Formulare sind nicht irgendein, sie sind ein ›»unentbehrliches‹« Instrument des modernen Verwaltungswesens, geradezu ›»materialisierte Bürokratie‹« oder, wie man auch sagen könnte, deren Ikone – eine mit zweifelhaftem Ruf freilich. Denn die »wesentlichen Prinzipien« des Formularwesens wie »Formalisierung, Spezialisierung und Standardisierung« basieren auf Einschränkungen, an denen sich moderne Individualität reibt (Becker 2009, 281). Da ist zunächst eine Begrenzung von »Handlungsspielräumen« (Becker 2009, 282), schlicht dadurch, dass Formulare sowohl inhaltlich als auch durch ihr Format vorgeben, was, wohin, in welchem Umfang – und wenn es sich nicht um digitale Versionen handelt – in welcher Handschrift (Großbuchstaben in Einzelfeldern) einzutragen ist. Nicht nur aus kultursemiotischer Sicht, sondern auch aus Akteursperspektive kann dies als Machtgebärde verstanden werden: Ich darf nicht so, wie ich will, sondern das Format des Formulars gängelt mich. Festgelegt werden im Weiteren aber auch die »Interpretationsspielräume bei der Erfassung« der durch Formulare generierten »Daten« sowie die Verfahren ihrer »Weiterverarbeitung« (Becker 2009, 282).

Das Formular arbeitet dadurch an der »Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung sämtlicher Einheiten des Sozialen« mit und steht so für eine »Logik des Allgemeinen«, wie sie Andreas Reckwitz als »strukturellen Kern« der sich im 18. Jahrhundert herausbildenden »klassischen Moderne« begreift (Reckwitz 2017, 28). In ihrer »weitgehenden Abstraktion von der Komplexität sozialer und kultureller Verhältnisse« (Becker 2009, 287) steht das Formularwesen somit quer zu einer sich ebenfalls im 18. Jahrhundert etablierenden »Logik der Singularitäten.« Damit ist eine Präferenz für irreduzible »Besonderheiten« gemeint, für »Einzigartigkeiten« und Phänomene in Modi wie »Nichtverallgemeinerbarkeit, Nichtaustauschbarkeit und Nichtvergleichbarkeit«: »Eigenkomplexitäten mit innerer Dichte« (Reckwitz 2017, 52), wie Reckwitz das nennt. Die Domäne des Individuellen wie auch der Ästhetik.

Googelt man auf der Suche nach künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema die Kombination der Begriffe ›Formular‹ und ›Kunst‹, trifft man denn auch nicht auf Kunst, sondern auf eine Unzahl von Formularen, die Zugänge zu Kunsthochschulen regeln und – zumal in Zeiten der Pandemie – die Existenzsicherung freischaffender Künstler*innen betreffen. Man könnte also meinen, dass die realweltliche Expertise für Formulare auf Seiten der Kunstschaffenden zwar ausgesprochen hoch ist, dass Ästhetik und Formular aber grundsätzlich nichts miteinander anzufangen wissen. Formularwesen und Bürokratie auf der einen, Ästhetik und die Auslotung subjektiver Nuancen auf der anderen Seite folgen zwei ganz unterschiedlichen Logiken, so scheint es. Gilt die Form des Formulars als bloßes Vehikel der zu erhebenden Daten, so ist seit Alexander Baumgartens Aesthetica mit ihrer programmatischen Aufwertung der sogenannten ›unteren Seelenvermögen‹ klar, dass auch die Sinne an »der menschlichen Erkenntnis« mitarbeiten, sogar ein »bedeutender Teil« derselben sind (Baumgarten 2007, §6). Die Form eines ästhetischen Objekts, und das heißt nicht nur sein grober Umriss, sondern jedes seiner wahrnehmbaren Details trägt zu seiner Spezifik bei. Die genannte ›Eigenkomplexität mit innerer Dichte‹ wird geradezu als Kriterium der Schönheit ausgewiesen: »Je mehr Zusammenhang befördernde Beziehungen eine schöne Sache von ihren einzelnen Teilen zu ihrem Zusammenhange, das ist, zu sich selber, hat, um desto schöner ist sie« (Moritz 1981, 559), schreibt Karl Philipp Moritz in der Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen. Entsprechend ist die Wahrnehmung im Ästhetischen nicht ergebnis-, sondern vollzugsorientiert (Seel 2003, 48). Das heißt, sie läuft nicht auf begrifflich fixierbare Erkenntnisse heraus, sondern kultiviert ein Interface zwischen sinnlicher Wahrnehmung, Empfindung und deren durchaus begrifflicher, nur eben nicht arretierbarer Prozessierung. Im Ästhetischen geht es just um jene Interpretationsspielräume, die das Formular ausschließt, und die Weiterverarbeitung geschieht auch nicht zielgerichtet. Genau dies macht für Kant den Kern dessen aus, was er ›ästhetische Idee‹ nennt: eine »Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache erreicht und verständlich machen kann« (Kant 2009, §49, 664).

Formular und Ästhetik – eine sehr kurze Geschichte, könnte man also denken. Für die spielerische Logik des Ästhetischen scheint kein Platz zu sein in jenem ›stahlharten Gehäuse‹, das laut Max Weber vom Geist des Kapitalismus und der modernen Verfahrensrationalität gebildet wird. Ich möchte dagegen behaupten, dass es produktiver ist, Formular und Ästhetik nicht einfach in getrennten Ordnern abzuheften, sondern als miteinander verschränkt zu denken, und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens wäre ein Blick darauf zu werfen, inwiefern das Formular geradezu ästhetische Umgebungen triggert, das Ästhetische an bzw. mit sich zieht. Zweitens soll vorgeführt werden, dass die Ästhetisierung eines Phänomens wie des Formulars auch einer differenzierten Sicht des Ästhetischen zugute kommt, und zwar insofern, als es dadurch vor Routinen des wie auch immer in Szene gesetzten Feinsinnigen, Differenzierten und Komplexen bewahrt wird.

