Schlüsselwörter

FormalPara Prolog

Sie waren losgeflogen, um den Mond zu erkunden, doch sie entdeckten die Erde: Am 24. Dezember 1968 übertrugen die Astronauten der Apollo-8-Mission ein Bild, das die Menschheit noch nie zuvor gesehen hatte. Das Bild vom „Earthrise“ – des Aufgangs der Erde über dem Mond – veränderte für immer unser Bewusstsein. Es veränderte die Welt.

Der kleine blaue Planet schwebte in all seiner Verletzlichkeit durch das Weltall: Unsere Empfindungen hat niemand besser auf den Begriff gebracht als der US-amerikanische Philosoph Richard Buckminster Fuller mit seiner Metapher vom „Spaceship Earth“, dem Raumschiff Erde. Immer wieder ist der Zustand der Welt an ihren empfindsamsten Punkten in ein symbolisches Bild geronnen, eingebrannt in die kollektive Erinnerung, abrufbar in Ikonen der Verletzlichkeit. Es sind historische Tiefenerfahrungen, wie uns Umberto Eco lehrte.

Die Geschichte des Multilateralismus hängt mit solchen globalen Tiefenerfahrungen zusammen. Und auch internationale Kulturpolitik im multilateralen Umfeld wäre ohne solche weltweit veränderten und verändernden Perzeptionen nicht entstanden. Die historische Erschütterung ist noch zu spüren, sieht man der britischen Erziehungsministerin zu, wie sie im Herbst 1946 die Gründungsakte der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) in London verliest. Der Text der Konstitution als Kulturorganisation der Vereinten Nationen (UN) könnte aktueller nicht sein: „Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden.“

Von daher ist es kein Zufall, dass nur wenige Jahre nach dem ersten Blick auf unsere Erde außerhalb der eigenen Atmosphäre, auf einem Symposium in St. Gallen 1972 die Ergebnisse der Studie des Club of Rome Die Grenzen des Wachstums – zur Lage der Menschheit vorgestellt wurde. Und es ist ebenso wenig eine zufällige historische Koinzidenz, dass im Herbst desselben Jahres die UNESCO-Welterbe-Konvention für Kultur- und Naturerbe verabschiedet wurde, die Erbe und Nation begrifflich trennt und mit ihrem Begriff vom universellen Erbe zur größten Erfolgsgeschichte kultureller Zusammenarbeit von inzwischen 193 Staaten werden sollte – zum Kern einer Weltkulturinnenpolitik.

Es ist dieser gemeinsame Erfahrungsraum, der schließlich den Kulturbegriff selbst ergreift, verändert und auf der ersten Weltkulturkonferenz 1982 in Mexico neu prägt.Footnote 1 Es ist dieser globale Erfahrungsraum, der die UN zur Gründung einer Kommission zur menschlichen Entwicklung bewog, die, geleitet von der damaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, ihren Bericht Our Common Future 1987 in der Frankfurter Paulskirche vorlegte – jener Kirche, in der die erste Verfassung für alle deutschen Staaten erarbeitet worden war, die niemals in Kraft trat, aber Dutzende von Verfassungen weltweit inspirierte. Der internationale Erfahrungsraum erweiterte sich mit der neuen Welle von Globalisierung und ökonomischer Konzentration – auch und gerade im Kultursektor – nach dem Fall der Mauer 1989. Die Vereinten Nationen blieben auf der Spur, begannen den Rioprozess (1992), setzten Weltkommissionen zu Kultur und Entwicklung (Pérez de Cuéllar-Bericht 1995) sowie zu Bildung (Jacques Delors-Bericht 1996) ein, und die UNESCO zog nach der dritten Weltkulturkonferenz 1998 in Stockholm mit ihrem bislang spektakulärsten und modernsten Völkerrechtsinstrument die politischen Konsequenzen: Sie schuf die Magna Charta der internationalen Kulturpolitik. Ihre Mitgliedsstaaten verabschiedeten 2005 das internationale Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. 145 der 195 Mitgliedsstaaten sind inzwischen Vertragsstaaten.Footnote 2 Das hatte es in der Geschichte in der Geschwindigkeit noch nie gegeben. Was für eine universelle Lernkurve! Sowohl China als auch die Bundesrepublik Deutschland sind nicht nur Vertragspartei dieser Magna Charta der internationalen Kulturpolitik – beide Staaten haben alle fünf existierenden Völkerrechtsinstrumente im Kultursektor ratifiziert.

1 Die Vereinten Nationen als prominentestes Beispiel des Multilateralismus

Es war ohne Zweifel eine der erschütterndsten historischen Tiefenerfahrungen, die zur Gründungsversammlung der Vereinten Nationen 1945 in San Francisco führte. Ein übersteigerter Nationalismus, der die Welt in eine zivilisatorische Katastrophe riss, gebar eine gemeinsame Organisation aller Staaten, die Verantwortung für Frieden und Sicherheit übernehmen sollte. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte folgte.Footnote 3 Sie verpflichtete die Staaten im Umgang mit ihren Bürgerinnen und Bürgern auf hohe Standards, die auch für ihre gesellschaftlichen Entwicklungen Kraft entfalten sollten.

Globale Zusammenarbeit ist die einzige Möglichkeit, globalen Herausforderungen wirkungsvoll zu begegnen. An diese Einsicht erinnerte der UN-Generalsekretär António Guterres 2020, als sich die Unterzeichnung der Charta der Vereinten Nationen zum 75. Mal jährte. Aber diese Einsicht zeitigt in der praktischen Kooperation ihre Tücken. Alle kulturellen Ausdrucksformen sind ebenso kulturgeprägt wie kulturprägend. Dieser so selbstverständlich klingende Satz – er stammt von Adolf Muschg – öffnet die Augen für unsere Prägungen: unsere Identitäten und Kontexte als Bedingung unserer möglichen Entwicklung und möglichen Zukünfte. Muschg versteht unter kulturellen Ausdrucksformen allerdings nicht allein die in Stein gemeißelten Zeugnisse der unbändigen Kreativität des Menschen; als Dokumente der Künste und Kulturen von Weltrang. Ausdrücklich bezieht er in die kulturellen Ausdrucksformen der Menschheit auch das Recht ein.

Im internationalen Geschehen kommt damit der Multilateralismus mit den Vereinten Nationen als Völkerrecht setzendes System ins Spiel, ideengeschichtlich die als unveräußerlich geltenden universalen Menschenrechte.

Völkerrecht entsteht auf der Grundlage der Prinzipien der UN-Charta durch internationale Übereinkommen der 193 UN-Mitgliedsstaaten. Es bindet sie – nicht selten nach vorheriger Einigung auf eine Erklärung (declaration), Empfehlung (recommendation) oder Entschließung (resolution), sogenanntes Soft Law – nach der Ratifizierung des Übereinkommens durch die Unterzeichnerstaaten als Vertragsparteien. Gleiches gilt für die 17 rechtlich selbstständigen Sonderorganisationen des UN-Systems. Wann der Vertrag in Kraft tritt, ist zumeist im Vertrag selbst bestimmt. In der Regel hängt es vom Vorliegen einer bestimmten Anzahl von Ratifikationsurkunden ab. Tritt er in Kraft, ist er Teil des Völkerrechts. Fehlt eine Regelung über das Inkrafttreten im Vertrag, so tritt er erst in Kraft, wenn die Zustimmung aller Verhandlungsstaaten vorliegt. Im positivistischen Sinne könnte man nur in diesem Fall von universellem Recht sprechen. Tritt ein Staat einem bereits in Kraft getretenen völkerrechtlichen Übereinkommen nachträglich bei, ist der Vertrag für diesen Staat mit dem Tag des Beitritts gültig. Dieser Beitritt wird Akzession genannt, das Hinterlegen einer Akzessionsurkunde kommt der Ratifikation gleich.

