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FormalPara Vorbemerkung

Über China zu schreiben, ist dieser Tage noch komplizierter geworden. Eine alte Reporter-Weisheit besagt: „Wer sich eine Woche in China aufhält, schreibt ein Buch. Wer hier einen Monat lebt, schafft einen Artikel. Und wer ein Jahr hier lebt, schreibt überhaupt nichts mehr.“ Die hohe Qualität der Berichterstattung vieler langjähriger Korrespondenten widerlegt diesen Scherz natürlich. Wahr daran ist jedoch, dass es sich um ein komplexes Unterfangen handelt, ein derart vielschichtiges, vielgestaltiges und widersprüchliches Land wie China in Worten abzubilden. Und dabei eine Sprache zu benutzen, deren Vokabular aus völlig anderen Konzepten stammt als die, aus denen sich China zusammensetzt. Unsere Welt ist schnelllebig geworden. Tweets statt Traktate, Breaking News statt Analysen – soziale Medien sorgen sekündlich für einen schier endlosen Strom halbgaren Wissens. Immer mehr Menschen verabschieden sich davon, mit Bedacht eigene Meinungen zu bilden. Sie versuchen stattdessen ihrer inneren Unruhe, Orientierungslosigkeit und Deutungsunsicherheit mit vermeintlich einfachen Wahrheiten zu begegnen. Die Sehnsucht nach der sogenannten guten alten Zeit, nach klar definierten Staatenblöcken und komfortablen Feindbildern war global lange nicht mehr so groß wie jetzt. Und noch nie hatten so viele Menschen eine Meinung, bevor sie eine Ahnung hatten. Wir sind eine laute und schnell beleidigte, vorurteilsbehaftete Spezies geworden, der Homo praeiudicius.

Jedes Schreiben über China ist auch ein Schreiben über sich selbst. Statt sich darum zu bemühen, die wahre Gestalt Chinas erfassen zu wollen, sollten sich Autorinnen und Autoren ihrer eigenen Annahmen, Projektionen und Denkkategorien bewusst werden und diese offenlegen. Eine derartige Annäherung an China darf als Ausdruck besonderer Fürsorge verstanden werden, sowohl gegenüber dem Land als auch den Leserinnen und Lesern. Diese Haltung mag für andere Auseinandersetzungen genauso gelten, im Falle Chinas scheint sie umso wichtiger zu sein: Man darf es der Leserschaft nicht zu einfach machen.

Und drittens heißt über China zu schreiben, auch darüber zu schreiben, wie man selbst über China schreibt. Auch hier ist die Bandbreite der Stile groß: Suche ich nach der letztgültigen Wahrheit, einer China in Gänze erklärenden Formel? Versuche ich positiv oder negativ zu schreiben, berichte oder werte ich? Der Autor dieses Textes setzt sich seit 20 Jahren beruflich und privat mit China auseinander, als Journalist, Autor, Stiftungsmanager, Gastprofessor und als Mensch, der Humor und kluge Köpfe schätzt. Er hat für diesen Text mit Menschen aus und in China gesprochen, die sich seit Langem für die Verständigung zwischen China und Deutschland bzw. Europa einsetzen. Sie sind in Politik, Wirtschaft, Medien, Kultur und Diplomatie tätig. Und die gemeinsame Sorge in ihren Äußerungen ist eindeutig: Die Beziehungen mit China drohen gerade in ein neues Tief zu fallen. Bereiten also 2022 die Regierungen Chinas und der USA zum 50. Jahrestag der Reise von Präsident Nixon nach Peking Grabreden oder Glückwunsch-Telegramme vor? Wird Bundeskanzler Olaf Scholz die Aufnahme der (west)deutsch-chinesischen Beziehungen im gleichen Jahr zum Anlass nehmen, den Status quo zu würdigen oder zu tadeln?

1 Einleitung

Vor knapp vierzehn Jahren, am 8. August 2008 um 20 Uhr, stand ich auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und feierte inmitten einer enthusiastischen Menge alter und junger Stadtbewohnerinnen und -bewohner den Auftakt der Olympischen Spiele. Internationale Beobachter, Medien, vor Ort ansässige Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und viele chinesische Bürgerinnen und Bürger versprachen sich von dem sportlichen Großereignis eine zweite neue Ära der Reform- und Öffnungspolitik. „Beijing huanying ni – Peking heißt Sie willkommen“ – der offizielle Olympia-Song, den im Laufe des Jahres jeder Supermarkt des Landes, jedes Hotel und jeder kleine Nudelstand rauf und runter spielen sollte, war Programm. Peking und das Land gingen auf die Welt zu und signalisierten: Lasst uns Freunde sein. Am – fristgerecht – eröffneten neuen Flughafenterminal 3 hing der Willkommensgruß auf Deutsch an dritter Stelle, was im hierarchiebewussten China als besondere Auszeichnung verstanden werden darf.