Ich gehe dabei von zwei Schlaglichtern aus, mit denen ein Formklima des Formulars und der Bürokratie angedeutet werden sollen. Da ist zunächst jener Duktus, mit dem der Theoretiker des ›stahlharten Gehäuses‹, also Max Weber höchstpersönlich, in der monumentalen Abhandlung Wirtschaft und Gesellschaft die Vorzüge des bürokratischen Verfahrens in Szene setzt:

Die rein bureaukratische, also: die bureaukratisch-monokratische aktenmäßige Verwaltung ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herrn wie für die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung. (Weber 1972, 128)

Eine gewisse »Eigensinnlichkeit von Buchstaben und Worten« (Seel 2003, 48), um nicht zu sagen: ›Eigenkomplexität‹ eignet auch dieser Formulierung selbst mit ihrem schier kein Ende findenden Aufzählungsstakkato, der repetitiven Insistenz (›formal rationalste Form‹), dem Sperrdruck, so als stünde der Text unter Dampf, den drei Doppelpunkten, die, folgt man Adornos Bemerkungen zum »physiognomischen Stellenwert« der Satzzeichen, geradezu den Mund aufsperren (Adorno 1974, 106). Das bürokratische Regime, auch wenn es noch so effizient ist, benötigt zu seiner Durchsetzung offenbar einigen rhetorischen Nachdruck, und mehr, es stimuliert Bewegungen ins Ästhetische, was mich zu meinem zweiten Schlaglicht bringt. Ich entnehme es einem Essay des Kulturanthropologen David Graeber, in dem er sich mit dem allfälligen Papierkram im Zusammenhang mit Krankheit und Tod seiner Mutter auseinandersetzt. »Schreibarbeit soll auch langweilig sein!«, stellt er fest, »[u]nd sie wird immer langweiliger.« Deshalb gebe es zwar ethnographische Literatur über Bestattungsriten, aber keine »langen Kapitel[] über Formulare und Papierkram.«

Die Schreibarbeit bei Bestattungen gibt bisher nicht viel Interessantes her. Wie und in welcher Farbe sind die Formulare gehalten? Warum werden bestimmte Informationen erfragt, andere nicht? Warum muss der Geburtsort angegeben werden, nicht aber der Ort, wo der oder die Verstorbene die Grundschule besucht hat? Was ist so wichtig an der Unterschrift? Aber dann gehen auch dem einfallsreichsten Kommentator schnell die Fragen aus. (Graeber 2017, 64)

Gut, räumt Graeber ein, es gebe durchaus »fesselnde Romane über die Bürokratie«, die aber schlicht runterzubrechen seien auf die Darstellung der »groteske[n] Sinnlosigkeit des bürokratischen Lebens« (Graeber 2017, 66). Wenn das so einfach wäre. Denn die Frage nach der Farbe der Formulare, die Graeber als weniger interessant abtut, scheint durchaus von Relevanz für die Gestaltung seines eigenen Buchcovers zu sein. Es prangt in rosa, was möglicherweise heißen soll: unkonventionell, in seiner Argumentation unschematisch, bzw. die Formularform des Titellayouts ironisch konterkarierend. Nur dass Graeber damit, wohl ohne es zu wissen, ein im Formularwesen sehr wohl diskutiertes Problem trifft; die Frage nämlich, wie an der »Schnittstelle zwischen Verwaltung und Bevölkerung«, als die sich Formulare verstehen lassen, Kooperation jenseits von Sanktionen gesichert werden kann. Aus diesem Grund wurde in den 1970er Jahren vorgeschlagen, Formulare »bewusst als Werbemittel zu gestalten«, die Anmutung einer corporate identity zu vermitteln, wofür besonders der »Einsatz von farbigen« Gestaltungsmitteln als vielversprechend eingeschätzt wurde (Becker 2009, 291). Ist es vielleicht selbst ein wenig formelhaft und standardisiert, Formulare derart abzutun wie Graeber?

Es kann jedenfalls nicht schaden, die Ästhetik des Formulars ein bisschen genauer in den Blick zu nehmen. »These bureaucratic records«, schreibt Caroline Levine in ihrer Studie Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network,

with their combined connotations of uselessness and power, have given us one of the most common contemporary meanings of the word form: the endless forms—tax forms, immigration forms, registration forms, evaluation forms—that monitor individuals whose lives come into contact with modern institutions. This meaning of form strangely haunts – and is haunted by—its aesthetic other. (Levine 2015, 98)

Ausgehend von der Tatsache, dass die Wörter Form und Formular nicht nur nahe beieinander, sondern im Englischen sogar gleichlautend sind, liest Levine die Selbstbezüglichkeit des Formularwesens (»autonomous, referring only to themselves«) und seinen schlechten Ruf als »self-perpetuating« und »meaningless«, gegen den Strich und erklärt, dies sei doch »not far […] from the perfection of Immanuel Kant’s aesthetics, which casts art as an end in itself, both useless and powerful« (Levine 2015, 98). Dieses – zweifellos smarte – Argument kastelt Kant allerdings in ein autonomieästhetisches Konzept ein; ein wenig seltsam ist das mit Blick auf Levines Projekt schon, tritt sie damit doch ausdrücklich gegen die vielfach vertretene Ansicht der grundsätzlichen Unterschiedenheit von »art objects« (als geformt) und »ordinary life« (als formlos) an (Levine 2015, xi). Es ist fraglich, ob ausgerechnet die Mimikry der Autonomieästhetik die Lizenz dafür ist, ästhetisch über die Form des ›ordinary life‹ nachzudenken. Sind »bureaucracies« wirklich »autotelic bodies« (Levine 2015, 98), bzw. ist das der einzige oder gar beste Zugang zu ihrer ›Eigensinnlichkeit‹ oder ›Eigenkomplexität‹?

