge, Randnotizen, Anlagen und ähnliches. Man erkennt, dass es um Einfügung eines Komplements gegangen war, um die Schließung einer Lücke eben und nicht um die Eröffnung einer Debatte, und man erkennt also, dass die Inklusionschance, die das Formular mit Blick auf die bürokratische, mit dem Nichtwissen rechnende Herrschaft bietet, in dem Moment verpasst worden war, da die Lücken ausgefüllt waren. Das Nichtwissen findet im Formular also nicht nur ein Asyl, sondern wird auch asymmetrisch domestiziert: es ist das Nichtwissen der Herrschaft, und es meint eine auf angebbare Weise fehlende und als solche immer bereits verstandene Information, während sich das Nichtwissen der Beherrschten auf unverständlichen Sinn bezieht. Es mag daher sein, dass das Formular denen, die es als ›Lückentext‹ auszufüllen haben, als verschachtelte, »von innen her aufgezehrt(e)« »Wortfassade« ohne jede sinnliche oder intelligible Qualität erscheint und eben deswegen »Gefühle auslösen« kann – »und nicht einmal bestimmte Gefühle, die sich auf konkrete Gegenstände beziehen, sondern eher vage und allgemeine Gefühle« (Topitsch 1960, 239 und 261), wahrscheinlich: des Unbehagens.

Ich möchte all diese beiläufigen Vorüberlegungen und Assoziationen im Folgenden dazu nutzen, die Möglichkeit zu diskutieren, dass Formulare sehr wohl nicht nur selbst eine materiale Qualität haben, sondern auch die Materialität der Sachverhalte bewahren oder sogar allererst ermöglichen. Sie vermitteln zwischen dem auf Information zielenden Interesse der Administration und dem auf Inklusion (resp. auf Exklusion) zielenden Interesse der Person – und dieses vermittelnde ›zwischen‹ erzwingt nicht die Löschung der Personalität im Dienste der Sachlichkeit (wiewohl dies bekanntlich ohne Weiteres machbar ist), sondern abstrahiert nur von ihr und ermöglicht so deren Übersetzung in, d. h. deren Verständlichkeit für Sachzusammenhänge. Merkwürdigerweise vernetzen sich ja Formulare mit Formularen, und sie verheimlichen oder verschleiern das auch nicht, sondern tragen stets gut sichtbare Siglen ihrer Anschlussfähigkeit. Dieser spezifisch bürokratischen Selbstreferenz korrespondiert eine Fremdreferenz, die Ereignis bleibt – mit jedem Eintrag erfüllt sich eine Inklusionschance, die zwar sogleich erlischt (so oft diese auch mit immer neuen Formularen immer wieder reproduziert werden mag), die aber in bürokratische Selbstreferenz übersetzt, weitervernetzt und gepflegt wird. Achtet man auf diese ereignishaften Inklusionschancen, werden Formulare als »Time-Binding«-Medien verständlich (Korzybski 1958, 371 ff.), die (um meine eigene Formulierung zu verwenden) mit Individualität genau und nur deswegen zu rechnen erlauben, weil diese abstrakt bleiben kann und nicht »mit Seele gefüllt« werden muss (Luhmann 2000, 89, Anm. 24; Lehmann 2011a). Das Asyl des Nichtwissens arbeitet mit dieser Abstraktion und ist, wenn dies richtig ist, die Selbstreferenz der Bürokratie.Footnote 3

Dieser Überlegung ließe sich in etlichen Hinsichten weiter nachgehen. Zum einen interessiert die spezifische Diagrammatik des Formulars, die – wenn man das so sagen kann – in zahllosen Rahmungsvarianten von Lücken, Leerstellen bzw. Weißflächen einen expliziten Variantenreichtum des Nichts ermöglicht (vgl. Lehmann 2010). Diese Diagrammatik bestreitet die Sinnlosigkeit des Nichts. Außerdem wäre zu diskutieren, ob nicht die Bürokratie als Asyl des Nichtwissens sowohl eine ständige Anfechtung autoritärer Herrschaftsansprüche als auch deren willfähriger Diener sein kann. Im ersten Fall würde sie das Nichtwissen zu pflegen versuchen und dem Wissen misstrauen, sie würde gewissermaßen informationell unersättlich auftreten und als kommunikative Penetranz erfahren werden – und gerade autoritäre Herrschaftsformen werden diese Penetranz nimmermüde anklagen und stattdessen ›unbürokratisches Handeln‹ versprechen. In diesem zweiten Fall würde Bürokratie dem Nichtwissen misstrauen, es mit Wissen zu füllen versuchen und es, weil das unabschließbar ist und daher als ständiger Misserfolg erfahren wird, in ihren Tiefen versinken und versickern lassen – an der Oberfläche würde eine Präferenz für Ermessensentscheidungen und Ermöglichungskultur treiben (auch Adornos Begriff der »Halbbildung« gehört hierher; Adorno 1959), die jeden einzelnen Bürokraten zum gefällig-geselligen Autokraten werden lässt.