Wir drücken die Vorlauftaste, fast forward, ins dritte Pandemiejahr 2022, nach dem chinesischen Tierkreis das Jahr des Tigers, traditionell eine Phase großer Umbrüche. Die Auswirkungen der US-Präsidentschaft Donald Trumps, das Coronavirus, massiv zunehmende Klimawandelfolgen und Pekings neues Selbstverständnis wirbeln die Welt gewaltig durcheinander. Soziale Medien haben sich als generationenübergreifende Nachrichtenquelle durchgesetzt. Nicht ohne Folgen. Sie agieren getrieben von ihren Stakeholdern oder dem Staat, funktionieren dabei oft eher als Brandbeschleuniger denn als sachliche Diskussionsforen, wenn sich Nutzerinnen und Nutzer überhaupt einmal für Inhalte interessieren. „We live in a world in which everyone is yelling, and no one is being persuaded.“ (zit. n. Zheng 2020) Das Internet droht in Echokammern zu zerfallen, die Welt blickt auf den sino-amerikanischen Konflikt, während wir unseren Planeten immer stärker aufheizen. Und im Unterschied zu 2008 – Beijing huanying ni – mag sich der Eindruck aufdrängen, dass China die Welt gerade nicht zu Hause haben will. Deutsche Unternehmen, Stiftungen und Medienhäuser bekommen – nicht nur pandemiebedingt – ihr Personal nicht mehr ins Land, und von den rund 80 regulären Dialogformaten zwischen Deutschland und China hört man so gut wie nichts. Die Beziehungen zwischen der EU-Führungsspitze und Peking changieren zwischen nüchtern und frostig, während die USA mit den Folgen des Coronavirus und einer gespaltenen Gesellschaft kämpft und Chinas Umgang mit der ethnischen Minderheit der Uiguren, mit Hongkong, Taiwan und mit europäischen Kleinstaaten die deutsche Berichterstattung über das Land bestimmt.

2 Das China-Engagement der Robert Bosch Stiftung

Dazwischen liegt ein gutes Jahrzehnt, in dem die Robert Bosch Stiftung wie andere deutsche zivilgesellschaftliche Organisationen in einem intensiven und vielfältigen Austausch mit China tätig war. Das Ziel des Engagements der Stiftung in der Volksrepublik lässt sich wie folgt zusammenfassen: China im Sinne der Völkerverständigung und der Friedenssicherung in Ostasien bei seinen eigenen Reformprozessen zu unterstützen und mit der Welt zu verbinden. „Nicht die fortgesetzte Besichtigung des anderen, sondern das Schaffen von Gemeinsamkeiten und die Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen durch Zusammenarbeit sollten unsere Aktivitäten leiten“, empfahl bereits ein internes Strategiepapier von 2005. „Förderwürdig sind Vorhaben, die Gemeinsamkeiten thematisieren, Multiplikatoren aktivieren, die junge Generation ansprechen und damit vor allem auch nachhaltig wirken.“Footnote 1 Bis 2018 unterhielt die Stiftung ein umfangreiches Portfolio in den Bereichen Good Governance (Austausch von Anwälten und Richtern), Zivilgesellschaft (Austausch und Hospitationen von NGO-Vertreterinnen und -vertretern aus China und Europa, Vernetzung von Stadtmachern wie Planern und Urbanisierungsexperten), Medien (Austausch von Nachwuchsjournalisten und Dialogformate mit Chefredakteuren beider Länder), Internationale Bildung (Lektorenprogramm, China-Traineeprogramm), Internationaler Kulturaustausch (Literaturrecherche-Förderung für Autorinnen und Autoren aus beiden Ländern, Deutsch-Chinesisches Kulturnetz) uvm. Die öffentlichkeitswirksame Veranstaltungsreihe der Stiftung in Berlin namens „China im Gespräch 对话中国 Duihua Zhongguo – Engaging with China“ fasste mit diesem Titel das Portfolio programmatisch gut zusammen.

Angesichts der sich zunehmend verändernden globalen Rahmenbedingungen hat die Stiftung in einem umfassenden Strategieprozess ihre internationale Arbeit neu ausgerichtet und fokussiert sich seit Januar 2020 im neu benannten Fördergebiet „Globale Fragen“ auf folgende Themen: Klimawandel, Frieden, Migration, Einwanderungsgesellschaft, Demokratie und Ungleichheit. Es ist klar, dass China in allen Bereichen, aber vor allem im Klimawandel eine prägnante Rolle spielen könnte. Klar ist aber auch, dass unter den aktuellen politischen Rahmenbedingungen in China viele der im letzten Jahrzehnt angestoßenen Programme heute so nicht mehr durchführbar wären.

3 Welchen Dialog wollen wir?

Aus einem people-to-people-Dialog ist in vielen Bereichen ein people-to-party-Dialog geworden, der nicht gegenseitigen Austausch und Verständigung als Grundlage hat, sondern als Werbeveranstaltung für das chinesische Modell dienen soll. Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Auch in Zukunft bedarf es eines Austauschs mit der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), nicht zuletzt, um im direkten Gespräch besser zu verstehen, wohin das Land sich aus ihrer Sicht entwickeln soll. Doch dafür eignen sich aus europäischer Sicht keine zivilgesellschaftlichen Dialogformate. Hinter dieser Trennung von Partei, staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren steht ein europäisches Verständnis von zivilgesellschaftlichen Organisationen als Korrektiv des Staates, nicht als reiner Dienstleister bei der Übernahme sozialer Tätigkeiten wie Altenpflege oder Bildungsangeboten, aus denen sich der Staat in China zurückzieht. Aus chinesischer Perspektive repräsentiert die Partei den Staat und entsprechend auch alle Interessen des chinesischen Volkes, sitzt also bei allen Austauschprogrammen mit am Tisch. Das war bis vor wenigen Jahren auch kaum ein Problem, hat sich seit etwa 2012 jedoch stark auf die Diskursqualität in konkreten Begegnungen ausgewirkt: Nach einer einführenden Grundsatzrede des chinesischen Delegationsleiters zu Beginn eines Ortstermins in Deutschland wissen mitreisende Vertreterinnen und Vertreter von Stiftungen oder NGOs genau, ob sie hiermit eingeladen sind, ihre Meinung zu äußern oder doch lieber den Mund zu halten.