Sicher, es sind zunächst einmal avancierte Formen, mit denen sich Aspekte einer Ästhetik der Bürokratie akzentuieren lassen. Im dargestellten Objekt sehen sie vorwiegend ein Vehikel des eigenen Formkalküls – wie im Fall von David Foster Wallace’s Roman The Pale King, der aus der Eintönigkeit des Bürokratischen ein poetologisches Statement macht:

›Irrelevant‹ Chris Fogle turns a page. Howard Cardwell turns a page. Matt Redgate turns a page. ›Groovy‹ Bruce Channing attaches a form to a file. Ann Williams turns a page. Anand Singh turns two pages at once by mistake and turns one back which makes a slightly different sound. David Cusk turns a page. Sandra Pounder turns a page. Robert Atkins turns two separate pages of two separate files at the same time. Ken Way turns a page. Lane Dean jr. turns a page. Olive Borden turns a page. Chris Aquistapace turns a page. David Cusk turns a page. Rosellen Brown turns a page. Matt Redgate turns a page. R Jarvis Brown turns a page. Ann Williams sniffs slightly and turns a page […]. (Wallace 2011, 312 f.)

Und so weiter noch mehrere Seiten, das ganze Kapitel §25 lang, dessen Satzspiegel zudem als Abweichung vom üblichen Layout aus zwei Kolumnen besteht, was ebenso an Telefonbücher wie an Codices oder heilige Texte denken lässt. Zunächst einmal highlightet das repetitive Verfahren ein Phänomen, das in herkömmlicher Prosa wohl als irrelevant aus dem allgemeinen Geschehen herausgefiltert würde – das Umdrehen einer Seite. Erwähnen würde man das nur dann, wenn es über sein bloßes Sosein hinaus erzählfunktional würde. Etwa als Markierung der Tatsache, dass eine bestimmte Person X im Raum ist, die, um die plumpe Deixis zu vermeiden, etwas zu tun haben müsste. Das wäre dann eine Variante des von Roland Barthes so genannten effet de réel (vgl. Barthes 2006). Hier aber wird ein solches Detail autonom, es wird durch die schier endlose Wiederholung verstärkt – sogar einen »slightly different sound« erzeugt jedes Seitenumblättern. Damit ergibt sich ein komplementärer Effekt zu jener merkwürdigen Ambivalenz zwischen Bedeutsamkeitsmarkierung per Repetition und ihrer gleichzeitigen Depotenzierung, wie sie Eckhard Lobsien in Wörtlichkeit und Wiederholung exponiert: »Eine Wiederholung markiert Bedeutsamkeit«, schreibt Lobsien, »indem sie dasselbe Element mehrfach in die Wahrnehmung bringt«. Insistenz, etwas nochmal sagen, einhämmern, eintrichtern, mantrahaft vorbeten. Aber, überlegt Lobsien weiter: »[w]enn Bedeutsames mehrfach dargeboten werden muß, um in seine Bedeutsamkeit zu gelangen, dann wird es in seiner singulären Präsenz, seiner Kraft zur Wörtlichkeit, geschwächt; es verwandelt sich in ein Serienphänomen« (Lobsien 1995, 16). Allerdings gilt, blickt man auf Wallace, auch das Umgekehrte. Ein serielles Phänomen par excellence wie das Umblättern einer Seite in einem Großraumbüro wird durch die repetitive Präsentation im Text vergrößert, fast wie in einem Ritualgesang erhoben – und doch auch wieder als jenes Nichts exponiert, das es ist. Im Grunde wäre also das, was Wallace erzählerisch mit der Bürokratie macht, gar nicht bloß die radikale Verweigerung gegenüber einem Plot oder einer vorwärts treibenden Narration, sondern auch eine Umsetzung dessen, was bei Roland Barthes im Unterschied zur »Lust am Text«, die man als realistisches Paradigma bezeichnen könnte (»Haus, Provinz, nahe Mahlzeit, Lampe, Familie, wo sie hingehört, das heißt weit weg und nicht weit«), »Text[] der Wollust« heißt:

Die Lust in Stücken, die Sprache in Stücken; die Kultur in Stücken. Sie sind insofern pervers, als sie außerhalb jeder vorstellbaren Finalität sind – sogar der der Lust (die Wollust zwingt nicht zur Lust; sie kann sogar scheinbar langweilen). (Barthes 1970, 77)

Und es bildet eine ironische Pointe in Wallaces Orgie der Seitenumblätterei, dass ausgerechnet das mehr als unspektakuläre Abheften eines Formulars in einen Ordner – »›Groovy‹ Bruce Channing attaches a form to a file« – zur erfreulichen variatio gereicht.