Die Vereinten Nationen sind als globale zwischenstaatliche Organisation anerkanntes Völkerrechtssubjekt. Ihre Aufgaben und Ziele wurden in der UN-Charta niedergelegt: die Sicherung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, die Einhaltung des Völkerrechts, der Schutz der Menschenrechte und die Förderung der internationalen Zusammenarbeit. Am 18. Dezember 1948 verabschiedete die UN-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Damit wird eine zweite Säule der UN etabliert, neben der ursprünglich zweifellos dominierenden: die der kollektiven Sicherheit. Ausgerichtet werden die Aufgaben an zeitgeschichtlichen Zielsetzungen, denen sich die Staats- und Regierungschefs der Welt gemeinsam verpflichten, etwa den „Millennium Development Goals“ (MDG, 2000, NY) oder ihren Nachfolgern, den „Sustainable Development Goals“ (SDG, 2015, NY): Zielsetzungen, die auch wie die entwickelten Rechtsinstrumente durch ein internationales Monitoring überprüft werden, die auf Veränderung zielen und damit auf die Entstehung von etwas Neuem.

Veränderung ist frei nach Niklas Luhmann in einer (Welt-)Gesellschaft nur zu erwirken durch neue Institutionen und Veränderung von Verfahren. Es sind diese Fäden des Zusammenwirkens, die das Gewebe unserer universellen Geschichte entstehen lassen. Die Welt ist, wie Luhmann sagt, unendlich komplex. Realität gewinnt sie nur dort, wo sie in Systemen Gestalt angenommen hat.

Ihre reale Gestalt gewinnen Systeme durch die hergestellte Stabilisierung einer Differenz von innen und außen. Sie entwickeln sich durch Integration und Anpassung – nach innen durch Integration, nach außen durch Anpassung. Diese grundsätzlichen Erfordernisse, die jedes System betreffen, das sich in seiner Umwelt funktionsfähig erhalten will, hat Talcott Parsons in seiner Systemtheorie noch durch zwei weitere ergänzt. Neben a. Integration, die die sozialen und emotionalen Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Systems in Einklang bringt (Zugehörigkeit), geht es auf der Ebene der Gesellschaft um die b. Ziele, die gemeinschaftlich erreicht werden sollen (goal attainment). Das System muss sich in Richtung bestimmter Ziele bewegen – welche auch immer das sein mögen. Wesentlich dabei sind die c. Orientierungsmuster, die geteilten und verbrieften Werte (latent pattern maintenance) der Mitglieder des Systems – im multilateralen System sind es die Staaten; sie müssen gepflegt und erneuert werden, um das Zusammenwirken zu ermöglichen. Nur dann ist das System zur d. Anpassung fähig (adaptation). Überlebensfähig ist ein System nur, wenn es sich seiner sozialen und physischen Umwelt immer wieder anpasst.

Auch die Vereinten Nationen ringen mit den globalen Herausforderungen. UN-Generalsekretär António Guterres forderte Europa im TV-Magazin „Heute Journal“ (ZDF, 26. November 2019) dazu auf, auf die Systemkonkurrenz zwischen USA und China zu reagieren: geschlossen und wertebasiert als derzeit „einzige existierende politische Alternative“ zwischen den Lagern. „Es muss gelingen, die völkerrechtlichen Errungenschaften des Multilateralismus zu retten.“ Im Frühjahr 2020 fordert Guterres nichts Geringeres als eine „Veränderung des Systems“ (Guterres 2020). Die Schwächen der internationalen Ordnung des Multilateralismus sowohl in den Strukturen als auch in den Verfahren waren längst deutlich geworden. Sie zeitigten wachsende Widersprüche zu den Zielen des UN-Systems, die die Corona-Pandemie wie im Brennglas weltweit sichtbar werden ließen. Aber vorhanden waren die WidersprücheFootnote 4 schon zuvor.

Kaum eine Analyse hat den Zustand der Welt besser auf den Begriff gebracht als die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 (Steinmeier 2020, S. 3). Die Erosion der internationalen Ordnung, deren Zeuge wir alle in diesen Jahren seien, ließe sich mit der Erhöhung des Verteidigungshaushalts allein nicht umkehren.

„Aber hüten wir uns davor, ihn allein zum bestimmenden Maßstab für die Friedlichkeit und Sicherheit unserer Zukunft zu stilisieren. Den Verlust von Diplomatie, von tragenden Säulen unserer Sicherheitsarchitektur, von Rüstungskontrollverträgen und internationalen Abkommen können wir nicht durch Panzer, Kampfjets und Mittelstreckenraketen kompensieren. Diese allzu simplen Debattenkategorien der jüngeren Vergangenheit sollten wir hinter uns lassen. Im Gegenteil, wenn wir nicht Wege zurückfinden in die allgemeine Respektierung des Völkerrechts, wenn wir nicht wieder lernen, die Sicherheit der anderen in die eigenen Sicherheitsstrategien zu integrieren, wenn wir Außenpolitik nicht genau darauf orientieren, dann werden wir uns in einigen Jahren – zum Schaden aller – weltweit totrüsten.“ (Ibid.)

Einen anderen, klügeren Weg zu finden, sei unsere gemeinsame Verantwortung: sich der Wirklichkeit zu stellen, nicht fatalistisch zu werden, vielmehr nach Wegen zu suchen, die Welt zu verändern und zu verbessern. Das werde nicht aus einer Position der Schwäche gelingen. „Deutschland aber kann seine Stärke nur aus der Gemeinsamkeit mit anderen beziehen.“ (Ibid.)

2 Am Ende multilateraler Gewissheiten: ein Lackmustest

Wo aber liegen die Gemeinsamkeiten angesichts der globalen Herausforderungen? Um dieser Frage auf die Spur zu kommen, messen wir deutsch-chinesische Beziehungen in ihrem jeweiligen Bezug zu den Grundlagen der UN an den vier von Parsons dargelegten Kriterien.Footnote 5

2.1 Integration

Unter Integration versteht man die Herstellung einer Einheit aus Differentem; die Vervollständigung, etwa der politischen Integration Europas; und schließlich auch die Einbeziehung, Eingliederung oder Aufnahme in ein größeres Ganzes. China war 1945 eines der 51 Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen und ist damit der deutschen Mitgliedschaft weit voraus. Die Bundesrepublik Deutschland wurde erst 1973 aufgenommen, zeitgleich mit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Erst nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Viermächte-Status ist es 1990 die Bundesrepublik, die das nun vereinigte Deutschland vertritt. Lediglich in der UNESCO war die Bundesrepublik bereits seit 1951 vertreten, die DDR trat 1972 bei.

China hingegen war von Anbeginn maßgebendes Mitglied in der Völkergemeinschaft, vertreten bis 1971 von der Regierung Nanjing/Taipeh. Denn als die UN-Gründungsversammlung in San Francisco stattfand, und auch als die Deklaration der Menschenrechte am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung in Paris verabschiedet wurde, war die Volksrepublik China unter kommunistischer Herrschaft noch gar nicht gegründet. Noch kämpften Rote Armee/Chinesische Volksbefreiungsarmee (VBA)Footnote 6 und die Nationalisten um die politische Kontrolle des Landes. Chinas amtierende Regierung in Nanjing schickte trotzdem Vertreter nach Paris. Auch nach der Ausrufung der Volksrepublik China 1949 vertrat die Regierung der Republik China, die Nanjing als ihre eigentliche Hauptstadt betrachtete und Taipeh lediglich als provisorischen Sitz der Regierung, den chinesischen Staat noch bis 1971 bei den UN. In Paris griff der chinesische Delegationsführer Zhang Pengchun in der Menschenrechtsdebatte immer wieder auf die chinesischen Diskussionen hierzu in den 1920er- und 1930er-Jahren zurück, die das Land nach der Ausrufung der Republik China bewegt hatten. „Dies war eine Ära der Offenheit, wie sie der Sinologe Frank Dikötter nennt, in der die Menschenrechte in den höchsten politischen Gremien Schutz genossen“ (Deuber 2019). Während Länder wie Deutschland und Italien in den Faschismus abglitten, gehörte China zu den progressiven Staaten. Und das zeigte sich in Paris in den Beiträgen Chinas zu den grundlegenden Fragen der Völkergemeinschaft und der Menschenrechte.

