1 Ein interdisziplinärer Blick auf die Digitalisierung von Arbeit als Transformation

Das 2021 gestartete DFG-Schwerpunktprogramm 2267 „Digitalisierung der Arbeitswelten“ vertrat von Beginn an die These, die Digitalisierung der Arbeitswelten vollziehe sich als eine systemische Transformation, die alle Institutionensysteme der Arbeitsgesellschaft grundlegend und nachhaltig verändert. In der ersten Förderphase erforschten 15 geförderte und acht assoziierte Projekte die digitale Transformation als ein Zusammenwirken von drei Prozessdimensionen, in denen dieser soziotechnische Wandel sozial vorbereitet, technisch ermöglicht und diskursiv ausgehandelt sowie gesellschaftlich bewältigt wird.

Obwohl zum Zeitpunkt der Erstellung des SPP-Initialantrags (Henke et al. 2018) schon zahlreiche Studien über die Digitalisierung von Arbeit existierten, war und ist ein Großteil der Forschung zum Thema fachwissenschaftlich stark fragmentiert und oft orientiert an einzelnen technischen Phänomenen. Das SPP dagegen ist angetreten, die gesellschaftlichen Bedingungen und Bearbeitungsformen der aktuellen Digitalisierung für die Arbeitsgesellschaft als Ganzes zu erforschen. Der Blick richtet sich dabei insbesondere auf die Dynamik und Wirkmacht dieser systemischen – das heißt ungleichzeitigen, wechselwirkenden und widersprüchlichen – Transformation. Interdisziplinär analysieren dazu sozial-, wirtschafts- und geschichtswissenschaftliche Disziplinen die sich vollziehenden Neukonfigurationen von Arbeit und Technik, die damit verbundenen vielschichtigen Dynamiken des Wandels und veränderte Formen und „Orte“ der Wertschöpfung.

Weder historisch noch empirisch noch theoretisch ist Digitalisierung bislang eindeutig operationalisiert. Das SPP traf daher bewusst zunächst keine theoretischen oder empirischen Vorentscheidungen zum Begriff der digitalen Transformation. Um den interdisziplinären Bezug zwischen den verschiedenen Projekten, empirischen Feldern und methodischen wie theoretischen Zugriffen systematisch zu ermöglichen, ist das gesamte Vorhaben – und damit auch dieser Band – konturiert von einer doppelten Heuristik:

  • Erstens geht es theoretisch-konzeptionell um die Bestimmung von drei übergreifenden, ineinander wirkenden bzw. verflochtenen Bewegungsdynamiken: Durchdringung (z. B. von digitalen Arbeitsprozessen), Verfügbarmachung (z. B. von Daten über einzelne Arbeitshandlungen) und Verselbstständigung (z. B. von datengetriebenen Wertschöpfungsketten).

  • Zweitens und quer dazu erforscht das SPP entlang einer empirisch-analytisch ausgerichteten Heuristik die digitale Transformation (1) auf der Mikroebene im Wechselspiel von Arbeitssubjekten bzw. -praktiken mit digitalen Artefakten, (2) auf der Mesoebene im Wechselspiel von Unternehmens- und Netzwerkstrukturen und digitalen Systemen, und (3) auf der Makroebene (arbeits-)gesellschaftlicher Institutionengefüge und digitaler Infrastrukturen.

Die in diesem Band versammelten Beiträge stellen Ergebnisse der Forschungsarbeiten des SPP aus der ersten Förderphase (2020–2023) vor. Diese Forschungen zielten zwar darauf ab, Einzelphänomene der Digitalisierung zu untersuchen und die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit dieser Arbeiten herzustellen. Sie orientierten sich aber bereits an der hier einleitend zunächst nur kurz vorgestellten Heuristik der Bewegungsdynamiken der Digitalisierung als einer systemischen Transformation der Arbeitswelten. Für die zweite, 2023 beginnende Förderphase soll ein übergreifendes gesellschaftsanalytisch-historisches Verständnis der Digitalisierung als systemische Transformation erarbeitet werden (Abb. 1).

Abb. 1
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Heuristiken und Perspektiven des SPP „Digitalisierung der Arbeitswelten“

2 Zur Ausgangsthese: Digitalisierung der Arbeitswelten als systemische Transformation

Unter dem Begriff der Digitalisierung wird seit einigen Jahren eine neue Qualität der informationstechnischen Durchdringung verschiedenster wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sphären diskutiert, deren Potenzial zusammengenommen als grundlegender Wandel von gesamtgesellschaftlichem Ausmaß gesehen wird. Besonders weitreichende Veränderungen werden im Bereich der Arbeitswelt erwartet. Die Rede von einer „vierten industriellen Revolution“ (Schwab 2016; Siepmann 2016) bringt dies ebenso zum Ausdruck wie die Diskussion über Arbeit 4.0 (BMAS 2016). Gerechnet wird mit einer neuen Qualität des Wandels, der mit bisherigen Formen der Informatisierung nicht mehr zu fassen sei. Dies wird vor allem auch mit der Vielzahl und Unterschiedlichkeit neuer digitaler Technologien begründet: von Big Data bis zu künstlicher Intelligenz (KI) und Machine Learning; von adaptiver oder kollaborativer Robotik bis zum 3D-Druck und schließlich mit umfassenden Formen der Vernetzung von realen und virtuellen Welten in cyber-physischen Systemen (dem Internet der Dinge) oder am/im Körper getragenen Wearable Devices.

Befürwortende Stimmen aus Industrie und Industriepolitik verbinden mit diesen technischen Optionen positive Prognosen für die Weiterentwicklung des Industriestandortes und treiben sie als Zukunftsprojekt „Industrie 4.0“ gezielt voran (Kagermann et al. 2013; agiplan et al. 2015). Von BMBF und BMWi initiierte und moderierte Plattformen zu den Themen „Industrie 4.0“ und „Lernende Systeme“ binden unterschiedlichste Akteure aus Wirtschaft und Wissenschaft sowie die Sozialpartner ein und sollen so den Prozess gesellschaftlich gestaltbar machen. Das BMAS hat parallel unter dem Titel „Arbeiten 4.0“ einen Diskurs über die sozial- und arbeitspolitischen Auswirkungen gestartet. Akademische Einordnungen diagnostizieren entweder eine neue Entwicklungsstufe des digitalen oder kybernetischen Kapitalismus (Betancourt 2015; Nachtwey und Staab 2015; Buckermann et al. 2017; Staab 2019; Pfeiffer 2022), neue Chancen einer digitalen sozialen Marktwirtschaft (z. B. Wambach und Müller 2018) oder eine vierte Medienepoche der Menschheitsgeschichte (Baecker 2018). Jenseits des Hypes um „Industrie 4.0“ sind sich Visionen und Mahnungen, Befürwortende und Kritisierende weitgehend einig, dass die gegenwärtige Stufe der informationstechnischen Durchdringung die Arbeitswelt grundlegend verändert wird, wie sich bereits heute vielfach erkennen lässt. Vor dem Hintergrund dieser technischen Entwicklungen und der sie begleitenden gesellschaftlichen Diskurse ist es das Ziel des SPP, die sich im Zuge der Digitalisierung abzeichnenden, grundlegenden Veränderungen der Arbeitswelt empirisch zu erfassen, historisch einzuordnen und gesellschaftswissenschaftlich zu analysieren.

Das SPP befasst sich mit der Frage, ob der soziotechnische Prozess der Digitalisierung den Charakter einer systemischen Transformation hat und was diese dann ausmacht. Mit dem Begriff der systemischen Transformation bezeichnen wir einen multidimensionalen Wandlungsprozess, der Arbeitsprozesse auf der betrieblichen Mikroebene, Wertschöpfungsketten und Branchenstrukturen auf der Mesoebene und das Institutionensystem des Arbeitsmarktes verändert. Darüber hinaus wirkt er sich auf andere, mit ihm verbundene gesellschaftliche Institutionen auf der Makroebene aus.

