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1 Einleitung: Zur Begrifflichkeit von „Welt“

Im Zeitalter der Globalisierung kommt der Vorstellung von „Welt“ eine herausragende Bedeutung zu. Mit dem angesichts der Verbreitung des Coronavirus derzeit erfolgenden Eintritt in eine neue Epoche der Entwicklung der Menschheit, scheint es sinnvoll, sich über die Herausforderungen und Notwendigkeiten bezüglich der „Weltverhältnisse“ und „Weltbeziehungen“ in interkulturellen Kontexten in der demnächst anstehenden postpandemischen Ära Gedanken zu machen.

Sowohl im Westen als auch in China sind seit einiger Zeit Anstrengungen auszumachen, angesichts der derzeitigen existenziellen Gegebenheiten für die Menschheit (eine Erde, Klima betrifft alle) Begriffe zu hinterfragen, ihnen neue Deutungen zu verleihen und neue Begriffe ins Spiel zu bringen. Als Beispiele lassen sich Titel wie Bruno Latours Das terrestrische Manifest (2018), Stefan Weidners Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken (2018), oder Xin tianxiazhuyi (Chinas neues Weltkonzept 2014) nennen. Nicht zu vergessen Zhao Tingyangs Alles unter dem Himmel (2020), auf das ich mich im Weiteren beziehen werde, um einige der angesprochenen „Welt“-Probleme näher zu untersuchen.

Stimmen aus außereuropäischen Kulturen (nicht nur aus China), die die universale Geltung der maßgeblich aus europäischen Traditionen entstandenen Werte wie Freiheit, Selbstbestimmung und Individualität hinterfragen, haben in der Zwischenzeit auch innerhalb Europas Widerklang gefunden. Silvio Vietta weist unter der Überschrift „Gibt es universalistische Werte?“ unter anderem darauf hin, dass Philosophen wie John Rawls, Richard Rorty und Jürgen Habermas zwar darauf vertrauen, „dass bestimmte europäische Werte auch eine universale Geltung beanspruchen können“, doch handele es sich immer um Hypothesen der europäischen Wertetradition, die „global hochgerechnet“ würden. „Werte sind Ergebnisse kulturgeschichtlicher Prozesse und somit immer relativ gebunden an die Kulturen, in denen sie entstanden sind“ (Vietta 2019, S. 39). Vor diesem Hintergrund ist es also wichtig, sich nicht nur ein Bild davon zu machen, aus welchen Kulturtraditionen sich Werte und andere Vorstellungen entwickelt haben, sondern auch der Frage nach der Partikularität der Kulturwerte nachzugehen, das heißt der Frage nach ihrer räumlich-geografischen Wirksamkeit, dem Zustandekommen dieser Wirksamkeit und den dabei verwendeten raumbezeichnenden Begriffen. Mir geht es dabei weniger um die philologische oder etymologische Entschlüsselung dieser Begriffe als vielmehr um ihren Stellenwert in dem jeweiligen Kulturraum.

Mit welchen Begriffen also operieren wir, wenn wir von politischen und kulturellen Raumansprüchen bzw. Raumbezeichnungen reden? „Universal“ und die entsprechenden Synonyme „global“, „universell“, „erdumfassend“, „international“ und „weltweit“ beziehen sich auf die ganze Erde, oder besser den Planeten Erde. Nuancen und Differenzierungen gibt es selbstverständlich im Gebrauch dieser und weiterer Begriffe: Kommt bei der Rede vom „Kosmopolitismus“ eher das Weltbürgerliche im Sinne einer moralischen Sorge um das Wohl aller Menschen zum Ausdruck, deutet sich mit dem relativ neuen Begriff der „Globalisierung“ die Notwendigkeit der Lösung von solchen Problemen und Fragen in einem weltumfassenden Maßstab an, die zum Teil wenigstens bereits auf tiefere historische Prozesse der Vernetzung zwischen diversen Völkern und Kulturen zurückgehen.Footnote 1 Doch wird man damit der Verfassung der Menschheit in der Gegenwart überhaupt noch gerecht?