Ich will diese Möglichkeiten hier nicht eingehend diskutieren, sondern hypothetisch (sic!) nichts versuchen, als Luhmanns Begriff des »symbiotischen Mechanismus« zum Verständnis des Problems heranzuziehen (Luhmann 1981). Als Asyle des Nichtwissens und Medien der Zeitbindung sind Formulare Sozialformen, in deren Rahmen System/Umwelt-Differenzen so unterlaufen werden, dass die Umwelt ins System eingreifen (sich ›einschreiben‹) kann. Sie ermöglichen es aber nicht, diese Eingriffe zu stabilisieren, und sie ermöglichen es auch nicht, dass die Umwelt ins System vollends eintritt – es ist die System/Umwelt-Differenz selbst, die im System Platz für dessen Umweltbeobachtung schafft. Formulare bieten einen Moment des Fürmöglichhaltens dieses Eindringens und Eingreifens, der (einem Hack vergleichbar) umso eher als symbiotisch bezeichnet werden kann, als dieser Eingriffs- eine komplementäre Ausgriffserwartung entspricht. Per Formular geht die Bürokratie unter Leute.

Einige Notizen zu Begriff und Problem der Formalisierung einerseits und zur Differenz von Organisation und Gesellschaft andererseits seien vorangestellt.

Abstrakte Sozialität

Die soziologisch klassische Unterscheidung kennt zwei Richtungen, das Problem der Formalität begrifflich zu fassen: die Unterscheidung von Form und Inhalt zum einen, die Unterscheidung von Formalität und Informalität zum anderen. In beiden Hinsichten wird der Gegenbegriff für die attraktive, gewissermaßen lebensnähere und menschlichere Seite gehalten. Die Unterscheidung von Form und Inhalt, die etwa bei Max Weber als juristische Terminologie zur Beurteilung von Sachfragen vorgestellt wird, gewinnt im Laufe der Zeit eine gesellschaftstheoretische Façon, der die Unterscheidung von Formalität und Informalität als organisationstheoretische Frage nachgeordnet wird (s. u. ›Praktische Variabilität‹). Georg Simmel unterscheidet in seinem Soziologieentwurf sogar grundbegrifflich zwischen Form und Inhalt – mit der Pointe, Inhalte (er beschreibt sie meist am Beispiel individueller Motive) für unverbundene Möglichkeiten in einer leeren Welt zu halten, die im strengen Sinne a-sozial bleiben, solange sie nicht in Wechselwirkungen stehen, für die Simmel den Begriff der Form reserviert. Gesellschaft entsteht als Struktur von Beziehungen zwischen Inhalten, die durch diese Struktur erst ihren Sinn bekommen. Solange sie unverbunden bleiben, sind sie der Gesellschaft äußerlich, und sobald sie verbunden sind, ist ihre Sozialität an die Adressierungen und Erwartungen geknüpft, die sich in den Beziehungsformen ergeben.Footnote 4 Mit anderen Worten: der Begriff der Form bezeichnet für Simmel eine Vernetzung, die Sozialität ermöglicht; nicht die Inhalte füllen den Lückentext der Sozialstruktur, sondern die Sozialbeziehungen füllen den ansonsten »leeren Raum« (Simmel 1999, 70). Die basale Abstraktion, zu der jede Soziologie fähig sein muss, ist demnach die Abstraktion von Inhalten – nicht um diese zu löschen oder ihren Realitätsindex herabzusetzen, sondern im Gegenteil: um sie auf dem Wege der Erforschung ihrer Einbettung in soziale Formen überhaupt verstehen, vergleichen, kritisch beurteilen zu können.

Für Max Weber ist diese Abstraktion vom individuell-inhaltlichen Besonderen zugunsten des formal-kontingenten Allgemeinen nicht leicht hinnehmbar. Der »normale ›Geist‹« der Bürokratie sei »Formalismus, gefordert von allen an Sicherung persönlicher Lebenschancen gleichviel welcher Art Interessierten, – weil sonst Willkür die Folge wäre, und der Formalismus die Linie des kleinsten Kraftmaßes ist« (Weber 1980, 130). Wer immer erwarte, seine ›Chancen‹ rechtlich durchsetzen zu können, sei an Bürokratie verwiesen und werde ihr »unentrinnbar verfallen« (Weber 1980, 129).Footnote 5 Das gilt für die, die der Bürokratie angehören wollen – sie müssen sich der »Tendenz zur Nivellierung im Interesse der universellen Rekrutierbarkeit aus den fachlich Qualifiziertesten« beugen (Weber 1980, 129). Das heißt, sie müssen sich auf einen langen Bildungsweg einstellen, der auf Konkurrenz und Rivalität in Hinblick fachlicher Leistungen zielt, seiner langen Dauer wegen kostspielig ist und auf diesem Umweg die Herkunftsindifferenz der Fachlichkeit untergräbt. Fragen der Herkunft verletzen wie alle Fragen des Höchstpersönlichen das Prinzip der Fachlichkeit und werden daher zu den unvergleichlichen Aspekten der Persönlichkeit gerechnet, die es zu ignorieren gilt. Das setzt sich, wenn die Rekrutierungsphase überstanden ist, im bürokratischen Alltag fort; jetzt werden die Qualifikationsfragen zu Kompetenz-, d. h. zu Zuständigkeitsfragen, und Fragen »faktischer Lage« (Weber 1980, 129) werden zu Adressierungsproblemen – aber die Persönlichkeit wird weiterhin ignoriert, wenn »der ideale Beamte seines Amtes [waltet]« (Weber 1980, 129). Schaut er auf Sachfragen, übersetzt er diese (Was ist der Fall?) in Fachfragen, generalisiert sie auf diese Weise und löst damit ein Adressierungsproblem (Wer ist für solche Fälle zuständig?).