Was ist also die Alternative? Man möchte in Europa mit China reden, aber bitte nur ohne Parteimitglieder. Man möchte in China mit Europa reden und natürlich gehören Parteimitglieder dazu. Das nennt man ein Dilemma. Ich möchte Probleme lösen, aber dabei auch bestimmen, wer für die andere Seite an der Problemlösung beteiligt wird – dieser häufig in Europa gehörte Anspruch kann nicht funktionieren. Aber ohne die Zusammenarbeit mit China geht es angesichts des Ernstes und der Grundsätzlichkeit der Herausforderungen unserer Zeit jedoch auch nicht.

Und zugleich und zum Glück: So sehr es manche Kreise beschwören wollen – der Dialog mit China ist nicht gescheitert. Das zeigen die Deutschland nach wie vor sehr zugewandten Stimmen aus der chinesischen Gesellschaft, Politik, Wissenschaft und der Wirtschaft. Von ihnen zehren die aktuellen Beziehungen noch. Und sie gilt es, im Gespräch zu halten. Aber der Dialog wird sich ändern müssen, wenn er neue Impulse setzen und angesichts des immer grundsätzlicher werdenden Systemkonflikts zwischen China und den USA als dritte Stimme relevant bleiben will. Die Themen sind andere und umfassendere, und die Spielregeln des Gesprächs müssen überarbeitet werden, denn China ist reifer, reicher und vor allem selbstbewusster, als es vor rund 40 Jahren zurück auf die Weltbühne trat. Das Land steht nicht vor dem unmittelbaren Kollaps (wer würde diesen auch wirklich wollen?), und die Zentralregierung in Peking darf sich (gerade auch in der Covidkrise) über hohe Zustimmungswerte in der Bevölkerung freuen (Cunningham et al. 2020).

4 Zeit für einen neuen Ansatz

Dieser muss die vielen Facetten in den Beziehungen zwischen Deutschland und China reflektieren. Er macht deutlich, dass sich Deutschland immer im Rahmen einer Wertegemeinschaft mit den europäischen Partnern und anderen demokratischen Ländern wie den Vereinigten Staaten, Kanada, Japan oder Australien befinden wird und dennoch den Dialog mit China wirklich will. Dieser Ansatz sucht den offenen, gut informierten und sachlichen Diskurs mit China zur Lösung globaler Probleme. Er macht deutlich, dass ein europäischer people-to-people-Ansatz in China nur bedingt funktionieren kann, dass aber eine Beteiligung der Partei kein Ausschlusskriterium sein muss.Footnote 2

5 Rolle der Kultur

Kulturaustausch ist häufig die zarteste und gleichzeitig wirkungsvollste Form der Begegnung zwischen Nationen. Wenn politische, diplomatische und andere offizielle Kanäle zu versiegen drohen, erlaubt Kultur Reflexionen über eigene Annahmen und schafft einen dritten Raum, in dem sich gemeinsam Neues und Unfertiges denken und ausprobieren lässt. Um die Ausgangslage in Deutschland und China zu verdeutlichen, wird zunächst der jeweilige staatliche Kulturbegriff kurz skizziert.

In Deutschland herrscht der sogenannte Kulturföderalismus, Kultur ist also vor allem Sache der Bundesländer. Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik bildet neben der Friedenssicherung und dem Außenhandel die dritte wichtige Säule deutscher Außenpolitik. Deutschland hat keinen Kulturminister, dafür eine Staatsministerin, die direkt dem Bundeskanzler unterstellt ist. Kulturförderung in Deutschland versteht sich grundsätzlich als Instrument der Friedenssicherung in Europa (vor allem durch grenzüberschreitende Projekte mit Frankreich, Polen und Italien), aber auch als Ausdruck eines demokratischen Selbstverständnisses, das Kunst auch dann aushält, wenn sie die eigene Meinung nicht bestätigt. „Denn eine lebendige Demokratie braucht Impulse, Denkanstöße und Perspektivenwechsel. Mit ihrer Experimentierfreude und der kritischen Beobachtung gesellschaftlicher Entwicklungen verhindern Kreative, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit unsere Demokratie einschläfern.“ (BKM 2018) Obwohl die Kulturförderung Sache der Länder und Gemeinden ist, engagiert sich auch der Bund in der Kultur. Er ist dabei für kulturelle Einrichtungen und sogenannte Projekte von nationaler Bedeutung (Bundesregierung, Staatsministerin für Kultur und Medien 2022). zuständig. Bei vielen Projekten, in denen sich der Bund engagiert, geht es um die Bewahrung eines kulturellen Erbes, dessen Kenntnis kein Selbstzweck ist, sondern im Sinne der Völkerverständigung verdeutlichen soll, wie viel Europa in Deutschland immer schon vorhanden war und wie sehr deutsche Kultur auch europäisches Vermächtnis ist. Eine Besonderheit der staatlichen Kulturförderung ist der eigene Bereich „Erinnern und Gedenken“, in dem es vor allem um die Opfer der NS-Terrorherrschaft und das Unrecht in der ehemaligen DDR geht. Deutschland hat zwar den Schutz und die Förderung der Kultur in seinem Grundgesetz nicht verankert, stellt in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes aber fest: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Dieses Freiheitsrecht schützt alle Kunstschaffenden vor „Eingriffen der öffentlichen Gewalt“, wie es das Bundesverfassungsgericht in den 1970er-Jahren grundsätzlich beschied.Footnote 3 Verglichen mit anderen europäischen Staaten verfügt Deutschland, bedingt durch seine historische Kleinstaaterei, als Reaktion auf die Gleichschaltung der Kulturarbeit durch den Nationalsozialismus und die bereits erwähnte auf Kommunen und Länder setzende Kulturzuständigkeit, über eine ungewöhnliche Dezentralität bei der Verteilung von Kultureinrichtungen. Viele Einrichtungen sind als gemeinnützige Vereine organisiert. Auch wenn in der Praxis oft eine enge Kooperation zwischen Einrichtung und Stadtverwaltung gegeben ist, verschafft die freie Trägerschaft der zivilgesellschaftlichen Organisation ein wichtiges Maß an Autonomie gegenüber der Gemeinde. Diese Autonomie und die große Vielfalt in der regionalen Ausprägung mögen teilweise erklären, warum Deutschlands staatliche Kulturpolitik starke und bewusst gewollte zivilgesellschaftliche Züge trägt und sich viele Bürgerinnen und Bürger des Landes darin aktiv engagieren.

