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1 Missing Gender – der Mythos genderneutraler Forschungsprozesse

Seit Jahrzehnten wird in der sozialwissenschaftlichen Methodendebatte diskutiert, inwieweit Gender in Forschungsprozessen eine Rolle spielt (stellvertretend: Golde 1986; DeVault 1999; Althoff et al. 2017). Bis heute hält sich die implizite Annahme, dass Forschungsprozesse genderneutral seien. Obwohl Studien zeigen, dass diese Annahme zu systematischen Verzerrungen in Forschungsprozessen führt (z. B. Golde 1986; Riley et al. 2003; Dittmer 2011; Soyer 2014) und Teile der Realität ausgelassen werden (Cuny 2021, S. 13), finden sich sowohl in der vielfältigen Methodenliteratur als auch in der ausführenden Forschungslandschaft nur wenige bis keine gendersensiblen Reflexionen und Sensibilisierungen zu Genderthemen. Die im Zuge der Digitalisierung aufgekommene Debatte über neue Datenerhebungssettings und -möglichkeiten (z. B. Göttlich 2022; Nicklich et al. 2023) bietet eine Einflugschneise, um dieser ausbleibenden Sensibilisierung zu begegnen. Beispielsweise werden der Kameraausschnitt, der nur das Gesicht und Teile der Schultern zeigt, oder die fehlende Sichtbarkeit des Körpers in digitalen Forschungssituationen thematisiert (z. B. Reichertz 2021).

Ein Anhaltspunkt dafür, dass Gender bisher nur eine untergeordnete Rolle in methodischen Reflexionen spielt, ist die Verallgemeinerung und Vereinfachung von Gender in Methodendebatten. Zwar setzen sich Studien zu qualitativen Forschungsmethoden damit auseinander, doch wird Gender meist als Strukturkategorie simplifiziert und binär aufgefasst (Kane und Macaulay 1993; Cislak et al. 2018).

Sowohl die implizite Annahme genderneutraler Forschungsprozesse als auch die Simplifizierungen von Gender in methodischen Reflexionen sind problematisch, da sie nicht nur Daten, Ergebnisse und Analysen verzerren, sondern auch zur (Re-)Produktion von genderspezifischen Ungleichheiten und zur (Un)Sichtbarkeit von Forscher*innen im Forschungsprozess beitragen (Shakeshaft 1989; Holdcroft 2007; Ruiz-Cantero et al. 2007; Heidari et al. 2016; Morgan et al. 2016). Dabei kann die Frage, wie Gender in Forschungsprozessen wirkt, zahlreiche Facetten annehmen. Sie kann sich beispielsweise auf die Auswahl, Absicherung und Reflexion des methodischen Vorgehens und somit auf einzelne Forschungssettings, -interaktionen und Genderkonstruktionen zwischen Forschenden und Beforschten beziehen. Gleichzeitig kann es um Dynamiken innerhalb des Wissenschaftssystems gehen, was Ausbildungen, Fördermöglichkeiten und Karrieren in den Blick nimmt. All das spiegelt sich auch in den von uns analysierten Erfahrungsräumen wider, die (informale) Interaktionen mit Feldpartner*innen und vielfältige Erhebungssettings qualitativer Forschung (wie ethnografische Begleitungen oder Interviews) umfassen.

Um die Wirkmächtigkeit von Genderkonstruktionen in vermeintlich genderneutralen Forschungsprozessen systematisch sichtbar, erfassbar und forschungspraktisch relevant zu machen, fragen wir, ob und inwieweit Forscher*innen in Forschungssituationen als FrauenFootnote 1 adressiert werden und inwieweit dies zu ihrer (Un)Sichtbarkeit in Forschungsprozessen beiträgt. Ausgehend von unserer Perspektive als Forscherinnen ist das Ziel des Beitrags, einen methodisch-konzeptionellen Ansatz zu entwickeln, mit dem genderspezifische Dynamiken in Forschungssituationen systematisch erfasst, reflektiert und analysiert werden können. Hierzu führen wir den Begriff des Gender Forcing ein, der an das Konzept des Doing Gender anschließt. Wir konzentrieren uns dabei auf Forschungssituationen, in denen durch ein Gegenüber (fremdbestimmt) das Wissen um genderspezifische Stereotype und die geschlechtliche Zuordnung der Forscher*in als Frau situativ relevant gemacht wird (Abschn. 2). Der konzeptionelle Begriff des Gender Forcing ermöglicht es uns, Forschungssituationen hinsichtlich Geschlechterkonstruktionen systematisch zu durchleuchten. Für die Analyse wird eine Typologie – spurloses, getarntes und offensichtliches Gender Forcing – konzipiert, die anhand von Erfahrungen des AutorinnenkollektivsFootnote 2 illustriert wird (Abschn. 3). Abschließend werden Implikationen für zukünftige Forschungen formuliert (Abschn. 4).

