Schlüsselwörter

1 Einleitung

Durch den Einsatz und die Nutzung digitaler Technik und SystemeFootnote 1 im Zuge der digitalen Transformation entstehen neue Arbeitsaufgaben und bestehende Arbeitsaufgaben wandeln sich. Diese Entwicklung wird mit der Selbstständigkeit digitaler Systeme verstärkt, welche in Bezug auf Kommunikation, Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsprozesse (z. B. durch Anwendungen der künstlichen Intelligenz (KI)) unterschiedliche Grade aufweisen kann (Schulz-Schaeffer 2008). Die Nutzung von und Interaktion mit digitaler Technik beeinflusst, wie Beschäftigte Autonomie und Kontrolle wahrnehmen, was sich wiederum auf ihr Engagement und die Zusammenarbeit in digitalen Arbeitskontexten auswirkt (Parker und Grote 2022; Ruiner und Klumpp 2022). Dies gilt auch bei der Interaktion digitaler Technik mit bestehenden analogen Systemen, die für Sicherheitsfragen relevant sein können (Pfeiffer 2019). Insbesondere in Organisationen und Dienstleistungen mit einem hohen Zuverlässigkeitsanspruch, wie zum Beispiel medizinische und Gesundheitsdienste, Brandschutz- und Sicherheitsdienste oder sensible Transportsysteme wie den Luftverkehr, hat die Arbeitsleistung der Beschäftigten direkten Einfluss auf die Qualität und das Sicherheitsniveau (Berthod und Sydow 2021; Bardmann et al. 2023a). Ziel dieses Beitrages ist es, die Wahrnehmung von Autonomie und Kontrolle in digitalen Arbeitskontexten von Hochzuverlässigkeitsorganisationen wie Krankenhäuser und Flughäfen zu beleuchten.Footnote 2

Die Unterscheidung zwischen Hochzuverlässigkeitsorganisationen (High Reliability Organizations, HRO) und nach Hochzuverlässigkeit strebenden Organisationen (High Reliability Seeking Organizations, HRSO) bietet einen wertvollen Rahmen für die Einordnung der in diesem Beitrag vorgestellten Fallbeispiele von Krankenhäusern und Flughäfen. HRO zeichnen sich durch eine hohe Krisenbeständigkeit aus und dadurch auch in (zeit-)kritischen Situationen zuverlässiges Handeln garantieren zu müssen (Apelt und Senge 2015; Berthod et al. 2016; Cantu et al. 2020). Sie kennzeichnet eine Konzentration auf Fehler und Fehlervermeidung, Sensibilität für betriebliche Abläufe, Respekt vor Expertise, Abneigung gegen Vereinfachungen und Streben nach Resilienz (Weick et al. 1999; Weick und Sutcliffe 2015). In Anlehnung an Sutcliffe (2011) sei vor diesem Hintergrund auf die weniger glücklich gewählte Begrifflichkeit der HRO verwiesen. Treffender wäre jene der nach Hochzuverlässigkeit strebenden Organisation, da es sich um dynamische Eigenschaften, Aktivitäten und Reaktionen handelt. Diese Organisationen streben beständig nach Verbesserung und Sicherheit (Schulman 2004) und entwickeln Fähigkeiten und Strategien, um Fehler zu minimieren und auf Unvorhergesehenes adäquat zu reagieren. Es werden folglich die Prozesse und Strukturen betrachtet, die zu hoher Zuverlässigkeit führen (Sutcliffe 2011).

Im weiteren Verlauf dieses Beitrages wird der Begriff HRO verwendet, jedoch mit der Implikation, dass diese Organisationen nicht absolut fehlerfrei oder zuverlässig sind, sondern danach streben, ein hohes Maß an Zuverlässigkeit und Sicherheit durch fortlaufende Verbesserungen und Anpassungen zu erreichen. Sowohl Krankenhäuser als auch Flughäfen erfüllen die Kriterien von HRO, da sie unter Bedingungen hoher Unsicherheit und Risiken arbeiten und dennoch eine hohe Zuverlässigkeit garantieren müssen (Weick und Sutcliffe 2015). Krankenhäuser erbringen wesentliche Gesundheitsdienstleistungen und befassen sich mit Notfällen und lebenskritischen Ereignissen. Es sind umfangreiche Sicherheitsprotokolle, Checklisten und Schulungsprogramme implementiert, um dem Anspruch der Zuverlässigkeit gerecht zu werden (Niemann 2013). Flughäfen – trotz der im Vergleich zum Gesundheitswesen jüngeren Geschichte der kommerziellen Luftfahrt – weisen ähnliche Merkmale auf. Für ihre komplexe, dynamische und risikoreiche Umgebung wurden entsprechende Bewältigungsmuster entwickelt, um die Sicherheits- und Mobilitätsfunktionen für Wirtschaft und Gesellschaft zu erfüllen. Die Muster erstrecken sich vom Bodenverkehr bis hin zur Sicherheit der Passagier*innen. Wie auch Krankenhäuser verfügen Flughäfen über strenge Sicherheitssysteme und -protokolle sowie Sicherheitsstandards und kontinuierliche Schulungen. Fehler und Risiken sollen so minimiert, die Sicherheit von Personen maximiert werden.