Tatsache dürfte sein, dass sich die Menschheit in einem neuen Zustand mit der Welt befindet, den zu benennen nicht einfach ist. Latour diskutiert mehrere Möglichkeiten wie „Erde“, „blauer Planet“, „Natur“, „Gaia“, „Boden“ und „Monde“, verwirft sie aber sogleich wieder, da sie die Sache, die er meint, nicht klar genug erfassen oder in einem anderen Kontext zu Verwechslungen führen. Er entscheidet sich schließlich für „das Terrestrische/TERRESTRISCHE (in Großbuchstaben, um deutlich zu machen, dass es sich um ein bestimmtes Konzept handelt)“, das für ihn ein „neuer Politik-Akteur“ ist (Latour 2018, S. 51). Es wird sich zeigen, ob sich dieser Begriff durchsetzen wird. Dass Abstraktionen angesichts der messbaren Veränderungen des Weltklimas alleine nicht ausreichen, machen Diskussionen deutlich, in denen es unter anderem darum geht, mit einer an die Veränderungen angepassten Begrifflichkeit wie dem Terminus des „ökologischen Universalismus“ konkrete Handlungsoptionen zu erörtern.Footnote 2

2 Das Konzept des tianxia: ein Überblick

Wie sieht es nun mit Vorstellungen von „Welt“, seinen Bezeichnungen und Entwicklungen in China aus? Der lange Zeit eher „unauffällige“ Begriff des tianxia kam innerhalb Chinas im Laufe von Anstrengungen einer geistigen und politischen Neuorientierung zum Zuge.Footnote 3 Ab der Mitte der 1990er Jahre strebte man danach, „Anschluss“ an die Welt zu finden (yu guoji jiegui) und dabei die Möglichkeiten der eigenen reichen geistigen Traditionen mit zu berücksichtigen (guoxue). Mit Beginn der 2000er Jahre war mehr und mehr die Rede davon, die chinesische Kultur auf der Welt stärker zu verbreiten (Stichwort wenhua zouchuqu und Konfuzius-Institute) (Zimmer 2017, S. 62 f.). In den politisch-kulturellen Diskursen Chinas in der Gegenwart wird tianxia zudem vielfach in einem Atemzug mit dem Begriff der „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ (renlei mingyun gongtongti) genannt, der nach dem Amtsantritt von Xi Jinping 2012/2013 in die Diskussion mit einfloss (Tatlow 2018). Einfluss auf den praktischen Umgang mit dem Thema – insbesondere die Präsentation in anderen Kulturkreisen – hat außerdem die Devise, „das chinesische Narrativ gut (i.S.v. positiv) zu erzählen“ (jianghao Zhongguo gushi). Diese geht zurück auf eine Weisung Xi Jinpings aus dem Jahr 2013 zur Propagandaarbeit (Xi 2013). Für Arbeiten chinesischer Historiker und Philosophen kann das nun bedeuten, faktisch sehr selektiv zu argumentieren und aus dem umfangreichen chinesischen Quellenschatz zu wählen, was ins vorgegebene Bild passt und eine möglichst „positive Energie“ (zheng nengliang) verbreitet. Unter diese Kategorie fällt in weiten Teilen auch Zhao Tingyangs Alles unter dem Himmel, wie an einem Beispiel verdeutlicht werden soll.

2.1 Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel

Zhao zufolge war für den Erfolg des tianxia-Konzeptes entscheidend, dass es nicht auf Konkurrenz und Gegensätzlichkeit beruhe, sondern auf der Fähigkeit, „auf irgendeine Art und Weise jeglichen Anderen in die Ordnung der Koexistenz zu integrieren und auf der Basis gegenseitigen Respekts zu koexistieren. Jede außenstehende Existenz wirft daher die Frage ihrer Integration auf, sie ist kein Objekt der Unterwerfung“ (Zhao 2020, S. 16). Später erläutert er, dass die „Art und Weise, in der sich Chinas synthetische Kultur“ geformt habe, als hua bezeichnet wird. Es folgt die Erklärung: „Hua bezeichnet Assimilierung durch wechselseitige Beeinflussung, nicht durch einseitige Veränderung. (…) Es handelt sich um eine durch gemeinsame Anstrengung erzielte Restrukturierung einer multikulturellen Daseinsordnung“ (Zhao 2020, S. 144). Zhaos gelehrige Ausführungen sind nicht falsch, aber sie stellen nur einen Teil der Wahrheit dar. Die Begriffe, die in Chinas alten landeskundlichen Texten zu Fragen des kulturellen Austausches mit dem Ausland auftauchen, lauten vielfach nicht nur hua, sondern auch xianghua und/oder jiaohua. Xianghua bedeutete dabei so viel wie das Bedürfnis der anderen zur Verwandlung – und zwar mit dem Ziel, chinesisch zu werden. China und seine Vertreter kamen diesem „Bedürfnis“ (durchaus unterstützt durch die Bereitstellung von Lehrmaterial in Form von klassischen Werken) nach, in dem sie „unterweisend und belehrend die Verwandlung bewirkten“ (jiaohua). Ein kritischer Historiker beschreibt den Vorgang folgendermaßen: „Das ideale Ergebnis von jiaohua bestand darin, ‚sie‘ in ‚uns‘ zu verwandeln [und…] die Welt in den Zustand der ‚Großen Gemeinschaft unter dem Himmel‘ zu überführen“ (Yao 2018, S. 112). Im traditionellen tianxia-Konzept lasse sich daher eine „tiefsitzende Tendenz der Diskriminierung des Fremden ausmachen“, denn das traditionelle tianxia-Konzept basiere auf der Vorstellung der eigenen Überlegenheit, einer quasi-natürlichen Berechtigung zur „Belehrung“ und der Möglichkeit, durch die eigene Größe den anderen zur „Anpassung“ (guishun) zu zwingen (Liu 2014, S. 58 f.). In den Quellen wird nirgendwo etwas über eine „gegenseitige Verwandlung“ gesagt – ganz einfach, weil es nicht dem hierarchisch angelegten Verständnis Chinas im Kontakt mit anderen Kulturen entsprach.Footnote 4