2 Genderless Research?! Ein gendersensibler Blick auf Forschungsprozesse

Genderless Research als Idealfall der sozialwissenschaftlichen Methodendebatte ist ein Mythos, der sich hartnäckig hält. Bereits 1987 verwies die feministische Methodendebatte im Zuge partizipatorischer Aktionsforschungen darauf, dass Genderspezifika in Forschungsprozessen kaum reflektiert werden (Brenssell und Lutz-Kluge 2020). Dies führe zu Verzerrungen, weshalb es gelte, „genderspezifische Lebensrealitäten […] zu berücksichtigen, das heißt, [sic!] eine genderspezifische Analyse bei der Konzeption, in der Zusammensetzung der Gruppe und nicht zuletzt in der Evaluierung zu beachten“ (Prasad 2020, S. 24). Die Wirkmächtigkeit von Gender zeigt sich vor allem auch in Interaktionen (Heintz et al. 2007), wobei der Forschungsprozess mit seinen vielfältigen Interaktionen keine Ausnahme darstellt.

Ein Blick in die Literatur verdeutlicht jedoch, dass die (Aus-)Wirkung(en) von Gender in Forschungsprozessen innerhalb methodischer Auseinandersetzungen kaum thematisiert werden (u. a. Cuny 2021). Nur wenige Studien hinterfragen die Annahme des genderneutralen Forschens und beschäftigen sich etwa mit den Auswirkungen von Gender auf Forschungsverläufe (Golde 1986), mit den Wechselwirkungen zwischen Forscher*innen und Feldpartner*innen (Riley et al. 2003; Dittmer 2011; Soyer 2014) oder der sexualisierten Gewalt in Forschungsprozessen (Hanson und Richards 2017). Forscherinnen treffen oftmals (unsichtbare) Schutzmaßnahmen für ihre Feldaufenthalte, die mit dem Begriff Safety Dance umschrieben werden (Sharp und Kremer 2006). Diese Maßnahmen sind zwar bekannt, werden jedoch eher verkannt und als Hidden Ethnography (Haddow 2022) nur selten thematisiert. Moreno (1995, S. 246) unterstreicht, dass das Genderless Self eine Fiktion ist und Wissenschaftler*innen Forschungssituationen immer gegendert betreten. Trotz dieser Erkenntnisse wird Gender in methodischen Auseinandersetzungen bisher meist nur peripher und überwiegend eindimensional behandelt, beispielsweise in Form von vorteilhaften stereotypen Zuschreibungen für Forscherinnen wie die der „guten Zuhörerin“ (z. B. Warren und Rasmussen 1977), oder es wird der strategische Nutzen genderspezifischer Zuschreibungen für den Informationsgewinn betont (z. B. Liebhold und Trinczek 2002; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014). Die Folgen dieser Zuschreibungen für die wissenschaftliche Arbeit im Allgemeinen und die Datenerhebung im Besonderen werden jedoch nicht beachtet.