Vor allem dies zwingt zur Abstraktion von Besonderheiten und Marginalien, die ignoriert werden, weil (wenn) sie nicht adressierbar sind. Die Person im Sinne ihrer Persönlichkeit findet bürokratisch keinen Anschluss; sie müsste sich dafür als Exemplar einer ›faktischen Lage‹ beschreiben, und das erleichtert ihr die Bürokratie durch ihre Formulare. Formulare fragen nicht: Wer sind Sie?, sondern: Sind Sie ein Fall von X/Y/Z (das gilt für das Grenzmanagement der Bürokratie nach außen genauso wie nach innen, es gilt also auch in der internen Formularspezifikation und -zirkulation: Ist X ein Fall von X1, X2?, usw.). Dergestalt kann die Person zum Gegenstand sachlich-fachlichen Interesses werden, ohne ihre volle Individualität zu vergegenständlichen. Aber im Zuge dieser Beschreibung geht das individuell-Besondere verloren, und das Formular signalisiert, dass dieser Verlust ein Opfer ist, das die Person selbst zu erbringen hat. Die Abstraktion, die für den bürokratischen Prozess ein Gewinn an Sachlichkeit und damit an Bearbeitbarkeit ist, ist für die Person ein Verlust an Individualität. Das ist der Punkt, der für Weber schwer erträglich war: man kommt mit der bürokratisierten Welt nur zurecht, wenn man das Selbstopfer der Persönlichkeit zu erbringen vermag (vgl. Lehmann 2015). Auch deswegen übrigens dauern die Bildungswege so lang; sie enden erst, wenn erwartet und damit auch zertifiziert werden kann, dass diese Opferbereitschaft anwendbar erlernt, die Person zum »Fachmenschen« geworden ist (Weber 1988, 203).Footnote 6

Wohlgemerkt: dieser ›Fachmensch‹ ist komplementär definiert. Er bezeichnet nicht nur den qualifizierten Beamten, der im internen Bearbeitungsprozess von Fallkonstruktionen und -adressierungen von sich selbst abzusehen vermag. Luhmann (1995, 89 ff.) wird diesen Verzicht darauf, ›Inhalt‹ einer ›Form‹ zu werden, als »Trennung von Motivationsstruktur und Kommunikationsstruktur« beschreiben und als Mitgliedschaftsentscheidung bezeichnen; Stinchcombe (1995) zeigt am Beispiel des karibischen Sklavenhandels, dass durch Ausspielen von Formalisierungen gegen Formalisierungen auch nach deren rechtlicher Abschaffung an der Sklaverei festgehalten werden kann (man lässt den Besitz von Sklaven als Formalität erscheinen, die man gerne weglässt, und man füllt die Formulare zur Erhebung der entsprechenden Daten also aus, ohne deren Intention Folge zu leisten); und Lotman (1997) wird zeigen, dass sich für den Beamten aus diesem Verzicht Abwesenheitschancen ergeben: nur eine behördliche Anstellung verschafft die Chance, in der Gesellschaft aus der Gesellschaft zu verschwinden. Nicht nur den Beamten also bezeichnet der ›Fachmensch‹, sondern auch den Klienten, der in jeglichem Behördenkontakt ebenfalls abstraktionsgewandt sein muss, und dies gerade dann, wenn er höchstpersönlich daran interessiert ist, seine eigenen Ansprüche durchzusetzen bzw. zumindest die Chance darauf zu wahren (vgl. Brock und Sloterdijk 2011). Das schließt das Grundrecht ein, überhaupt Interessen haben und mitteilen sowie Ansprüche erheben und durchsetzen zu können; auch völlige Rechtlosigkeit, heißt das, lässt sich formalisieren (vgl. für eine Fallstudie zum Einwanderungsrecht Stinchcombe 2001, 140 ff.). In einer bürokratisierten Gesellschaft kann nur der erreichen, dass es um ihn selbst geht, wer zu gewährleisten und hinzunehmen vermag, dass es nicht um ihn selbst geht, also: dass es in jedem Fall um seinen Fall, aber in keinem Fall um ihn selbst geht. Wem aber keinerlei Selbst zugestanden wird, der kann durch Formalisierung auf rechtsförmige, im existentiellen Sinne unanfechtbar endgültige Weise in diesem Elend festgehalten werden.