In Krankenhäusern wird digitale Technik beispielsweise in Behandlungs- und Diagnosestellungsprozessen für Patient*innen eingesetzt und in Flughäfen bei der Abfertigung von Passagier*innen sowie in Transportverläufen. Es lässt sich darüber diskutieren, ob sämtliche Bereiche von Krankenhäusern und Flughäfen als HRO klassifiziert werden können. Hierzu sind die diversen Anforderungen und Risikolevels innerhalb der Organisationen zu berücksichtigen. In einem Krankenhaus gibt es Bereiche mit einem hohen Maß an Risiko, wie die Intensivstationen und Operationsräume, in denen eine hohe Zuverlässigkeit und Fehlerminimierung von essenzieller Bedeutung für Leib und Leben von Personen sind (Carroll und Rudolph 2006; Chassin und Loeb 2013). Im Gegensatz dazu weisen andere Sektoren – wie administrative Abteilungen – ein geringeres unmittelbares Risikolevel auf und fallen deshalb eher nicht unter die strenge Definition einer HRO. Ähnlich verhält es sich bei Flughäfen, bei denen der Flugverkehr und das Sicherheitspersonal in einem Umfeld agieren, das hohe Anforderungen an Zuverlässigkeit und Sicherheit stellt, um das Wohlergehen von Passagier*innen zu gewährleisten (Frederickson und LaPorte 2002). Demgegenüber müssen Bereiche wie das Facility-Management – obwohl es wichtig ist – eher geringere Anforderungen an Zuverlässigkeit erfüllen.

Mit Blick auf das Verständnis und die Gestaltung der Wechselwirkung zwischen digitaler Technik und Arbeitsprozessen, die Autonomie- und Kontrollwahrnehmung der Beschäftigten sowie auf die Erklärung von (Un-)Sicherheit im Kontext der digitalen Transformation sind die drei Heuristiken „Durchdringung“, „Verfügbarmachung“ und „Verselbstständigung“ insbesondere in HRO von Bedeutung (Pfeiffer und Nicklich in diesem Band; Henke et al. 2018): Durch die „Durchdringung“ bestehender Arbeitsprozesse mit digitaler Technik ergeben sich Veränderungen für alle Beschäftigten, da zum Beispiel bestehende Arbeitsabläufe und -schritte erweitert und ergänzt werden. Unter „Verfügbarmachung“ wird eine Zunahme der Datennutzung für die spezifischen Arbeitsorganisationen verstanden. Die „Verselbstständigung“ befasst sich mit neuen Arbeitsaufgaben und Berufsprofilen, die sich aus dem Einsatz digitaler Technik ergeben.

Der Beitrag ist wie folgt gegliedert: Der zweite Abschnitt beschreibt den konzeptionellen Rahmen mit Bezug auf digitale Transformation, Digitalisierung, selbstständige digitale Systeme (SDS) und Mensch-Technik-Interaktion (Human-Technology Interaction, HTI). Der dritte Abschnitt diskutiert die drei Heuristiken Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung speziell in HRO. Im vierten Abschnitt werden relevante Entwicklungen einer Diskussion zugeführt und Abschnitt fünf gibt einen Ausblick auf weiterführende relevante Forschungsfragestellungen.

2 Konzeptioneller Rahmen

2.1 Digitale Transformation: Digitalisierung, selbstständige digitale Systeme und Mensch-Technik-Interaktion

Durch die digitale Transformation entstehen fortlaufend Wechselwirkungen zwischen digitalen Technologien und der Gesellschaft. Die digitale Transformation geht entsprechend über die initiale Einführung digitaler Technik hinaus und bezieht die Neugestaltung und Entwicklung von Geschäftsmodellen, organisationalen Strukturen, Arbeitsprozessen sowie Tätigkeits- und Kompetenzanforderungen für Beschäftigte mit ein. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Mensch (Human Factor) in der digitalen Transformation ein entscheidender Faktor ist, da die Veränderungen nicht nur Technik und deren Einsatz, sondern auch die Beschäftigten selbst betreffen, die mit ihr interagieren und sie nutzen (Ruiner und Bardmann 2024).