In den vielfältigen und stark differenzierten Arbeitswelten wird die Digitalisierung unterschiedlich aufgenommen, ausgehandelt und gestaltet – mit wiederum uneinheitlichen und wechselwirksamen Folgen. Deshalb ist ein differenzierter Zugriff auf das Forschungsfeld notwendig. Es geht nicht darum, „die“ Digitalisierung und ihre Folgen für „die“ Arbeitswelt aus verschiedenen disziplinären Sichtweisen additiv zu beleuchten. Ziel des Vorhabens ist vielmehr, den Prozess der Digitalisierung als systemische Transformation in seiner Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Ungleichzeitigkeit bzw. Pluritemporalität verstehbar zu machen. Nachfolgend wird daher der Forschungsstand nicht entlang disziplinärer Schneidungen, sondern zunächst entlang dreier inhaltlich-leitender Fragestellungen beleuchtet: Die digitale Transformation der Arbeitswelt wird als ein Prozess soziotechnischen Wandels begriffen, der (1) durch eine neue Stufe informationstechnischer Durchdringung technisch ermöglicht wird, der (2) durch Auseinandersetzungen mit früheren Stufen der Informatisierung und Automatisierung von Arbeit sozial vorbereitet worden ist und der (3) gegenwärtig von Akteuren aus Industrieverbänden und Wirtschaftsunternehmen, Gewerkschaften, Wirtschafts-, Forschungs- und Arbeitspolitik, Wissenschaft und gesellschaftlicher Öffentlichkeit diskursiv ausgehandelt und regulativ, betrieblich, institutionell und letztlich gesellschaftlich bewältigt und damit konkret gestaltet werden muss.

2.1 Technisch ermöglicht: Neue Qualität der Digitalisierung

In der aktuellen gesellschaftlichen Debatte werden die Begriffe „Digitalisierung“ und „Industrie 4.0“ zwar häufig als rhetorische Begriffe verwendet, um für technische Zukunftsversprechen zu werben und forschungs- und industriepolitische Agenden voranzutreiben. Nichtsdestotrotz gibt es, darin ist Hirsch-Kreinsen und ten Hompel (2017, S. 358) zuzustimmen, „durchaus überzeugende Argumente dafür, dass gegenwärtig ein technologischer Entwicklungsschub Platz greift, dessen strukturelle Konsequenzen bislang kaum absehbar sind“. Die Geschichtswissenschaft diskutiert seit Längerem die Periodisierung technologischer Entwicklungen (von der Informatisierung über die „Computerisierung“ bis zur Digitalisierung). Erste Arbeiten ordnen technologische Verschiebungen in den Arbeitswelten zeitlich ein und diskutieren die Frage der „Neuheit“ (vgl. Danyel 2012; Hachtmann 2015). Aus der technischen Perspektive ist das Neue der Digitalisierung der Arbeitswelten durch zwei zentrale Merkmale gekennzeichnet: erstens durch eine umfassende und durchgängige digitale „Vernetzung aller menschlichen und maschinellen Akteure über die komplette Wertschöpfungskette“ und zweitens durch „die Digitalisierung und Echtzeitauswertung aller hierfür relevanten Informationen“ (Roth 2016, S. 4), also durch die cyber-physische Integration der Arbeits- und Produktionsprozesse in Raum und Zeit mit den auf sie bezogenen digitalen Datenbeständen. Siepmann (2016) sieht in diesem Zusammenhang fünf wesentliche Neuerungen in der industriellen Produktion: (1) vertikale und horizontale Integration aller unternehmensinternen Systeme, (2) dezentrale Intelligenz, (3) dezentrale Steuerung, (4) durchgängiges digitales Engineering und (5) cyber-physische Produktionssysteme (vgl. auch Bauernhansl et al. 2014). Aber nicht nur die industrielle Produktion ist betroffen: Lernende Systeme halten Einzug in die medizinische Diagnostik und in das Finanz- und Versicherungswesen (Contractor und Telang 2017; Skilton und Hovsepian 2018); Crowdworking und Crowdsourcing-Plattformen verändern Innovationsprozesse (Leimeister und Zogaj 2013; Nagle 2018; Petriglier et al. 2018); neue Robotik soll den industriellen Käfig verlassen, aber auch im Pflege- und Dienstleistungsbereich eingesetzt werden (Compagna et al. 2011; Decker et al. 2017; Pfannstiel et al. 2017) und ganze Gebäude und Städte sollen „smart“ werden (Meier und Portmann 2016; Morandi et al. 2016). Quer zu gewachsenen Branchen-, Berufs- und Qualifikationsschneidungen scheint keine unserer vielfältigen Arbeitswelten von den neuen Technologien unberührt zu bleiben. Besonders markant zeigt sich die neue Qualität der durchgängigen digitalen Vernetzung im Bereich der sogenannten Plattform- oder Gig-Ökonomie. Diese „Uberization“ (Davis 2015) wird möglich durch das radikale Senken der Transaktionskosten, wodurch nicht nur völlig neue Geschäftsmodelle (Langley und Leyshon 2017), sondern auch neue und prekäre Formen der Solo-Selbstständigkeit entstehen (Kenney und Zysman 2016; Huws 2017).

2.2 Sozial vorbereitet: Gesellschaftliche Voraussetzungen

Jede neue technische Möglichkeit, die als Innovation gesellschaftlich wirksam wird, wird nur als soziotechnische Innovation wirksam (Hirsch-Kreinsen 2014) und trifft unweigerlich auf Pfadabhängigkeiten (Hirsch-Kreinsen 2018). Selbst radikale Veränderungen basieren auf graduellen Transformationsprozessen (Dolata 2011). Die historische Forschung belegt dies unter anderem am Beispiel der Industrialisierung und der Frage der „Revolution“ (vgl. Hahn 2005). Das bedeutet für das SPP, dass nicht nur die technischen, sondern ebenso die sozialen Ermöglichungsbedingungen der digitalen Transformation in den Blick zu nehmen sind, die ohnehin nur analytisch trennbar sind. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive können Veränderungen auf der betrieblichen Mikroebene und auf der Makroebene der Arbeitsmarktregulierung als Voraussetzungen der heutigen Digitalisierung aufgefasst werden. So hat die sozialwissenschaftliche Forschung zu Lean-Production-Konzepten in den 1990er und 2000er Jahren die systematische Standardisierung von Arbeitsprozessen beschrieben (Springer 1999). Weiter zurückreichende Vorläufer der Standardisierung (Danyel 2012) schufen die Grundlage für die heutige Implementierung digitaler Technologien und die damit verbundene Objektivierung von Wissen und Etablierung neuer Kontrollformen. Diese Mechanismen verdichten sich aktuell zum Phänomen eines „digitalen Fließbands im Büro“ (Boes et al. 2018). Die Deregulierung der Arbeitsmärkte und Förderung atypischer Beschäftigungsverhältnisse (Emmenegger et al. 2012) haben bereits vor der Plattformökonomie zu einer Segmentierung in Kern- und Randbelegschaften geführt (Castel und Dörre 2009). Das zeitlich und örtlich entgrenzte Arbeiten ist längst so weit verbreitet, dass Auswirkungen der damit verbundenen neuen Formen von Belastung ebenso erforscht werden wie neue Chancen für die Vereinbarkeit (Heiden und Jürgens 2013; Carstensen 2015; Messenger et al. 2017). Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive schuf das in den 1990er Jahren entwickelte Konzept des „Business Process Reengineering“ (Johansson et al. 1994) eine wichtige Voraussetzung für die heutigen Prozesse der Digitalisierung. Daten- und kennzahlenbasierte Prozessoptimierung und Konzentration auf Kernkompetenzen zählten zu dessen Kernelementen. Mit dem Outsourcing vieler Aufgaben und Offshoring (Boes und Kämpf 2011) entwickelten sich netzwerkförmige Strukturen (Sydow und Auschra 2022) sowie Formen digital und global verteilter Arbeit und damit Vorläufer von Crowdwork und Plattformökonomie.