Die Bedeutung Chinas für die Entstehung der Völkergemeinschaft und die Entwicklung der ideellen und universellen Grundlagen des globalen internationalen Systems kann gar nicht überschätzt werden. Das trifft nicht nur auf die Gründungsphase der UN zu, sondern auch auf die der UNESCO. China gehört zu den Staaten, die die UNESCO-Gründungsakte am 16. November 1945 unterzeichneten. China war – und das spiegelt seine historische Bedeutung in diesem zeitgeschichtlichen Prozess wider – von Anbeginn ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats. Und mittlerweile ist China zweitgrößter Zahler im UN-System. Deutschland hingegen ist multilateral ein „Latecomer“, aber dennoch ambitioniert. Zuletzt war es 2019/2020 Mitglied im Sicherheitsrat und rief in dieser Zeit mit Frankreich die „Allianz für Multilateralismus“ ins Leben – als Garant für die souveräne Gleichheit aller Staaten, wie sie das UN-System verkörpert, und zur Verstärkung einer regelbasierten Zusammenarbeit, jenseits der großen Staaten, jenseits von Ost-West-Zuschreibungen, jenseits der Systemkonkurrenz.

2.2 Zielsetzung

Gemeinsam verfolgte Ziele sind ein probates Mittel, um die Beziehungen zwischen den Mitgliedern eines Systems in Einklang zu bringen. Um diese Ziele ringen die Vertreter in allen Institutionen des UN-Systems beständig, so auch in den Kommissionen und Konferenzen der UNESCO, in der die Zielsetzungen für die weltweite Entwicklung in Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation festgelegt werden. Im Grunde geht es um alle gesellschaftlichen Zukunftsfragen mit Ausnahme der Sicherheitsfrage. Und selbst hier gibt es inzwischen Berührungspunkte, zum Beispiel bei dem Thema Kulturgutschutz (von Schorlemer 2016). Bislang hat die UNESCO 46 internationale Instrumente zur politischen Steuerung globaler Zukunft vorgelegt. Die wachsenden Risiken, globalen Herausforderungen, die gesellschaftlichen Widersprüche und das Auseinanderdriften der Interessen verlangen nach einer Rückbesinnung und Neubestimmung. Sie verlangen nach einer Gesellschaftsvorstellung für das 21. Jahrhundert.

Menschen verfügen, ganz allgemein, über die erstaunliche Fähigkeit der Sinnbildung. Ihr kommt nach Émile Durkheim eine eigene Realität zu. Sie versetzt den Menschen in die Lage, die Komplexität der Welt auf ein Ausmaß zu reduzieren, an dem sich menschliches Erleben und Handeln orientieren kann. Soziale Systeme sind so gesehen nichts anderes als intersubjektiv konstituierte Sinngebilde, die abgrenzbar sind von einer nicht dazugehörigen Umwelt. Nicht anders verhält es sich auf der multilateralen Ebene im Zusammenwirken der Staaten. Wenn es eines Belegs bedarf, so ist Europa im Ringen des Rats um die Zukunft der Europäischen Union als multilaterales System nach der Corona-Pandemie ein höchst lebendiges Beispiel. Es geht um neue Institutionen und Verfahren der Kooperation, um Solidarität und Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union in einer aus den Fugen geratenen Welt.

Es sind Diplomatinnen und Diplomaten sowie Expertinnen und Experten, die um den jeweiligen „common ground“ in der UN-Kulturorganisation UNESCO ringen, die mit einem so breit gefächerten Mandat ausgestattet ist wie keine andere UN-Sonderorganisation: von der Hydrologie über frühkindliche- und Hochschulbildung, das Welterbe, die Wissenschaftsethik bis zu den Prinzipien der Regulierung des Cyberspace, den „Codes of Ethics“ im Netz. Im Vorhof der Politik analysieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Fragestellungen zur Zukunft ihrer Disziplinen. Und sie tun es im Bewusstsein, dass sektorale Entscheidungen in einer vernetzten und reflexiven Moderne nicht mehr ausreichen und dass die Hoffnung liberaler Philosophen, das Politische und das Kulturelle ließe sich sorgsam trennen, trügt. Als der erste Weltgipfel zur Informationsgesellschaft in der Geschichte der Vereinten Nationen zu Beginn des neuen Jahrtausends stattfand, war es die UNESCO, die das Konzept Wissensgesellschaften des 21. JahrhundertFootnote 7 auf die internationale Bühne hob. Es war so etwas wie eine „Weltformel für die Zukunft humaner Gesellschaften des 21. Jahrhunderts“, wie Jürgen Mittelstraß auf einer Konferenz über die Zukunft des Wissens 2015 in Düsseldorf sagte (Metze-Mangold 2015). Er unterscheidet Wissen als Verfügungswissen unseres Verstandes von Orientierungswissen als Ausdruck unserer Vernunft: Verfügungswissen als positives Wissen, wie etwas ist und funktioniert; Orientierungswissen als regulatives Wissen: wie etwas sein und funktionieren soll. Und um dieses regulative Wissen – wie etwas sein und funktionieren soll in dieser komplexen Welt – ist es in der Rasanz der Globalisierung internationaler Märkte und wachsender Systemkonkurrenz nicht zum Besten bestellt.

Erkennbar war, dass die Erzeugung und Verteilung von Wissen eine vorrangige Bedeutung in der Wertschöpfung und gesellschaftlichen Entwicklung eingenommen hatte. Die Generierung von Wissen, die Verfügung über Wissen, der Zugang zu und die Anwendung von Wissen bestimmen damit international die Dimensionen aller Lebens- und Arbeitsformen und machen die Strukturen unserer modernen Weltgesellschaft ebenso aus wie ihre Konfliktlinien. Die öffentlichen, privaten und marktmäßigen Austauschprozesse mit ihren sehr verschiedenen Anforderungen an Rechtssicherheit spielen sich in einem Netz der Netze ab, deren „Code“ (Lessig 2001) nicht offengelegt ist. Die Digitalisierung verändert damit nicht nur die gesellschaftliche Kontrolle und in dramatischer Weise unsere Wahrnehmung; sie verändert zugleich die Formen der Wertschöpfung im Zyklus von Idee, Anwendung, Herstellung, Vertrieb und Genuss.

Aber was bedeutet Orientierungswissen? Im Unterschied zur reinen Information setzt Wissen individuelle Erfahrung und reflexive Aneignung voraus. Vereinfacht gesagt ist Wissen verarbeitete Information. Die Möglichkeit zur Verarbeitung ist allerdings keineswegs voraussetzungslos, sondern abhängig von Bildung – auch im Sinne der Fähigkeit zur Kritik, zur Möglichkeit kritischen Überprüfens. Diese Fähigkeit allein erlaubt die Weiterentwicklung menschlichen Wissens. Es geht genau nicht um die unendliche Leichtigkeit des Seins einer überschwemmenden Informationsgesellschaft, als deren Ergebnis wir die Generierung von Redundanz in Echokammern sehen, die die frühen Pioniere des Netzes 2011 in Berlin nur noch zornig als „Text without Context“ bezeichneten. Der frühere portugiesische Kulturminister Roberto Carneiro bezog sich 2009 bei einem Future Forum der UNESCO in Paris auf den Sozialwissenschaftler Manuel Castells,Footnote 8 als er die Begriffsgeschichte so verstanden wissen wollte:

Die Metaebene von Daten sei Information; die Metaebene von Information sei Wissen; die Metaebene von Wissen sei Verstehen und dadurch Lernen – in der globalen Welt vor allem wechselseitiges Lernen – und die Metaebene von Lernen schließlich sei Bedeutung und damit Sinn. Und darum geht es ihm: die soziale Bedeutung von Wissen zu begreifen und mit geteiltem Wissen gesellschaftlichen Sinn zu erzeugen. Für ihn ist es dem Konzept der Wissensgesellschaften für das 21. Jahrhundert inhärent, bei aller Vielfalt ein gemeinsam geteilter Sinn für einen neuen Humanismus.

Gemeinsam geteilter Sinn ist ohne gerechten Austausch, ohne gleiche Verhandlungschancen, ohne internationale Kommunikation – auch jene der Bürgerinnen und Bürger – nicht zu haben. Die Gründungsväter und -mütter der UNESCO-Verfassung wussten das: „Ein ausschließlich auf politischen und wirtschaftlichen Abmachungen von Regierungen beruhender Friede kann die einmütige, dauernde und aufrichtige Zustimmung der Völker der Welt nicht finden.“ (Präambel, Abs. fünf).