Forscher*innen werden im Feld mit sexualisierten Annäherungsversuchen, sexistischen Witzen, Belästigungen, Zuschreibungen von Inkompetenz oder Beschränkungen auf traditionelle heteronormative Geschlechterrollen konfrontiert (stellvertretend: West und Zimmerman 1987; Sampson und Thomas 2003). Derartige Diskriminierungen und Marginalisierungen fasst Gurney (1985) unter dem Begriff des Sexual Hustling zusammen. Studien über sexualisierte Gewalterfahrungen zeigen eindrücklich, dass nur die „Berücksichtigung dieses Problems bei einem Feldforschungsvorhaben zu einer Änderung der wissenschaftlichen Vorstellungen und Praktiken […] beizutragen vermag“ (Cuny 2021, S. 13; auch dazu Schneider 2020). Im Kontrast dazu befassen sich reflexive Auseinandersetzungen mit dem Feld, den Daten oder der wissenschaftlichen Peer Group nur selten mit derartigen Erfahrungen von Forscher*innen. Dieser Effekt wird von Kloß (2017) als „silenced aspect of social research“ bezeichnet. Auch wir als Autorinnenkollektiv mussten feststellen, dass unsere Felderfahrungen selten Eingang in unseren finalen Datenkorpus gefunden haben; meist wurden sie – wenn überhaupt – im Hintergrund thematisiert und blieben so im Forschungsprozess unsichtbar.

Daher plädieren wir dafür, die Methodendebatte stärker mit den Erkenntnissen aus den Gender Studies zu verschränken. Ausgehend von dem Konzept Doing Gender adressieren wir die methodische Erfassung von praxeologischen sowie inner- und intersubjektiven Aspekten von Interaktionen (West und Zimmerman 1987; Dunkel und Weihrich 2012). Indem wir uns auf die Praxis beziehen, berücksichtigen wir auch die Gleichzeitigkeit von Konstitution und (Re-)Konstruktion von Gender. Da die Genderzugehörigkeit in Situationen als Kennzeichen fungiert und routinemäßig hergestellt wird, dient sie als Verhaltensprognose. Während nun im Forschungsprozess diskursiv erzeugte Wissensbestände eine Semantik der genderneutralen Situation suggerieren, wirken die habituellen Selbstkonzepte der Beteiligten dieser Annahme entgegen, sodass es zu einem Gender Bias der Situation kommt. An dieser Stelle setzen wir an. Basierend auf Erfahrungen des Autorinnenkollektivs bezeichnen wir die Dynamik, in der in vermeintlich unproblematischen Forschungssituationen das gelesene Gender der Forscher*innen fremdbestimmt aus der Latenz gehoben und für die Interaktion relevant gemacht wird, als Gender Forcing. Gender Forcing dient als Impuls, der das Konzept von Doing Gender in der Hinsicht spezifiziert, dass Gender nicht nur latent in Situationen wechselseitig konstruiert wird, sondern in einer vermeintlich genderneutralen Situation einseitig und fremdbestimmt relevant gemacht wird. Das Konzept des Gender Forcing zielt somit auf den explizit gemachten Rekurs des Gegenübers auf das Gender der Forscher*in und konstituiert und konstruiert genderspezifische Differenz und Hierarchie.

Entsprechend beleuchtet der Begriff des Gender Forcing ein bisher nicht systematisch erfasstes Merkmal eines Forschungsprozesses: das fremdbestimmt forcierte Doing Gender als Vergeschlechtlichung der Situation. Als methodisch-konzeptioneller Ansatz dient Gender Forcing somit als Lupe, um empirische Forschungsprozesse auch dahingehend zu reflektieren, wie Forscher*innen in ihrem Gender adressiert werden. Unsere Erfahrungen zeigen, dass Gender Forcing auch in digitalen Forschungssettings relevant ist. Wir schlagen vor, die Methodendiskussion zu öffnen und bei der Frage, wie digitale Transformationen erforscht werden können, die Wirkmächtigkeit von Gender mitzudenken. Denn Gender Forcing ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits zeigt es im Sinne des Doing Gender auf, wie soziale Ordnung reproduziert wird und Forscherinnen weiterhin als das Andere wahrgenommen werden. Andererseits wird deutlich, dass die (Un)Sichtbarkeit von Forscherinnen und der methodische Einfluss von Gender Forcing zusammenhängen und miteinander analysiert werden sollten, da ein Forschungsprozess nie genderless ist.