2.3 Diskursiv ausgehandelt, gesellschaftlich bewältigt: Gesellschaftliche Bearbeitung

Gesellschaftliche Diskurse, die technische Neuerungen als vielversprechende Technologien thematisieren und Zukunftsbilder ausmalen, wie der Einsatz dieser Technologien die gesellschaftliche Wirklichkeit verändern (verbessern, verschlechtern) wird, tragen zur Entstehung (oder Verhinderung) dieser vorgestellten zukünftigen Wirklichkeiten bei. Denn diese möglichen soziotechnischen Zukünfte aktivieren innovationsrelevante Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und gesellschaftlicher Öffentlichkeit als Unterstützer und Förderer oder als Kritiker und Opponenten. Diese Mobilisierung mündet dann gegebenenfalls in ein Agenda Setting, mit dessen Hilfe immer konkretere Schritte ausgearbeitet und vereinbart werden, die eine zunächst nur vorgestellte soziotechnische Zukunft herbeiführen sollen (Lente und Rip 1998; vgl. Borup et al. 2006). „Industrie 4.0“ ist ein in diesem Sinne hochgradig realitätswirksames Technologieversprechen (Hirsch-Kreinsen 2016). Die zahlreichen dazu geführten Diskurse (Matuschek 2016; Pfeiffer 2017) sind weder ein reines „Visioneering“ (McCray 2012), initiiert von akademischen Technikentwicklern zur Fördermittelakquise, noch echte partizipative Technikgestaltungsprozesse, wie sie etwa in der Technikfolgenabschätzung vorgesehen sind (Simonis 2013; Lüder 2014). Die aktuell zu beobachtenden Diskurse sind selbst ein Phänomen der gesellschaftlichen Bearbeitung der Digitalisierung und der Aushandlung unterschiedlicher Interessen. Sie verlassen mit den beteiligten Akteuren die politischen Arenen der institutionalisierten Plattformen und dringen vor in gewerkschaftliche Gremien, bilden sich ab in verbandspolitischen Strategien und müssen schließlich auf betrieblicher Ebene sehr konkret in Technik- und Arbeitsgestaltungsprozessen umgesetzt werden. Echte Beteiligungsprozesse der betroffenen Beschäftigten (Luo 2017; Totterdill 2017) sind dabei noch ebenso selten, wie neue Formen einer Mitbestimmung 4.0 (Haipeter 2018).

Zur gesellschaftlichen Bearbeitung der aktuellen Digitalisierung werden zunehmend auch zeithistorische Studien relevant. Das gilt insbesondere für eine auf die Arbeitswelt gerichtete Geschichtsschreibung, die von Problemlagen der Gegenwart ausgeht (Doering-Manteuffel et al. 2008; Andresen et al. 2011; Süß und Süß 2011). So sind betriebliche Erfahrungen mit früheren Automatisierungsansätzen wie etwa am Beispiel der „Halle 54“ (Heßler 2014) aufschlussreich für das Verständnis, warum heute im Zukunftsbild von Industrie 4.0 betont der „Mensch im Mittelpunkt“ steht. Aus historischer Perspektive sind auch Erfahrungen der Gewerkschaften mit früheren Automatisierungsschüben zentral, um deren Strategien im Umgang mit der aktuellen digitalen Transformation der Arbeitswelt einzuordnen (Hindrichs et al. 2000; Platz 2010; Andresen 2014; Uhl 2014).

3 Empirische Analysedimensionen der Digitalisierung der Arbeitswelten

Mit der Annahme der systemischen Qualität der Transformation stellen sich angesichts dieser Herausforderungen neue Fragen an die Erfassung und Erfassbarkeit des Wandels von Arbeit – quer zu den etablierten Disziplingrenzen und jenseits der bekannten empirischen Methoden, Forschungsparadigmen und Verfahren der Datengewinnung und -interpretation. Umfassende empirische Untersuchungen des Digitalisierungsprozesses sind selten. In der sozial-, wirtschafts- und geschichtswissenschaftlichen Forschung stehen zwar zahlreiche bewährte Ansätze zur Untersuchung einzelner Phänomene bereit, aber deren Anwendbarkeit und Reichweite werden angesichts des transformativen Charakters und der Strahlkraft der aktuellen Entwicklungen angezweifelt. Ein zentrales Ziel der hier versammelten Forschungen aus der ersten Förderphase des SPP war daher, das theoretische und methodische Repertoire der mit Arbeit und Technik befassten Teildisziplinen systematisch weiterzuentwickeln. Insbesondere sollten inter- und transdisziplinäre Perspektiven im Hinblick auf die Digitalisierung der Arbeitswelt entwickelt werden. Damit verbunden war eine systematische Überprüfung der Tragfähigkeit und Reichweite vorhandener Analysekonzepte und Theorien für den Untersuchungsgegenstand. Diese gilt es gegebenenfalls zu modifizieren bzw. zu erweitern und miteinander zu verknüpfen. Nach wie vor besteht vor allem Bedarf an Grundlagenforschung, die das Verhältnis von Arbeit und Technik systematisch fasst und den Eigensinn der Technik ernst nimmt, ohne technikdeterministisch zu operieren, sowie die transformative Dynamik nicht in ein Vorher und Nachher spaltet und diese stattdessen multitemporal konzipiert. Zudem darf Technik nicht auf einzelne Artefakte reduziert, sondern sollte als ein Ensemble von Artefakten, Infrastrukturen, Praktiken und Regelsystemen aufgefasst werden. Auf diese Weise kann die Analyse von Arbeitsprozessen auf betrieblicher Ebene mit übergeordneten Fragen und Analyseebenen verbunden werden.

Das Schwerpunktprogramm will mittels Grundlagenforschung die Theorie-, Methoden- und Konzeptentwicklung zum Prozess der Digitalisierung der Arbeitswelt vorantreiben. Dies umfasst eine Untersuchung des Digitalisierungsprozesses auf allen relevanten Analyseebenen von der gesellschaftlichen Regulierung über Branchen und Industrien, Wertschöpfungsketten, Einzelbetriebe und Arbeitsprozesse bis hinunter zur Ebene des Arbeitsplatzes und des arbeitenden Individuums. Insbesondere gilt es, auf empirischer Grundlage auch die wechselseitige Verschränktheit verschiedener Analyseebenen zu berücksichtigen, um so den systemischen Charakter des sich vollziehenden Transformationsprozesses angemessen in den Blick zu bekommen und konzeptionell fassen zu können. Anhand der empirischen Einzelprojekte und ihrer in diesem Band versammelten ersten Ergebnisse soll der Prozess der Genese, der Implementation und des Einsatzes digitaler Technik im Arbeitsprozess sowie deren Einbettung in die Organisation (einschließlich der durch sie bedingten Veränderung bzw. Auflösung von Betriebsgrenzen und Virtualisierung von Arbeitsprozessen) in seiner Wechselwirkung mit ökonomischen, politischen, kulturellen und institutionellen Rahmenbedingungen systematisierend analysiert und theoretisiert werden. Das schließt explizit auch historische und gesellschaftstheoretische Sichtweisen ein.

Entfaltet wird damit eine Perspektive, die vermittelt über die Weiterentwicklung und Verbindung unterschiedlicher disziplinärer Ansätze, Theorien und Methoden der Arbeits(markt)-, Technik-, Wirtschafts-, Geschichts- und Organisationsforschung der Erfassung und der Erfassbarkeit der Digitalisierung von Arbeit als systemischem Transformationsprozess dient. Dies beinhaltet auch, Kontinuitäten und Brüche in ihrer Entwicklung zu berücksichtigen und insbesondere die wechselseitige Verschränktheit der nachfolgend skizzierten Analyseebenen zu durchdringen.

Für die Erforschung der Digitalisierung der Arbeitswelt in ihrer Qualität als systemische Transformation werden die drei vorgestellten Dimensionen (soziale Vorbereitung, technische Ermöglichung, soziale Aushandlung und Gestaltung) zu orientierenden Leitfragen. Dabei geht es vor allem um die Verbindungen zwischen diesen drei Dimensionen, wobei jeweils auch die historischen Linien und Temporalitäten sowie Kontinuitäten und Brüche betrachtet werden. Mit diesen drei Leitfragen zielt das SPP insgesamt auf eine grundlagenorientierte gesellschaftswissenschaftliche Analyse der digitalen Transformation der Arbeitswelten, durch die grundlegende Prozessdynamiken und Strukturbildungsprozesse des interessierenden soziotechnischen Wandels identifiziert, ihre Entstehungsbedingungen rekonstruiert und ihre Wirkungsweisen erklärt werden sollen. Der bisherige gesellschaftswissenschaftliche Forschungsstand zu den aktuellen Digitalisierungsprozessen lässt sich am präzisesten entlang von den drei Analyseebenen beschreiben, die auch eine zentrale empirische Heuristik des Forschungsprogramms bilden werden. Diese sind erstens die Digitalisierung der Arbeitssubjekte und -praktiken, zweitens die Digitalisierung von Unternehmen und Wertschöpfungsketten und drittens die Digitalisierung von (arbeits-)gesellschaftlichen Institutionengefügen. In den Blick genommen werden damit die Mikro-, Meso- und Makroebene der transformativen Wirkungen und Voraussetzungen der Digitalisierung.