In dieser „Weltformel für die Zukunft humaner Gesellschaften des 21. Jahrhunderts“ ist die Verwendung des Plurals „Wissensgesellschaften des 21. Jahrhundert“ kein Zufall. Sie trägt der kulturellen Vielfalt einer global vernetzen Welt Rechnung und zeigt: Es gibt die vielfältigsten Spielformen. Allen Spielformen ist jedoch als Grundlage für die Herstellung eines gemeinsam geteilten Sinns konzeptionell die Bindung an die Menschenrechte eigen, im gesonderten die Bindung an die vier Prinzipien moderner, gerechter, dazu auch innovationsfähiger und nachhaltiger „Knowledge Societies“: a) garantierte Meinungs- und Pressefreiheit, b) offener Zugang aller zu Information und Wissen, c. Bildung für alle, d. Förderung der kulturellen Vielfalt.

Verbrieft werden hier die Menschenrechte 19 (Meinungs- und Informationsfreiheit), 26 (Recht auf Bildung), 27 (Freiheit des Kulturlebens) sowie das Prinzip des offenen Zugangs zu Wissen (open access/open science), das beispielsweise wesentliche Grundlage des von der UNESCO entwickelten „Internet Universality Concept“ ist (Metze-Mangold 2018) und das die Weltkulturorganisation 2021 in einer Resolution untermauert hat; und schließlich das Vielfalt-Prinzip der Magna Charta der internationalen Kulturpolitik, der Konvention zur Vielfalt kultureller Ausdrucksformen aus dem Jahr 2005. Sie schützt das universelle Erbe und erlaubt den Staaten zugleich die Gestaltung ihrer Kulturpolitik in einer globalisierten Ökonomie.

2.3 Grundlegende Orientierungsmuster

Doch teilen Deutschland und China in gleicher Weise diese Prinzipien, die jedes völkerrechtliche Übereinkommen in der Bestätigung der grundlegenden universellen Orientierungsmuster des multilateralen Systems bei der Fortschreibung ihrer Rechts- und Organisationsgeschichte ihren jeweiligen Dokumenten voranstellt? Prüft man diese Frage an dem Selbstverständnis beider Staaten, wie es sich in den außenpolitischen Handlungen und deren programmatischen Begründungen widerspiegelt, sind starke Zweifel angebracht. Die behauptete und gemeinsam gezeichnete Berufungsgrundlage völkerrechtlicher Dokumente ist ja die Legitimation gemeinsamen Handelns mittels normativer Sinnbezüge. Und das trägt durchaus: In internationalen Konferenzen wird zum Beispiel gemeinsam an Open-Access-Dokumenten und Strategien gearbeitet, vorbereitend zu einem entsprechenden völkerrechtlichen Instrument zur politischen Absicherung des offenen Zugangs zu Information und Wissen, wie es die Mitgliedsstaaten beschlossen hatten.Footnote 9 In der realpolitischen Praxis jedoch fällt das Bild eines gemeinsamen und wechselseitigen Orientierungsmusters angesichts der weltpolitischen Lage offenbar immer weiter auseinander.

Die geopolitischen Interessen rücken stattdessen in den Vordergrund. Die mächtigste westliche Demokratie USA hat längst Ernst mit ihrer Ankündigung gemacht, ihre nationalen Interessen vornehmlich außerhalb des Multilateralismus zu vertreten. Der Ausstieg aus der UNESCO, schon zum zweiten Mal im Übrigen, der Ausstieg aus dem Atomabkommen mit dem Iran, der Rückzug aus Handelsverträgen und aus dem Pariser Klimaabkommen und zuletzt aus der Weltgesundheitsorganisation hinterlassen in der Internationalen Ordnung ein Vakuum – sowohl in der Machtpolitik als auch in der Orientierung, das China nicht nur mit dem Projekt der „Neuen Seidenstraße“, sondern auch in den UN-Organisationen mit seinem finanziellen Gewicht und einer ehrgeizigen Besetzungspolitik klug nutzt. Die Staaten rund um die Welt sind zeitgleich fieberhaft mit der Bekämpfung einer Pandemie beschäftigt. Und nicht wenige dieser Staaten sind hoch bedürftig.

Wie realistisch diese vornehmlich auf nationale Interessen fokussierte Vorgehensweise angesichts der globalen Herausforderungen und wechselseitigen Abhängigkeiten der Staaten in Zeiten von atomarer Bedrohung, Klimawandel, Terror, Finanzkrisen, Kulturgutzerstörung, Cyberkriminalität, künstlicher Intelligenz und Biotechnologie wirklich ist, steht offenbar nicht zur Debatte. Im Ergebnis hat sich die globale Ordnung im letzten Jahrzehnt substanziell verändert. Die beiden ökonomisch wichtigsten Staaten jener von Guterres angeführten Systemkonkurrenz mit ihren wechselseitigen Begründungs- und Rechtfertigungsverweisen – Thomas L. Friedman spießt das in der New York Times satirisch auf (Friedman 2010) – haben daran einen erheblichen Anteil.

Während Deutschland – viertgrößter Beitragszahler im UN-System, nicht aber ständiges Mitglied im Sicherheitsrat – als eher mittlerer Staat die Vorzüge eines zunehmend verblassenden Multilateralismus mit der Gründung der „Allianz für Multilateralismus“ wiederbeleben und damit einen Ausweg aus der wechselseitigen Blockade der Großmächte suchen will, verfolgt die Regierung Chinas unter Staatspräsident Xi Jinping eigene Ziele. Die Aufhebung der Amtszeitlimitierung für den Staatspräsidenten im Chinesischen Wahlsystem 2018 und die „historische Resolution“ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas 2021 untermauern Xi Jinpings Machtanspruch. Beobachter rechnen mit seiner Wiederwahl 2022, vielleicht sogar auf Lebenszeit.Footnote 10 In ungewöhnlich deutlicher Weise machte der damalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel auf der Münchner Sicherheitskonferenz auf die Veränderungen in der internationalen Ordnung aufmerksam: „Mit dem Aufstieg Chinas werden sich die Gewichte in der Welt massiv verschieben. Die Initiative für eine neue Seidenstraße ist ja nicht das, was manche in Deutschland glauben, eine sentimentale Erinnerung an Marco Polo. Sondern sie steht für den Versuch, ein umfassendes System zur Prägung der Welt im chinesischen Interesse zu etablieren.“ (Gabriel 2018) Dabei gehe es längst nicht mehr nur um Wirtschaft. China entwickele eine umfassende Systemalternative zu jenem Modell, das auf Freiheit, Demokratie und individuellen Menschenrechten gründe, so die Sorge internationaler Beobachter. 2019 wird der Menschenrechtsdialog mit Berlin ausgesetzt, stattdessen lädt die Regierung am 10. Dezember 2019, am Internationalen Tag der Menschenrechte, nach Shanghai ein: ein aus Sicht von Beobachtern signifikanter Vorgang. Die Staatsführung werbe immer offensiver für ihre eigene Auslegung der Menschenrechte, die mit den universellen Idealen nur noch wenig zu tun habe. In den UN-Institutionen werden die multilateral verbrieften Ideale und Prinzipien noch nicht offen infrage gestellt. Aber die Diskussionen werden langwieriger. Und die Zahl der autokratischen Staaten in den UN-Institutionen wächst.