Die Form des Formulars wird demnach gebildet durch die Differenz von Inklusion (der Fallkonstruktion bzw. der zur ›faktischen Lage‹ generalisierbaren Sache) und Exklusion (der Persönlichkeit bzw. des eigensinnig-idiosynkratischen Selbst). Etwas malerischer formuliert: das Formular bildet eine Verständigungsebene von Bürokratie und Gesellschaft oder symbolisiert zumindest die Möglichkeit einer solchen Verständigung. Es ist so etwas wie eine Heuristik der Fallkonstruktion, ohne die die Differenz von Inklusion und Exklusion administrativ nicht zu operationalisieren ist. Die Diagrammatik des Lückentexts macht die Abstraktion vom Persönlichen als dessen Ermöglichung begreiflich. Sie lässt aber zugleich das Scheitern dieser Möglichkeit erfahrbar werden, weil mit diesem asylum ignorantiae zwar bürokratisch-verfahrenstechnisch, nicht aber persönlich weiter umgegangen werden kann – ein »ambiguity failure« (Leifer und Rajah 2000), dem ausgesetzt zu werden deshalb jeder mutmaßt (wenn nicht: weiß), der Erfahrungen mit Formularen hat.

Praktische Variabilität

Die klassischen soziologischen Annahmen zur Differenzierung der Gesellschaft arbeiten mit funktionalen Differenzierungen (in Systeme, Sphären, Felder distinkten sozialen Sinns wie Religion, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst), denen bestimmte Sublevels sozialer Verhaltensorientierung und des Erwartungsmanagements zugeordnet sind (Körperschaften, Familien, Gruppen, Netzwerke und Milieus, Nachbarschafts-, Verwandtschafts-, Freundschafts- und Paarbeziehungen). All diese sozialen »Formationen« (White 1992) können nach ihrem Formalisierungsgrad unterschieden und auf diese Weise in ein Verhältnis gesetzt werden zu ihrer Inklusivität bzw. Exklusivität. Dabei wird nicht nur deutlich, dass Formalisierung kein Zustand ist, sondern ein Prozess, und ein rekursiver Prozess, der sich selbst auf seine eigenen Ergebnisse und Zwischenschritte anwendet mit der doppelten Folge, dass kein Formalisierungsschritt je als definitiv letzter angesehen und keine Formalisierungsvariante je zuverlässig domestiziert werden kann. Es lässt sich folglich auch nicht sagen, dass Formalisierungen nur in ›formalen Organisationen‹ vorkämen oder deren Spezifikum wären. Vielmehr versprechen Formalisierungen die Chance auf immer neue und andere Abstraktionsvarianten zum Zwecke immer neuer und anderer Generalisierungen, das heißt: sie versprechen die Chance, nichts und niemanden unabänderlich als Fall oder Exemplar von etwas und nichts anderem betrachten zu müssen. Was sich formalisieren lässt, lässt sich variabel beschreiben und verstehen, es wird kontingent: es kann seine Form in variablen Tempi wechseln, es kann gleichzeitig Ereignis verschiedener Kontexte sein und mehr als eine Geschichte haben, ohne diese zu einer statischen Identität integrieren zu müssen, es kann indifferent für den einen Beobachter und im selben Moment hochspezialisiert für den anderen Beobachter erscheinen.

Vor diesem Hintergrund kann Formalität nicht als Eigenschaft bestimmter Sozialformen gesehen werden, wodurch dann alle übrigen Sozialformen von ihr befreit wären. Es handelt sich, wie vor allem Stinchcombe (2001) gezeigt hat, um eine (vielleicht die) grundlegende Strukturform komplexer, »selbstsubstitutiver Ordnungen« (Luhmann 1979Footnote 7). Unter der Bedingung solchen unablässigen Variierens »sichert«, so Luhmann (1995, 29), Formalität »die Identität«, mithin die Wiedererkennbarkeit und Wiederadressierbarkeit »gegenüber wechselnden Personen und Orientierungsinhalten«. Sie erlaubt es, in systemtheoretischen Termini gesprochen, auf die Hierarchisierung der Unterscheidung von Codierung und Programmierung zu verzichten – also weder den funktionsspezifischen Codes oder Medien, etwa Macht oder Recht oder Wahrheit, einen Vorrang gegenüber deren situativen oder strategischen Ausgestaltungen bzw. Programmen zu geben, noch letzteren wegen deren größerer Durchgriffs- bzw. Disziplinierungsleistung einen Vorrang gegenüber ersteren zuzugestehen. Die Identität (d. h.: die Codierung, die ›Form‹) der Funktionssysteme wird also nicht trotz der, sondern durch die Variabilität der Programme (die ›Inhalte‹) gewährleistet, und deshalb ist eine funktional differenzierte, komplexe Gesellschaft auf formale, d. h. formalisiert kommunizierende Organisationen angewiesen.