3.1 Digitalisierung von Arbeitssubjekten und Arbeitspraktiken

Im Diskurs über zukünftige gesellschaftliche Folgen der digitalen Transformation der Arbeitswelt haben solche Diagnosen besondere öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, die drastische Auswirkungen auf Arbeit und Beschäftigung prognostizieren. Dies sind vor allem Prognosen zu quantitativen Beschäftigungseffekten der Digitalisierung. Beträchtlichen Widerhall hat eine zuerst 2013 publizierte Studie von Frey und Osborne gefunden, in der die Wahrscheinlichkeit abgeschätzt wird, mit der Berufstätigkeiten zukünftig der Computerisierung und Automatisierung zum Opfer fallen. Auf Grundlage einer Einzelbetrachtung von 702 unterschiedlichen Berufen kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass für 47 % aller Arbeitsplätze in den USA ein hohes Risiko bestehe, in den nächsten 10 bis 20 Jahren automatisiert zu werden (Frey und Osborne 2017). Andere Studien mit vergleichbaren methodischen Ansätzen sagen für Deutschland zwar weniger dramatische Zahlen voraus (Bonin 2015; Dengler und Matthes 2015), zeichnen aber für einzelne Tätigkeiten ebenfalls hohe Substituierungspotenziale. Diese auf Makrodaten und Zukunftsprognosen orientierte Forschung erfasst allerdings kaum die Komplexität des Zusammenspiels neuer Technologien auf der Mikroebene konkreten Arbeitshandelns im betrieblichen Kontext (Pfeiffer und Suphan 2020).

Insbesondere in der arbeitssoziologischen Diskussion wird daher Kritik an diesen Diagnosen formuliert. Diese Forschungstradition betont die zentrale Rolle betrieblicher Strategien und arbeitspolitischer Leitbilder im Hinblick auf die Folgen der Implementierung von Technik und verneint einen deterministischen Zusammenhang zwischen Technik, Qualifikationen und Beschäftigung (vgl. Pfeiffer 2018). Bereits seit den 1970er Jahren zeigten Studien (Kern und Schumann 1970), dass die Automatisierung je nach betrieblicher Strategie und Tätigkeitsbereich sowohl Re- als auch Dequalifizierungspotenziale aufwies. Die bereits in den 1960er und 1970er Jahren kursierenden Prognosen einer technikbedingten Massenarbeitslosigkeit (vgl. Woirol 1996) erfüllten sich nicht. Der Bruch mit technikdeterministischen Perspektiven wurde vollends Ende der 1980er Jahre vollzogen, als die Diskussion über neue Produktionskonzepte und Lean Production einsetzte. Dabei zeigten sich ländervergleichend unterschiedliche Organisations- und Technikstrategien. Deutlich wurde, dass Automatisierung kein Königsweg zu höherer Produktivität und Qualität war, sondern dass organisationsbezogene Faktoren wesentlich die Leistungsfähigkeit der Unternehmen beeinflussten (Sauer 1991; Adler 1992; Jürgens et al. 1993).

Diese Diskussionen prägen die Arbeitssoziologie bis heute. In den ersten Analysen zur Digitalisierung von Arbeitsprozessen (Hirsch-Kreinsen et al. 2018; Huchler und Pfeiffer 2018) wird die Bedeutung betrieblicher Akteurskonstellationen und Strategien betont (Kuhlmann und Schumann 2015). So analysiert etwa Haipeter (2018), wie sich das Handeln von Management und Betriebsräten und die Besonderheiten des jeweiligen Produktionsprozesses auf den Einsatz der Technologien und deren Folgen für Arbeit auswirken. Ein Befund dieser Forschung ist das strukturkonservative Verhalten der Betriebe und der graduelle Charakter der Veränderungen, der bislang die Arbeitsorganisation und Qualifikationsstrukturen kaum verändere (Butollo et al. 2018; Hirsch-Kreinsen 2018).

Dieser Argumentation widerspricht allerdings der Ansatz der Informatisierung (Pfeiffer 2004; Baukrowitz et al. 2006; Schmiede 2015; Boes et al. 2016), der ab Mitte der 1990er Jahre die Prozesse der Einführung von Computern und Internet in Betrieben analysiert. Informatisierung wird hier als ein langer historischer Prozess der Standardisierung und Objektivierung von Wissen aufgefasst. Daraus resultieren Prognosen einer zunehmenden digitalen Kontrolle von Arbeit und der Entwicklung eines „digitalen Fließbands im Büro“ (Boes et al. 2018). Aktuelle Studien in der Tradition der Labour Process Theory verwenden ähnliche Begründungen, wenn sie die Rolle von Kontrollinteressen des Managements bei der Gestaltung digitaler Technologien im Betrieb hervorheben (vgl. Levy 2015; Moore 2018).

Geschichtswissenschaftliche Studien gelangten zu vergleichbaren Schlussfolgerungen wie die arbeitssoziologische Forschung. Einige Studien untersuchten die subjektiven Erfahrungen, Wahrnehmungen und Reaktionen von Beschäftigten in Prozessen beschleunigten technologischen Wandels (Schemmer 2018). Andere analysierten die Haltungen, Reaktionen und Strategien von Gewerkschaften (Hindrichs et al. 2000; Andresen 2014) und konzentrierten sich auf die Möglichkeiten der Gestaltung des technologischen Wandels (Automatisierung/Digitalisierung) durch gewerkschaftliche Akteure (Platz 2010; Uhl 2014). Technologiepolitische Akteure, Unternehmen oder IT-Fachkräfte gerieten allerdings bislang kaum in den Blick der geschichtswissenschaftlichen Forschung.

Als relevant für ein Verständnis des aktuellen Transformationsprozesses erweisen sich zudem Arbeiten aus dem Kontext der Computergeschichte, insbesondere wo sie die Einführung des Computers in der Logistik, in Verwaltungen und Banken ab den 1950er Jahren untersuchen (Klenke 2008; vgl. auch Hürlimann et al. 2009). Sie zeigen den damit verbundenen Wandel der Organisationen, der Arbeitsprozesse und Praktiken sowie die Probleme der Anfangsphase und den Widerstand von Arbeitnehmer*innen auf. Sie machen deutlich, dass die Einführung des Computers oft mit dem Bestreben nach Verfügbarmachung, Kontrolle von Daten und der Durchdringung von Prozessen einherging, um Wachstum zu bewältigen, Kosten zu sparen und Prozesse effizienter zu steuern.

Eine wichtige Anregung und Herausforderung für die arbeitssoziologische und geschichtswissenschaftliche Diskussion kommt aus der Techniksoziologie. Das Konzept der „sociomateriality“ (Orlikowski und Scott 2008; Leonardi et al. 2012) etwa betont, dass Technik gegenüber dem menschlichen Handeln weder neutral und noch beliebig prägbar ist. Die digitalen Technologien repräsentieren demnach eine Regulierungsform funktionaler Vereinfachung, Standardisierung, Objektivierung und Automatisierung. In der Akteur-Netzwerk-Theorie ist die Handlungsträgerschaft von Technik das zentrale Motiv (Latour 2005). In der deutschen Diskussion haben Schulz-Schaeffer und Rammert (2002) erklärt, dass Arbeitsprozesse als Systeme „verteilten Handelns“ zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren aufgefasst werden müssen. Diese techniksoziologischen Argumente weisen auf eine mögliche Verselbstständigung der Technik hin und sind somit zentral für die Analyse der Digitalisierung als systemischer Transformation. Arbeitsbezogene Dimensionen spielen in der techniksoziologischen Forschung jedoch meist keine Rolle.

Auf der Mikroebene werden Transformationsprozesse im Wechselspiel von Arbeitssubjekten und Arbeitspraktiken mit digitalen Artefakten untersucht. Arbeitssubjekte stehen dabei in unterschiedlichen Positionen und Rollen im Mittelpunkt, etwa als Technologieentwickelnde, als Industrie- und Dienstleistungsarbeitende, die neue Technologien anwenden, oder als solche, die sich jenseits gängiger Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse befinden (Solo-Selbstständige in der Crowd- und Plattform-Ökonomie). Erforscht wird, wie die Arbeitssubjekte mit digitalen Technologien umgehen (auch im Unterschied zum Umgang mit vordigitalen Technologien) und sich diese aneignen, aber auch, wie sich mit den Prozessen einer steigenden Durchdringung, Verfügbarmachung und der Verselbstständigung Handlungskorridore für die Arbeitssubjekte neu konturieren. Aufseiten der digitalen Artefakte sind zahlreiche technologische Entwicklungen – wie Algorithmen, vernetzte Systeme, Roboter, Wearable Devices wie Datenbrillen oder „smarte“ Textilien – relevant, die sich unterschiedlich auf die Arbeitspraxis und das Arbeitsvermögen der Subjekte auswirken.