Um die folgenden Ausführungen besser einordnen zu können, erfolgt eine kurze Bemerkung zum in China gängigen „Grundnarrativ“ bezüglich tianxia. Es lässt sich folgendermaßen umreißen: Über einen langen Abschnitt seiner Geschichte hinweg entwickelte sich Chinas Zivilisation relativ unabhängig und „strahlte mit seiner Überlegenheit nach außen“ (Wang 2012, S. 404). In Ostasien kam es daraufhin zur Entstehung des „Han-[chinesischen] Kulturkreises mit der chinesischen Kultur als Zentrum“ (von westlichen Historikern gelegentlich als „Sinosphere“ bezeichnet). Außerdem bildete sich das tianxia-Konzept mit China als Zentrum heraus. „Aus Sicht der Chinesen ist China mit tianxia gleichzusetzen und keinesfalls nur ein Teil von tianxia. Dieses tianxia umschließt das im Zentrum befindliche China sowie die kleinen Staaten der (…) Barbaren an der Peripherie (…)“. (Yao 2018, S. 114).

Gemäß den frühen chinesischen Weltordnungsvorstellungen gab es dabei eine hierarchische Überlegenheit des Innen über das Außen bzw. der Chinesinnen und Chinesen über die Fremden. Wichtig war stets die Möglichkeit, dass die äußeren Zonen durch militärische oder kulturelle Expansion in die innere Domäne aufgenommen werden konnten. Der Kaiser als Inhaber des „Himmlischen Mandats“ hatte einen „Kultivierungsauftrag“, über dessen Umfang er nach Maßgabe der Mittel befand. Das wird von chinesischen Historikern durchaus eingestanden, etwa wenn es heißt, dass die Vorstellung, dass dem chinesischen Kaiser das Mandat des Himmels verliehen wurde und ihm die Herrschaft über das Reich und die dort lebenden Menschen verschaffte, „im Unterbewusstsein“ auch auf jene Länder in der Umgebung übertragen wurde, die in Chinas Machtbereich lagen. Darüber sei den Herrschern auf Dauer der Blick auf die Realitäten verloren gegangen. Die Vorstellung von gleichberechtigten Beziehungen mit anderen Ländern, geschweige denn souveräner Staaten kam nicht auf. (Wang 2009, S. 254 f.) Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass sich die Vertreter zur Schaffung eines neuen Konzeptes namens „tianxia 2.0“ aussprechen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, die in dem überlieferten Konzept enthaltenen hierarchischen Elemente zu übernehmen (Xu 2014, S. 7).