Formalisierung, ließe sich abkürzend sagen, ist ein »intermediäre(r) Mechanism(us)« zwischen relativ Invariantem und relativ Variablem (Luhmann 1995, 43). Die Ausdifferenzierung eines Sozialsystems, das sich auf Formalisierung spezialisiert, erlaubt die Institutionalisierung dieses ›Mechanismus‹ und damit hohe und höchste Maße an Variabilität, Komplexität und Unsicherheit, ohne deswegen die Identität, den Zusammenhalt, die Wiedererkennbarkeit der Gesellschaft zu gefährden. Dazu trägt bei, dass dieses besondere Sozialsystem pluralisiert vorkommt, so dass in einer Gesellschaft zahllose Organisationen vorkommen können, die durch ihren formalisierenden Kommunikationsstil füreinander stets anschlussfähig bleiben, ohne sich deswegen überintegrieren (also voneinander abhängig machen) zu müssen. Formale Organisation erlaubt »Negativorientierung« (Luhmann 1995, 43), sie erlaubt es, sich mit bestimmten Fragen nicht befassen zu müssen, bestimmten Erwartungen nicht genügen zu müssen, kurz: jegliche Angelegenheit – auch: sich selbst – in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht »nach außen zu versetzen« (Luhmann 1995, 41), ohne deswegen ›faktisch‹ außen sein zu müssen. Formalisierung operationalisiert sowohl für die Ausdifferenzierung der Organisation in der Gesellschaft als auch für die Binnendifferenzierung der Organisation die »Grenzsituation« (Luhmann 1995, 40) zwischen dem, was zumutbar ist, und dem, was ignoriert werden kann. Was ignoriert werden kann, wird ›nach außen versetzt‹, nicht aber gelöscht – mit der mehr oder minder komfortablen Folge, dass organisationsintern keine Formvariante außer Frage steht oder invariant durchsetzbar ist. Formalisierung übersetzt ›Grenzsituationen‹ in »Grenzdefinition(en)« (Luhmann 1995, 43) und konkretisiert den unhintergehbaren »Erlebnishorizont« Gesellschaft zum sowohl zu vertiefenden als auch zu vermeidenden und dabei laufend reformulierbaren »Erlebnisthema« Organisation (Luhmann 1995, 41). Formalisierung ist also in der Tat, neben Luhmann und Stinchcombe ließen sich auch Weick und White zitieren, ›Storytelling‹: Formulare übersetzen »Vorschriften« in »Vordrucke« (Vismann 2000, 161). Das, so Luhmann (1995, 43, Fn. 7), »macht sich für alle Beteiligten bezahlt«. In diesem Sinne ist Luhmanns Organisationstheorie eine Gesellschaftstheorie der Formalisierung, die – unter dem Leitbegriff der Entscheidung – die Erzählungen des ›sich nach außen Versetzens‹ rekonstruiert. Wenn Entscheidungen Erzählungen (stories) sind, die für den Fall vorbereitet werden, sich für situatives Verhalten rechtfertigen zu müssen – ein Fall, der so häufig vorkommt, dass er ohne Weiteres formalisierbar ist –, dann sind Formulare deren materiales Substrat.

Das ökonomische und politische Management hat sich daher vor allem auf die Tipps und Tricks der Formalisierungen konzentriert und das System der Organisation als abstrakten Strukturplan beschrieben, der durch individuell-professionelles Geschick und durch Unternehmergeist konkretisiert (soll heißen: offen instrumentalisiert oder subversiv ›schöpferisch zerstört‹) werde. Auf diesem Wege konnten unter dem Namen der ›Informalität‹ auch Protoformen der Organisation interessant werden: gewohnheitsmäßiges Erfahrungswissen zum Lauf der Dinge (Stinchcombe 2001, 6 nennt es »informally embedded formality«), pragmatisches Zurechtbiegen, Spezifizieren oder Unterlaufen der Regeln zum Zwecke ihrer Verbesserung (»formality being constructed«, Stinchcombe 2001, 7; bei Luhmann 1995, 304 ff.: »brauchbare Illegalität«) und schließlich das, was konventionell als Alltag bezeichnet wird, das Schwatzen auf den Fluren und an den Telefonen (klassisch ›Raucherpause‹), die Smiley-Kommentierung der Mails und Memos, die Dekore der Büros und Utensilien, usw. (»classical informality«, Stinchcombe 2001, 8). Diese informalen Formen sind soziologisch mindestens ebenso interessant, wenn nicht weit interessanter als die managerialen Strukturpläne, weil sie die bereits angesprochenen Übersetzungen des Gesellschaftlichen ins Organisationale ermöglichen. Zugleich behindern oder blockieren sie, wenn sie nicht aus der Protoformalität in Formalität übersetzt werden können und stattdessen in Organisationen ›wuchern‹ (Stinchcombe), den gesellschaftlichen Sinn (die Funktion) der Organisation: die Gewährleistung von Varianz, die Ermöglichung von Komplexität durch anfechtbare, kritisierbare ›Grenzdefinitionen‹ – sie lassen dann eine Misstrauenskultur entstehen,Footnote 8 die als Insiderwelt auftritt, aus der man sich nicht ›nach außen versetzen‹, sondern nur hinausgeworfen werden kann.