Auch in der Volksrepublik China gibt es eine Kulturpolitik mit staatlichem Auftrag. So listet das erst 2018 fusionierte Ministerium für Kultur und Tourismus in seiner Satzung als erste Aufgabe „die Umsetzung der Richtlinien und Politiken der Partei zur Kulturarbeit“ (guanche luoshi dang de wenhua gongzuo fangzhen zhengce)Footnote 4 auf. Diese Kulturarbeit konzentriert sich auf die Präsentation traditioneller chinesischer Kultur und bemüht sich um die Darstellung ihrer Einzigartigkeit.Footnote 5 Parteichef Xi spricht davon, dass die „herausragende traditionelle chinesische Kultur unsere größte kulturelle Soft Power [ist] und der fruchtbare Boden, in dem der Sozialismus mit chinesischen Charakteristika Wurzeln schlägt.“ (Xinhuanet 2017)Footnote 6 Das offizielle Narrativ propagiert eine ununterbrochene mehrtausendjährige Linie von der Xia-Dynastie bis zur Volksrepublik, wohingegen die meisten westlichen Historikerinnen und Historiker, Sinologinnen und Sinologen aufgrund der vielen Dynastiewechsel, Fremdherrschaften und großer territorialer Veränderungen ein deutlich komplexeres und widersprüchlicheres Bild zeichnen. Allein zum Kulturbegriff wenhua (文化) und dem damit verbundenen Zivilisationsbegriff wenming (文明) würden sich Diskussionen zwischen europäischen und chinesischen Kultur- und Staatswissenschaftlern lohnen: Wessen Kultur ist gemeint, wenn von chinesischer Kultur gesprochen wird? Wie sehr ist der europäische Kulturbegriff von seinem eigenen kolonialen Erbe geprägt? Wie lassen sich „Chinesen“ huaren (华人), „chinesische Emigranten“ huaqiao (华侨) und „ausländische Staatsbürger chinesischer Abstammung“ huayi (华裔) über den semantischen Unterschied hinaus klar voneinander trennen? Und wer soll sich mit dem ursprünglich Qing-zeitlichen Sammelbegriff 中华民族 Zhonghua minzu, „chinesische Nation“ angesprochen fühlen, der über die Staatsgrenzen hinaus versucht, Menschen chinesischer Abstammung weltweit zu integrieren? Wie denken Angehörige ethnischer Minderheiten zum Beispiel der Manchu oder der Hui über das Narrativ des chinesischen Pazifismus? Die Kulturen Chinas sind um einiges vielfältiger (und widersprüchlicher) als das, was im offiziellen Diskurs als „die chinesische Kultur“ ins Ausland getragen wird. In Europa wird Vielfalt zivilgesellschaftlich getragen, in China sorgt der Staat für das Narrativ. Grundsätzlich gilt: Staatliche Kulturarbeit muss einen Beitrag zum seit 2012 propagierten Chinesischen Traum und zur Wiederauferstehung des chinesischen Volkes (shixian Zhonghua minzu weida fuxing de Zhongguo meng) liefern.

Das Projekt der Rückkehr zu (alter) Größe ist historisch gesehen nachvollziehbar. China und Indien waren über einen wesentlich längeren Zeitraum der Menschheitsgeschichte die größten Ökonomien der Welt, als sie es nicht waren. Doch im Zeitalter der Nationalstaaten ist die Konkurrenz um die besten Forscherinnen und Forscher, Unternehmerinnen und Unternehmer und sonstige Talente wesentlich vielfältiger geworden. Ich erwähne das deshalb, weil die Präsentation von Kultur und Kulturaustausch immer auch eine Public-Diplomacy-Komponente enthält – im europäischen Verständnis vor allem auch über nichtstaatliche Akteure. Chinas Soft-Power-Strategien verzeichnen Erfolge in Ländern des Globalen Südens, mit Trainingsprogrammen für afrikanische oder südamerikanische Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten und vor allem in Afrika über eine Entwicklungszusammenarbeit, die weniger auf Werte und mehr auf Ergebnisse setzt.Footnote 7 In demokratischen Industrienationen wird dieses Soft-Power-Engagement aber so lange skeptisch beurteilt, wie es die eigene konditionale Entwicklungszusammenarbeit mit dem Globalen Süden untergräbt und China eine mehr oder minder versteckte Interessenspolitik vorwirft. Hier ist es höchste Zeit, chinesische Entwicklungszusammenarbeit in Afrika vielfältiger zu betrachten. Gleichzeitig hat es Chinas Soft Power schwer, in demokratischen Ländern Fuß zu fassen, solange der chinesische Staat gleichzeitig im Namen des Kampfes gegen den Terror ethnische Minderheiten gewaltsam zu sinisieren versucht (Robertson 2020), Hongkongs durch die eigene Verfassung geregelte Autonomie mit neuen Gesetzen untergräbt (Hernández 2020) oder supranationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auffällig stark für sich einzunehmen vermag (Feldwisch-Drentrup 2020).