Man könnte nun mit Umberto Eco, der massenkulturelle Erzeugnisse in der poststrukturalistischen Logik der Differenz denkt, argumentieren, dass die Lust an einer avancierten, modernistischen Prosa wie der von Wallace sich strukturell gar nicht so sehr von einem TV-Serienformat wie der Sitcom unterscheidet. Denn auch dort, schreibt Eco, in der populären Fernsehserie, bestehe der Genuss in der schieren »Wiederholung« und ihrer »winzigen Variationen« (Eco 1989, 177). Auch das ist, wie bei Catherine Levine, ein ziemlich smartes Argument. Es gibt aber auch einen anderen, zunächst konventioneller wirkenden und stärker lebensweltlich hinterlegten Weg, um im Einerlei der Bürokratie die Variation, Ausnahme oder Auszeit zur Geltung zu bringen; so beispielsweise nachzulesen bei einem jungen, vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg ins niedersächsische Kultusministerium abgeordneten Beamten namens Niklas Luhmann:

Und neben dem streng ›dienstlichen‹ Verhalten gibt es stets ein Abschweifen in unzählige, nicht funktionalisierte Erlebnismöglichkeiten: ein Blick aus dem Fenster, ein bißchen Geschwätz, ein kleines Männchen auf einen Zettel gezeichnet. (Luhmann 2018, 8)

Dies scheint das Prinzip zu sein, mit dem sich die Attraktivität einer monumentalen Romanserie wie J. J. Voskuils Het Bureau erklären lässt, einer Serie, die in den Niederlanden so erfolgreich gewesen ist wie Harry Potter, mit vergleichbaren Ritualen, wie in der Nacht vor dem ersten Auslieferungstag vor der Buchhandlung anzustehen. Mehr als 5000 Seiten mit weniger Handlung als zwei Seiten Harry Potter, schreibt der Literaturkritiker Elmar Krekeler voller Sympathie (vgl. Krekeler 2016). Oder schauen wir auf den Erfolg der Fernsehserie The Office, deren amerikanische Variante im Jahr 2018 die meistgestreamte Show bei Netflix gewesen ist. Oder (was die Popularität angeht, eine Nummer kleiner, aber ebenfalls seriell angelegt) schauen wir auf Abschaffel, Wilhelm Genazinos Roman-Trilogie über den gleichnamigen Speditionsangestellten aus den späten 1970er Jahren:

Abschaffel rauchte im Büro und drehte dabei zwischen Daumen und Zeigefinger die Haare seiner Augenbrauen. Er zwirbelte kleine Bündel zusammen und sah dann auf seine Fingerkuppen. Häufig lösten sich einzelne Haare, und Abschaffel legte sie vorsichtig nebeneinander auf den Aschenbecherrand. Manchmal steckte er sich ein einzelnes Augenbrauenhaar in den Mund, spielte eine Weise damit und zerkaute es. Abschaffel wußte, dass diese Art des Zeitvertreibs keinen guten Eindruck auf den ihm gegenübersitzenden Angestellten machte. (Genazino 2002, 9)

Die erzählerische Versuchsanordnung steht damit klar vor Augen: Abschaffel ist bei den »Ereignissen, die mit ihm zu tun hatten, nie ganz drin«, sondern »immer […] ein Stückchen daneben«, so dass er stets »auf sich selbst sehen«, und »sofort zu reflektieren« (Genazino 2002, 90) anfangen kann; was freilich nicht im heroischen Modus, sondern durchweg als »Kopfquatsch« ausgewiesen und in Varianten wie »Verachtung«, »Scham« oder »Ekel« präsentiert wird – stets gefangen in einem »Imperium der Langeweile« mit seinen »Gummibäumen« und natürlich »Formularen«, von denen schon auf der ersten Romanseite zu lesen ist (Genazino 2002, 8, 258, 478 f.). Kleinteilig, wie unter einer Lupe, immer ›ein Stückchen daneben‹, im Wortsinn verrückt, aber dennoch als Diegese konsistent und nicht in Einzelheiten zerfallend, verfährt diese Angestelltenprosa. Semiotisch wäre diese als Realismus zu charakterisieren, als Erzählform, die ihr Verfahren insofern unauffällig macht, als sie ihre Sequenz metonymisch organisiert. Metonymisch heißt hier: Kulturelle Frames (wie ›Großraumbüro‹; ›Angestellter‹) und Skripte (wie ›arbeiten‹, ›Pause machen‹) greifen ohne wesentliche Isotopiebrüche ineinander, gemeinsam bilden sie einen kulturellen Code (vgl. Baßler 2015, bes. 21–30). Doch was genau ist der Effekt eines solchen ›Texts der Lust‹, wie man ihn mit Barthes nennen könnte, einer weitgehend konsistenten und doch soweit verschobenen Darstellung des Alltags, dass der zugrundeliegende kulturelle Code jederzeit identifizierbar ist und doch irgendwie interessant bleibt – eben ›weit weg und nicht weit‹? Barthes selbst nennt die Form des »kulturellen Code[s]« in S/Z (wenn er den zur Debatte stehenden Autor nicht mag) »eine Art Vulgata des Wissens«, dasjenige, was »wir auf ›natürliche‹ Weise wissen« oder zu wissen glauben, »das [S]tereotype«, sich von selbst Verstehende, das »ekelt« wie »›Dummheit‹« und »›Vulgarität‹«. Durch sie, meint Barthes, »veraltet« oder »vermodert« der Text, schließt sich aus dem emphatisch verstandenen »Schreiben aus (das immer eine Arbeit in Gegenwart ist)« (Barthes 1987, 101).

Der ästhetische Effekt, den die Formalisten als Entautomatisierung bezeichnet haben, stellt sich in Sachen Formular, dem ›Fließband‹ der Bürokratie und modernen Organisation, nicht eben von der Sache her ein – soviel ist klar. Er lässt sich dennoch anders denken und produzieren als durch die emphatische, von Barthes als »aristokratisch« (Barthes 1970, 20) bezeichnete »Arbeit in Gegenwart«, nämlich als Arbeit an Gegenwart. Das könnte heißen: Verfremdung weniger durch das Prosaverfahren als durch präzise Inaugenscheinnahme des Unscheinbaren, was einer Binnenexotisierung der eigenen Kultur gleichkommt. Das wusste schon Siegfried Kracauer, Theoretiker der Neuen Sachlichkeit, einer der Väter des Angestelltenromans (und Mottolieferant des dritten Teils der Abschaffel-Trilogie):

Hunderttausende von Angestellten bevölkern täglich die Straßen Berlins, und doch ist ihr Leben unbekannter als das der primitiven Völkerstämme, deren Sitten die Angestellten in den Filmen bewundern. Die Funktionäre der Angestelltenverbände blicken, wie es nicht anders sein kann, nur selten über das Detail hinaus auf die Konstruktion der Gesellschaft. […] Die Intellektuellen sind entweder selbst Angestellte, oder sie sind frei, und dann ist ihnen der Angestellte seiner Alltäglichkeit wegen gewöhnlich uninteressant. Hinter die Exotik des Alltags kommen auch die radikalen Intellektuellen nicht leicht. Und die Angestellten selber? Sie am allerwenigsten haben das Bewußtsein ihrer Situation. (Kracauer 2006, 2017 f.)