Die Debatten um tianxia haben innerhalb Chinas mittlerweile eine kaum mehr zu überblickende Vielfalt erreicht. Ihr Charakter ist zunächst einmal fraglos von dem positiven Bemühen geprägt, Diskursräume zu erweitern – so etwa, wenn auf die Grenzen des begrifflichen Instrumentariums der modernen Sozialwissenschaften hingewiesen wird und man sich von dem „eurozentristischen Narrativ“ lösen möchte.Footnote 5 Dies kann zum Beispiel heißen, dass man sich kritisch mit dem Begriff des „Kosmopolitismus“ auseinandersetzt und in einer etymologischen Erörterung der Begriffe cosmos und polis auf Einschränkungen des Universellen durch das Lokale hinweist.Footnote 6 Ein weiterer Begriff, der in der Debatte regelmäßig erörtert wird, um seine Anwendbarkeit auf China zu hinterfragen, ist der des „Nationalismus“. Die Argumentation läuft dann etwa auf die Behauptung hinaus, dass „die Menschen in China viel engherziger wurden“, nachdem das frühmoderne China damit begonnen hatte, aus Europa den Nationalismus zu importieren. Die Kultur Chinas sei „geschrumpft“ und habe eine „Verzwergung“ durchgemacht in der Form, dass auf kindische Art und Weise unterschieden wurde: „[D]ort ist das Westliche, hier das Chinesische“ (Xu 2014, S. 4). Besonders das zuletzt angeführte Beispiel mag als Beleg dafür dienen, dass zumindest in bestimmten Kreisen chinesischer Intellektueller Anstrengungen im Gange sind, „radikale Gegenentwürfe“ zu liefern und das „Rad der Geschichte“ zurückzudrehen, um eurozentristische Perspektiven grundsätzlich zu hinterfragen und neue Deutungshorizonte zu ergründen (Conrad 2013, S. 143).

2.2 Schwächen und Kritik

Was sind nun die Kernanliegen der Fürsprecher eines neuen Weltkonzepts in China? Vertreterinnen und Vertreter dieser sich in China vor circa 20 Jahren etablierenden Denkschule sind generell darum bemüht, antike chinesische Vorstellungen von tianxia wiederzubeleben und darin eine humanistische, auf die ganze Menschheit ausgerichtete Werteordnung zu sehen, die nicht partikularistisch ist und nicht die Werte einer konkreten Nation oder eines Staates meint.Footnote 7 Allerdings gibt es in den Ansichten durchaus Unterschiede.

Konzeptuell höchst aufschlussreich ist die Tatsache, dass wichtige Impulsgeber des Konzeptes aus China bewusst auf dessen Unkonkretheit bzw. Vagheit pochen, um eine „Offenheit“ und „Gleichheit“ zu suggerieren, die bei einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Universalität nicht fehlen dürfe (Li 2014, S. 28 f.). Der „allgemeine Charakter“ steigere zudem die Attraktivität für andere (Xu 2014, S. 22).

Befremdlich mutet zudem an, dass chinesische Vertreterinnen und Vertreter des Konzeptes für dessen erfolgreiche Umsetzung in der Gegenwart auf Verhältnisse zurückgreifen, die 3000 Jahre zurückliegen: Das Aufkommen der Vorstellung von tianxia als dem, „was unter dem Himmel liegt“, wird unter Bezug auf die Quellenlage für die frühe Zeit der Zhou-Dynastie (circa 1046–256 v. Chr.) angenommen – ein Vorgehen, das gerade mit Blick auf die Verlässlichkeit der Quellen durchaus Argwohn hervorgerufen hat (Yao 2018, S. 111). Zwar muss auch Zhao zugeben, dass die besagte Dynastie seinerzeit nur über begrenzte Gebiete geherrscht und entsprechend nur in sehr eingeschränktem Maße über „Weltwissen“ verfügt habe. Weit wichtiger sei jedoch der geistige Zugang zur Welt gewesen: Es habe ein „Weltbewusstsein“ existiert, nämlich ein „politisches Bewusstsein, das die Welt als Gesamtheit betrachtete“ (Zhao 2020, S. 55). Kurzzeitig und regional begrenzt sei in der Praxis demonstriert worden, wie sich Äußeres in Inneres umwandeln lasse (Zhao 2020, S. 15).

Warum dieser Rückgriff auf Chinas Antike? Zhao zufolge hat die moderne politische Philosophie bislang „keine brauchbare politische Theorie zustande gebracht“, die die Lösung globaler Probleme ins Auge gefasst hätte. Zhaos „Lösungsvorschlag“ beruht darauf, in der Politik zu einer „Inklusion der Welt“ und zu einer stabilen und auf Vertrauen basierenden Koexistenz zu gelangen. Strukturen dafür macht Zhao in der traditionellen konfuzianischen Familie aus. Die Sippe wurde als Grundeinheit der Koexistenz verstanden, in der Annahme, dass sich die Koexistenzialität der Sippe Stufe um Stufe auf größere Einheiten der Koexistenz übertragen lasse, „um am Ende das ‚Alles unter dem Himmel‘ zu formen, das sie als ‚eine Sippe innerhalb der vier Meere‘ beschreibt“ (Zhao 2020, S. 30). Die Vorstellung der Konfuzianer über das Leben unter dem Himmel, so das Argument, bilde ihr Konzept eines Internationalismus, der nicht das Trennende und die Gegensätzlichkeit von Nationalstaaten, sondern „Aspekte der Interdependenz“, der „freundschaftlichen Begegnung und des Austausches“ betone (Mou 2017, S. 303). Entsprechend sei Koexistenzialität in größerem Umfang auf den „Vorrang koexistenziellen Bewusstseins“ gegründet, bezeichnet als „relationale Rationalität“, deren ideales Ziel das „konfuzianische Optimum“ ist. Dies besagt, „dass an einer Nutzenverbesserung stets alle an der Angelegenheit beteiligten Personen partizipieren müssen“ (Zhao 2020, S. 41).