6 Tianxia vs. Nationalstaatlichkeit

Der geografische wie metaphysische Herrschaftsanspruch chinesischer Kaiser wurde seit der Einführung des Begriffs in der Zhou-Dynastie (1046–771 v. u. Z.) mit tianxia (天下) zusammengefasst, „alles unter dem Himmel“, wobei der Himmel dem Kaiser sein Mandat verleihen und entziehen konnte. „Das alte China kannte nur den Begriff der politischen Macht, nicht den der Souveränität“, so der Pekinger Philosoph Zhao Tingyang. „Es besaß keine gesetzlich fixierten Grenzen, das sogenannte Staatsgebiet war lediglich eine quantitative Einheit, die sich mit den Machtverhältnissen ändern konnte.“ (Zhao 2020, S. 128) China sah sich aufgrund seines zivilisatorischen Entwicklungsgrades als Land der Mitte. Die Kernfrage ist nun: Lässt sich der Führungsanspruch als civilization state auf das 21. Jahrhundert übertragen? Die Ambition ist spätestens seit 2017 nicht zu übersehen. „Wir begrüßen mit offenen Armen alle Völker an Bord des Expresszuges der chinesischen Entwicklung“, verkündete Parteichef Xi im gleichen Jahr in Davos.Footnote 8 Und die von Xi propagierte (aber nicht erfundene) Idee einer „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ (renlei mingyun gongtongti 人类命运共同体), seit März 2018 in der Verfassung der Volksrepublik China verankert (Xinhuanet 2018), und die darin enthaltenen Initiative der Neuen Seidenstraße legen nahe, dass es China mit diesem Anspruch ernst meint.

Doch passt ein 3000 Jahre alter Begriff in die Neuzeit? Die bereits seit einigen Jahren andauernde innerchinesische Debatte um den Stellenwert von tianxia zeigt, wie zentral diese Frage ist. Zhang Weiwei (Fudan Universität) und Pan Wei (Peking Universität) stützen sich auf Chinas vermeintliche Einzigartigkeit, um zu argumentieren, dass China den Westen ignorieren und zu seiner eigenen Zivilisation zurückkehren müsse. Denker wie Xu Jilin von der East China Normal University und Bai Tongdong von der Fudan Universität (beide Shanghai) argumentieren, dass dem Patriotismus der (Ultra-)Nationalisten eine Fehlinterpretation der chinesischen Geschichte zugrunde liegt: Chinas vergangene Größe beruhe auf Offenheit, nicht auf Abschottung, Chinas Rückkehr zu alter Größe gelänge nur, wenn das Land sich erneut öffnen würde, da Zivilisationen per definitionem universell sein müssten (Xu 2018). Xu schärft seine Argumentation, indem er zwischen Zivilisation und Kultur unterscheidet. Unter Berufung auf europäische Geistesgrößen argumentiert Xu, dass Zivilisation universell und Kultur lokal zu verstehen sei, dass es in einer Zivilisation um das Gute und in der Kultur um das Eigene gehe.Footnote 9 Anhand der Geschichte des „deutschen Sonderwegs“, der sich in Opposition zu Frankreich und England verstand und in zwei Weltkriegen mündete, stellt sich Xu gegen das Argument eines einzigartigen chinesischen Modells.

„Die deutsche Geschichte lehrt uns, dass der Widerstand gegen die ‚Mainstream-Welt-Zivilisation‘ der falsche Weg ist und zur Selbstzerstörung führt. Wenn die Befürworter des China-Modells den Westen nur imitieren wollen, um Reichtum und Macht zu erlangen, während sie in Bezug auf zivilisatorische Werte und Institutionen an ihrer eigenen ‚einzigartigen‘ Kultur festhalten, dann wird es, selbst wenn es ihnen gelingt, einen einzigartigen chinesischen Weg zu schaffen, nur eine bizarre Kombination aus universeller kapitalistischer Nützlichkeitsrationalität und der ostasiatischen autoritären Tradition sein“ (Xu 2013).Footnote 10

Tianxia kann als Konzept mit universellem Anspruch nicht funktionieren, wenn daraus Nutzen für die eigene (nationalstaatliche) Soft Power generiert werden soll. Für Zhao, den Pekinger Philosophen, ist klar, dass das Konzept nur dann auch außerhalb Chinas theoretisch greifbar wird, wenn sich die westlich geprägten Denkschulen des Faches der Internationale Beziehungen vom Nationenbegriff lösen und die Welt als Ganzes betrachten. Wie das gelingen kann, lässt er offen. So oder so: Die Welt ist ob Chinas Reputation mehr denn je in zwei Hälften gespalten.Footnote 11 Zwei Drittel aller Amerikanerinnen und Amerikaner sehen in China aktuell eine Gefahr (Devlin et al. 2020). Die Volksrepublik hat mit fast allen Nachbarstaaten Streit, in jüngerer Zeit sogar mit Indien. Soft Power ist, wie Zuckerwatte auf der Kirmes, ein zartes Gebilde. Wer kaltes Wasser darüber gießt, hat umgehend nur noch das harte Holzstäbchen in der Hand. Da das chinesische Konzept des tianxia außerhalb des modernen Nationenbegriffs operiert und der Kulturbegriff eine inhärente Hierarchisierung in Hochkulturen und weniger entwickelte Kulturen vornimmt, muss ein staatlich organisierter Kulturaustausch immer auch im- oder explizit die Idee von der Überlegenheit chinesischer Kultur in sich tragen, sonst würde sie geltender Partei- und Kulturpolitik widersprechen.