Während der diplomatische Beobachter und ausgewiesene China-Kenner Kishore Mahbubani, der als Präsident 2001/2002 den UN-Sicherheitsrat leitete, in Die Zeit von der Rückkehr der „chinesischen Zivilisation“ spricht und feststellt: „Ich stimme Ihnen zu, dass autoritäre Systeme zum Scheitern verurteilt sind. Wenn China also in den nächsten Jahrzehnten erfolgreich bleibt, dann wohl durch ein flexibles System, nicht durch ein autoritäres“ (Bittner und Yang 2020), zeichnen Journalisten wie der langjährige Asienkorrespondent Mark Siemons, die Korrespondentin Friederike Böge von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und die Pekingkorrespondentin der Süddeutschen Zeitung Lea Deuber, Wissenschaftler wie Thorsten Benner und Schriftsteller wie Parag Khanna (alle 2020) die Lage in zum Teil drastischen Farben und registrieren, wie sich die Interpretation der Menschenrechte verändert, wie die veränderte Interpretation Eingang in Abschlussdokumente von Konferenzen findet und wie das von dem wachsenden Block autokratischer Staaten beklatscht wird. Es gehe China, so Mark Siemons, um eine eigene Version von Multilateralismus und den Entwurf einer alternativen Weltordnung, die der bisherigen, vom Westen dominierten Weltordnung an die Seite tritt und diese an Macht möglicherweise einmal übertrifft (Siemons 2020). Und das trifft offenbar auch auf das internationale Finanzsystem zu. „China und Russland, sind dabei ein alternatives Finanzsystem zum Dollar aufzubauen“, schreibt Federico Rampini im Corriere della Sera. Die Verwendung des chinesischen Renminbi nehme weiter zu, und Länder wie Iran und Venezuela hätten bereits gezeigt, dass sie die Auswirkungen von US-Sanktionen abfedern könnten (Rampini 2022). Die Grundpfeiler, auf denen die Vereinten Nationen gebaut worden sind, werden porös.

2.4 Anpassung

Neu ist, dass mit der Ausweitung der Machtsphäre Chinas jetzt anstelle von „tianxia“ – alles, „was unter einem Himmel ist“, das ursprüngliche chinesische Konzept einer vielfältigen Welt – ein Konzept der „Welt als Ganze“ (Siemons 2020) tritt, das sich als Alternative zu einer alle Staaten umfassenden internationalen Ordnung präsentiert, als eigene, chinesische Version von Globalisierung und Multilateralismus. Die Legitimation zu dieser Deutung liefern Historiker wie Qian Chengdan von der Universität Peking, der in der Zeitschrift Qiushi der Zentralen Parteihochschule schreibt: „Die westlichen Theorien des Universalismus erkennen nur die Einförmigkeit statt der Vielfältigkeit der kulturellen Entwicklung.“Footnote 11 Diese Darlegung des renommierten Forschers bezieht sich auf Francis Fukuyama und seine These vom Ende der Geschichte nach dem Mauerfall sowie auf seinen ideengeschichtlichen Ahnherrn Hegel. Die Behauptung verfängt, weil sie den blinden Fleck des üblichen westlichen Narrativs berührt: seine Kolonialgeschichte mit horrenden Auswüchsen auch und gerade in China mit seinen Opiumhöhlen; weil die Einforderung universalistischer Prinzipien nach dem Zweiten Weltkrieg im Kalten Krieg sich nicht in einem machtfreien Raum vollzieht, sondern vielmehr einherging mit westlicher, insbesondere US-amerikanischer (Kultur-)Dominanz, die als schreckliche Bevormundung erlebt wurde; und weil das universalistische Ideal gerechter Entwicklungschancen oft an globalen wirtschaftlichen Interessen der mächtigsten Staaten zerschellte – auch und gerade in der postkolonialen Zeit.

Und dennoch ist die Behauptung falsch. Sie ist wissenschaftlich falsch, weil „die westlichen Theorien“ alle westlichen Theorien umfasst. Auch wenn Hegel ideengeschichtlich eine nicht zu unterschätzende Prägekraft hatte, ist die Behauptung, dass alle westlichen Theorien des Universalismus nur die Einförmigkeit statt der Vielfältigkeit der kulturellen Entwicklung erkennen, wissenschaftlich nicht haltbar; sie ist historisch falsch, weil der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Universalismus nicht nur eine Lehre aus dem Völkermord der Deutschen, sondern auch eine Kampfansage an alle unterdrückenden Systeme war; weil er – was gerade die Beiträge der chinesischen Delegation bei der Verhandlung der Menschenrechte in Paris Ende der 1940er-Jahre so stark machte – mit seinen individuellen Freiheitsrechten das Ende des Kolonialismus und die Entstehung der Freiheitsbewegungen einläutete; und schließlich ist die Behauptung auch entwicklungsgeschichtlich falsch: Der menschenrechtliche Universalismus ist eine Idee, die sich im Laufe der Geschichte des internationalen Systems auf allen Kontinenten inhaltlich immer weiter entfaltete. Die Darlegung, „die westlichen Theorien des Universalismus erkennen nur die Einförmigkeit statt der Vielfältigkeit der kulturellen Entwicklung“ an, wird nicht nur durch diese Praxis, sondern durch alle von der Völkergemeinschaft, auch von Deutschland und China bis in das 21. Jahrhundert hinein verabschiedete völkerrechtlich relevanten Kultur-Texte widerlegt, die die Grundpfeiler der Weltkulturinnenpolitik heute darstellen, von der eingangs die Rede war: von dem 1995 vorgelegten Bericht der Weltkommission Kultur und Entwicklung unter dem schlagkräftigen Titel Our Creative DiversityFootnote 12 über die UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, ein Abkommen, das als gleichrangig gegenüber dem internationalen Handelsregime etabliert wurde (Art. 21) und dem Staat explizit das Handwerkszeug für eine eigene Kulturpolitik angesichts der Dynamik internationaler Märkte mit ihrem impliziten Anpassungsdruck an die Hand gibt; bis zu dem Konzept der Wissensgesellschaften des 21. Jahrhunderts, das ja gerade historische und kulturelle Verschiedenheiten zum Ausgangspunkt für ganz unterschiedliche Spielformen dieser möglichen Gesellschaften einer humanen Zukunft macht.

Die Behauptung unterschlägt jedoch vor allem, dass es die universalen Werte aller von China mit gezeichneten und ratifizierten Abkommen für die Entwicklung der Gesellschaft sind, die China binden, weil China Vertragspartei ist; und damit gegenüber allen anderen Vertragsparteien eine Verpflichtung einging: die Verpflichtung, die Prinzipien der Abkommen zu achten und die Ziele umzusetzen. Hier wird deutlich, dass Wissenschaft zur Legitimation interessengeleiteter Politik eines derzeit regierenden Systems herangezogen wird, einer Politik, die von den politischen Vorgängern Xi Jinpings durchaus anders definiert wurde (Interview mit Helwig Schmidt-Glintzer. Rosen 2017). Henry Kissinger, der frühere US-amerikanische Außenminister, stellte einmal fest: „Diplomacy is about perception.“ Und die Wahrnehmung, die die Regierung unter Staatschef Xi Jinping bei aller beibehaltenen multilateralen Diplomatie einfordert, ist die einer chinazentrierten Welt, in der Staaten untereinander handeln, ohne auf universelle Werte und die dem Individuum eigenen und eignenden Freiheitsrechte Rücksicht nehmen zu müssen. Das aber berührt alle blinden Flecke, jenen des „Westens“, der vergessen machen will, in welchem Ausmaß Menschenrechte in den Zeiten kolonialer Unterdrückung – im „Jahrhundert der Scham“ – mit Füßen getreten wurden und wie die Politik des Vasallentums in postkolonialer Zeit diesen Rechten spottete ebenso wie jenen blinden Fleck aller autokratischen Systeme, die vergessen, was die von China mitgestaltete UNESCO-Konvention gleich am Anfang sagt: „Ein ausschließlich auf politischen und wirtschaftlichen Abmachungen von Regierungen beruhender Friede kann die einmütige, dauernde und aufrichtige Zustimmung der Völker der Welt nicht finden. Friede muss – wenn er nicht scheitern soll – in der geistigen und moralischen Solidarität der Menschheit verankert werden.“

Scheitern können autokratische Systeme vor allem dann, wenn sie übersehen, in welcher Weise dieser Planet längst in der Phase der „reflexiven Moderne“Footnote 13angekommen ist. Die Wissenschaft spricht von der zweiten Phase der Globalisierung als reflexiver Moderne: Globalisierung bedeutet nicht mehr nur nationale Grenzen überschreitende Expansion, sondern die unausweichliche Rückbezüglichkeit der Entwicklungen auf Kulturen, Nationen, Individuen. Reflexive Moderne verlangt, „die Evolution von Widersprüchen als entscheidende Dimension der Globalisierung zu begreifen“ (Löffelholz 2002, S. 188 ff.).