3.2 Digitalisierung von Unternehmen und Wertschöpfungsketten

Eine weitere Gruppe von Studien zur digitalen Transformation befasst sich mit den Konsequenzen der Digitalisierung für Wertschöpfungsketten und Unternehmen, denn mit zunehmender digitaler Vernetzung und cyber-physischer Integration von Wertschöpfungsketten können sich auch Unternehmungen virtuell organisieren. Der sozialwissenschaftliche Diskurs dreht sich vor allem darum, dass an die Stelle betrieblicher Beschäftigungsverhältnisse freiberufliche Tätigkeiten treten, die je nach Bedarf über das Internet vermittelt und abgewickelt werden. Als Vorläufer dieser Entwicklung gelten Crowdwork- und Gigwork-Plattformen (Benner 2015; Schmidt 2017) und die mit ihnen verknüpfte Tendenz zur „Uberization“ (Davis 2015). Da sich ein beträchtlicher Teil der arbeitsrechtlichen, sozialpolitischen und sozialpartnerschaftlich festgelegten Regulierungen der Arbeit auf betrieblich organisierte Arbeit bezieht, wird befürchtet, dass eine mit der digitalen Transformation einhergehende Entbetrieblichung von Arbeit zu einer umfassenden Deregulierung von Arbeitsverhältnissen führt. Hinzu kommt, dass zentrale Akteure der Plattformökonomie neue Marktordnungen durchsetzen (vgl. Kirchner und Beyer 2016). Wenige große Internetkonzerne kontrollieren diese neuen Märkte (vgl. Dolata 2015) und definieren die neuen Marktordnungen. Gleichzeitig werden die korrespondierenden alten Märkte und ihre institutionellen Strukturen geschwächt. Zusammen mit der Entbetrieblichung von Arbeit entsteht so die Gefahr, dass die Position von Beschäftigten ausgehöhlt wird.

Allerdings erlaubt der Forschungsstand hier noch keine sicheren Aussagen. Auf der einen Seite belegen erste empirische Studien, dass die Beschäftigung im Bereich der Plattformökonomie zumindest in den europäischen Ökonomien immer noch relativ niedrig ist (Leimeister und Zogaj 2013); zudem zeigen sich Grenzen der Entbetrieblichung (Krzywdzinski 2018). Auf der anderen Seite berichten Ford und Honan (2017), wie eine indonesische Plattform zur Vermittlung von Motorradtaxis die Regulierung in einem bislang nicht regulierten informellen Sektor ermöglicht.

In wirtschaftswissenschaftlichen Forschungen zu Unternehmen und Wertschöpfungsketten wird die digitale Transformation als grundlegender, teils krisenhafter Wandlungsprozess zweiter Ordnung verstanden, der sich aus vielen kleinen, graduellen Schritten des Wandels erster Ordnung speist (Huy und Mintzberg 2003; Burke 2017). Dabei wird der Top-down-Charakter der Transformation betont und von einem systematischen statt von einem organischen Wandel gesprochen (Müller-Stewens und Lechner 2011). Dieser habe das Potenzial, bisher geltende Prinzipien des Managements und der Unternehmensorganisation infrage zu stellen (Choudary 2015). Demnach verändert sich die Rolle des Managements dahingehend, dass eine Verschiebung von der Ressourcenkontrolle zur Ressourcenorchestrierung im Netzwerk, von der internen Prozess- zur externen Interaktionsoptimierung und vom „customer value“ zum „ecosystem value“ stattfindet. Für die Struktur bestehender Industrien und Wertschöpfungsketten impliziert die Plattformökonomie damit tiefgreifende Umbrüche, die traditionelle Leitbranchen entmachten könnten. Dadurch werden nicht nur Geschäftsmodelle grundlegend umgebaut, sondern auch Regularien zur Verteilung und Gestaltung von Finanzflüssen (Kenney und Zysman 2016).

Auf der Ebene der Produktion und Logistik werden Prozesse der Individualisierung von Produkten und der Autonomisierung von Wertschöpfungsketten diskutiert (Hompel und Henke 2017). Die Individualisierung von Produkten gilt als einer der zentralen Wettbewerbsfaktoren der heutigen Zeit (Spath 2013), die durch Produktionsflexibilisierung und Logistikautonomisierung realisiert werden soll. Dies bedeutet eine Loslösung der Logistik von physischer Lokalität, eine Vernetzung aller Komponenten, Produktionsorte und Finanzflüsse sowie die Nutzung autonomer Transportsysteme. Logistikketten sollen sich nach Bedarf und auf Basis von Mikrotransaktionen autonom regulieren. Diese „Social Networked Industry“ (Hompel und Henke 2017) erfordere gänzlich neue Managementkompetenzen und -konzepte sowie ökonomische Prinzipien, worüber in den Wirtschaftswissenschaften jedoch kontrovers diskutiert wird (Schuh 2014; Henke et al. 2017; Rüegg-Stürm und Grand 2017).

Studien auf der Mesoebene befassen sich mit den Transformationsprozessen im Wechselspiel von Unternehmens- und Netzwerkstrukturen und digitalen Systemen. Hierbei wird untersucht, wie Arbeits- und Produktionsprozesse, Geschäftsmodelle und Wertschöpfungskette durch digitale Technologie und deren Management neu und umstrukturiert werden (z. B. Plattformarchitekturen, vernetzte und cyber-physische Systeme, Blockchain/Distributed Ledger). Betrachtet werden auch die organisierten Akteure und Akteursgruppen, die diese Entwicklungen vorantreiben. Analysiert werden Aushandlungsprozesse um die Gestaltung der Digitalisierung innerhalb und außerhalb von Unternehmen sowie historische Prozesse beispielsweise zur Service-Automatisierung oder zu CIM. Ebenso zentral sind Fragen der Genese von Technologien, wo sie entstehen (Labore, Experimentierräume oder Lernfabriken) und welchen industriepolitischen Strategien sie dienen (ob nun Venture Capital getriebener Unternehmen im Silicon Valley oder etwa traditioneller Industrieunternehmen in Deutschland).

3.3 Digitalisierung und (arbeits-)gesellschaftliches Institutionengefüge

Der Zusammenhang zwischen Digitalisierung und einem grundlegenden Wandel gesellschaftlicher Institutionen und Regulierungssysteme wird mittlerweile breit diskutiert. Verschiedene geschichtswissenschaftliche Studien haben die formierende Wirkung solcher Diskurse und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse auf Einsatzformen von Technologien hervorgehoben (Uhl 2014; Heßler 2014, 2015a, 2015b; Schwarz 2015). Die Dynamik des heutigen Digitalisierungsdiskurses ist bereits Gegenstand wissenschaftlicher Analysen (Matuschek 2016; Reischauer 2018; Wilkesmann und Wilkesmann 2018). So verdeutlicht Pfeiffer (2017), dass dieser Diskurs nicht einfach auf technologische Innovationen reagiert, sondern von transnationalen Akteuren und nationalen Interessenverbänden gestiftet und befördert wird. Dabei werden technologie- und industriepolitische Konzepte mit einer Deregulierung des Arbeitsmarktes verknüpft.

Aktuell zeigt sich auch für Deutschland (etwa Hanau et al. 2018), dass insbesondere die Plattformökonomie existierende arbeitsrechtliche und sozialpolitische Regulierungsformen unterminiert, indem sie einen Beschäftigungsbereich schafft, für den das Arbeitsrecht und Rechte wie Koalitionsfreiheit und Mitbestimmung nicht gelten und der nicht in die Sozialversicherungssysteme integriert ist. Nachtwey und Staab (2015) führen verschiedene dieser Entwicklungen zur Diagnose des digitalen Kapitalismus zusammen (vgl. auch Staab 2016), der sich ausdrücke durch die Marktmacht von Internetkonzernen, durch die Entstehung neuer Kontrollformen im Arbeitsprozess (digitaler Taylorismus), durch eine mit der Entbetrieblichung von Arbeit verbundene Deregulierung und schließlich durch Arbeit on demand als neuem Arbeitskrafttyp.