3 Invisible Gender?! (Un)Sichtbares Gender Forcing in qualitativen Forschungsprozessen

Auf Basis von autoethnografischen Notizen des Autorinnenkollektivs wird nachfolgend das Phänomen des Gender Forcing in qualitativen Forschungssituationen beschrieben, wobei jede Autorin von entsprechenden Erfahrungen berichten konnte. Inhaltsanalytisch wurden 14 Situationen anhand der reflexiv-induktiven Kategorien (Un)Sichtbarkeit, Profession und Adressierung analysiert. Insgesamt konnten so drei Formen des Gender Forcing identifiziert werden, die sich je nach Stärke des fremdbestimmten Zugriffs auf das habituelle Wissen um Genderzuschreibungen unterscheiden: spurloses, getarntes und offensichtliches Gender Forcing.

Das spurlose Gender Forcing (Abschn. 1) beschreibt Situationen, in denen Gender auf subtile Weise verbal wie nonverbal adressiert wird. Das Gender wird nicht explizit angesprochen, sodass die Profession der Forscherin sichtbar bleibt. Problematisch an der Subtilität ist, dass das spurlose Gender Forcing von anderen kaum wahrgenommen wird und es auch in den erhobenen Daten unerkannt bleibt. Das getarnte Gender Forcing (Abschn. 2) findet sich in Situationen, in denen explizit auf Gender-Stereotype zurückgegriffen wird und Forscherinnen mit Bezug auf ihr Gender angesprochen werden. Indem sie als weibliche Forscherinnen adressiert werden, bleibt ihre professionelle Rolle überwiegend sichtbar. Diese Form äußert sich beispielsweise in Sexismen, die nachträglich immer anders ausgelegt werden können. Daher kann diese Form in der Situation und den empirischen Daten zwar erfasst werden, ist jedoch aufgrund des großen Interpretationsspielraums nur schwer greif- oder ansprechbar. Das offensichtliche Gender Forcing (Abschn. 3) beschreibt Situationen, in denen Gender-Stereotype oder das Gender der Forscherin expliziert werden und für alle Beteiligten erkennbar sind. Forscherinnen werden situativ ausschließlich als Frauen sichtbar, während ihre professionelle Rolle in den Hintergrund rückt. Diese drei Formen des Gender Forcing sensibilisieren dafür, wie uneinheitlich und heterogen Forscherinnen in Forschungsprozessen angesprochen und situiert werden.

Die im Folgenden geschilderten Erfahrungen sind exemplarisch zu verstehen. Gleichzeitig zeigen die Beispiele idealtypisch die Dynamiken der einzelnen Formen des Gender Forcing, die in der empirischen Wirklichkeit auch als Mischformen auftreten.

  1. 1)

    Das spurlose Gender Forcing beschreibt Situationen, die in ihren kontextspezifischen Aushandlungsprozessen und unterschiedlichen Lesarten uneindeutig sind. Zur Illustration diskutieren wir die Erfahrung einer Forscherin, die von verschiedenen männlich gelesenenFootnote 3 Interviewpartnern nach dem Interview zum Kaffee eingeladen wurde:

Der Moment, in dem ich über die Einladungen zum Kaffee das erste Mal bewusst reflektiert habe, war nach einem gemeinsamen Interview mit einem Kollegen. Im Anschluss an das Interview unterhielt ich mich mit meinem Kollegen über den Feldzugang und unsere Interviews. Dabei wurde klar, dass nur ich nach Interviews von männlichen Interviewpartnern manchmal zum Kaffee eingeladen wurde und meinem Kollegen das bisher noch nie passiert war. Bei diesem anschließenden Kaffeetrinken unterhielten die Interviewpartner und ich uns weiterhin über mein Forschungsthema, wobei diese deutlich offener und detaillierter erzählten als in den Interviews selbst.