Symbiotische Diagrammatik

Das Formular symbolisiert in seiner Diagrammatik der Lücke einen ambivalenten Moment des Sichversetzenkönnens nach innen und nach außen, einen Moment der Unentscheidbarkeit; auch für dieses unentschiedene Innehalten ist das Formular ein asylum. Wir hatten gesehen, dass nur die Bürokratie, nicht aber die Person, bzw. jetzt: nur die Organisation, nicht aber die Gesellschaft mit dieser Diagrammatik weiterarbeiten kann, und wir hatten den Moment dieser Vereinseitigung (der Entscheidung) als ambiguity failure bezeichnet. Bezogen auf das Publikum bzw. die Klientel der Organisation kann man also sagen, dass das Formular die Mitwirkungsbereitschaft zugleich motiviert und frustriert, weil es anschaulich macht, dass diese Mitwirkung auf den Moment des Ausfüllens beschränkt bleibt und das Ausfüllen unter der Bedingung einer Opfer- oder Selbstaufgabebereitschaft steht: die Person versetzt sich, wenn sie das Formular ausfüllt, für einen ungewissen Moment nach innen. Sie mutmaßt über die geeignete Form ihrer Mitteilung und den möglichen Sinn der damit gegebenen Information, und sie hält es für möglich, verstanden zu werden. Je gebildeter, mithin mutmaßungserprobter eine Person ist, desto reizvoller wird diese Ungewissheit für sie sein – so wie es ja vermutlich ohnehin eine Koinzidenz zwischen Bildungsgrad und Personalisierungsneigung gibt –, und desto unbehaglicher und frustrierender wird dann die Erfahrung sein, sich nicht nur nicht, mit keiner noch so guten story, verständlich gemacht zu haben, sondern auf eine Indifferenz aufzulaufen: die Lücke muss ausgefüllt werden, und dies auch bis zu einem gewissen Grade richtig und sachdienlich; aber nicht nur die Lücke ist formalisiert, sondern der Eintrag ist es ebenfalls. Man kann hier, als Person, keinen Unterschied machen; es gibt nicht die geringste Chance auf Originalität. Die reizvolle Ambiguität kollabiert (fail), man sieht sich nicht beteiligt, sondern benutzt oder gefährdet. Neben die Bildungs- tritt allmählich, schon in frühen Lebensjahren, eine Sozialisationserfahrung, die lehrt, wie mit solchen Lagen umzugehen ist: formalistisch eben, indem man – etwa in Job- oder Anamneseinterviews oder schulischen und polizeilichen Verhören – mit Stereotypen oder Floskeln antwortet, sobald Sachfragen nicht sicher interpretiert werden können. Man vermeidet Zurechnung, weil Zurechnung die Lage kollabieren und Handlungsbedarf entstehen lässt, weil sie schwebende Unsicherheit in mutmaßlich missliche Sicherheit übersetzt.

Eine äquivalente Form dieses gesellschaftlichen ambiguity failure ließe sich auch organisationsintern vermuten – an dem Ort, an dem diese Bildungs- und Sozialisationserfahrungen normativ erwartet werden. Die Ambiguität im Moment der Bearbeitung eines Formulartexts bedeutet für vertraglich gebundene Mitglieder nicht die Verführung zur Hoffnung, persönlich verstanden zu werden (›sich nach innen zu versetzen‹), sondern – es geht ja um Sachbearbeitung – im Gegenteil die Verführung zur Hoffnung, das Verstandenwerden vermeiden und sich reservieren zu können (›sich nach außen zu versetzen‹). Formulare materialisieren und vergegenwärtigen diese Vermeidungshoffnung, weil sie so etwas wie das sinnliche Gedächtnis der Mitgliedschaftsentscheidung bilden: sie stellen vor Augen, dass man nur mit genau bestimmten Verhaltensaspekten, nicht aber im vollen Umfang des eigenen Lebens in Anspruch genommen werden kann, und sie stellen also vor Augen, dass man als Mitglied, nicht als Person einen Unterschied macht. Gerade das mag als persönlicher Triumph erfahren werden, als Surplus der Alltagsexistenz.

Aus Gründen dieses spezifisch modernen Distinktionsbedürfnisses sind auch formalistische Spitzfindigkeiten und Manierismen verführerisch, für die Formulare das sinnliche Aktionsfeld bieten. Es wäre nicht nur eine interessante Frage, in welcher Weise Formulare organisationsintern ebenfalls als Lückentext vorkommen, um Mitglieder als Personen anzusprechen (das werden Formulare sein, die den Grenzübertritt thematisieren: Dienstreise- und Urlaubsanträge etc., oder Formulare, die Hintergründe der Mitgliedschaftsentscheidung examinieren und einer Mitwirkungspflicht unterliegen, als sei man Klient der eigenen Behörde [oder, sehr beliebt, ›Kunde‹ des eigenen Unternehmens]: Mitarbeiterbefragungen oder, als Königsdisziplin, vor- und nachbereitende Papiere für vorgeblich hochindividualisierte »strukturierte Mitarbeitergespräche«, etc.). Nicht minder interessant wäre es, danach zu suchen, auf welche Weise mit einem Formular formalisierend umgegangen wird, und für solchen Formularehrgeiz kämen zwei grundlegende Varianten in Betracht.

Einerseits die professionelle Variante, die die Bürokratie als dem Eigentlichen der Sachdimension fremd ansieht und die Formularfelder formalistisch abhakt, indem sie sie entweder leer liegen und laufen lässt oder nötigenfalls mit nichtinformativen Chiffren oder Sinnloseinträgen füllt; Zeitmangel und Habitus liefern dafür stets gute Gründe (vgl. auch dazu Garfinkel 1967). Je deutlicher eine Organisation auf Publikumskontakt angewiesen ist, desto wahrscheinlicher ist ihre Aktenführung schlecht und desto wahrscheinlicher ist die Organisation geprägt von internen Konflikten zwischen denen, die das stört (die Administration), und denen, die das nicht stört (die Professionen).