Die digitale Transformation ist eng mit der Digitalisierung verknüpft. Digitalisierung geht über die reine Umwandlung analoger in digitale Daten hinaus und wird begriffen als ein soziotechnischer Prozess, bei dem digitale Technik in sozialen und institutionellen Kontexten angewendet wird (Tilson et al. 2010; Wilkesmann und Wilkesmann 2018). Mit dem Einsatz von KI wächst der Bedarf an und zeitgleich die Fähigkeit zu digitaler Eigenständigkeit (Jakesch et al. 2019; Meijerink und Bondarouk 2021; Schneider et al. 2018; Zhang et al. 2021). Nach Schulz-Schaeffer (2008) verändern SDS die Arbeitswelt tiefgreifend. SDS meint in diesem Zusammenhang Technik, die die Fähigkeit hat, sich an veränderte Umstände und Umgebungen anzupassen, komplexe Situationen zu bewerten, den Entscheidungsprozess zu unterstützen, Entscheidungen zu treffen und Handlungen auf der Grundlage von Daten oder Erfahrungen zu optimieren. Halawa et al. (2020) stellen heraus, dass bei der Nutzung von und Zusammenarbeit mit digitaler Technik der Mensch sowohl Aufgaben und Ziele als auch Grenzen definiert, die anschließend durch digitale Technik kontrolliert werden. Beim Einsatz von SDS ist dies jedoch nicht ausnahmslos der Fall, da SDS zunehmend auch Funktionen übernehmen, die Informationsverarbeitung sowie Entscheidungsfindung und Handlungsauswahl beinhalten. SDS können in der Folge von Beschäftigten als Konkurrenz wahrgenommen werden, da sie Aufgaben übernehmen, welche zuvor durch den Menschen ausgeführt wurden. Anhand des Modells zur Beschreibung des Grades sowie der Art der Automatisierung zwischen Mensch und Technik von Parasuraman et al. (2000) können sowohl der Rahmen für eine Gestaltung der Automatisierung als auch die entsprechenden Bewertungskriterien für die resultierenden Folgen diskutiert werden. Unterschiede lassen sich auf einer Skala etablieren von einem niedrigen Automatisierungsgrad, bei dem die Entscheidungen und Handlungen ohne die Hilfe von Technik durchgeführt werden, bis zu einem hohen Automatisierungsgrad, bei dem Entscheidungen und Handlungen eine hohe technische Unterstützung erfahren. Bewertet wird die HTI entlang des Automatisierungsgrades und der damit einhergehenden Stufen der Eigenständigkeit bei der Aufgabenbewältigung, des Aufgabenfeldes sowie der agierenden Person und deren Handlungsfähigkeiten (Bardmann et al. 2023b; Jipp und Steil 2021; Ruiner et al. 2022). In diesem Zusammenhang ist auch der zeitliche Rahmen zu beachten, da die Bewertung des Aufgaben- und Arbeitsfeldes abhängig ist von der Dauer der Nutzung (Jipp und Steil 2021). Insgesamt wird die Relevanz der HTI und deren Auswirkungen auf die Beschäftigten in digitalen Arbeitskontexten deutlich, was insbesondere in HRO zu berücksichtigen ist.