So überzeugend die Theorie eines neuen tianxia stellenweise beschrieben wird – um ihr für die Lösung der Probleme in der Gegenwart Bedeutung zu verleihen und sie für ein größeres Publikum attraktiv zu machen – so sind doch bestimmte Schwächen augenfällig. Man muss kein Historiker sein und sich genauer mit der Geschichte Chinas auskennen, um einen gravierenden Mangel in dem Weltentwurf Zhaos und anderer deutlich zu erkennen. Zwar ist die Rede von Staaten und Völkern, die gleich den Mitgliedern einer Familie in einer Weltgemeinschaft zusammenleben sollten, doch wird nirgends auf den Modus der konkreten Begegnung eingegangen. Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Welt begegnen sich zunächst einmal als Fremde. Bis auf eine beiläufige Bemerkung bei Zhao, dass es im Konfuzianismus kein entwickeltes Konzept bezüglich des Umgangs mit dem Fremden gebe (Zhao 2020, S. 10) und dass gelegentliche Schilderungen über die Unterschiede zwischen Chinesen (hua) und Barbaren (yi) „kein Ausdruck rassistischer oder nationalistischer Diskriminierung“ seien, (Zhao 2020, S. 72; Xu 2014, S. 4) finden sich dazu keine vertiefenden Erörterungen. Tatsächlich blickt China aber auf eine sehr lange Geschichte der Auseinandersetzung mit Fremden aus den verschiedenen Kulturen zurück. Schon begrifflich kam es sehr früh zu einer Abgrenzung zwischen „uns“ (hua, den Chinesinnen und Chinesen) und den „Anderen“ (auftauchend in unterschiedlichen Bezeichnungen, wobei sich Begriffe wie yi und fan für „die Fremden“ durchsetzten). Immer wieder hat es politische Erörterungen zum Umgang mit den Fremden gegeben, wie zwei Beispiele aus weit auseinanderliegenden Zeiträumen zeigen: so etwa die dem Kaiser vorgelegte Schmähschrift „Vertreibt die Barbaren!“ von Jiang Tong aus dem Jahr 299 (Jiang 2016) und die zur Zeit der Qing-Dynastie 1759 erlassenen „Gesetzlichen Maßnahmen gegen Ausländer“ (Fangfan wai yi guitiao). Zudem gab es immer wieder durch die Praxis untermauerte Konzepte, wie mit den Fremden umzugehen sei – am bekanntesten vermutlich huairou bzw. rouyuan als die Politik des „versöhnlichen Umgangs“ mit den Fremden aus fernen Ländern. Wang Zhichun (1842–1906?) hat darüber mit Blick auf die Verhältnisse im China der ausklingenden Kaiserzeit 1891 ein ganzes Buch geschrieben (Wang 1989).