Solche Diagnosen zur digitalen Transformation der Arbeitswelt können sich bisher kaum auf belastbare empirische Befunde stützen. Die quantitativen Beschäftigungseffekte der digitalen Transformation sind offen und umstritten, genauso wie die Größe und Wachstumsdynamik der Plattformökonomie. Ebenso wenig ist gesagt, dass plattformvermittelte Arbeit notwendig zu einer Deregulierung von Arbeit führt. Darüber hinaus müssen sich alle Einschätzungen, die den disruptiven Wandel betonen, fragen lassen, ob sie nicht die Beharrungskräfte bestehender institutioneller Strukturen und historisch gewachsener Pfadabhängigkeiten unterschätzen (Hirsch-Kreinsen 2018). Insgesamt scheinen die in den Gesellschaftsdiagnosen zur digitalen Transformation der Arbeitswelt versammelten Aussagen eher dazu geeignet zu sein, den Forschungsbedarf zu benennen, als bereits befriedigende Antworten zu liefern.

Die Perspektive der Makroebene schließlich nimmt Transformationsprozesse im Wechselspiel von (arbeits-)gesellschaftlichem Institutionengefüge und digitalen Infrastrukturen in den Blick und konzentriert sich auf neue globale Netzwerk- und Raumformierungen. Dabei gilt es, die (technischen, diskursiven und sozialen) Treiber der Digitalisierung auf gesellschaftlicher Ebene zu identifizieren und die institutionellen Rahmenbedingungen für den Digitalisierungsprozess sowie deren fortlaufende Modifikation zusammen mit dem Wandel der technologischen Basis gesellschaftlicher (Re-)Produktion zu erfassen. Im Mittelpunkt stehen die Dynamiken der (De-/Re-)Institutionalisierung von Erwerbsgefügen und Arbeitsmarkt, die damit verbundene Transformation sozialer und (post-)industrieller Strukturen und die Herausbildung neuer sozialer Ungleichheiten oder disparater Teilhabechancen. Wichtig ist auf dieser Analyseebene der internationale Vergleich unterschiedlicher Produktions- und Wohlfahrtsmodelle sowie neuer Konfigurationen transnationaler Macht- und Herrschaftsgefüge.

3.4 Zeitliche Dynamiken – historische Einordnungen

Auf diesen drei Analyseebenen werden zudem Temporalitäten und gesellschaftliche Verlaufsdynamiken ernst genommen, Verhältnisse von Kontinuität und Bruch untersucht sowie frühere Technikdiskurse und Governance-Formen aktuellen Transformationsprozessen digitaler Arbeitswelten gegenübergestellt.

Während gegenwärtige Diskurse das Disruptive der digitalen Transformation betonen (vgl. Abschn. 2), verweisen historische Forschungen auf lange zurückreichende Vorläufer, auf die zeitliche Vielschichtigkeit und die Parallelität kontinuierlicher und diskontinuierlicher Entwicklungen sowie auf die gesellschaftliche Bedeutung von Zukunftsdiskursen. Die historische Einordnung vermeintlich neuer Phänomene der digitalen Transformation und ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung nimmt das SPP auf allen drei analytischen Ebenen systematisch in den Blick.

Wenn die These zutrifft, dass der aktuelle soziotechnische Wandel der Arbeitswelt die Qualität einer systemischen Transformation besitzt, dann heißt dies auch, dass es ein Wandel ist, der alle drei Ebenen (Mikro, Meso, Makro) zugleich (aber mit unterschiedlichen Temporalitäten) betrifft und bei isolierter Betrachtung einer dieser Ebenen nur unzulänglich erfasst werden kann. Allerdings gelangen Forschungen, die alle Aspekte des Wandels mit einem Blick zu erschließen suchen, bestenfalls zu empirisch plausibilisierten gesellschaftsdiagnostischen Aussagen, nicht aber zu empirisch fundierten Analysen des Wandels.

4 Theoretisch-konzeptionelle Heuristik der Bewegungsdynamiken – Beiträge in diesem Band

Der Forschungsverbund geht von der These aus, dass die digitale Transformation der Arbeitswelten übergreifend durch drei allgemeine Bewegungsdynamiken charakterisiert ist: Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung, die sich in unterschiedlicher Ausprägung auf den Analyseebenen finden lassen. Mit diesem analytischen Dreiklang soll einerseits die Multi-Dimensionalität des als systemisch angenommenen Transformationsprozesses berücksichtigt, andererseits die Analyse des aktuellen soziotechnischen Wandels in seiner historisch-sozialen Vorbereitung und Einordnung ermöglicht werden. Zudem bietet diese nachfolgend skizzierte Heuristik konzeptionelle Anschlussstellen für die beteiligten Disziplinen der Sozialwissenschaften, Geschichtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaften.

4.1 Neue Qualität der Durchdringung

Wir beobachten erstens eine neue Qualität informationstechnischer Durchdringung der sozialen Wirklichkeit. Sie bietet neue Formen und Intensitäten des Zugriffs auf soziale Prozesse, Menschen und ihre Handlungen und ist so allgegenwärtig, dass sie die Teilhabe jenseits des Digitalen zunehmend verhindert und soziale Zuschreibungen sowie Öffnungen und Schließungen digital zu präformieren droht. In der Arbeitswelt geht mit der informationstechnischen Durchdringung eine steigende Transparenz von Geschäfts- und Arbeitsprozessen einher. Diese zeigt sich auf verschiedenen Ebenen:

  • Auf Basis digitaler Infrastrukturen wird die Beherrschung von Daten und ihrer Analyse zu einem zentralen Element von (datenbasierten) Geschäftsmodellen und tritt an, Erfahrungswissen, Gewährleistungstätigkeiten und Expertenberufe ersetzen zu wollen.

  • Die gesamte Wertschöpfungskette wird digital durchdrungen und vernetzt dabei Kunden, Unternehmen, Lieferanten und Dienstleister in Echtzeit. Vom Kundenauftrag ausgehend werden dabei alle Schritte und damit auch alle Arbeitsprozesse systemisch vernetzt und transparent. Beschäftigte, Anlagen und einzelne Komponenten tauschen Informationen über digitale Infrastrukturen aus und werden Teil dezentraler, selbstregulierter Systeme.

  • Einzelne Tätigkeiten und die Arbeitsperson (nicht mehr nur deren Arbeitskraft und -leistung) werden von digitalen Technologien durchdrungen. Arbeitsschritte, auch in der Wissensarbeit, werden in Echtzeit transparent und kontrollierbar. Die für Robotik nötigen Metadaten und die bei Wearables anfallenden Vitaldaten ermöglichen vor allem über Muster- und Zeitverlaufsvergleiche neue Zugriffstiefen in Leib und Verhalten des Menschen in der Arbeit.

Mit Durchdringung als erster Dimension unserer Heuristik nähern wir uns der digitalen Transformation im ersten Teil des Buches. In sieben Beiträgen befassen wir uns mit Durchdringung im Sinne neuer Formen und Intensitäten des Zugriffs auf soziale Prozesse, Menschen und ihre Handlungen sowie einer Allgegenwärtigkeit, die Teilhabe jenseits des Digitalen zunehmend verhindert:

  • Michael Homberg blickt dabei in seinem Beitrag „Datenarbeit. Der Anbruch des digitalen Zeitalters und die Entwicklung von Computerdienstleistungen in der Bundesrepublik“ aus einer historischen Perspektive auf die zunehmende Verbreitung des Computers. Über die Identifikation von unterschiedlichen Phasen zeigt Homberg dynamische wie auch verzögernde Momente in der fortschreitenden Durchdringung auf.

  • Nora Thorade und Julia Gül Erdogan befassen sich in ihrem Beitrag „Computer in der Fabrik. Die digitale Transformation in der Produktionstechnik, 1950 bis 1990“ mit sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und technischen Faktoren, die insbesondere mittelständische Betriebe bei der digitalen Wende vor Herausforderungen stellte. Dabei zeigen sie aus einer historischen Perspektive auf, dass die Digitalisierung der Arbeit in der Fertigung nicht von Innovationen, sondern von Aushandlungsprozessen zwischen alter und neuer Technik geprägt war.

  • Susan P. Williams und Petra Schubert untersuchen in „Analysing the digital traces of collaborative work in large-scale enterprise collaboration systems“ Veränderungen in kollaborativen Arbeitsprozessen und -praktiken, wie sie sich für Einzelpersonen, Arbeitsgruppen und Organisationen ergeben. Mit einer innovativen, IT-gestützten Methode entwickeln die Autor*innen einen neuen Zugriff auf die Art und Weise, wie Arbeitspraktiken geformt werden und die Nutzung von Kollaborationstechnologien die Koordinierung der täglichen Arbeit beeinflussen sowie ein Verständnis davon, wie Kollaborationsplattformen in Organisationen zusammengestellt, angenommen und verbreitet werden.