7 Von der Theorie in die Praxis

Nach diesen theoretischen Überlegungen mag sich die Leserin nun fragen: Wie kommt man nun also als interessierter zivilgesellschaftlicher Akteur oder Mittlerorganisation dennoch mit chinesischen Austauschpartnern ins Gespräch?

Aus Sicht des Autors gilt es in Zukunft fünf Dinge zu bedenken.

Erstens sollte man sich als europäischer Akteur über die Begriffe „Dialog“ und „Kooperation“ grundsätzliche Gedanken machen: Was verbinde ich mit diesen Begriffen, welche Werte verkörpern sie, wo ziehe ich rote Linien?

Zweitens gilt es, sich über die kulturpolitischen Ziele und Meta-Ambitionen eines potenziellen chinesischen Partners zu informieren: Was biete ich der chinesischen Seite? Warum bin ich für sie attraktiv? Welche Ziele möchte der potenzielle Partner durch die Kooperation erreichen?

Drittens benötigt es neben einer grundsätzlichen, für europäische Verhältnisse oft ungewohnten Flexibilität in der Programmdurchführung im Vorfeld eine Einigung mit dem chinesischen Partner auf gemeinsame Ziele und Spielregeln, zum Beispiel zu Finanzierung, Programmgestaltung und Personal.

Viertens sollte man Themen wählen, die für beide Seiten von Nutzen sind und die die oben beschriebene Dichotomie gar nicht erst entstehen lassen. Indem also das Personal für den Austausch erweitert wird und nicht mehr nur Kulturaustausch im klassischen Sinne zur Musik, Kunst und Kultur im Mittelpunkt stehen. Also nicht wenhua jiaoliu (Kulturaustausch), sondern renwen jiaoliu, was eher mit Kultur- und Bildungsaustausch übersetzbar ist, aber nicht im Sinne von Pädagogen-Austausch, sondern Austausch zur Bildung. Kultur als Mittel zum Zweck. Darüber hinaus muss sich im Zeitalter von globalen Herausforderungen die grundsätzliche Frage stellen, ob Austauschprogramme nicht noch viel stärker problem- statt begegnungsorientiert gestaltet werden müssten. Alle drängenden Fragen unserer Zeit sind bilateral gar nicht lösbar. Kultur- und Bildungsaustausch sollte daher nicht nur einen Perspektivwechsel ermöglichen, sondern auch zur Ausbildung zukunftsorientierter Fertigkeiten und Haltungen beitragen, die über Staatsgrenzen hinweg für die Bewältigung unserer globalen Probleme essenziell sind. Dazu zählen Resilienz, Ambiguitätstoleranz und die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkritik, im Grunde genommen eine neue Fehlerkultur in den internationalen Beziehungen. Mit anderen Worten: China und Deutschland müssen wieder miteinander debattieren lernen, auf eine Art und Weise, die die chinesische Tradition der Vermeidung offener Konflikte berücksichtigt, dabei jedoch das Ziel gemeinsamer Verantwortung nicht aus den Augen verliert.

Fünftens und letztens macht deutsch-chinesischer Kulturaustausch in der erweiterten Fassung nur Sinn, wenn Europa dabei mitgedacht wird. Die drei Dimensionen des europäisch-chinesischen Verhältnisses (Partner, Konkurrent, systemischer Rivale) müssen in diesem neuen Verständnis von Kulturaustausch zur Sprache kommen können. Wie reflektieren Kultur- und Austauschprogramme den Vielebenen-Charakter in den Beziehungen zwischen beiden Entitäten? Wie steht Kultur in Verbindung dazu? Kultur schafft einen dritten Raum, in dem sich auch über Wettbewerb und Rivalität diskutieren lässt. Und auch darüber, wie die chinesische Perspektive auf diese Fremdzuschreibungen ausfällt.

Kulturaustausch muss auch berücksichtigen, dass Deutschland tief mit europäischer Kultur verbunden ist, ja, ohne Europa gäbe es kein wiedervereinigtes Deutschland. Die Europäische Union wäre ohne die deutsch-französische Aussöhnung nicht vorstellbar. Kultur- und Bildungsaustausch hat hier auf zivilgesellschaftlicher Ebene in einer einfachen und wortwörtlich bürgerlichen Form gewissermaßen zur Dekonstruktion nationaler Kulturprojektionen beigetragen, in dem er auf reines Schaulaufen und die ungebrochene Präsentation nationaler Kunstschätze verzichtet. Ob das auch außerhalb Europas funktioniert? Der neue Ansatz geht über klassische Kulturthemen wie Musik, Kunst, Theater hinaus, beschäftigt sich mit gemeinsamen Herausforderungen wie Ernährungssicherheit und den Umgang mit der Coronapandemie und adressiert dabei explizit auch Widersprüche innerhalb Europas. Diese Ehrlichkeit, so die Hoffnung, schafft den Raum, um Widersprüche innerhalb Chinas diskutierbar zu machen, und sie schafft Austauschmöglichkeiten über die unter den Problemen und Widersprüchen liegenden Annahmen und Wertvorstellungen, zum Beispiel zum christlichen versus daoistischen Verständnis des Verhältnisses Himmel – Natur – Mensch (tian di ren天地人).