Aus chinesischer Perspektive stieß das klassische Konzept von tianxia als Wertekategorie spätestens bei der Begegnung mit dem Westen an seine Grenzen: Vertreter der Yangwu-Bewegung am Ende der Qing wie etwa Guo Songtao (1818–1891), Chinas erster Gesandter in Großbritannien, kamen nach Erfahrungen mit Europa zu der Ansicht, dass es sich um eine vollkommen andere Form von „Fremden“ bzw. „Fremdheit“ handelte als jene, mit der China in seiner Vergangenheit in Form der „yidi“-Barbaren immer wieder konfrontiert worden war, die sich innerhalb von tianxia kulturell vereinnahmen ließen. Das Konzept von tianxia schien an diesem Punkt zu versagen, denn „das System des tianxia war nicht in der Lage, sich ein wirklich ‚Äußeres‘ vorzustellen“, da es eigentlich allumfassend war. Wenn es kulturell etwas gab, das sich so grundlegend von der Zentrumsrolle Chinas unterschied, dann „drohte der Himmel einzustürzen“ (Liu 2014, S. 55 f.). Bei dem Westen handelte es sich um eben solch ein wirklich „anderes Äußeres“. In Zeiten grassierender Fremdenfeindlichkeit in China ließ sich tianxia daher durchaus als Mittel einsetzen, um – gelinde gesagt – den „Fremden“ ihre Grenzen aufzuzeigen. Von einem seinerzeit bekannten Gelehrten namens Li Yuandu (1821–1887) ist aus dem Jahre 1884 Folgendes über seine Vorstellung von „unter dem Himmel“ überliefert: Nachdem er zunächst klargemacht hat, dass „die heilige Lehre Unter dem Himmel sind alle eine Familie, ganz China ist wie eine Person“ erfolgreich vom Herrscherhaus der Qing zur Entfaltung gebracht worden sei, rät er anderen Ländern und vor allem dem Westen, dass sie einstweilen gut beraten seien, die chinesische Schrift zu erlernen, dem System Chinas nachzueifern und die chinesischen Klassiker zu studieren, „um schließlich ihre schäbigen Sitten abzulegen“ (Li 1989, S. 10).

In den Überlegungen chinesischer Philosophen und Politik- und Kulturwissenschaftlerinnen der Gegenwart, die im Gegensatz zu Li Yuandu vor einem ganz anderen Erfahrungshintergrund argumentieren, ist diese Abgrenzung gegenüber dem Westen erhalten, um unabhängig von den stets genannten Herausforderungen wie Kriegen, Umweltfragen und Ressourcenknappheit Alternativen zu dem bisherigen Modus der Modernisierung aufzuzeigen und für eine neue Form des Denkens einzutreten (Xu 2014, S. 3). Bedauerlicherweise erschöpft sich dieser Vorgang in einem wenig konstruktiven Infragestellen, wenn es etwa heißt: „[D]en Maßstab der Menschenrechte der westlichen Zivilisation als zentralen Wert für ein alle Völker umfassendes Recht zugrunde zu legen, scheint zu konkret zu sein (…) Die internationale Gemeinschaft kann nur mit allgemeinen ethischen Grundsätzen operieren“ (Xu 2014, S. 22). Anstatt also „die Welt“ und „den Westen“ in einen gemeinsamen Dialog einzubinden, wird vielmehr der Erfolg des chinesischen Systems in Form der „Softpower“ hervorgehoben, um dessen Übernahme zu empfehlen.Footnote 8 Weitgehend unbeantwortet bleibt von den chinesischen Autorinnen und Autoren die Frage, wie und auf welchem Wege eine neue Weltordnung zustande kommen soll. Die Argumentation hat dabei mitunter etwas Plumpes, etwa wenn schlicht auf „Chinas Gegebenheiten“ hingewiesen wird, mit denen sich andere abfinden müssten. Es entsteht der Eindruck einer sehr altertümlichen „Weltzugewandtheit“, in der weiterhin derjenige den Ton angibt, der vermeintlich der Größere und Stärkere ist und glaubt, sich selbst nicht wandeln zu müssen. Der Einwand, etwa eines koreanischen Historikers namens Baik Young-seo, dass es für die Nachbarstaaten Chinas schwer sein werde, sich in den chinesischen Machtraum einzufügen, falls China nicht der Demokratie verpflichtet sei, sondern schlicht seine eigenen Interessen verfolge, wird nicht mit konstruktiven Vorschlägen beantwortet (etwa dazu, wie man in China eine Demokratie entwickeln könnte). Vielmehr kommt die rhetorische Frage auf, ob die Nachbarstaaten Chinas wirklich beruhigt sein würden, wenn es China „gelinge, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verwirklichen“ (Xu 2014, S. 21 f.). China sei nun mal angesichts seiner Stärke, seines Umfangs und der Bevölkerungszahl eine Großmacht. Selbst wenn China zu einem „freien Land“ werde, würden sich die kleinen Staaten in der Umgebung Chinas schwer damit tun und kaum ihre Furcht ablegen. Das gemeinsame Auskommen miteinander ist an allerlei Bedingungen geknüpft, die – so darf man wohl der Argumentation entnehmen – derzeit schon gar nicht und in absehbarer Zukunft nur schwer erfüllbar sind: China könne auch als nichtdemokratisches Land an der Errichtung einer internationalen Ordnung mitwirken, „wenn es über eine gute Ordnung verfügt und in der Lage ist, eine rechtsstaatliche Ordnung im Inneren zu haben und nach außen hin den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu folgen.“ (Xu 2014, S. 21 f.) Anstatt jedoch den Gedanken einer Entwicklung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts weiterzuentwickeln und damit eine nachvollziehbare und verbindliche Grundlage des gleichberechtigten Miteinanders zu schaffen, wird weithin eher mit der „Offenheit“ des tianxia-Systems und der Freiwilligkeit der Teilnahme geworben – wiederum in historischen Räumen operierend und die vermeintlichen Vorteile des vormodernen Tributwesens, wie es in Ostasien angewendet wurde, samt der damit in Verbindung stehenden höfischen Rituale (Li 2014, S. 29 f.). Auch hier verrät wiederum ein Blick in die historischen Quellen, dass sich Chinas Nachbarn gelegentlich nur sehr zögerlich der Form der vom chinesischen Kaiserhof angeordneten Ritualvorschriften fügten, etwa wenn es um Fragen der Kleidung ging.