2.2 Wahrnehmung von Autonomie und Kontrolle in digitalen Arbeitskontexten

Durch den Einsatz und die Nutzung digitaler Technik im Arbeitskontext und die dadurch veränderten Aufgaben und Arbeitsanforderungen wird schließlich die Wahrnehmung von Autonomie und Kontrolle beeinflusst (Parker und Grote 2022; Ruiner und Klumpp 2022). Autonomie bedeutet, dass Beschäftigte Handlungsspielräume im Aufgabenprozess und in Hinblick auf die Aufgabenerfüllung haben (Breaugh 1985). Kontrolle wird definiert als alle Arten des Managements, „die versuchen, Arbeitskraft in tatsächlich profitable Arbeit umzuwandeln“ (Thompson und Van den Broek 2010, S. 10), also das sogenannte „Transformationsproblem von Arbeit“ (Minssen 2023, S. 360 ff.) zu lösen. Die klassische organisationale Kontrolle (managerial control; Hall 2010; Moore et al. 2018) wird durch neue Kontrollmodi ergänzt (Ruiner und Klumpp 2022), wie zum Beispiel die Kontrolle durch die Individuen selbst (Selbstkontrolle), durch Kolleg*innen (Ezzamel und Willmott 1998; Sewell 1998), durch Kund*innen (Wood et al. 2018) und durch Algorithmen (Lee et al. 2015; Möhlmann und Zalmanson 2017). Insbesondere die Kontrolle durch Algorithmen spielt beim Einsatz digitaler Technik und speziell von SDS eine wesentliche Rolle. Die Handlungen und die Leistung von Beschäftigten werden kontinuierlich durch Algorithmen verfolgt und bewertet sowie algorithmische Entscheidungen automatisch umgesetzt (Kellogg et al. 2020; Möhlmann und Zalmanson 2017). In digitalen Arbeitskontexten gewinnen entsprechend Fragen der Autonomie und Kontrolle an Bedeutung (Mazmanian et al. 2013; Orlikowski 2016). Einerseits kann der Einsatz digitaler Technik die Wahrnehmung von Autonomie erhöhen, da sich das Aufgabenspektrum und die Zusammenarbeit mit Führungskräften verändert (Gregg 2011; Kirchner et al. 2020). Andererseits kann die zunehmende digitale Steuerung der Arbeitstätigkeiten als Kontrolle wahrgenommen werden (Kallinikos 2011; Ruiner und Klumpp 2022; Sewell und Barker 2006). Entscheidend für die Art der Wahrnehmung ist, wie der Einsatz digitaler Technik legitimiert wird, wie der Grad der Durchdringung ist und wie (un-)kontrolliert SDS agieren, welchen Zweck der Einsatz hat und ob die Nutzung auf freiwilliger Basis geschieht (Bardmann et al. 2023a).

2.3 (Un-)Sicherheit in HRO

Die Wahrnehmung von Autonomie und Kontrolle in digitalen Arbeitskontexten und die daraus resultierenden handlungswirksamen Folgen sind insbesondere relevant und kritisch in Organisationen, die nach einer hohen Zuverlässigkeit streben (Bardmann et al. 2023a). Da es in diesen Organisationen im Gesundheits-, Sicherheits-, und Katastrophenbereich lebensbedrohliche Situationen gibt und HRO auch in Krisen- und Notfallsituationen leistungsfähig bleiben müssen, ist der Umgang mit den Unsicherheiten und Unerwartbarkeiten besonders relevant (Kim 2020; von Ameln 2021), um in jedem Fall zuverlässig agieren zu können (Leveson et al. 2009; Roth et al. 2006). Zuverlässigkeit meint in diesem Zusammenhang, dass trotz des Risikos und eventuell eintretender Unsicherheiten eine hohe Effizienz und Effektivität innerhalb der Organisation aufrechterhalten werden. In einem dynamischen Umfeld mit Störungen und Unfällen ist es nicht zielführend, sich auf starre Planungen und standardisierte Arbeitsweisen zu verlassen. Vielmehr werden achtsame Routinen und Organisationskulturen etabliert. Weick und Sutcliffe (2015) schlagen hier die Konzentration auf Fehler, die Abneigung gegen Vereinfachungen, die Sensibilität für betriebliche Abläufe, das Streben nach Resilienz und den Respekt vor Expertise als Schlüsselkomponenten vor. Der Einsatz digitaler Technik kann dabei unterstützen, diese spezifischen Anforderungen zu erfüllen (Agarwal et al. 2010; Kraus et al. 2021), indem zusätzliche Daten für die Arbeitsorganisation zur Verfügung gestellt werden. Durch neue Kontrollmodi können Fehler frühzeitig erkannt und so vermieden werden. Insofern kann der Einsatz digitaler Technik, insbesondere von SDS, (Un-)Sicherheit in HRO verstärken (Adolph und Tausch 2022) und sollte entsprechend unter Einbezug der zentralen Sicherheitsfrage mit einem konstruktivistischen Ansatz (Rochlin 1999) beleuchtet werden. Als Basis kann hier die Verhaltenstheorie der hohen Zuverlässigkeit dienen (High Reliability Theory, HRT; La Porte und Rochlin 1994; Roberts 1990a, b). Diese liefert Erkenntnisse zum Entstehen und zur Aufrechterhaltung von Zuverlässigkeit und (Un-)Sicherheit in HRO. Sie geht auf die Normal Accident Theory (NAT; Sagan 2004) zurück, die aus der Unfall- und Krisenforschung stammt. Die Überwachung und Meldung von Fehlern und Vorfällen durch SDS kann demzufolge als Sicherheitsmaßnahme betrachtet werden. Fehler als Zeichen der Abwesenheit von Zuverlässigkeit und Sicherheit stehen auch im Zusammenhang mit der Wechselbeziehung von Autonomie und Kontrolle, die sich auf die Handlungssicherheit in Notfallsituationen auswirken kann (Ellebrecht und Kaufmann 2014).