Andererseits die organisationale Variante, die die Bürokratie als das Eigentliche der Sachdimension ansieht und bereits ausgefüllte Formulare ergänzt, nachbearbeitet, korrigiert oder auch zurückweist (in allen solchen Fällen werden Einträge als vorläufig und revidierbar betrachtet und ggf. in die Lücke zurückübersetzt). Noch verführerischer als dieses Herausschaffen fehlerhafter Hineinversetzungsversuche ist es vermutlich, sich gewissermaßen immer tiefer nach innen zu versetzen, sich in die Organisationsabläufe einzugraben und das Formular nicht auf der externen, gesellschaftlichen, personalen Seite (der Lücke), sondern auf der internen, organisationalen, bürokratischen Seite seiner Diagrammatik zu bearbeiten. Die Materialität des Formulars dürfte in allen diesen Varianten Spuren solcher Bearbeitungen aufweisen, Streichungen, Tippex-Überpinselungen, Überklebungen, Unkenntlichmachungen etc., außerdem Ergänzungen von Signaturen oder Einfügungen von Adresschiffren zur Lenkung des Kommunikationswegs. Kommt dergleichen vor, spielt es vermutlich immer eine personale oder sogar idiosynkratische Referenz in die Formulare und damit auch in die Verfahren ein, die nicht in jedem Einzelfall durch ein Unterschriftenkürzel zurechenbar gemacht wird.

Was bis hierhin in semantischen Verspieltheiten (Verführung, Reiz, Attraktivität, Bedürfnis) nur angedeutet war, ist eine theoretische Möglichkeit, das Formular nicht nur als Materialität und als Diagrammatik des »intermediären Mechanismus« der Formalisierung zu verstehen, als Schnittstelle zwischen relativ Invariantem und relativ Variablem (Luhmann 1995, 43, siehe bereits oben), sondern auch als »symbiotischen Mechanismus« (Luhmann 1981). Wenn als ›intermediärer Mechanismus‹ der Formalisierungsprozess beschrieben ist: welchen Unterschied macht das Formular? Genügt es, das Formular als materiale Schnittstelle zu verstehen zwischen einer bürokratisch-organisationalen Innenwelt und einer unbürokratisch-gesellschaftlichen Außenwelt? Ich habe versucht zu zeigen, dass die daraus abgeleitete Schlussfolgerung nicht überzeugt, die Diagrammatik des Formulars verknüpfe eine formale (mehr oder minder tabellarisch kartografierte) und eine informale (als weiße Freifläche, leeres Feld, Lücke schematisierte) Seite der Differenz von Organisation und Gesellschaft – diese Schlussfolgerung überzeugt nicht, weil sie die Differenz des Formulars im Formular nicht wiedervorkommen lässt und damit den Eigensinn von Differenzen unterschätzt (und nicht minder den Eigensinn des Materials). Auch die Lücke, gerade die Lücke verdankt sich einer Formalisierung, sie abstrahiert vom Nichts und generalisiert diese Abstraktion dann so, dass sehr vieles (nicht alles, sonst versagte die tabellarisch-kartografische Diagrammatik) den Platz dieses Nichts einnehmen kann und das Nichts dadurch semantisch anschlussfähig wird. Das Formular ermöglicht Erzählungen und Geschichten, es bindet Zeit. Es provoziert immer neue failures in dem Versuch, Personalität umfassend und verständlich zu beschreiben, es frustriert jeden Versuch, Inklusion deskriptiv zu bewerkstelligen; aber es motiviert auch ›Selbstsubstitutionen‹ und Vernetzungen. Es plausibilisiert Organisation als Formvariante der Gesellschaft, als Form also, in der Gesellschaft sich selbst misslingen zu lassen vermag.

Gerade deshalb könnte man (hier aus Platzgründen nur noch als theoretische Spekulation) über den einen Verlegenheitsbegriff (das Intermediäre) hinausgehen und einen anderen (das Symbiotische) heranziehen. Die Wahrheiten beider Überlegungen lassen sich nur empirisch klären; dazu habe ich oben einige Andeutungen gemacht. Aber theoretische Spekulationen haben den Vorzug, die ambiguity failures der Wissenschaft zumindest herauszuzögern. Auf den Gedanken, Luhmanns Begriff des symbiotischen Mechanismus heranzuziehen, kann man schon wegen der Nähe des Bürokratiethemas zu Fragen mittelbarer Gewaltanwendung kommen (mit denen Luhmanns Aufsatz denn auch eröffnet, auf die Gefahr bloßen Sortierens hinweisend, die mit binären Schematisierungen einhergeht, sobald diese mit »Optionsdruck« angereichert werden; man könne dann »Theorie nur noch einsetzen zur Begründung der Option«, nicht jedoch zur Kritik des Schematismus) (Luhmann 1981, 228). Dass Formulare direktes Instrument der Gewaltausübung waren, dass – nach allem bisher Gesagten – jede Mitwirkungspflicht auch (und sehr leicht) pervertiert werden kann, ist nicht erst aus der Administrationsgeschichte der Juden- und Behindertenmorde bekannt. Die wissenschaftliche Neigung zur grafischen Veranschaulichung und zum erzählten Beispiel (eine der prominentesten Varianten des Formular-Nichts) zieht Plausibilität jeder nervösen Falsifikation vor. Datingportale zeigen wie die ihnen vorausgegangenen Zeitungsinserate, dass Selbstbeschreibungen zu Zwecken der Anbahnung von Intimbeziehungen solange jede Version von Liebe vorstellbar machen, wie sie deren Kontingenz zu verdrängen erlauben, solange also, wie sie als sexuelle Praxis imaginiert werden. Das ließe sich ausdehnen.