Während des Kaffeetrinkens werden Informationen mit der als weiblich gelesenen Interviewerin geteilt, die im Interview nicht so ausführlich angesprochen und erklärt wurden. Diese Beobachtung erinnert an den Paternalismuseffekt, der sich beispielsweise durch „eine demonstrative Gutmütigkeit des Befragten gegenüber dem vorgetragenen Forschungsanliegen“ (Vogel 1995, S. 80) ausdrückt. Hierbei kommen genderspezifische Rollenverteilungen zum Tragen: Der als Mann gelesene Interviewpartner macht der Forscherin aufgrund des von ihm gelesenen Genders zusätzliche Gesprächsangebote, da er die Forscherin als „gute Zuhörerin“ (vgl. Warren und Rasmussen 1977) einschätzt oder ihr Kompetenzen abspricht (vgl. Littig 2002). Diese Zuschreibungen gehen teilweise mit Mansplaining einher, also Situationen, in denen einer Frau bestimmte Sachverhalte ungefragt ausführlicher als nötig erklärt werden. Insgesamt bleibt die Situation aufgrund der Einladung als Geste uneindeutig, jedoch fällt auf, dass nur die Forscherin – im Gegensatz zu ihrem männlich gelesenen Kollegen – zum Kaffee eingeladen wird. Die Forscherin kann und muss entscheiden, ob sie die Einladung strategisch für zusätzliche Informationen zu ihrem Vorteil nutzt. In der qualitativen Forschung wird der soziale Platz von Frauen, das Klischee um ihre Empathie und Harmlosigkeit mitunter auch als Vorteil erachtet (vgl. Liebhold und Trinczek 2002). So führt das spurlose Gender Forcing nicht nur dazu, dass Gender-Stereotypen reproduziert werden, sondern beeinflusst auch den Datenkorpus und weitere Interaktionen im Forschungsprozess.

Situationen, die nicht eindeutig gelesen werden können und in denen es um ein situatives Abwägen geht, treten vermehrt auf, wenn weiblich gelesene Forscherinnen involviert sind (vgl. Padfield und Procter 1996; Littig 2002). So verstehen wir auch den zitierten Erfahrungsbericht, da er bei der Forscherin zu Unsicherheit und Irritation über die situative Leserichtung führte. Die Irritation, ob die Gutmütigkeit von männlich gelesenen Interviewpartnern eine subtile Form des Sexismus ist oder nicht, kann sich auf das Sozialgefüge in Erhebungssituationen, Forschungskooperationen sowie im Forschungsteam auswirken. Aufgrund der Subtilität und des damit einhergehenden Interpretationsspielraums müssen Forscherinnen abwägen, ob und inwiefern diese Situationen und der potenzielle Informationsgewinn Eingang in den Datenkorpus erhalten, ob sie thematisiert und interpretiert werden. Diese Form des Gender Forcing bleibt insofern in den Daten spurlos, als dass sie als Erfahrung nicht benannt oder beschrieben wird. Dennoch sind die Daten vielfältig von den Erfahrungen geprägt, denn die Interaktionen zwischen Forscherinnen und Beforschten verändern sich dadurch und damit auch die Informationsflüsse.

  1. 2)

    Das getarnte Gender Forcing umfasst Situationen, in denen explizit das Gender der Forscherinnen angesprochen oder fremdbestimmt Gender-Stereotype reproduziert werden. Dies geschieht jedoch so, dass es nachträglich auch anders ausgelegt werden kann. Das getarnte Gender Forcing kann auch von anderen wahrgenommen werden, wodurch es einen gestaltenden Einfluss auf die Situation hat:

An einem digital durchgeführten Interview nahmen ein männlich gelesener Interviewpartner (B), ein männlich gelesener Interviewer (l1) und eine weiblich gelesene Protokollantin (l2) teil. Der Interviewer und die Protokollantin tauschen ihre Rollen nach jedem Interview:

I1: [...] Ich hätte jetzt noch zwei Fragen zum Abschluss.

B: Sie können eine kurze Zeit dranhängen. Ich habe nur eine Bitte, Frau I2, ich möchte zumindest Ihre Stimme mal hören. Ich finde das gerade sehr, sehr eigenartig, Sie nur beim Tippen zu sehen. Das ist mit Sicherheit effizient so, aber für mich fühlt es sich gerade ein bisschen komisch an.

I2: Okay.

B: Vielleicht können Sie auch die nächsten beiden Fragen stellen, keine Ahnung, mich irritiert das gerade.