Widersprüche zeitigt die politische Praxis der auf Nationalismus und Überwachung setzenden derzeitigen Regierung Chinas auf gleich mehreren Ebenen:

- Reputation kann man nicht kaufen, auch international nicht, sie wird zugesprochen. Die Würdigung als Soft Power bleibt enttäuschend. Chinas Versuch, zwei Spiele gleichzeitig zu spielen – eine geopolitische Supermacht mit eigener Definitionsmacht und ein modernes Wirtschafts- und Finanzsystem zu werden – will auch Anerkennung; diese aber wird verweigert (Khanna 2020): Kein Staat hat je so viel Geld für Außenpolitik in die Hand genommen, auch die USA nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrem Marshall-Plan für den Wiederaufbau Deutschlands nicht (Shambaugh 2015). Respekt und Reputation bleiben gleichwohl zwiespältig und werden nach dem Bruch des Hongkong-Vertrags international gänzlich versagt (Böge 2020).

- Regional ist Vertrauen auch eher Mangelware. In den Parteitagsbeschlüssen zu Taiwan fehlt 2020 erstmals das Wort „friedlich“. Der Anspruch auf die Inseln im Südchinesischen Meer ist eine Bedrohung. Asien war, und das ist im kulturellen Gedächtnis verankert, die meiste Zeit seiner Geschichte eine multipolare Region. Chinas neuer Dominanzanspruch versetzt die Anrainer in höchste Alarmbereitschaft.Footnote 14 Rund die Hälfte der Weltbevölkerung heute sind nichtchinesische Asiaten, viele haben Kolonialismus erlebt, waren zum Teil im Kalten Krieg unter westlicher Patronage, fast alle leben in offeneren Gesellschaften, die eigene Bündnisstrategien für das Südchinesische Meer ersinnen, gute Regierungsführung in der Pandemie beweisen, in der Bewertung der NGO Freedom House überraschend als Demokratien mitunter vor den USA rangieren und auch ökonomisch aus dem langen Schatten Chinas heraustreten: „Seit fast zehn Jahren verlagern sich die Lieferketten vom Hochlohnland China, das geistiges Eigentum stiehlt, hin zu den offeneren Volkswirtschaften Südostasiens mit ihrem niedrigeren Lohnniveau.“ (Khanna 2020). Chinas Nachbarn gehören zu der Ende 2019 mit China geschlossenen größten Freihandelszone der Welt, der „Regional Comprehensive Economic Partnership“, kurz RCEP. Aber sie kreisen keineswegs um das Land.

- National genießt Innovation höchste Priorität als Schlüssel zu einem modernen Wirtschafts- und Finanzsystem. Innovativ zu sein, ist ein Ziel, das viele Staaten teilen: Ohne Innovation kann die Erfolgsgeschichte nicht zu Ende geschrieben werden. Innovation entsteht aus Kreativität, einer Fähigkeit, die man als Spiel mit Regeln und Normen beschreiben kann. Nicht „nach“ Regeln, sondern „mit“ Regeln zu spielen setzt jedoch nicht nur genaue Regelkenntnis voraus, sondern die Freiheit, sich den Konventionen und tradierten Denkweisen nicht zu beugen. „Kreativität kann in diesem Sinne als Befähigung zu nicht-affirmativer (… auch oft subversiver) Praxis verstanden werden.“ (Jörissen 2019); eine wissenschaftliche Praxis also, die „Andersdenken“ erlaubt und die den Einzelnen zur souveränen Reflexion und zur kritischen Infragestellung ermächtigt. Diese Praxis aber wird verweigert und harsch verfolgt.Footnote 15 Die für die Erhaltung eines gesellschaftlichen Systems unabdingbare Latenzfunktion (latent pattern maintance) ist im Besonderen dem Bereich des kulturellen Handels zugeordnet. Sie stabilisiert die zum Erhalt des Systems erforderlichen Grundmuster und ist auf diese Weise in der Lage, Spannungen innerhalb eines sozialen Systems zu befrieden und Ausgleich zu schaffen. Doch es ist dieser Bereich des kulturellen Handelns, in dem die Widersprüche der reflexiven Moderne am ehesten aufbrechen.

Was wir bis gestern „Politik“ nannten, ändere täglich seinen Aggregatzustand. Mit diesem Satz reagierte Jürgen Habermas auf die globale Krise des Finanzsystems (Assheuer 2008). Er beschreibt die Legitimationsprobleme des kapitalistischen Systems, die nur von innen, durch politische Zähmung gelöst werden könnten. Ansonsten seien die Rückwirkungen katastrophal. In einer globalisierten Welt müssten alle lernen, die Perspektive der anderen in ihre eigene einzubeziehen, statt sich auf die „egozentrische Mischung aus Ästhetisierung und Nutzenoptimierung zurückzuziehen“ (Habermas 2010, S. 47).Footnote 16 Die fehlenden Handlungskapazitäten der internationalen Zusammenarbeit zur Lösung der globalen Probleme seien eklatant.

Handlungskapazitäten zu erweitern ist das Ziel der in deutsch-französischer Zusammenarbeit betriebenen ​Allianz für Multilateralismus, der bei Gründung 2019 auf Anhieb 60 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen beitreten. Außenminister Heiko Maas verfolgt mit der Initiative einen Dreiklang: die internationalen Normen und Vereinbarungen verteidigen, wo sie verletzt werden oder unter Druck geraten; die bestehende institutionelle Architektur reformieren; und multilaterale Vereinbarungen in Bereichen vorantreiben, die bislang nicht geregelt sind. „Nichts davon ist ein Selbstläufer.“ (Maas zit. n. Remme 2019)Aber der Dreiklang zeige in die Richtung, wie man pragmatisch Multilateralismus unter schwierigen Bedingungen stärken kann (Benner 2020). Die Allianz ist ein Netzwerk aus inzwischen mehr als 60 Staaten, das – je nach Problemlage – in flexiblen Konstellationen agiert und als Katalysator fungieren kann. Jedenfalls ist es kein Klub liberaler Demokratien, vielmehr steht die Allianz gerade jenen Staaten offen, die sich nicht als Teil des Westens begreifen. Dies glaubwürdig zu etablieren setzt womöglich auch voraus, dass Deutschland und Europa bereit sind, auf überkommene Privilegien innerhalb multilateraler Institutionen zu verzichten (Ibid.).

Die Vereinten Nationen als zugleich globale – im Sinne eines globalen räumlichen Gültigkeitsbereichs – und universelle – im Sinne eines normativen Gültigkeitsanspruchs – verfasste Organisation stehen jedenfalls unter einem erheblichen Anpassungsdruck.

3 Zur Kritik der kulturellen Grundlagen des multilateralen Systems

Ist das das Ende der großen Erzählung von globaler Vernunft und Verantwortung? Das Ende der Idee kultureller Vielfalt in einer regelbasierten internationalen Ordnung?

„Fast scheint es, als käme die wissenschaftliche Diskussion über internationale und globale Gerechtigkeit, welche die politische Theorie seit nunmehr 20 Jahren dominiert, nun als Farce auf die politische Bühne. Jedoch bleibt keine Zeit für Politikverdrossenheit“, konstatiert der Philosoph Julian Nida-Rümelin (Nida-Rümelin et al. 2019). Nichtdemokratische, insbesondere totalitäre politische Ordnungen seien eine potenzielle Bedrohung für das Modell eines gerechten Global-Vertrags. Die beiden Säulen der Vereinten Nationen – die UN-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zielen mit ihren Instrumenten, die wechselseitige Bindungswirkung erzeugen, ja auf die Ermöglichung menschenwürdigen Zusammenlebens auf diesem Planeten durch die Gewährleistung gleicher Grundfreiheiten für alle. Aber gerade dieser Anspruch ist es, der infrage steht und gestellt wird.

Die wissenschaftliche Diskussion der Internationalen Ordnung steht im Fokus des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt. In seinem Beitrag für das Exzellenzcluster analysiert Heiner Roetz, Professor für Geschichte und Philosophie Chinas, den hinter der mangelnden Gewährleistung allgemeiner Grundfreiheiten stehenden chinesischen Menschenrechtsdiskurs.