Es ist also sehr wohl nach den ›Vulgata des Wissens‹ zu fragen, aber eben so, dass man die Epitheta des Alltäglichen wirklich ästhetisch befragt. Was wären z. B. die Farben des Bürocodes, die ein Text wie Abschaffel genauso wie die heutigen Erfolgsserien The Office, Het Bureau oder Stromberg in Szene setzt? Man würde kaum zögern, Büromöbelbeige und -grau zu nennen. Krawatten dürften ein paar Töne in den Nuancen des »Bürogrüns« der Gummibäume beisteuern (Genazino 2002, 205.). Auf Bürotassen stünden ›witzige‹ Sprüche. Als Bartmode der Herren nicht unbeliebt: der Goatee, ihr Körpershape etwa so, wie man ihn sich vorstellt, wenn auf Kantinentellern ständig »die rote Rotkohlsauce und die braune Fleischsauce ineinanderfl[ießen]« (Genazino 2002, 229); die weiblichen Angestellten sind natürlich auf der neuesten Diät und löffeln einen Joghurt. Nur wären dies eben noch keine ästhetischen Epitheta, wie der Philosoph Frank Sibley in Bezug auf Aesthetic Concepts argumentiert: »We say that a novel has a great number of characters and deals with life in a manufacturing town; that a painting uses pale colors, predominantly blues and greens, and has kneeling figures in the foreground«. (Auch das Rosa eines Formulars als schierer Farbwert ist noch kein ästhetisches Epitheton). »Such remarks«, schließt Sibley an, »may be made by, and such features pointed out to, anyone with normal eyes, ears, and intelligence« (Sibley 1959, 421). Es handelt sich dabei also um Erkenntnis-, und nicht um Geschmacksurteile.

Anders liegt der Fall jedoch, wenn man sagt »that a poem is tightly-knit or deeply moving; that a picture lacks balance, or has a certain serenity and repose, or that the grouping of the figures sets up an exciting tension.« Im Unterschied zu den propositionalen Bezeichnungen der ersten Gruppe kommen hier entscheidende Komponenten hinzu, die die Epitheta zu aesthetic concepts machen: »The making of such remarks as these requires the exercise of taste, perceptiveness, or sensitivity, of aesthetic discrimination or appreciation« (Sibley 1959, 421). Das impliziert ein dezidiertes Interesse am Objekt und Expertise in Bezug auf die Feststellung seiner Qualitäten; im Unterschied zur Kant’schen Linie, die die Autonomie des Ästhetischen als Abkehr von näheren Bestimmungen des Objekts versteht (vor allem, um sich akademischen Schönheitsnormen zu entziehen, aber wohl ein bisschen auch, weil für Kant das Geschmacksurteil zwar transzendentalphilosophisch von Interesse ist, er sich aus Kunst aber eigentlich nicht soviel macht). Es ist eine empiristische Tradition, die sich bei Sibley zu Wort meldet. ›Taste‹, ›perceptiveness‹ und ›sensitivity‹ verlangen, wie David Hume in seinem Essay On the Standard of Taste betont, ein regelrechtes Training im konkreten Hinsehen und Vergleichen (vgl. Hume 2009). Und das gilt auch oder ganz besonders für Bereiche, ließe sich mit Sibley aber auch mit dem Sprechakttheoretiker John L. Austin ergänzen, wo es nicht so fürchterlich ›ästhetisch‹ aussieht. »If only we could forget for a while about the beautiful and get down instead to the dainty and the dumpy« (Austin 1956/57, 9) – könnten wir Schönheits- bzw. Erhabenheitsfreaks nicht mal ein bisschen runterkommen und dafür mit größerer Genauigkeit das Niedliche und Plumpe in Angriff nehmen? Aufmerksamkeit für die Bedeutung des Ästhetischen jenseits des abgezirkelten Kunstfeldes (»[to] extend our aesthetic interests to wider and less obvious fields«), führt dazu, dass man en passant, tastend und versuchend Wahrnehmungsfähigkeit wie Vokabular verfeinert (»mastering as we go the more subtle and specific vocabulary of taste« (Sibley 1959, 421)) und dadurch eine Entautomatisierung auch der ästhetischen Rede selbst bewirkt. Noch einmal zusammengefasst, geht es um:

(1) eine besondere Form der Sensitivität, die Ästhetisches auch jenseits einschlägig nobilitierter Objekte zu orten vermag;

(2) die Pflege eines spezifischen Vokabulars, mit dem sich diese Objekte überhaupt erst ästhetisch fokussieren und beschreiben lassen;

(3) einen von diesen Begriffen ausgehenden Stimulus zur Anschlusskommunikation.

Für Kant ist dies der eigentlich entscheidende Aspekt des Ästhetischen, die subjektive Allgemeinheit, d. h. die Prozessierung des scheinbar bloß je Meinigen, der Sinnlichkeit und des Gefühls, in einen allgemeinen Diskurs. Dieser Prozess, und das ist der entscheidende Punkt, wird weniger von den gängigen Kategorien ›schön‹ oder ›erhaben‹ angestoßen, sondern von einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Menge ästhetischer Epitheta.