2.3 Chancen

Erfreulicherweise sind in den propagandadurchwirkten Erörterungen teilweise Tendenzen auszumachen, die nicht auf grundsätzliche Ablehnung des Westens zielen, sondern auf dessen Einbeziehung und die gegenseitige Gestaltung der Zukunft. So heißt es etwa bei Li Yongchang, dass es nicht nur politische Floskeln seien, wenn in China von der Schaffung einer neuen Weltordnung die Rede sei, sondern dass es um das moralische Streben nach einer herzustellenden „gerechten Ordnung“ ginge. Immerhin wird die Notwendigkeit eines stärkeren Mitwirkens Chinas an einer Weltordnung durchaus als dringend empfunden, auch wenn Details und echte Visionen fehlen. In einem schlichten Hinweis heißt es etwa, dass es eine oft übersehene Tatsache sei, „dass die von einer Mehrzahl von Staaten allgemein akzeptierten Werte bezüglich Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Umwelt in diesem Prozess [der Entwicklung Chinas innerhalb der Weltordnung] ein weiteres Mal erweitert und eine allgemeinere Implementierung durchmachen werden“ (Li 2014, S 36 f.). Doch in welcher Form bei diesem Vorgang China die Welt und die Welt China brauchen werden, bleibt offen.

Anders als Zhao Tingyang, der die Menschenrechte zu einer Eigenheit der westlichen Kultur und die Vereinten Nationen zu einer unzeitgemäßen Plattform erklärt, um für ein tianxia-Modell nach chinesischem Muster zu werben, treten andere, deutlich komplexer argumentierende Vertreter in China durchaus dafür ein, im Dialog mit dem Westen gemeinsam aus den jeweils vorhandenen Traditionen und geistigen Ressourcen nach Anregungen zur Lösung der Probleme einer neuen Weltordnung zu suchen. Kritische Stimmen wie die von Yao Dali warnen daher davor, das Konzept einer neuen tianxia-Ordnung zu einer „Zwangsbeglückung“ zu machen. Dies werde den Eindruck hinterlassen, dass das ersonnene neue Weltkonzept „leer und wirr“ bleibe (Yao 2018, S. 119). Vielversprechende Ansätze, die die Bereitschaft zum Dialog signalisieren, finden sich in den Schriften chinesischer Philosophen durchaus. Entscheidend ist dabei die Bereitschaft, bei der Schaffung einer neuen Weltordnung Elemente des tianxia-Konzeptes wie Offenheit und Inklusion hervorzuheben und gleichzeitig entsprechende Forschungen des Westens zu berücksichtigen. Die Vorstellung eines Globalismus/einer Globalität wird dabei als „eine gemeinsam geschaffene Welt“ bezeichnet. Dabei ist die Grundannahme, dass „wir nicht nur gemeinsam auf einer Welt leben, sondern eine Welt gemeinsam schaffen. Nur in einer gemeinsam geschaffenen Welt können wir friedlich und in Wohlstand gemeinsam leben“ (Liu 2014, S. 60 f.). Das standardisierte Verfahren für solch eine gemeinsam geschaffene Welt beruhe auf einem „konstruktivistischen und interkulturellen normativen Universalismus“, der sich zurückführen lasse auf die „Universalität des Dialogs“. (Liu 2014, S. 60 f.)