„China postuliert den Vorrang des Rechts auf Subsistenz, also eines Rechts der ‚zweiten Generation‘, dessen Sicherung ein Recht der ‚dritten Generation‘, nämlich das Recht auf die nur kollektiv zu bewältigende Entwicklung des Landes bedingt. Diese wiederum setzt einen souveränen, auf das Prinzip der Nichteinmischung pochenden Staat als Entwicklungsagentur voraus. So wird der Staat zum letzten Träger des Rechts, der die Rechte der Individuen, also die Rechte der ‚ersten Generation‘, im Namen des Kollektivs aufsaugt, statt sich durch sie Grenzen setzen zu lassen. Für diese Position wird vor allem entwicklungstheoretisch argumentiert, aber auch unter Verweis auf das ‚nicht-westliche‘ Wertesystem der chinesischen Kultur“(Roetz 2013).Footnote 17

In der entwicklungstheoretischen Debatte normativer Ordnungen steht die Frage eines gerechten Global-Vertrages, der Topos „Recht und Gerechtigkeit“, im Fokus angesichts einer sich wieder weitenden globalen Kluft zwischen Arm und Reich auch und gerade in der Zeit der Pandemie und angesichts der Wahrnehmung mangelnder internationaler Ausgleichsverfahren (Forst und Günther 2021; Nida-Rümelin et al. 2019). Der Einwand hingegen, der universelle Anspruch normativer Werte sei hinfällig, da die normative Grundlage der Menschen- und Bürgerrechte westlicher Kultur sei, ist historisch ebenso widerlegt wie ideengeschichtlich unhaltbar. Nichtsdestoweniger begleitet die Debatte „Universalismus versus Kulturrelativismus“ den Menschenrechtsdiskurs – den mächtigsten Diskurs unserer Zeit – von Anfang an, erhält in den 1990er-Jahren mit dem Aufkommen des Begriffs der „asiatischen“ Werte neuen Aufschwung und stellt damit die Legitimität der Idee universeller Menschenrechte schlicht infrage.

Aber „es war nicht ‚der Westen‘, der ein kleines Zeitfenster der Nachkriegsgeschichte nutzte und in einem Oktroi die westliche Tradition der Menschenrechte der weiteren Entwicklung der Weltgemeinschaft auferlegte. Das, was von links als Ausdruck einer neokolonialen Attitüde interpretiert wird und von rechts als Beleg für die Unverträglichkeit der Demokratie mit außereuropäischen Kulturen behauptet wird, hat gar nicht stattgefunden. Es war nicht der Westen, der die Menschenrechte zur zweiten normativen Quelle einer angestrebten globalen Friedensordnung etablierte, vielmehr versuchten zwei starke politische Kräfte des Westens der damaligen Zeit gerade dieses zu verhindern: das Pentagon und Großbritannien“ (Nida-Rümelin 2013, S. 16).

Die höchst aktiven südamerikanischen Staaten und Indien, die unterdessen bevölkerungsreichste Demokratie der Welt, waren treibende Kräfte für die Etablierung der Menschenrechte als zweite Säule neben der kollektiven Sicherheit. Der größere philosophische und spirituelle Zusammenhang, in dem der Menschenrechtsdiskurs steht und der diesen für ganz unterschiedliche kulturelle und spirituelle Traditionen anschlussfähig macht, wurde vor allem von den indischen und chinesischen Delegationsleiterinnen und -leitern dargelegt. Und es war der chinesische Diplomat, der es mit universeller Weitsicht zu verhindern wusste, dass die, wie es in einer Metapher aus dem 18. Jahrhundert heißt, dem Menschen angeborene Würde als „Gottähnlichkeit“ beschrieben wird, was die Menschenrechte eindeutig der christlich-jüdischen Kultur zugeordnet hätte (Bielefeldt 2008, S. 106).

Die Entwicklung des maßgeblich von Indien, China und Staaten Lateinamerikas angestoßene Menschenrechtsprozess zeigt bei genauer Hinsicht, dass es möglich ist, sich über kulturelle, weltanschauliche und politische Differenzen hinweg auf Prinzipien eines neuen Humanismus zu verständigen. Die Menschenrechte seien die Paulskirche des 21. Jahrhundert, so formulierte es Frank-Walter Steinmeier in seiner Zeit als Außenminister. Es ist ein politischer Humanismus, der vereinbar mit verschiedenen kulturellen Prägungen und religiösen Traditionen ist, an deren Traditionen ja gerade angeknüpft werden kann. Dieser Humanismus ist unverträglich mit Willkür, Haft und Diktatur, mit Diskriminierung und der Ausgrenzung und Verfolgung von Minderheiten.

Die zeitgeschichtliche Bedeutung dieses mächtigsten Diskurses der Nachkriegszeit hat Nida-Rümelin siebzig Jahre nach der Deklaration der Allgemeinen Menschenrechte auf den Begriff gebracht:

„Mit der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte setzt ein faszinierender, langjähriger, oft umwegiger Prozess ein, der alle Regionen der Welt und alle Staaten der Welt umfasst, der rund 20 Jahre später zu den beiden Menschenrechtspakten Mitte der sechziger Jahre führt, Ende der 70er Jahre durch den bis dato erfolgten Prozess der Ratifizierung völkerrechtliche Verbindlichkeit erhält, der einen wesentlichen Anteil am KSZE-Prozess hatte, der schließlich zum Sturz realsozialistischer Regime in Mittel- und Osteuropa führte, die Regierungsbewegungen gegen Militärdiktaturen in Südamerika und Afrika inspirierte und der auch in der Gegenwart politische Ordnungen stürzt, die unerschütterlich schienen, die aber dem Impetus universelle menschliche Rechte nicht entsprechen. Reihenweise kollabierten diktatorische Regime in Nordafrika, weitere sind gefährdet und die Erschütterungen, ausgelöst durch einen machtvollen Menschenrechtsdiskurs, reichen bis in die Zentren einer sich gegenwärtig formierenden Supermacht China“ (Nida-Rümelin 2013).

Wären die Menschenrechte gleichbedeutend mit dem Projekt leitkultureller Homogenisierung einer Weltgesellschaft, wie häufig unterstellt, so widerspräche dies dem freiheitlichen Anspruch, der für das Verständnis der Menschenrechte ja geradezu konstitutiv ist und sie für autokratische Systeme so gefährlich macht. Diese Menschenrechte haben sich in dem multilateralen UN-System längst zu einem neuen Verständnis von „Global Governance“ entwickelt, das zu neuen Verfahren der Beteiligung der Zivilgesellschaft und ihrer Nichtregierungsorganisationen führte. Und auch das Verständnis von „Staaten“, die als Mitglieder das System der Vereinten Nationen tragen, hat sich differenziert. Die staatliche Ebene umfasst im politikwissenschaftlichen Verständnis Länder, Provinzen und Kommunen. Als der damalige US-amerikanische Präsident Donald Trump den Rückzug aus dem Pariser Klimaabkommen verkündete, beschloss ein halbes Dutzend amerikanischer Megacities demonstrativ ihren Verbleib darin und arbeiten umso aktiver mit.

Auch China verfügt über eine eigene Tradition der Macht- und der Traditionskritik. Dem heutigen China eröffnet diese Tradition Anknüpfungslinien an den Menschenrechtsdiskurs der Moderne – ohne den Universalitätsanspruch der Menschenrechte oder die chinesische Kulturtradition infrage stellen zu müssen: Damit „lässt die chinesische Kulturtradition auch einen ganz anderen Blick zu: Statt sie in toto gegen die Moderne zu stellen, kann man sie bei aller nötigen Kritik auch ‚entgegenkommend‘ lesen und den Antizipationen der Idee der Menschenrechte in den klassischen Philosophien und so auch in der konfuzianischen Ethik nachgehen. Eben diesen Weg haben auch moderne Vertreter des Konfuzianismus selbst beschritten.“ Herrschaft sei in China schon früh als legitimations- und kontrollbedürftig angesehen und auf die Achtung des Menschen verpflichtet worden. Die Idee der Menschenrechte könne daher als Antwort auf Fragen verstanden werden, die in China selbst gestellt würden, schreibt der Chinakenner Heiner Roetz. Und es zeige im Übrigen, dass die kulturalistische Argumentation der Kritiker der Menschenrechte den Maßstäben dessen, worauf sie sich beriefe, selbst nicht standhalte. Dass dem Neuen und Besseren der Vorzug gegeben werden solle, selbst wenn sich für es kein Anknüpfungspunkt im Alten finden lasse, das wisse schon das „alte China“. „Statt der Alternative, die chinesische Kulturtradition gegen die Moderne auszuspielen oder sie mit dieser zu verabschieden,“ böte sich somit die dritte Möglichkeit, jene einer kritischen Rekonstruktion statt Restauration der chinesischen Tradition „sub specie“ der Anerkennung der Menschenrechte und der Demokratie – eine Möglichkeit damit auf der Höhe der Moderne. „Dies setzt allerdings voraus, mit der Tradition zugleich gegen sie zu denken. Etwas Ähnliches gelte im übrigen für den Westen: Auch hier sind die Menschenrechte keineswegs kulturelles Urgestein, sondern sie mussten sowohl in Anschluss an Traditionen als auch im Kampf gegen sie erstritten werden.“ (Roetz 2013).