3 Digitale Technik in Krankenhäusern und Flughäfen: Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung

Durch den Einsatz von digitaler Technik in HRO-Arbeitskontexten werden auch die drei Heuristiken Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung bedient. Die Durchdringung bestehender Arbeitsprozesse mit digitaler Technik in HRO verändert die Arbeitsabläufe und -schritte. Dadurch werden sowohl die Zusammenarbeit als auch die Entscheidungsfindung in Organisationen beeinflusst. In Krankenhäusern zum Beispiel werden Tablets als digitale Unterstützungssysteme eingesetzt, um bestehende Prozesse in Chirurgie oder Pflege zu dokumentieren (Deiters et al. 2018; Hülsken und Frie 2022). Zudem wird das OP-Personal bei Operationen unterstützt. Die eingesetzte Robotik übernimmt Funktionen bei minimalinvasiven Eingriffen (Fachinger und Mähs 2019). Dadurch werden die Ebenen der Entscheidung für oder gegen den Einsatz und in weiterführenden Interaktionsformen im Operationsprozess ausgestaltet. An Flughäfen zeigt sich die Durchdringung mittels digitaler Technik bei Online-Check-in-Anwendungen oder in automatisierten Flugunterstützungssystemen (Kovynyov und Mikut 2019; Thums et al. 2023). Bei Bodenoperationen wird digitale Technik vor allem in den Bereichen der Terminal-, Sicherheits- und Gepäckkontrolle eingesetzt (Khan und Efthymiou 2021). Assistenzsysteme erkennen und identifizieren Personen und scannen Gepäckstücke. Beschäftigte übernehmen dabei je nach Datenausgabe und eigener Professionalität koordinative und kontrollierende Funktionen.

Die Durchdringung von digitaler Technik in HRO kann als Verstärkung von sowohl Sicherheit als auch Unsicherheit verstanden werden. Durch digitale Planungs- und Informationstechnik kann eine Unterstützung in Ausnahmesituationen erfolgen. Die Formalisierung von Arbeitsprozessen ermöglicht eine Messbarmachung, Kontrollierbarkeit und erzeugt eine entsprechende Transparenz. Diese Punkte können zur Fehlervermeidung und damit zur Erhaltung sowie Erhöhung von Sicherheit beitragen. Im selben Zuge kann dadurch jedoch auch eine Verstärkung von Unsicherheit entstehen, da die Flexibilität durch formalisierte Prozesse stark eingeschränkt werden kann. Diese ist aber insbesondere aufgrund des dynamischen Umfeldes von HRO unabdingbar. Auch die kongruente Interpretation von Daten durch mehrere (verselbstständigte, technische und menschliche) Akteur*innen in kritischen Situationen weist eine erhöhte Fehleranfälligkeit auf.

Unter Verfügbarmachung wird eine zunehmende Datennutzung verstanden. Sie kann als eine Folge der Durchdringung gesehen werden. In HRO kann die Durchdringung zu mehr Transparenz und damit zu einer erhöhten Verfügbarkeit führen, wenn beispielsweise Fehlerquellen aufgedeckt werden. Gleichzeitig kann das autonome Handeln digitaler Technik wie SDS einen Mangel an (Entscheidungs-)Transparenz verursachen, wodurch die Entscheidungsgrundlage für die Beschäftigten nicht vollständig nachvollziehbar ist. Im Sinne der Sicherheit muss ständig auf erforderliche Informationen zugegriffen werden können. In Krankenhäusern kann die Verfügbarmachung anhand der zunehmenden digitalen Echtzeitverfügbarkeit von externen Patient*innendaten (Deiters et al. 2018; Hülsken und Frie 2022), Mitteilungen von Hausärzt*innen und Laboreinrichtungen sowie von Bildgebungsdaten (MRT, CT) verdeutlicht werden. Der Einsatz digitaler Technik kann auch zur Entscheidungsfindung beitragen, wenn genauere bzw. frühere Diagnosen gestellt werden. Außerdem können durch die genaue und detaillierte Beobachtung und Interpretation von fehleranfälligen Situationen Fehler vermieden werden (Tamuz und Harrison 2006). Potenzielle Gefahren können rechtzeitig gemeldet und die Informationen schnell an die entsprechenden Entscheidungsträger*innen weitergeleitet werden. Darüber hinaus können die Daten für organisationale Lernprozesse beim Auftreten erneuter Unsicherheiten und in Krisensituationen zur Übersetzung für die betreffenden Arbeitsfelder und -aufgaben genutzt werden. Daran anschließend analysieren Fachinger und Mähs (2019) die Verbindung verschiedener Systeme, wie die Vernetzung der Daten aus Entscheidungs- und Warnsystemen (z. B. in der Medikamentengabe) mit Personendaten (z. B. Alter, Größe) und externen Daten. Diese Vernetzung wird etwa beim klinischen Mentoring angewendet, das aufgrund der Datenkombination potenzielle Gefährdungssituationen für Patient*innen auf prognostischer Ebene ausgibt und medizinische Personal-Entscheidungswege abbildet. Durch diese Verbindung von Daten aus unterschiedlichen Systemen kann sich die Sicherheit der Prognose erhöhen.