  • Anja-Kristin Abendroth und Laura Lükemann stellen in ihrem Beitrag „Flexibility in Digitalised Working Worlds. A Comparative Perspective on the Use and Implications of Written Digital Work Communication“ Flexibilisierungspotenziale in den Mittelpunkt und fragen nach möglichen Konflikten von Arbeit und Privatleben. In ihrer international vergleichenden Studie machen die Autor*innen deutlich, inwiefern die nationale Familien- und Arbeitsmarktpolitik bei der Durchdringung von schriftlicher digitaler Arbeitskommunikation eine Rolle spielen und diese die Flexibilitätsinteressen der Arbeitnehmer*innen sowie die Reaktion der Vorgesetzten auf diese Interessen fördern.

  • Im Beitrag „Organisationswandel und Wahrnehmung der Akzeptanz von Digitalisierungsprozessen in Unternehmen infolge der COVID-19-Pandemie“ zeigen Nina Delicat, Lorena Herzog, Martin Krzywdzinski, Florian Butollo, David Wandjo, Jana Flemming, Christine Gerber und Matthias Danyeli, dass Fragen der Arbeitsorganisation und der Akzeptanz von Digitalisierungsmaßnahmen durch die Coronakrise an Bedeutung gewonnen haben. Der Beitrag zeichnet nach, wie sich im Zuge der Pandemie der vielzitierte Digitalisierungsschub vollzogen hat und wie mit der Zeit auch die Akzeptanz von Digitalisierungsmaßnahmen zugenommen hat.

  • Agnes Fessler, Hajo Holst, Dimitri Isabell Mader, Steffen Niehoff und Adrian Scholz Alvarado thematisieren in „Digitalisierung, soziale Klasse und Ungleichheit. Homeoffice und das Forschungsprogramm von DigiCLASS“ Ungleichheiten in den Digitalisierungserfahrungen. Zentral für die unterschiedlichen Erfahrungen in Bezug auf die kommunikations- und informationstechnisch durchdrungene Arbeit sind die berufliche Position und die Arbeitsorganisation.

  • Um die Durchdringung digitaler Überwachungstechnologien zu analysieren, beleuchten Luisa Wieser, Martin Abraham, Claus Schnabel, Cornelia Niessen und Mauren Wolff in „Employers‘ Muted Interest in Electronic Performance Monitoring (EPM)“ das Interesse von Führungskräften an der Kontrolle ihrer Beschäftigten mit digitalen Monitoring-Methoden. Der Beitrag zeigt, dass bei Überlegungen zu digitalen Überwachungstechnologien am Arbeitsplatz ein Zusammenspiel von technologischen Merkmalen und sozialen Kalkulationsprozessen zu berücksichtigen ist.

4.2 Neue Qualität der Verfügbarmachung

Zweitens zeigt sich eine neue Qualität der Verfügbarmachung. Unter diesem Begriff fassen wir zunehmende Möglichkeiten des Zugriffs (Zugang, Eigentum, Transparenz, Kontrolle) auf Ressourcen aller Art (Infrastrukturen, Informationen, Dinge, Arbeitskräfte) zusammen. Der Zugang zu Informationsressourcen wird bereits durch die vermehrte digitale Repräsentation von Wissen aller Art und die damit verbundene Verringerung von Medienbrüchen enorm gesteigert, aber auch durch die beiläufige Datenerzeugung als Nebenprodukt digital abgewickelter Aktivitäten (Metadaten, Datenschatten) und die ortsbezogenen wirksamen Sensoriken flächendeckend aktiver digitaler Komponenten. Immer häufiger wird es möglich, einzelne Arbeitsschritte medienvermittelt durchzuführen, als singuläre Arbeitsaufträge digital zu vergeben und Arbeit damit zeitlich und räumlich von Unternehmen und Betrieb als Ort ökonomischer Wertschöpfung und sozialer Teilhabe zu entkoppeln. In der Plattformökonomie entstehen zudem neue Formen der Arbeitsteilung und -koordination, die arbeitsorganisatorische (und auch arbeitsregulative) Begrenzungen der betrieblichen Organisation von Arbeit aushebeln. Neue Formen der Bereitstellung von (digitalen und menschlichen) Ressourcen ergeben sich über eine neue Qualität der Verfügbarmachung insbesondere von

  • digitalen Infrastrukturen (Internet der Dinge, Cloud, mobile Endgeräte, Distributed Ledger),

  • digitalen Datenmengen, die von Geräten wie Menschen permanent in enormen Mengen erzeugt und zunehmend dynamisch ausgewertet (Big Data Analytics) oder für Voraussagen (Predictive Analytics, Machine Learning) genutzt werden, und

  • Arbeitskräften, die etwa durch Crowdwork-Plattformen bedarfsabhängig pro Aufgabe „zur Verfügung gestellt“ werden.

Der zweiten Dimension unserer Heuristik – der Verfügbarmachung im Sinne zunehmender Möglichkeiten des Zugriffs auf Ressourcen aller Art – widmen sich fünf Beiträge:

  • In „Analyzing distributed action in the making by comparing human-robot co-work scenarios“ möchten Ingo Schulz-Schaeffer, Tim Clausnitzer, Kevin Wiggert und Martin Meister verstehen, wie Ideen über die Verteilung von Arbeitsaufgaben zwischen menschlichen und künstlichen Arbeitskräften entwickelt, im Laufe der Zeit ausgebaut und schließlich umgesetzt werden. Es werden zwei Möglichkeiten aufgezeigt, wie Roboterarbeit für Arbeitsaufgaben verfügbar gemacht werden kann, die zuvor für Roboter unzugänglich waren: durch Umverteilung von Arbeitsschritten auf Beschäftigte und durch Neudefinition von Arbeitsaufgaben.

  • Florian Butollo, Lea Schneidemesser und Simon Scheffler möchten in ihrem Beitrag „Industrieller E-Commerce. Verfügbarmachung und Transformation von Wertschöpfung in der Teilefertigungsbranche“ die häufige Konzentration der Analyse auf Produktionstechniken überwinden. Sie befassen sich daher insbesondere mit der Verfügbarmachung der Produkte, das heißt mit der Einbettung in neue Formen der Distribution – des Marketings, des Vertriebs und der Logistik. Der Beitrag zeigt, dass die Digitalisierung der Distributionskanäle die Unternehmen verfügbarer für Kunden macht und dadurch die Spielräume für die beteiligten Akteure verändert.

  • Lene Baumgart thematisiert in ihrem Beitrag „Exit, Voice, and Networks. Die Digitalisierung als Katalysator für Widerspruch und Netzwerkbildung in Organisationen“ die Möglichkeit und Praktik von Interessenartikulation mithilfe von Plattformen. Dabei wird insbesondere herausgearbeitet, wie die Verfügbarmachung digitaler Technologien in Arbeitsorganisationen die Interessenartikulation jenseits der Formalstruktur ermöglichen kann. Gleichzeitig werden allerdings die Tendenzen zur Kooptation betont.

  • Patricia de Paiva Lareiro blickt mit dem Text „Algorithmisches Management jenseits der Plattformökonomie. Digitale Assistenzsysteme in Industrie und Logistik“ auf die Eröffnung und Begrenzung von Handlungsspielräumen durch digitale Technologien. Sie untersucht die algorithmische Kontrolle, die gerade in konventionellen Beschäftigungsformen eingebettet in vielschichtige Kontrollprozesse stattfindet, in unterschiedlichen Settings.

  • In „Plattformen für Essenslieferungen in Deutschland. Ist Selbstständigkeit (k)ein Thema?“ stellt Katharina Legantke die generelle These der „Uberization“ infrage und blickt stattdessen auf die Bedingungen, wie Gigwork-Plattformen über ihre Arbeitsmodelle und damit die Art und Weise der Verfügbarmachung von Arbeitskraft entscheiden. So führt ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren dazu, dass beispielsweise ein Modell der Selbstständigkeit in Deutschland unattraktiver wird.