Einfache Antworten auf diese Herausforderung sind nicht möglich, ja sie wären geradezu verdächtig.

„Dies gilt schon deshalb, weil den Menschenrechten zweifellos eine kulturkritische Komponente innewohnt.“ Mit einem Kulturromantizismus, der die Vielfalt der Kulturen und Religionen ohne kritische Vorbehalte als Wert an sich betrachtet oder sie gar gegen die vermeintlich nivellierenden Tendenzen der Moderne abschotten will, haben Menschenrechte daher nichts gemein. Vielmehr enthält der emanzipatorische Anspruch der Menschenrechte ein emanzipatorisches Potenzial, das es Menschen ermöglicht, kulturelle Plausibilitäten zu verändern und sich von kulturellen Bindungen, so sie dies möchten, auch zu lösen. Schon die Lerngeschichte der Menschenrechte in Europa hat gezeigt, dass beispielsweise die Anerkennung der Religionsfreiheit durch die christlichen Kirchen oder die allmähliche Durchsetzung der Gleichberechtigung der Geschlechter nur im Rahmen durchgreifender kultureller Wandlungsprozesse gelingen konnten bzw. können.

„Die hier aufgeworfene Frage kann daher nicht lauten, ob Menschenrechte sich den bestehenden kulturellen Selbstverständnissen einfach einfügen lassen; dies ist offenkundig nicht der Fall. Vielmehr geht es darum, ob und unter welchen Bedingungen der emanzipatorische Anspruch universaler Menschenrechte mit kulturellen Weltsichten und Lebensformen außerhalb dessen, was man seit Mitte des 20. Jahrhunderts als die ‚westliche Welt‘ bezeichnet, rezipiert werden kann“ (Bielefeldt 2008, S. 121).

4 Epilog

Sie waren losgeflogen, um den Mond zu erkunden, doch sie entdeckten die Erde. Die Metapher des Philosophen Richard Buckminster-Fuller vom blauen Raumschiff Erde erweist sich als Analogie, von der wir lernen können. Nach der Entstehung des Multilateralismus infolge zweier Weltkriege setzte die Wahrnehmung der Verletzlichkeit des kleinen blauen Planeten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine beispiellose Lernkurve in Gang, die die interkulturelle Zusammenarbeit ebenso beflügelte wie die internationale Ordnung und die erst mit dem Schwarzen Schwan der globalen Finanzkrise eines außer Rand und Band geratenen Finanzkapitalismus abrupt abgebremst werden sollte. Aber nur fünf Jahre später, 2015, wunderte sich die internationale Presse über die erstaunlichen Ergebnisse der Evaluierung der Millennium Development Goals (MDG): fünfzehn Jahre nach deren Verabschiedung durch die Staats- und Regierungschefs der Welt bei den Vereinten Nationen im Jahr 2000 in New York. Und während sich die internationale Diplomatie 2017 bei der Münchner Sicherheitskonferenz angesichts der drohenden Gefahr eines atomaren Schlags durch Nordkorea wieder einmal am Abgrund sah, hatte die Völkergemeinschaft die Kurve zur nächsten Etappe einer Agenda der Transformation der planetarischen Risikogesellschaft genommen und die Agenda 2030 mit ihren 17 „Sustainable Development Goals“ (SDG) verabschiedet.

Mit Abstand lässt sich manches lernen: Die „kulturgenetische“ Vereinnahmung der Menschenrechtsidee zu einem Produkt abendländischer Kulturentwicklung hat fast zwangsläufig zu einem imperialistischen Verständnis der Menschenrechte geführt: Der Universalismus der Menschenrechte büßt damit seinen universalen Anspruch ein und wird dann mit der weltweiten Durchsetzung angeblich genuin westlicher Werte gleichgesetzt, deren Geltung außerhalb des Westens nur als Folge externer „Implantation“ begreifbar ist (Bielefeldt 2008, S. 131).

Den Fallstricken dieses ideengeschichtlichen Entwicklungsschemas lässt sich nur entkommen, deutet man die Geschichte der Entstehung des mächtigen Menschenrechtsdiskurses und der mächtigen Befreiungsbewegungen als konflikthaften emanzipatorischen Akt. Wie die steile Lernkurve der letzten 50 Jahre zeigt, ist dieser universelle emanzipatorische Akt das Ergebnis eines Lernprozesses, der weit über den Horizont der europäischen Kultur hinausweist und bei gleichzeitig wachsender internationaler Krise zum Bezugspunkt produktiver interkultureller Auseinandersetzungen wurde.

Man lese, wie die vier Säulen des globalen Lernens am Ende des Jaques-Delors-Berichts schon Mitte der 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts beschrieben wurden: „We have to learn, / we have to learn to know, / we have to learn to do, / we have to learn to be and/we have to learn to live together.“

Menschenrechte sind Antworten auf Erfahrungen struktureller Gewalt. Sie sind der Ausgangspunkt für die freie Selbstbestimmung; sie sind auch Ausgangspunkt zu einem solidarischen Humanismus, einer neuen Aufklärung. Die Verdinglichung dieses Begriffs allerdings zu einer „quasi-kulturalistischen Kategorie“ wäre das Ende der Aufklärung, sofern man darunter „immer auch den Anspruch rückhaltloser und beständiger Selbstkritik, verbunden mit der Bereitschaft zu kommunikativer Auseinandersetzung“ (Bielefeldt 2008) versteht.

Diese Aufforderung zur selbstkritischen Reflexion richtet sich auch an Europa, diesen Kontinent der Vielfalt, diesen – auch nach dem Austritt Großbritanniens – größten einheitlichen Wirtschaftsraum der Welt mit seinem Regelwerk, das weit über Europa hinaus Standards setzt bis hin zum Recht auf Privatheit; und dessen Rechtssicherheit und dessen Freiheit ihn bei weit mehr als der Hälfte aller internationaler Konzernmanager zum derzeit attraktivsten Investitionsstandort der Welt macht: Diese Gemeinschaft, die die Globalisierung im Kleinen vorwegnahm, sollte in der Krise der aus den Fugen geratenen Welt bei kritischer Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte und ihren strukturellen Schwächen auch selbstbewusst ihre Stärke begreifen: in emanzipativer Auseinandersetzung am Ende ein attraktives, begehrtes Orientierungsmuster geworden zu sein.

In der multilateralen Kulturorganisation UNESCO mit ihrem breiten gesellschaftlichen Mandat, in der Wissenschaftlerinnen wie Experten neben den Diplomaten auf den Konferenzstühlen sitzen, kann man an der Weiterentwicklung des internationalen Systems wie in keiner anderen Organisation mitarbeiten. Man kann in seinem Gebiet in den nationalen Delegationen an der Weiterentwicklung der 46 Rechtsinstrumente mitwirken und dabei in der vielfältigen Völkergemeinschaft den universellen Anspruch rückhaltloser selbstkritischer Reflexion und argumentativer Auseinandersetzung einüben.

„Die Fähigkeit des Menschen zur Vernunft hat die Vereinten Nationen möglich gemacht. Der Hang des Menschen zur Unvernunft macht sie notwendig.“ Willy Brandt sagte das am 26. September 1973 vor den Vereinten Nationen (UN) in New York.