3 Fazit

In den Diskussionen um die Begriffe „Universalismus“, „global“, „tianxia“ oder der „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ tauchen durchaus Gemeinsamkeiten auf, etwa wenn es um die Erörterung der Handlungsnotwendigkeit geht. Verschieden sind freilich die Diskursmodi: Im – möchte ich sagen – positivsten Fall – kommt es zu geistes- und kulturwissenschaftlichen Entwicklungen, die den Blick schärfen für die Variationsbreite von sozialen Lebensformen, Traditionen, Werten und Normen und in eine Denkweise münden, die die Relativität der eigenen Überlieferungen und Denkweisen ins Bewusstsein rückt. Es bedarf vermutlich einer ausgeprägten Kultur des Zweifelns und Infragestellens wie in der westlichen Moderne, um auf die regionale und zeitliche Beschränktheit (s)einer Kultur aufmerksam zu werden und sich einzugestehen, dass (wie im Falle der neuzeitlichen europäischen Kultur) ein universalistischer Anspruch längst eingebüßt worden ist.

Unterschiedlich ausgeprägt scheinen mir die Motive für die Schaffung einer neuen Begrifflichkeit und die Bewusstheit bzw. der Wille einer Notwendigkeit zum Handeln zu sein. China geht es zunächst einmal um den Anspruch auf die Erneuerung eines Diskurses und um mehr Diskursmacht. Dies ist weitgehend unproblematisch, wenn die Argumentation auf theoretischer und systematischer Ebene verläuft, ohne historische Entwicklungen einzubeziehen. So gibt es etwa aufschlussreiche neue philosophische Diskussionen innerhalb konfuzianischer Zirkel zur Lösung der Weltprobleme.Footnote 9 Voraussetzung sollte sein, dass man dabei auf theoretischer Ebene bleibt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, historisch ausgerichtete Betrachtungen auf breiter Quellenlage zur Formulierung von Thesen anzustellen, über die anschließend diskutiert wird. Eine ganze Reihe der oben angeführten Autoren aus China beginnen ihre Ausführungen theoretisch, argumentieren dann aber zum Teil historisch ohne ausreichende Belegung durch Quellen. Dies führt zu einem stark vereinfachten Geschichtsbild, da man sich vor allem der vermeintlich „erfolgreichen“ Beispiele bei der Begegnung Chinas mit der Welt bedient (Mou 2017, S. 303 ff.). Daran wird Chinas Wunsch nach einer Historisierung erkennbar, wobei man weitgehend dem Modus der überlieferten amtlichen chinesischen Dynastiegeschichtsschreibung folgt, deren wichtigste Aufgabe es war, die Gegenwart im Licht der Vergangenheit auszuleuchten und den „Systemwechsel“ im Heute zu legitimieren. Die gegenwärtig immer wieder beschworene Floskel vom „Wiederaufstieg“ (fuxing) legt nahe, dass man an diese Vorstellung der Kontinuität anknüpft.

Deutlich wird im Zusammenhang mit den herangezogenen Materialien aus China auch der ausgeprägte Wunsch, die kulturelle Durchdringung im Vorgang des Austausches vonstattengehen zu lassen, den Prozesscharakter zu betonen und begrifflich wie praktisch eher vage zu bleiben, um „die Welt mittels allgemeiner zivilisatorischer Maßstäbe zu überzeugen“ und „die eigene Rationalität unter Beweis zu stellen“. Der „Projektcharakter“ lässt sich freilich nicht leugnen, wenn davon die Rede ist, nicht nur den Traum vom Wiederaufstieg zu verwirklichen, sondern dem „nationalen Geist Weltzugewandtheit zu verleihen“ (Xu 2014, S. 5 f.).

Wagt man einen nüchternen Blick in die Zukunft, wäre es wohl naiv, davon auszugehen, dass die Abläufe auf der Welt durch stärkere Verbindung mit bzw. durch Einbindung von China einfacher würden. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell wurde nach einem Gespräch mit dem chinesischen Außenminister Wang Yi am 9. Juni 2020 in der Presse mit der Aussage zitiert, dass man keine multilaterale Welt schaffen könne, „ohne dass China daran teilnimmt“ (Gutschker 2020). Wie das angesichts der systemischen Unterschiede sowie unterschiedlicher Werte und Interessen geschehen soll, ist freilich weiterhin unklar. Niemand in China wäre so plump, von einem „China first“ zu sprechen. Gemeint ist mit tianxia aber genau das, wenn man nicht nur vordergründig auf Chinas Rolle in der Weltgemeinschaft der Gegenwart blickt, sondern auch einen Blick in die Vergangenheit unternimmt. Für die Gegenwart und die Zukunft der Welt und China dürfte das, nüchtern betrachtet, freilich heißen, dass beide – die Welt und China – ihre schwierigste Zeit noch vor sich haben.