8 Neue Formate, neue Themen

Wie können vor diesem Hintergrund neue gemeinsame Projekte aussehen? Die folgenden konkreten Themen mögen als Anregung dienen. Sie wurden danach ausgesucht, ob in ihnen ein Dialog möglich ist und inhaltlich beiderseitig ein Interesse und gemeinsame Gestaltungsräume vorliegen oder, weil der Autor über die Themen exemplarisch aufzeigen möchte, welche grundsätzlichen Fragen im beiderseitigen Interesse verhandelt werden müssten.Footnote 12

  • Wissenschaft

  • China wird in den Bereichen der Künstlichen Intelligenz und der Robotik in den nächsten Jahren in einer grundsätzlichen Umkehr der bisherigen Dynamik vom Importeur und Schüler zum Exporteur und Lehrer. Welche Auswirkungen hat der technologische Wandel auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auf die Frage des Digital Divide in allen Bereichen der Gesellschaft? Hier finden sich neben den rein technischen Fragen große neue Forschungsgebiete für Verhaltenspsychologinnen und -psychologen oder Technologieakzeptanz-Forscherinnen und -forscher.

  • Soziale Herkunft und familiäre finanzielle Ausstattung spielen im chinesischen wie im deutschen Bildungssystem (trotz aller Bemühungen) eine zentrale Rolle, ebenso Sexismus und Rassismus. Europäisch-chinesische Wissenschaftsteams widmen sich gemeinsam den strukturellen Ungleichheiten in ihren jeweiligen Wissenschaftssystemen.

  • Wirtschaft

  • Die Begrenztheit unserer planetaren Ressourcen zwingt uns zu neuen Lösungen. Wir dürfen Wohlstand und Fortschritt nicht mehr ausschließlich an wirtschaftlichen Wachstumsparametern messen. Europa und China brauchen jetzt einen Austausch über Post-Konsumgesellschaften, der sich nicht als Elitendiskurs versteht, sondern als Kultur der gesunden Mäßigung, durch die wir teilen lernen mit denen, deren Glücksanspruch bislang meist übergangen wurde.

  • Ohne China kein gutes Klima – vor dem Hintergrund des KP-Konzepts der „Ökologischen Zivilisation“ können Europa und China beispielsweise gemeinsame Standards bei entwaldungsfreien Lieferketten setzen und damit weltweite Abholzung verringern. Chinas nationales Interesse an einer langfristigen Ernährungssicherheit schafft Möglichkeiten, über neue Formen der regenerativen Landwirtschaft innerhalb des Landes zu sprechen und in Produktionsländern zu testen und zu skalieren.

  • Gesellschaft

  • Diskussion um multizivilisatorische Weltordnung – zwischen den Jahren 1 und 1820 n. u. Z. waren China und Indien die größten Volkswirtschaften (Mahbubani 2020, S. 30). Die aktuelle Norm einer (kolonial gestützten) europäisch-amerikanisch geprägten Staatenhierarchie neigt sich ihrem historischen Ende entgegen. Hier lohnt sich eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den chinesischen Denkschulen im Bereich Internationale Beziehungen und den eigenen Ängsten und Vorurteilen, die mit dem Aufstieg Chinas verbunden sind.

  • Gemeinsame Rassismus-Forschung – Covid-19 wurde in den USA und Europa zunächst als chinesisches Virus stigmatisiert und ignoriert, bis es dort jeweils die ersten Fälle gab und sich asiatisch aussehende Personen Alltagsrassismen und tätlichen Angriffen ausgesetzt sahen. Afrikanische Botschafter in China protestieren gegen die Diskriminierung ihrer Staatsbürger, denen aufgrund ihrer schwarzen Hautfarbe Wohnung oder Anstellung gekündigt wurden. Transnationale Bürgerkonferenzen erarbeiten mit Rassismusforscherinnen und -forschern und Stadtverwaltungen konkrete Empfehlungen für ihre Städte und Gemeinden und leben so den transsektoralen Dialog vor.

  • Gesellschaftlicher Umgang mit Krisen – warum unterscheidet sich zum Beispiel die Maskendisziplin in China und Deutschland so sehr? Resilienzforscherinnen und -forscher diskutieren Grundlagen und Modelle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt (Altruismus, Konfuzianismus, Pragmatismus, Autoritarismus).

  • Chinas Städte gleichen sich zunehmend. Oft fehlt es an einer distinkten urbanen Identität oder diese wird durch die Zerstörung historischer Bauten verwässert. In Europa wird über die Revitalisierung von Stadtkernen diskutiert. Wie kann der Spagat zwischen kultureller Identität und wirtschaftlicher Vitalität gelingen? Es braucht neben den Programmen für Hauptstädte und Metropolen mehr Partnerschaften zwischen den Millionenstädten in China und ihren europäischen Pendants.

  • Podcasts bieten der Hörerschaft alternative Zugänge zu einer Stadt, für chinesische Hörerinnen und Hörer: „Urban Gardening“, „Künstlerkollektive“ oder „Berlin aus der Sicht eines Flüchtlings“. Für das deutsche Publikum: „Craft Beer in China“, „Moderne Architektur in Chengdu“ oder „Denkmalschutz in den Pekinger Hutongs“.