Im Anwendungsfeld der Flughäfen umfasst die Verfügbarmachung sowohl innerorganisationale als auch transorganisationale Ebenen, die sich vor allem auf den digitalen Informationsaustausch von kooperierenden Organisationen auf dem Flughafengelände beziehen. Die Öffentlichkeit kann über die Weitergabe wichtiger Informationen wie Wetterdaten oder Flugverzögerungen eingebunden werden. Die Verfügbarmachung für Flughäfen ist komplex, nicht nur wegen der kooperativ-organisationalen Perspektive, sondern auch wegen der gleichzeitigen Trennung und Verbundenheit der land- und luftseitigen Prozesse (Kovynyov und Mikut 2019). Luftseitig können beispielsweise Flugbegleiter*innen zu jeder Zeit auf laufend aktualisierte, digitale Checklisten zum Umgang mit unerwarteten Situationen zugreifen. Für die Zusammenarbeit von Beschäftigten und weiteren Entscheidungsgruppen müssen die organisationalen Ebenen miteinander verbunden werden. Digitale Technik bildet verschiedene Daten ab, analysieret und integriert diese entlang der Flugplanung. Dies ist insbesondere in Risikosituationen bedeutsam, in denen verschiedene Szenarien (z. B. Wetter, Verkehrsaufkommen) und Stakeholder*innen berücksichtigt werden müssen. Die Vernetzung zwischen boden- und luftseitigem Mentoring sowie Kooperation ist unabdingbar, um Unsicherheiten und Unvorhersehbarkeiten zu bewältigen und Sicherheit kontinuierlich aufrechtzuerhalten (Tan und Masood 2021).

Nach der Durchdringung und Verfügbarmachung geht der Einsatz digitaler Technik mit der Verselbstständigung einher, die neue Arbeitsaufgaben und Berufsprofile impliziert. In Krankenhäusern sind dies beispielsweise Spezialist*innen für die Automatisierung von Roboterabläufen oder Case Manager*innen und Beschäftigte des Gesundheitscontrollings, die sich auf digitale Patient*innen- und Falldaten beziehen. An Flughäfen gehören zu den neuen Arbeitsfeldern zum Beispiel die Betreuung automatisierter Gepäck- und Bodenabfertigungssysteme oder automatisierter Sicherheits- und Grenzkontrollsysteme. Gleichzeitig werden Passagier*innen in diese neuen Abläufe integriert, indem sie mithilfe von Agenten- und Chatsystemen auf der Basis von KI eigenständige Aufgaben in den Bereichen Check-in, Service und Sicherheit übernehmen können. Durch die Verselbstständigung digitaler Technik wächst die Zahl der beteiligten Akteur*innen, was zu einer Verstärkung von (Un-)Sicherheit führen kann. Gleichzeitig wächst die Gefahr einer Artificial Divide, einer künstlichen Kluft, indem Personengruppen von möglichen Prozessen und Leistungen in Kooperation mit digitaler Technik ausgeschlossen werden (Klumpp 2017). Verantwortlichkeiten sind nicht immer klar definierbar und Entscheidungen, die durch digitale Technik unterstützt oder gar getroffen wurden, nicht immer transparent. Die Interaktion mit digitaler Technik zeigt sich daher als voraussetzungsvoll, wenn die Sicherheit erhalten und/oder erhöht werden soll.