So betritt in zeitlicher Nachbarschaft zu Sibley und Austin auch die britische Pop Art die Szene, und ihr Exponent Richard Hamilton wirft zur Kennzeichnung dieser Kunstauffassung, ganz im Sinne von Sibley, gleich einmal eine ganze Reihe aesthetic concepts in den Raum: ›witty, sexy, gimmicky, glamourous‹ u. a. Mit Susan Sontags ›camp‹ kommt ein sophisticated »good taste of bad taste« hinzu, der die Formel »it’s good, because it’s awful« als grundsätzliche Ambivalenz ästhetischer Wertung ins Spiel bringt und die damit verbundene »sensibility« jenseits der hohen Kunst als »badge of identity« einer »small urban clique« versteht (Sontag 1966, 275, 291 f.). Um vermischte Empfindungen und entsprechende Epitheta geht es auch bei jenen drei ästhetischen Kategorien, die Sianne Ngai als die gegenwärtig zentralen ausgerufen hat: »zany«, »cute« und »interesting« (Ngai 2012). Zanyness, was man als Überdrehtsein übersetzen kann, verbindet Ngai (wie die beiden anderen Kategorien auch) mit einem Grundaspekt des Ökonomischen – hier der gewandelten Vorstellung von Arbeit in einer zunehmend postindustriellen Kreativitätsökonomie, in der es ständig um Dinge wie die eigene, möglichst originelle ›Performance‹ bei gleichzeitig prekären Beschäftigungsformen geht. Formularwesen und Bürokratie wären gewissermaßen deren vorgeschichtlich Anderes – wobei die Chefs in den Office-Serien (sowohl in der britischen als auch in amerikanischen Variante) ihre Motivationsgesten und -ansprachen, auch schon reichlich zany, aus dem reichen Repertoire der TV-Comedy und des Animationsfilms entnehmen. Um die entsprechenden Sphären zu bezeichnen, würde man aber vielleicht am ehesten Austins dumpy oder noch besser Frank Sibleys square für brauchbar halten. Spießig – so wie Rotkohlsauce, goatees, Bürobeige und gummibaumgrün gemusterte Krawatten – trotz aller Auflockerungsversuche irgendwie klemmig, rechteckig abgezirkelt und einzwängend wie die Arbeitsnischen im Großraumbüro, wie die Textfelder auf Formularen.

Was wäre aber der Effekt einer solchen ästhetischen Squareness? Ich würde zunächst sagen, dass das Ästhetische als Mechanismus grundsätzlich für eine Art »Redundanz«, für eine »Wiedererkennbarkeit« und für »Begegnungen« sorgt, »in denen wir uns unserer selbst vergewissern können«, für eine Art Erleichterung und auch für die Möglichkeit, darüber zu lachen. Grundsätzlich ist darin aber auch die Möglichkeit zur Reflexion angelegt, und zwar nicht zuletzt darüber, was meist hinter dem Eindruck von Redundanz und Routine verschwindet – wie Großraumbüros und Formularscheine. »Auf diesem Weg ist immer auch dafür gesorgt, dass alles anders« wahrgenommen werden könnte. Ästhetisches bedeutet stets »Varietät« (Baecker 2020). Davon ausgehend ließe sich aber auch »die Konstruktion der Gesellschaft« in den Blick nehmen, und zwar dort, wohin laut Kracauer weder Funktionäre von Angestelltenverbänden noch Angestellte selbst blicken – Intellektuelle oder Künstler*innen aber auch nicht. Diese Ignoranz freilich ließe sich als eine Schwäche der Kunst auslegen, die ihre Wurzel in einer eigentümlichen Mixtur aus autonomieästhetischer Distanznahme und damit verbundener Selbstüberschätzung hat. Es ist eine nur zu gern gehörte Autosuggestion ästhetischer Standardkategorien wie ›schön‹ und ›erhaben‹, »agency in realms extending far beyond art or culture« zu reklamieren (»moral, religious, epistemological, political«), schreibt Sianne Ngai. Und dieser strukturelle Asketismus, diese Enthobenheit des Ästhetischen sowohl was ihre Verfahren als auch ihre Sujets angeht, »that very distance of art from its social context«, ist, wie Sianne Ngai mit Fredric Jameson zuspitzt, nicht nur der Mechanismus der ästhetischen Autonomie und der daraus resultierenden kritischen Sicht (function as a critique and indictment), sondern, ziemlich streng gesagt, auch der Grund ihrer Folgenlosigkeit (also dooms its interventions to ineffectuality and relegates art and culture to a frivolous, trivialized space in which such intersections are neutralized in advance) (Ngai 2012, 22 f.).

Ich möchte daher abschließend noch kurz auf ein merkwürdiges Sammlungsprojekt eingehen, das den Künstler*innen, die daran schließlich beteiligt waren, erlaubte, sich en passant und improvisiert mit der Form des Formulars auseinanderzusetzen. Die Rede ist von einer Aktion, die der damals erst 24-jährige Klaus Hömberg im Jahr 1985 startete. Obwohl weder als Kunstsammler ausgewiesen, noch branchenbekannt als Kenner oder Insider, besaß er die Chuzpe, Formulare im DIN-A-4-Format mit der Überschrift »Mail Art« an Künstler*innen zu verschicken und sie freundlich zu bitten, jene doch ausgefüllt per Post an ihn zurückzusenden (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

(aus: DIN Art 4. 560 Künstler und 1 Formular. Sammlung Klaus Hömberg 1985 bis 1997, hg. von Anja Eichler unter Mitarbeit von Christina Haak, Heidelberg 2001, 5)