4.3 Prozess der Verselbstständigung

Von neuer Qualität sind drittens Prozesse der Verselbstständigung. Neben Dynamiken der Skalierung und Beschleunigung (insbesondere in der Plattformökonomie) geht es dabei vor allem um eine neue Stufe der Delegation menschlicher Tätigkeiten an Technik (Selektions-, Optimierungs- und Problemlösungsentscheidungen durch autonome, selbstlernende Algorithmen). Besonders prägnant zeigt sich die Verselbstständigung bei der Nutzung maschinellen Lernens und künstlicher Intelligenz. Solche autonomen Technologien werden bereits in der Personalrekrutierung und für Diagnosen in so unterschiedlichen Feldern wie Krankenhäusern und der industriellen Instandhaltung eingesetzt. Auch Verselbstständigung wird auf verschiedenen Ebenen sichtbar:

  • auf der Ebene von Algorithmen, wenn diese nicht nachvollziehbar sind, weil sie als Betriebsgeheimnis bewusst unzugänglich gehalten werden, oder weil dies, etwa im Fall des maschinellen Lernens, technisch nicht mehr möglich ist;

  • auf der Ebene von cyber-physischen (also vernetzten) Systemen, in denen Menschen, Anlagen, Materialien und Komponenten interagieren, und denen die Fähigkeit zur Selbstregulation und autonomen Abwicklung von Mikrotransaktionen zugeschrieben wird.

Als die vielleicht qualitativ umfassendste Bewegungsdynamik unserer Heuristik steht die Verselbstständigung für einen Prozess, in dem sich Entitäten aus ihrer Verkoppelung lösen und unabhängig voneinander werden können. Auch für diese Dimension stehen sechs Beiträge:

  • Michael Betancourt befasst sich in seinem Beitrag „The ‚Social Paradigm‘ of Automation“ mit der Ersetzung von Arbeit. Dabei beleuchtet er unterschiedliche soziale, kulturelle und ästhetische Ansprüche an Maschinen und die soziale Bedeutung der industriellen Fabrik, die letztlich die Umsetzung der Automatisierung formen und einschränken.

  • In dem Beitrag „Künstliche Intelligenz in der Praxis der Arbeit. Kontingenz und Selektivität als Merkmale einer systemischen Transformation“ öffnen Michael Heinlein und Norbert Huchler das Spektrum technischen Wirkens von künstlicher Intelligenz und fragen nach dem Verhältnis neuer Handlungsmöglichkeiten und Einschränkungen durch den Einsatz von KI. Dabei wird aufgezeigt, dass die verstärkte Durchdringung von Arbeit und Gesellschaft mit KI neue Quellen für Kontingenz und Selektivität mit sich bringt.

  • Konstantin Klur, Sarah Nies und Samuel Rieger möchten in ihrem Beitrag „Digitalisierung als Strategie. Brüche und Widersprüche in der Steuerung von Arbeit“ zwischen theoretisch-abstrakten Analysen sozioökonomischer Entwicklungen und disparater Empirie konkreter Arbeitsprozesse vermitteln und knüpfen hierfür an den „Betriebsstrategieansatz“ an. Um die identifizierten Dynamiken zu verstehen, verweisen die Autor*innen darauf, dass neben den stofflichen und ökonomischen Anforderungen immer auch die Subjektivität der Beschäftigten in die Analyse einbezogen werden muss.

  • In „Ungleichheitsreproduktion im digitalisierten Arbeitsmarkt. Bedingungen und Folgen virtueller Inszenierungen von Arbeitskraft“ blickt Hans J. Pongratz auf eine sich zunehmend verselbstständigende digitale Beschäftigungsindustrie und deren Folgen für die Verteilung von Erwerbschancen. Dabei wird im Ergebnis vor allem auf die Verschärfung bereits bestehender Ungleichheiten am Arbeitsmarkt verwiesen, wodurch Plattformdienste und Softwareangebote als erweiterter Inszenierungsraum dienen.

  • Mona-Maria Bardmann, Matthias Klumpp, Laura Künzel und Caroline Ruiner thematisieren in „Alles unter Kontrolle? Autonomie- und Kontrollwahrnehmung in digitalisierten Arbeitskontexten von Hochzuverlässigkeitsorganisationen“ die Beziehung der unterschiedlichen Heuristiken. Sie machen deutlich, dass die beobachteten Dynamiken in unterschiedlichem Maße und in verschiedenen Kombinationen auftreten, abhängig von dem entsprechenden Arbeitsumfeld.

4.4 Erfassung und Erfassbarkeit

Der mutmaßlich systemische Charakter der Transformation erfordert nicht nur konzeptionell neue Zugriffe, wie dies die drei Bewegungsdynamiken als „Instrumente“ interdisziplinärer Theoriebildung ermöglichen sollen. Er benötigt zudem eine Reflexion über die neuen Anforderungen der empirischen Erfassung und über die Grenzen der Erfassbarkeit eines vieldimensionalen und multitemporalen Transformationsprozess „in the making“. Es schließen sich also auch methodische Fragen an, denen sich weitere sechs Beiträge im letzten Teil des Buches widmen:

  • Ronald Bachmann und Sabine Pfeiffer verfolgen in ihrem Text „Die digitale Transformation von Arbeit – vermessen und verstehen. Ein interdisziplinärer und methodischer Dialog zwischen Wirtschaftswissenschaft und Arbeitssoziologie“ einen Ansatz, der Sichtweisen, Methodiken und Resultate unterschiedlicher Disziplinen sichtbar machen möchte. Im Ergebnis arbeiten die Autor*innen Punkte heraus, wo auch über Disziplingrenzen hinweg angesetzt werden kann, um digitale Transformation zu erforschen.

  • Lene Baumgart, Katharina Braunsmann, Alice Melchior, Jasmin Schreyer und Regina Wittal problematisieren in ihrem Beitrag „Gender Forcing. Zur (Un-)Sichtbarkeit wirkmächtiger Genderkonstruktionen in Forschungsprozessen“ die Vorstellung von genderneutralen Forschungsprozessen. Die Autor*innen heben mit der Entwicklung des Begriffs Gender Forcing und der Differenzierung unterschiedlicher Typen die Wirkmächtigkeit von Gender in Forschungsprozessen und die daraus resultierenden Folgeprobleme hervor.

  • Stefanie Büchner, Katharina Braunsmann, Korbinian Gall und Justus Rahn stellen mit ihrem Beitrag „Eröffnung neuer Vergleichsräume durch Co-Ethnografie. Digitalisierung im Jugendamt und Krankenhaus“ einen weiteren Ansatz zur innovativen Erforschung digitaler Transformation vor. Im Mittelpunkt steht eine Form der Teamethnografie, die Einblicke in Ähnlichkeiten und Unterschiede von digitalen Infrastrukturen fallförmig arbeitender Organisationen eröffnet.

  • Martin Krzywdzinski, Philip Wotschack, Gergana Vladova und Norbert Gronau rücken in ihrem Text „Ironies of automation revisited. Eine experimentelle Studie zur Mensch-Technik-Interaktion bei der Arbeit mit autonomen Systemen“ das holistische Prozesswissen im Kontext autonomer Systeme in den Mittelpunkt. Sie reflektieren dabei experimentelle Laborstudien für die soziologische Arbeits- und Technikforschung. In diesem Zusammenhang arbeiten die Autor*innen mehrere Kriterien heraus, deren Berücksichtigung für neue Perspektiven interdisziplinärer Arbeitsforschung im Kontext der Digitalisierung zentral ist.

  • Richard Guse, Scott Thiebes, Phil Hennel, Christoph Rosenkranz und Ali Sunyaev stellen sich die Frage „Wie nehmen Arbeitnehmende die digitale Transformation und ihre Auswirkungen wahr?“. Sie entwickeln dazu ein Messinstrument auf Basis der Theory of the Smart Machine (TSM). In dem Beitrag wird dieses Instrument validiert und darüber werden Faktoren identifiziert, um die digitale Transformation zu erfassen und weiter zu strukturieren.

  • In „Mixed method approaches to capture digitalization. The case of networked digital technology permeation in German hospitals“ entwickeln Alice Melchior, Sebastian Schongen und Reinhard Pollak eine Vorlage, um die digitale Transformation mit einer Kombination von Methoden erfassen zu können. Dabei wird deutlich, dass erst diese Kombination ein umfassendes Verständnis der digitalen Transformation möglich macht.

Auf dieser Basis möchten wir die Digitalisierung als „systemische Transformation“ beschreiben und aufzeigen, inwiefern diese alle institutionellen Systeme der Arbeitsgesellschaft grundlegend und nachhaltig verändern kann. Die Tragweite dieser Phänomene geht dabei über eine bloße Beobachtung des gesellschaftlichen Wandels hinaus. Dieser Sammelband erlaubt zwar erste tiefergehende Einsichten, dennoch wollen wir in den nächsten drei Jahren den empirischen und theoretischen Einblick in die durch die Digitalisierung getriebene systemische Transformation weiter befördern.