I2: Ich glaube, I1 hat jetzt gerade noch eine im Kopf, aber ich würde dann einfach die anschließende stellen. [...]

I1: [...] I2, willst du noch eine Frage stellen? Damit du auch mal redest.

I2: Damit ich auch mal rede. Ja, was ist denn, wenn Sie jetzt so [...].

B: Total relevante Frage. [...] Ich finde es aber-, also Frau I2, Ihre Perspektive ist nochmal eine ein bisschen andere und ich denke, dass das gerade hilft.

In diesem Beispiel wird I2 von B als Frau adressiert und positioniert. Die Anrede als Frau I2 expliziert das Wissen von B um die geschlechtliche Zuordnung seines Gegenübers (Littig 2002, S. 198). Die Situation zeigt, wie Gender Forcing getarnt als vermeintlich gut gemeinte Aussage situativ einfließt. Das Verhalten kann als wohlwollender Sexismus eingeordnet werden (Glick und Fiske 1996, S. 491 f.), der in einer beschützenden und helfenden Form erscheint und sich, ähnlich zu dem vorher beschriebenen Paternalismuseffekt, durch betont großzügige und joviale Verhaltensweisen von Männern gegenüber Frauen äußert. In der Situation gibt der männlich gelesene Interviewpartner der von ihm weiblich gelesenen Forscherin die Möglichkeit, auch einmal zu Wort zu kommen. Er wünscht sich, ihre Stimme zu hören. Er lobt ihre Frage und produziert damit ein protektives paternalistisches Verhältnis (Glick und Fiske 1996, S. 493). Die Forscherin wird als klug und ihre Sichtweise als wertvoll herausgestellt, zugleich wird sie aber auch als hilfs- und schutzbedürftig charakterisiert. Die strukturelle Ungleichbehandlung von Frauen wird dabei aufrechterhalten (Jost und Kay 2005, S. 498). Da Hilfs- oder Schutzangebote in der Regel prosoziale und freundliche Gesten sind, kann diese Form des Sexismus nachträglich immer positiv ausgelegt werden, sodass es zunehmend zu einer Herausforderung wird, sie als Sexismus zu erkennen.

Das getarnte Gender Forcing beeinflusst die wissenschaftliche Praxis insofern, als Forscherinnen in solchen Situationen zunächst entscheiden müssen, wie sie dem Gender Forcing und damit einhergehenden Machtspielen begegnen. Erschwert wird die Entscheidung dadurch, dass die Tarnung des Gender Forcing eine (konfliktive) Konfrontation damit fast unmöglich macht. Das Beispiel verdeutlicht, dass Datenerhebungen auch im digitalen Raum nicht genderneutral sind. Trotz des kleinen Kameraausschnitts, der nur das Gesicht und Teile der Schultern zeigt, wird die Forscherin als Frau adressiert. Auch das vermeintlich emanzipatorische Potenzial digitaler Technologien in Erhebungssituationen – wie die fehlende Sichtbarkeit des Körpers (vgl. Mangelsdorf und Lang 2021) – wird durch die bestehende Gestaltungsmacht männlicher Rollen mindestens verringert.

  1. 3)

    Das offensichtliche Gender Forcing beschreibt Situationen innerhalb von Forschungsprozessen, in denen das Gender einer Forscherin explizit erkennbar durch ein Gegenüber relevant gemacht wird. Die Forscherin tritt mit ihren Fähigkeiten und Kompetenzen in den Hintergrund und wird primär mittels genderstereotyper Rollenverständnisse als Frau adressiert.

Die Erfahrungssituation stammt aus einer teilnehmenden Beobachtung einer Forscherin in einem Pflegedienst:

Vor jedem Patient*innenbesuch wurde ich von den Pfleger*innen gebrieft. Bei einem Patienten warnte mich der Pfleger zu dessen Umgang mit Frauen. Als der Patient uns die Tür öffnete, war er nackt und hatte nur einen Bademantel umgelegt. Die Wände seiner Wohnung waren mit Postern nackter Frauen behangen. Der Patient ließ seine Augen nicht von mir und fragte immer wieder, wer „die Neue“ sei. Entgegen dem Pflegeplan wollte der Patient nicht nur mit Waschlappen gewaschen werden, sondern bestand darauf, sich von mir beim Duschen helfen zu lassen. Der Pfleger beharrte jedoch auf dem Pflegeplan und versuchte, mich zugleich vor den Blicken des Patienten abzuschirmen. Er bat ihn immer wieder, ihn anzuschauen und die Blicke von „seiner Freundin“ abzuwenden. Nach dem Waschvorgang, für den ich in der Küche wartete, verließen wir die Wohnung.