Formularvorlage »Mail Art«

Die Felder für Name, Land, Geburtsdatum und Signatur wurden nach dem üblichen Standard oben links und unten rechts vorgegeben. Zwei rechteckig abgesetzte Bereiche blieben zur freien Gestaltung, eins oben rechts, eins im Zentrum, dreiviertel des Formularraums einnehmend. Die Künstler*innen interpretieren erstes rechts häufig als Destination eines Passfotos oder sonstigen Identitätssignatur, zweites als eigentlichen Raum für die Darstellung ihrer Arbeit. Klaus Hömberg stellte den Adressaten keinerlei Honorar in Aussicht. Zudem gibt es wohl kaum etwas, das »weniger zur Kreativität zu verleiten scheint als ein Vordruck« (Eichler 2001, 18). Und doch, man glaubt es kaum, hatte Hömberg auf diese Weise bis zum Jahr 1997 mehr als 500 Arbeiten eingesammelt, Originale, versteht sich, und zwar nicht von irgendwem, sondern von einem Who-is-who der damaligen Kunstszene: Marina Abramovic, Beuys, de Kooning, Kippenberger, Rosemarie Trockel, Wolf Vostell, alle dabei. Aber warum? Warum schmeißt fast niemand die Anfrage einfach in den Papierkorb? (Ich meine, was würden Sie tun?).

Vielleicht ist es ja wirklich so, dass Kunstschaffende derart geübt sind im Ausfüllen von Formularen, dass sie das mit großer Routine einfach ruckzuck erledigen, schon allein, um den Tisch wieder frei zu bekommen für die eigentliche Arbeit? Der Cartoonist Manfred Deix (nicht nur das Biennalensegment war zur Beteiligung aufgerufen) steuert mit gewohntem Schmäh einen gezeichneten Kommentar bei, der das ökonomische Register ins Spiel bringt (Abb. 2). »Gar nicht dumm, dieser Hömberg!«, lässt er eine dickliche männliche Figur mit Brillchen, Pullunder und Fliege äußern. »Schreibt Künstler an, schmeichelt ihnen, wünscht ihnen alles Gute, viel Gesundheit, viel Glück u.s.w., pumpt sie so nebenbei um eine kleine Bildspende an – und wird steinreich damit! Tja, Ideen muss der Mensch haben!«.Footnote 1

Abb. 2
figure 2

(aus: DIN Art 4. 560 Künstler und 1 Formular. Sammlung Klaus Hömberg 1985 bis 1997, hg. von Anja Eichler unter Mitarbeit von Christina Haak, Heidelberg 2001, 108)

Manfred Deix’ »Mail Art«

Aber auch auf Seiten der Kunstschaffenden wird ein aufmerksamkeitsökonomischer Aspekt erkennbar. Denn wer kann schon davon ausgehen, dass ihr oder sein Autogramm bzw. eine rasch hingeworfene Zeichnung soviel wert wäre, dass man ›steinreich‹ damit wird? Und sobald die ersten prominenten Namen auf der Liste der Beitragenden auftauchen, wird klar: »Wer nicht teilnimmt, gehört nicht zum Betrieb, schließt sich gewissermaßen selbsttätig aus« (Honnef 2001, 30).

Gerade dadurch, dass das Ganze irgendwie kunstfern, wie eine beiläufige Aktion wirkt, macht Hömbergs Projekt also betriebliche Rahmungen der vermeintlich autonomen ästhetischen Produktion sichtbar. Und mehr: Durch die Formatform – welcher Künstler, welche Künstlerin will sich schon ›in ein Format pressen‹ lassen – lädt das Projekt umso nachdrücklicher zur Improvisation, zur hingeworfenen Äußerung ein. Auf diese Weise entstehen wie nebenbei aufschlussreiche ästhetische Auseinandersetzungen mit der Ästhetik, der Form des Formulars, die sich zunächst einmal anhand der einfachen Frage einteilen lassen, wie sie mit dem Formatrahmen umgehen.

Da gibt es etwa die hingeworfene Filzstiftzeichnung des Sky-Art-Künstlers Otto Piene, die ein gelbes Lichtzentrum in die Mitte des Formulars platziert, seine Begrenzungen in den davon ausgehenden farbigen Strahlungen souverän missachtet, die Signatur dann aber doch einigermaßen genau an den vorgesehenen Platz setzt (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

(aus: DIN Art 4. 560 Künstler und 1 Formular. Sammlung Klaus Hömberg 1985 bis 1997, hg. von Anja Eichler unter Mitarbeit von Christina Haak, Heidelberg 2001, 84)

Otto Pienes »Mail Art«

Oder das Aquarell von Peter Telljohann, das die orthogonale Strukturierung ebenso übermalt wie mit ihr spielt und sie in die eigene Gestaltung integriert – am Auffälligsten in der vielfarbigen und besonders strahlend angelegten Linienstruktur, die die querlaufenden Rasterlinien des ›Passbildfelds‹ oben rechts aufnimmt, und (passgenau, möchte man sagen) ein wenig nach unten verschiebt. Die Querlinien werden noch einmal, diesmal in schwarz, im Signaturfeld aufgenommen. In einem besonders breiten Streifen findet sich die Signatur »TELLJ« sowie halb über einem Farbklecks die Jahreszahl »92« (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

(aus: DIN Art 4. 560 Künstler und 1 Formular. Sammlung Klaus Hömberg 1985 bis 1997, hg. von Anja Eichler unter Mitarbeit von Christina Haak, Heidelberg 2001, 92)