Führt der Einsatz digitaler Technik zu mehr Transparenz, kann dies eine autonomiebestärkende Wirkung haben, trotz zunehmender Kontrolle. Fehlt diese Legitimation, kann der Einsatz als autonomiebeschränkend wahrgenommen werden (Bardmann et al. 2023a). Insofern kann die (un-)erwünschte Kontrolle durch digitale Technik in HRO als Entmündigung und als Unterstützung wahrgenommen werden. Die Aussicht darauf, dass Entscheidungen allein durch digitale Technik wie SDS getroffen werden – etwa bei der Diagnose von Krankheiten oder während eines Fluges – wird eher als Entmündigung wahrgenommen. In den betrachteten empirischen Kontexten werden die Bedeutung der menschlichen Perspektive und die Mitwirkung bei Entscheidungen betont. Es wird folglich auch im Bereich der Verselbstständigung deutlich, dass die Freiwilligkeit des Einsatzes digitaler Technik und der kompetente, informierte Umgang damit entscheidend für die Wahrnehmung von Autonomie und Kontrolle sind (Ruiner und Klumpp 2020).

4 Diskussion

Die Entwicklung und Nutzung digitaler Technik hat unterschiedlichste Auswirkungen auf die Zusammenarbeit in HRO in den drei angesprochenen Heuristiken Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung. In Verbindung mit der Autonomie- und Kontrollwahrnehmung durch Beschäftigte beeinflusst dies die (Un-)Sicherheit in HRO (Tab. 1).

Tab. 1 Gegenüberstellung der Heuristiken in Krankenhäusern und Flughäfen

Die Heuristik der Durchdringung beschreibt den Einfluss, den Technik auf die Arbeitsprozesse als Kern organisationalen Handelns habt. Ist die Durchdringung hoch, lässt dies auf eine starke Integration der Systeme in die Arbeitsprozesse schließen. Dadurch können sich die wahrgenommene Autonomie und Kontrolle der Beschäftigten und damit Entscheidungsprozesse verändern. Diese Veränderung ist abhängig von der verwendeten Technik (Bardmann et al. 2023a).

Verfügbarmachung impliziert eine hohe Verfügbarkeit digitaler Technik, um einen reibungslosen Ablauf in Prozessen zu ermöglichen sowie Informationen und Informationsflüsse sicherzustellen. An die Durchdringung anschließend spiegeln sich bei der Verfügbarmachung gleichwohl die Wahrnehmung des Beitrages der Nutzung digitaler Technik, die Transparenz und die Legitimation der Datenverwendung wider. Zudem wirkt Verfügbarmachung auf die Ebene der Organisation, da insbesondere organisationale Lernprozesse durch die Datenvernetzung und -weiterleitung bspw. die Fehlerkultur und das Fehlermanagement beeinflussen.

Die Heuristik der Verselbstständigung lässt auf den Grad schließen, zu dem die Technik selbstständig agieren kann sowie die menschliche Interaktion und organisationale Fragen beeinflusst. Mit Blick auf die veränderten und neuen Aufgabenfelder und Berufsprofile kann zudem diskutiert werden, wie sich die Verselbstständigung auf das Verhältnis von Mensch und Organisation auswirkt.

Schließlich ist die Autonomie- und Kontrollwahrnehmung von Beschäftigten betroffen, da hier wesentliche Zuschreibungs- und Interaktionsmechanismen etabliert werden, die auf den Umgang mit Technik und damit auf organisationale Prozesse wirken. Die folgende Abb. 1 führt die argumentierten Zusammenhänge aus.

Abb. 1
figure 1

Zusammenhang zwischen digitaler Technik und (Un-)Sicherheit in HRO

Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung digitaler Technik stehen in einer komplexen Wirkungsbeziehung zur wahrgenommenen Kontrolle und Autonomie und damit zur (Un-)Sicherheit für Beschäftigte in HRO. Als Beispiel kann die Dichotomie Fehleranfälligkeit versus Fehlervermeidung angeführt werden. Wenn auf der einen Seite digitale Technik die Prozesse in HRO durchdringt, stärker verfügbar ist und selbstständiger agiert, kann sie beispielsweise eigenständige Vorschläge zu Prozess- und Sicherheitsverbesserungen erstellen. Dies kann zur Fehlervermeidung beitragen und damit die wahrgenommene Kontrolle reduzieren bzw. mit einem Sinn versehen und so die Autonomiewahrnehmung stärken. Damit würde dies indirekt die Sicherheit in HRO erhöhen. Auf der anderen Seite kann digitale Technik im Parallelbetrieb mit herkömmlichen Systemen und bei häufiger Störanfälligkeit beispielsweise durch fehlende Adaption auf die spezifischen HRO-Anforderungen eher zur Fehleranfälligkeit beitragen. Dies würde tendenziell zu geringerer Autonomie- und erhöhter Kontrollwahrnehmung bzw. einem größeren Kontrollaufwand für die Beschäftigten in HRO führen und damit indirekt zu mehr (Un-)Sicherheit.