Das professionelle Auftreten, in diesem Fall als PflegerinFootnote 4, wird unsichtbar und die Forscherin stattdessen sexualisiert. Auch der männlich gelesene Pfleger adressierte und warnte sie als Frau vor der sexuellen Übergriffigkeit des männlich gelesenen Patienten. Während der Situation lässt der Patient erst von der Forscherin ab, als der Pfleger sie als „seine Freundin“ bezeichnete. Diese Besitznahme wirkte deeskalierend. Auch wenn der Sichtbarmachung sexueller Belästigung in ethnografischen Daten eine große Bedeutung zukommt, erscheinen derartige Erfahrungen oftmals weder in reflexiven Auseinandersetzungen mit dem Feld und dem Forschungsprozess, noch werden sie in wissenschaftlichen Publikationen oder Diskursen über die Sicherheit von weiblich gelesenen Forscher*innen erwähnt (Kloß 2017).

Besonders problematisch wird das offensichtliche Gender Forcing, wenn es in einer Sexualisierung der Erhebungssituationen mündet und Forscher*innen hinter ihrem Körper als Frau vollständig verschwinden. Dies kann dazu führen, dass notwendige Daten nicht erhoben werden können oder die Erhebungssituation von Forscher*innen zum Eigenschutz verlassen werden muss. Das offensichtliche Gender Forcing ist auch deshalb ein Problem für die Forschungspraxis, weil es eine asymmetrische Machtsituation verschärft: Feldpartner*innen haben eine machtvolle Position, da sie für die Forschenden wichtige Informationen besitzen und über deren Weitergabe entscheiden können. Dieses Abhängigkeitsverhältnis erschwert es weiblich gelesenen Forscher*innen zusätzlich, auf die Adressierung ihrer professionellen Rolle zu bestehen.

Zusammenfassend ist allen Erfahrungsberichten gemein, dass sie bei den Forscherinnen Unsicherheiten und Irritationen auslösen. Die vorgeschlagene Typologie öffnet ein Spektrum, in dem sich Gender Forcing bewegt. Die Formen sind nicht trennscharf, sie wirken zusammen und bedingen sich gegenseitig. Gespräche und Forschungen zu Ausprägungen und Formen des Gender Forcing und ihr Potenzial für die Forschung sollten deshalb nicht unterschätzt werden.

Die vorliegende Aufzählung zeigt die Vielfalt an Erfahrungen, in denen die Autorinnen auf das fremdbestimmte Forcieren von Gender stoßen. Inhaltlich wird deutlich: Irritationen können stark variieren und beispielsweise von der Frage, inwieweit die Gutmütigkeit von männlich gelesenen Interviewpartnern Paternalismus ist, bis hin zu eindeutig sexuellen Belästigungen reichen. Auffällig ist, dass in den situativen Brüchen das Gender der Forscherin fremdbestimmt relevant gemacht wurde. Gender Forcing führt daher in Forschungssituationen immer zu einer erhöhten Komplexität für Forscher*innen. Diese Komplexität geht mit situativen Aushandlungsprozessen einher, da nicht nur über die Lesart der Situation, sondern auch über die Adressierung, Sichtbarkeit und Positionierung der Forscher*innen als Frau verhandelt wird. Oftmals treten Forscher*innen mit ihren Kompetenzen und Fähigkeiten in den Hintergrund, wobei gleichzeitig heteronormative Konstellationen sowie Ungleichheitsstrukturen und -effekte reproduziert werden.