Peter Telljohanns »Mail Art«

Sichtbar wird daran, was man das ›Weber-‹, und das ›Graeber-Prinzip‹ nennen könnte. Orthogonale Rasterungen sind wir von Formularen gewohnt, wir wissen aber auch, welche Selbstformatierung sie uns abverlangen, was geradezu danach ruft, ästhetisch mit ihnen zu spielen. Erkennbar wird aber auch, dass das Format selbst eine nicht uninteressante Form ist, und weiter, dass auch die Kunst selbst Formatierungen unterliegt – u. a. derjenigen, sich der Formatform ›zu verweigern‹. Sehr schön reflektiert dies Robert Gernhardts Arbeit, wenn sie den Gestaltungsbereich ›akribisch‹, das heißt inszeniert pseudobeflissen, mit einer »Schiefen Toscana« ausfüllt (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

(aus: DIN Art 4. 560 Künstler und 1 Formular. Sammlung Klaus Hömberg 1985 bis 1997, hg. von Anja Eichler unter Mitarbeit von Christina Haak, Heidelberg 2001, 111)

Robert Gernhardts »Mail Art«

Robert Longo scheint da deutlich mehr im Affekt zu verfahren. »I HATE THE IDEA OF MAIL ART«, knallt er ins Zentrum des Formulars, hält dabei aber präzise das Format ein, nur die Signatur schnaubt ein wenig über den vorgesehenen Platz hinaus (Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

(aus: DIN Art 4. 560 Künstler und 1 Formular. Sammlung Klaus Hömberg 1985 bis 1997, hg. von Anja Eichler unter Mitarbeit von Christina Haak, Heidelberg 2001, 200)

Robert Longos »Mail Art«

Produktiv spielen die Arbeiten der Zwillinge Barbara (Abb. 7) und Gabriele Schmidt-Heins (Abb. 7, Fortsetzung) mit den Aspekten der Serialität und der Formatierung. Als Zwillinge ist es gewissermaßen ihr Los, selbst für eine gewisse Serialität zu zeugen; sie sind aber tatsächlich mit zu Künstlerbüchern verarbeiteten Bildserien im DIN-A-4-Format bekannt geworden.

Abb. 7
figure 7figure 7

(aus: DIN Art 4. 560 Künstler und 1 Formular. Sammlung Klaus Hömberg 1985 bis 1997, hg. von Anja Eichler unter Mitarbeit von Christina Haak, Heidelberg 2001, 78–79)

Barbara und Gabriele Schmidt-Heins‘ »Mail Art«

Abb. 8
figure 8

(aus: DIN Art 4. 560 Künstler und 1 Formular. Sammlung Klaus Hömberg 1985 bis 1997, hg. von Anja Eichler unter Mitarbeit von Christina Haak, Heidelberg 2001, 76)

Lawrence Weiners »Mail Art«

Der Katalog der 6. Documenta erklärt: »Dabei gibt es von Seite zu Seite entweder keine oder geringfügige oder große Unterschiede (das Gleiche am Ungleichen, das Ungleiche am Gleichen)« (zit. n. Bianchi 1990, 220). Das wird schon dadurch sichtbar, wie beide Arbeiten mit der Kadrierung der Flächen umgehen. Beide signalisieren sie dadurch Akribie, dass sie Name, Land und Geburtsdatum mit Schreibmaschine ausfüllen. Auf den ersten Blick denkt man auch, dass die zentrale Fläche bei beiden ordentlich bis zum Rand mit einer monochromen Farbfolie belegt worden ist – was aber näher besehen gar nicht stimmt. Denn Barbara Schmidt-Heins’ Folie überlappt die Ränder, besonders deutlich die seitlichen, und betont diesen Effekt noch durch ein dem durchscheinenden orangen Kolorit unterlegtes Pixelraster. Gabriele Schmidt-Heins scheint sich stärker an die Grenzen des Formularfelds zu halten, allerdings so, dass der linke schwarze Begrenzungsstrich sichtbar wird, was die Geste einer gewissen Vorsicht ausstellt und Perfektion eben dadurch nicht erreicht. Der Begriff »Abstand«, der isoliert auf der linken Bildhälfte zu sehen ist, wirkt wie ein ironischer Kommentar darauf (ebenso wie auf das Verhältnis beider Arbeiten zueinander). Was wiederum Barbara Schmidt-Heins aufnimmt, wenn sie ebenfalls in der linken Bildhälfte untereinander angeordnet die Begriffe »Copy Copy« darstellt; hinzukommt, dass die Bildflächen beider Arbeiten wie mit einem Schnitt unterteilt sind. Akzentuiert wird so ein Prinzip der Verdopplung und Reflexion, in das durch die Formulierung »of its percipient« auch die Betrachter einbezogen werden.

Die Formel ›Das Gleiche am Ungleichen, das Ungleiche am Gleichen‹ trifft das Verhältnis der Formate ›Kunst‹ und ›Formular‹. Wird beim Formular deutlich, wieviel an materialgebundener Ästhetik sich in seiner Gestaltung versteckt, so kann sich ›die Kunst‹ in der Konfrontation mit ihrem ›ganz Anderen‹ bewusst machen, wieviel Formatierung auch in ihrer vermeintlich autonomen Gestalt verborgen ist. Dadurch ist sie aufgerufen, formularartige Erstarrungen jeglicher Art zu meiden. Darauf verweist die Arbeit von Lawrence Weiner in Klaus Hömbergs Sammlung. »Ignotum per ignotius« stempelt sie in Majuskeln eine lateinische Devise auf das Formular, die eine im Bereich der Logik als defizitär geltende Technik bezeichnet, Unbekanntes durch noch viel Unbekannteres zu erklären. Nicht so im Ästhetischen. Einmal mehr die Formatlinien wuchtig überschreibend, schafft Weiner eine Reflexion der KUNST – nicht als autonome Verweigerung gegenüber dem Gewöhnlichen, sondern in Form einer Auseinandersetzung mit dem Gewöhnlichen (des Formulars), die als das im Kunstfeld Unbekanntere das Unbekannte (die Kunst) reflexiv bearbeitet.