Als symbiotische Mechanismen definiert Luhmann soziale Formen, die es ermöglichen, dass in komplexen kommunikativen Situationen hoher Kontingenz, also hoher Gelingensunwahrscheinlichkeit, »auch physische und organische Faktoren eine Rolle spielen« können, obwohl diese Faktoren das Gelingen nicht wahrscheinlicher machen, sondern dessen Unwahrscheinlichkeit noch steigern (Luhmann 1981, 229). Er bezieht den Begriff auf »symbolisch generalisierte Medien der Kommunikation« (Luhmann 1981, 229) wie Macht, Geld, Recht oder Wahrheit, die dieses Gelingen durch selektive Beschränkung auf codierte kommunikative Rahmen und durch Entlastung von direkter Interaktion ermöglichen, also auf dem Paradox der Erweiterung von Möglichkeiten durch Einschränkung von Möglichkeiten fußen und die »universelle[] Negierbarkeit« der Sprache (Luhmann 1981, 229) unterlaufen. Eben deswegen sind symbiotische Mechanismen prekäre, heikle Sozialformen, weil auch sie, den symbolisch generalisierten Medien zu- und nachgeordnet, die sprachlichen Möglichkeiten umgehen. Es geht um Formen des Umgangs mit auf gewisse Weise hartnäckigen, nichtignorablen »Interferenzen« oder »Störungen« aus den Tiefen der »organischen ›Infrastruktur‹; ihre Funktion«, ergänzt Luhmann, »ergibt sich aus der Notwendigkeit des auch organischen Zusammenlebens« (Luhmann 1981, 230). Als soziale Formen haben sie mit den physischen und psychischen Formen, auf die sie reagieren bzw. die sie ›regulieren‹ (vgl. Luhmann 1981, 230), nichts gemein, und was sie auszeichnet, ist – anders als es die Konvention für Sozialformen annehmen will – nicht ihr »Vollzug«, sondern ihre »bloße Möglichkeit« (Luhmann 1981, 230).

Diese ›bloße Möglichkeit‹ liegt als Inklusionschance auch in dem asylum ignorantiae des Formulars. Die »Negativorientierung« (Luhmann 1995, 43, s. o.) der Formalisierung, die es erlaubt, Sinnvorschläge durch Abstraktion und Generalisierung so zu stabilisieren, dass sie programmatisch variiert, aber in ihrem codierten Grunde nicht verworfen werden können, dürfte sich des »Negationsmechanismus« der Sprache (Luhmann 1981, 229) bedienen. Das Formular ist dann zwar der Schauplatz dieser wahrscheinlichen Stabilisierung des Unabweisbaren, von dem nur immer unbekannt bleibt, wie genau es sich realisieren wird. Aber im Medium seiner selbst unterbricht das Formular diese unabweisbare Stabilisierung oder hält sie doch für einen Moment in der Schwebe. Es scheint möglich, den Gang der Dinge zu beeinflussen, sich selbst in sein eigenes Geschick einzuschreiben – und es bleibt möglich, obwohl in jedem einzelnen Fall die enttäuschende Einsicht folgt, wie unbeeindruckt die Mühlen mahlen und wie prätentiös diese Hoffnung also gewesen war. Gerade das Inklusionsversprechen der modernen Gesellschaft scheint auf ›psychophysische‹, emotional und affektuell engagierende Inanspruchnahmen jedes Einzelnen angewiesen zu sein und eine plausible Praxis dafür wie auch für die komplementären Distanzierungen und Reservierungen des Selbst anbieten zu müssen. In diesem Zusammenhang kommen womöglich Sprache, Schrift, Druck und elektronische Medien als Formen nicht nur der Verbreitung von Kommunikation in Betracht, sondern auch als Formen dieser als ›bloße Möglichkeit‹ immer wieder engagierenden, sozialstrukturell zugleich immer wieder ruinierten Praxis. Wir wissen sehr viel über Kommunikation und ihre Verbreitung, wir wissen sehr viel über Sprache und formale Organisation, aber wir wissen sehr wenig über deren Verbindung und wechselseitige Indienstnahme und viel zu wenig darüber, wie das eine dem anderen in die Quere kommt. Dass Formulare nicht nur zur Mitwirkung verpflichten, sondern auch dazu verführen, könnte daran liegen, dass sie die Inklusions- oder Berücksichtigungschancen des Persönlichen nicht negieren, sondern in eine Diagrammatik der ›bloßen Möglichkeit‹ übersetzen, mit der sich jedes moderne Individuum so flüchtig wie unabweisbar identifizieren kann. Eine einzige Notiz in ein einziges freies Formularfeld gesetzt – und der Mechanismus greift.