Auch darüber hinaus führen die Erfahrungen zu persönlichen Herausforderungen für Forscher*innen im (Forschungs-)Alltag. Beispielsweise immer dann, wenn aufgrund des Forschungsinteresses auf das Gender Forcing durch das Gegenüber nicht so reagiert werden kann wie als Privatperson, da Forscher*innen in qualitativen Erhebungssituationen auf Informationen des Gegenübers und den Feldzugang angewiesen sind. Datenerhebungen und Forschungsprozesse sind daher anderen Zwängen ausgesetzt als im privaten Alltag, beispielsweise dem latenten Druck, die Reproduktion von Ungleichheiten zulassen zu müssen.

4 Visible Gender Forcing im Forschungsprozess – Implikationen und Umgangsweisen

In dem Beitrag wurde gezeigt, dass die Annahme genderneutraler Datenerhebungen in der Praxis nicht standhält. Viel eher verdeutlichen die Erfahrungen des Autorinnenkollektivs, dass latente Genderdynamiken im Feld situativ relevant werden. Unsere Ergebnisse verweisen auf zwei Implikationen für zukünftige Forschungen:

Zum einen zeigen sie Implikationen für die Vor- und Nachbereitung der Datenerhebung. Hier sehen wir insbesondere das jeweilige Projektteam als relevante Bezugsgruppe, in der sich Forscher*innen auf ihr Forschungsfeld vorbereiten, sich abstimmen und Vorkehrungen treffen, aber auch Feldaufenthalte im Hinblick auf Gender Forcing reflektieren. Dazu zählt die Sensibilisierung, dass Gender Forcing in Forschungsprozessen situativ auftritt, und die Erarbeitung möglicher Bewältigungs- und Lösungsstrategien die Forscher*innen unterstützen. Beispiele wären das bewusste Nutzen von Tandemkonzepten für Feldaufenthalte, das aktive Anbieten von Austrittslösungen, sodass Datenerhebungen und Feldaufenthalte ohne weitreichende Rechtfertigungen und Folgen abgebrochen werden können, sowie die bewusste Reflexion von Datenerhebungen in Teammeetings oder Supervisionsformaten. Dabei sei jedoch unterstrichen, dass, wie unser zweites Beispiel zeigt, auch Tandemkonstellationen keinen umfassenden Schutz bieten. Sie ermöglichen aber gemeinsame Reflexionen oder können als Zeug*innen fungieren.

Zum anderen verdeutlichen unsere Ergebnisse, dass vermeintlich genderneutrale Datenerhebungen kritisch zu hinterfragen sind und genderspezifische Dynamiken Eingang in methodische Reflexionen finden müssen. Gender Forcing begünstigt die Verzerrungen des Datenkorpus und sollte daher systematisch reflektiert und bei der Auswertung mitgedacht werden. Das Berücksichtigen der Erfahrungen von Forscher*innen bedeutet nicht ausschließlich Mehrarbeit, sondern trägt vor allem dazu bei, dass alle Projektbeteiligten für strukturelle Ungleichheiten sensibilisiert werden, die unter anderem durch Gender Forcing reproduziert werden. Erste Ansätze, die Sichtbarkeit und Relevanz von Genderfragen im Wissenschaftsalltag zu steigern, lassen sich dabei nicht nur in wissenschaftlichen Diskursen, sondern auch in den Anforderungen an Projektanträge unterschiedlicher Förderinstitutionen wie beispielsweise der DFG wiederfinden (vgl. DFG 2023). Diese Leerstelle in Forschungskontexten wahrzunehmen und sie in Forschungsprozessen zu bearbeiten, wäre ein nächster Schritt. Wir hoffen, mit dem hier geprägten Begriff des Gender Forcing, auch im Zuge der aktuellen Diskussionen zu digitalen Forschungssettings, einen konzeptionellen Ansatz für die Analyse (un)sichtbarer Genderkonstruktionen in der wissenschaftlichen Praxis vorzulegen sowie einen Impuls zur Erarbeitung gendersensibler Forschungssettings zu geben. Wir möchten unterstreichen, dass die Marginalisierung verschiedener Gender in Forschungsprozessen proaktiv reflektiert und aufgearbeitet werden muss.