5 Fazit

Im Zentrum dieses Beitrags steht die Autonomie- und Kontrollwahrnehmung in digitalen Arbeitskontexten von HRO. Dies wurde am Beispiel von Krankenhäusern und Flughäfen diskutiert. Die Behandlung der drei Heuristiken Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung verdeutlicht die unterschiedlichen Entwicklungen der betrachteten HRO, aber auch die Relevanz der Wahrnehmung dieser Entwicklungen durch die Beschäftigten.

Die Beziehung zwischen den drei Heuristiken ist nicht zwangsläufig festgelegt, sondern kann je nach Kontext und Implementierung variieren. Die größten Auswirkungen auf die Autonomie- und Kontrollwahrnehmung von Beschäftigten haben eine hohe Durchdringung, die zur Verfügbarmachung beiträgt und zu einer hohen Verselbstständigung führt. In diesem Fall werden die Tätigkeiten durch den Einsatz digitaler Technik beeinflusst und verändert und müssen von den Beschäftigten im Hinblick auf die Erreichung von Sicherheit und Vermeidung von Unsicherheit moderiert werden. Digitale Technik kann aber auch Arbeitsprozesse durchdringen, ohne dass sie weitreichend verfügbar oder autonom ist. Umgekehrt kann digitale Technik weit verfügbar sein, ohne die jeweiligen Prozesse zu durchdringen oder einen hohen Grad an Verselbstständigung aufzuweisen. Die Heuristiken können folglich je nach Arbeitsumfeld in unterschiedlichem Maße und in verschiedenen Kombinationen auftreten. Ihre Beziehung ist durch Dynamik gekennzeichnet, da jede Heuristik die anderen beeinflussen kann. Die Heuristiken stehen somit in einem dynamischen Gleichgewicht, wodurch sich Veränderungen in einer Heuristik auf die anderen auswirken können. Die variierende Intensität und Kombination dieser Heuristiken in unterschiedlichen Arbeitsumgebungen können zu unterschiedlichen Autonomie- und Kontrollwahrnehmungen führen. So kann eine hohe Durchdringung mit einer geringen Verfügbarmachung und Verselbstständigung zu einer erhöhten Unsicherheit und einem Kontrollverlust für Beschäftigte beitragen. Die Art und Weise, wie sie interagieren und sich gegenseitig beeinflussen, bietet ein reichhaltiges Forschungsfeld, um die Auswirkungen von Technologie auf Mensch, Arbeit und Organisationen zu beleuchten.

Insofern ist die im Titel formulierte Frage in zwei Richtungen zu verstehen: In HRO besteht die Erwartung, Situationen unter Kontrolle zu haben. Dies kann durch den Einsatz digitaler Technik verstärkt, aber auch unterminiert werden. Gleichzeitig ist die Frage so zu verstehen, dass sich durch den Einsatz digitaler Technik die Möglichkeiten erweitern können, das Handeln von Beschäftigten zu kontrollieren, und dass hierbei unterschiedliche Kontrollmodi eine Rolle spielen. Insbesondere bei SDS ist von einer Kontrolle durch Algorithmen auszugehen. Dies kann sich wiederum auf die Wahrnehmungen und damit auf das Handeln von Beschäftigten auswirken und die (Un-)Sicherheit in diesen Kontexten erhöhen. Die Titelfrage ist damit plakativ für beide Lesarten mit „Ja“ zu beantworten. Die Kontrolle kann durch die Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung digitaler Technik zunehmen. Gleichzeitig können auch menschliche Akteur*innen stärker davon überzeugt sein, dass alles unter Kontrolle ist, insbesondere wenn der Einsatz digitaler Technik die Transparenz erhöht und für die Beteiligten nachvollziehbar und freiwillig ist. Zukünftige Forschung kann insbesondere das Transferpotenzial dieser Erkenntnisse auf andere Organisationen untersuchen. Insgesamt ist die Entwicklung des zunehmenden Einsatzes digitaler Technik in unterschiedlichsten sicherheitsrelevanten Anwendungsbereichen ein wichtiges Feld für die Forschung und für die praktische Arbeitsprozessgestaltung im Rahmen der Analyse und des Managements von Arbeitssystemen in Gesellschaften der Zukunft.