  • Traumata und kollektives Gedächtnis – Nachkriegskinder in Europa treffen auf Kinder der Kulturrevolution: Wie sehr prägt die Erfahrung der eigenen Eltern die eigene Weltanschauung und die Fähigkeit, sich selbst und anderen Menschen zu vertrauen?

  • Alternde Gesellschaft – gemeinsam über die Bedürfnisse von Gesellschaften nachdenken, deren prozentuale Anteile der über 60-Jährigen bei weit mehr als zehn Prozent liegen (UN-Definition „Alternde Gesellschaft“). Wie werden Gesellschaften aussehen, wenn sie sich nicht mehr mehrheitlich auf junge Konsumenten ausrichten und Lebenserfahrung und Bedürfnisse alter Menschen stärker in den Fokus ihres Selbstverständnisses rücken?

  • Lebensmittelsicherheit – welche Reformen strebt die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik (GAP) vor dem Hintergrund des Green Deal an? Wo kann die EU von einer uralten Agrargesellschaft wie China, wo China von den Sicherheitsstandards der EU lernen?

  • Bildung

  • Chinas Geschichte, Politik, Kultur und Gesellschaft müssen eine viel umfassendere Rolle in der deutschen Schulbildung ausmachen. Chinas Lehrpläne brauchen frischen Input zu einem modernen, pluralistischen Deutschlandbild jenseits der Klischees.

  • Chinesische Universitäten (vor allem außerhalb der Megacities) schicken Mitarbeitende ihrer Verwaltung an Partnerhochschulen, damit sie deren Internationalisierungsstrategien kennenlernen und selbst Auslandserfahrung sammeln. Davon profitieren ausländische Studierende, ausländisches lokales Lehrpersonal und chinesische Studierende, die auf dem Sprung ins Ausland sind.

  • Deutsche Hochschulen und Studierendenwerke bieten spezielle Einführungskurse für chinesische Studierende an, da sie die größte ausländische Studierendengruppe in Deutschland bilden. Dem Generalverdacht gegenüber chinesischen Studierenden und Wissenschaftlern kann dann erfolgreich begegnet werden, wenn chinesische Studierende den Wert studentischer Aktivitäten erkennen, in diese eingebunden sind und wissenschaftliche Standards von allen Team-Mitgliedern unterschrieben werden.

  • Medien

  • Europa und China verwenden oft gleiche Begriffe, verstehen darunter aber unterschiedliche Dinge. „Digitalisierung“ ist in China als Zukunftsthema fast ausschließlich positiv besetzt, weckt bei europäischen Lesern jedoch eher negative Assoziationen wie fehlende Privatsphäre oder Kontrolle. „Energiewende“ in Deutschland oder „ökologische Zivilisation“ in China sind hingegen so kontextspezifisch, dass sie im Wortschatz des anderen Landes gar nicht vorkommen. Erklärungen sollte mehr Platz in der Berichterstattung eingeräumt werden.

  • Dialog- und Austauschformate zwischen europäischen und chinesischen Journalistinnen und Journalisten sollten ausgebaut werden. Gemeinsame Recherchen und Reflexion über Recherche-Ergebnisse ermöglichen, Themen aus der eigenen und der Fremdwahrnehmung zu beleuchten – und die Handlungslogik des anderen nachzuvollziehen.

Die (Un-)Kultur des Fliegens wird sich auf Jahre verändern. Das hat konkrete Auswirkungen auf die Völkerverständigung. Wenn weniger Menschen physisch zueinanderkommen, haben sie auch weniger Gelegenheiten sich auszutauschen. So sehr die Erde sich freut, so sehr leidet die gegenseitige Verständigung. Es braucht neue Lösungen, um das Gemeinschaftsgefühl nicht vollständig zu verlieren. In allen Ausbildungsstätten und am Arbeitsplatz sollten Techniken wie internationale Videokonferenzen oder dezentrale Team-Arbeit über Kontinente hinweg gelehrt und geübt werden.

Der kanadische Autor und Journalismus-Veteran Ian Johnson, der in China studierte und über 20 Jahre aus seiner zweiten Heimat berichtete, bevor er ausreisen musste, notierte in seinem Abschiedsbrief:

„[P]eople like me built our lives around a premise: that the world was interconnected and that it was a worthwhile calling to devote one’s life to making other cultures a tiny bit more intelligible. (…) The world wasn’t about to return to old-style blocs, where people from one camp couldn’t enter the other’s side. This was a world of standardized visas, regular flights and some sort of career prospects, whether in business, journalism, academics or cultural exchanges“ (Johnson 2020).

Die Gefahr neuer Blockbildungen ist groß, und eine Welt mit Geschäftsreisen, Konferenzen, Messen und anderen Ausprägungen einer geschrumpften Welt ist in weite Ferne gerückt. Das Einzige, was sich aktuell ungehindert und frei um den Globus bewegt, ist eine Pandemie. Eine Implosion Chinas kann sich die Welt nicht erlauben. Und ein China, dem die Welt egal ist, können sich weder China noch die Welt erlauben. Wir sollten darauf hinarbeiten, dass es wieder Menschen und nicht Viren sind, die reisen. Menschen, die sich begegnen und gemeinsam an Problemen der Welt arbeiten, in der sich China als Teil der Weltgemeinschaft fühlen kann und selbst ausreichend Verantwortung übernimmt. Mehr als 50 Jahre nach der Mondlandung ist das nächste große Projekt nicht die Reise zum Mars, sondern die Reise zu uns und der gemeinsame Kampf gegen den Klimawandel, für mehr Natur und mehr Frieden.