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Um es vorwegzunehmen: Es ist kein Überblick zu bekommen. Danach fragten Sie doch. Danach fragen wir alle. Kompakt, analytisch, meinungsstark, wie der Spiegel (Spiegel Online o. J.) das anbietet. Das ist aber schwierig. Schließlich leben wir in einer Situation der toxischen Debatten, der Symbolpolitik und der ausgelagerten Katastrophen. In einer Zeit der geschickt eingefädelten Intransparenz von Eigentumsverhältnissen, der Algorithmendominanz, der Börsenblasen und Krypto-Schneeballsysteme. Allein zu fassen, wo die Grenzen eines Wirtschaftskrieges verliefen, überstiege mein Vermögen. Ich fürchte, eine Beschreibung unserer Gegenwart würde heute immer unzureichend sein. Dazu ist der Begriff von Gegenwart mittlerweile auch zu ungenau gefasst. Sie stellt nicht mehr den Moment zwischen gestern und morgen dar, sie hat sich lange schon ausgedehnt zur breiten GegenwartFootnote 1, die immer mehr Jahrhundertsuperlativen Platz machen musste, vom Jahrhunderthochwasser zur Jahrhundertdürre, und seit kürzestem ist sie der Ort, an dem jederzeit Epochenwenden stattfinden können.

Ganz plötzlich, wie am 24. Februar 2022, kann man in einer neuen Welt aufwachen. Plötzlich müssen auch wir Menschen der Literatur qua Medien mit Militarisierung und Kriegslogiken umgehen, und lassen uns kriegsbedingte Energie- und Lebensmittelknappheiten ankündigen, hören zu, wie die Bundesregierung ein Statement verlautbart, dass jeder in die Ukraine fahren dürfe, um dort an welcher Seite auch immer zu kämpfen, und es lange Zeit zugelassen wurde, dass rechtsradikale Schläger loszogen, um sich in einer realen Kriegssituation mit dem Umgang mit Waffen vertraut zu machen (Litschko 2022; Heine 2022). Dies ist eines der Details einer allgemeinen Lage, in der wieder über Atomkrieg spekuliert wird, fern von jener prometheischen Scham, die der Philosoph Günther Anders (2002) in den späten 50ern diagnostizierte. Es liegt mir auf der Zunge, von einer neuen Realität zu sprechen, wüsste ich es nicht besser, es wäre auch vollkommen unhistorisch gedacht. Aber wenn Deutschland von einer Wirklichkeit überrollt werden kann, wie der Spiegel im März 2022 titelt (Spiegel Online 2022), ist die Frage, wer diese Wirklichkeit bestimmt, wer der Direktor der Wirklichkeit ist, wie es der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann formuliert hat, irgendwie schal geworden.

Die Vermutung, dass es in weiten Teilen schon Algorithmen sind, die jegliches Kollektiv ausmachen und über uns entscheiden, gerade, wo wir uns so individualistisch wähnen, wurde schon in zahlreichen Publikationen ausgesprochen, ob über den Plattformkapitalismus oder über die Philosophie des Silicon Valley. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk kämpft derzeit mit seiner Reichweite und antwortet diesem Befund mit einer Digitalisierungskampagne, die eher zeigt, dass er Influencer:innen und social media alles zugetraut, sich selbst aber nichts. In einer mittleren und jüngeren Generation sieht man die Deutungshoheit über das Weltgeschehen mehr bei Facebook und Tiktok als im veritablen Journalismus. Deregulierung ist längst ein Begriff aus den Neunzigern, und dereguliert hat sich auch der Aufklärungsimpetus, das heißt wir sind abhängig von der prekären Arbeit der Whistleblower:innen. Bei bestimmtem Geheimnisverrat droht ihnen mittlerweile, wie man am Beispiel von Julian Assange sehen kann, Verhaftung und Auslieferung in die USA und 175 Jahre Gefängnis nach einem aus den Jahren des ersten Weltkriegs stammendem Gesetz. Und das, unabhängig, wo man verhaftet worden ist oder seine Arbeit getan hat. So viel zur Lage der Informationspolitik.

Ich gebe zu, dass dies ein weiterer halbherziger Versuch eines Panoramas war und wenig den Überblick bietet, den Sie jetzt gerne hätten. Und nicht nur Sie, auch ich möchte mich ja orientieren, sehe es als eine Hauptaufgabe als Schriftstellerin zu verstehen, in welcher Welt ich lebe, und das verlangt einen gewissen Sinn für eine vertikale und horizontale Ordnung, selbst wenn ich sie theoretisch infrage stelle und gerne von Verflechtung und neuen Wissensformen spreche. Zentral darin ist die Frage des Handelns. Wer entscheidet noch? Es hat sich in der großen Perspektive eine Gegenüberstellung eines technokratischen Nichthandelns, einer Rhetorik der Sachzwänge und einer rechtspopulistischen Handlungsbehauptungsrhetorik ergeben, ein Grundstrom von Verohnmächtigungsdiskursen, die von spontaneistischen, impulsiven und voluntaristischen Handlungsvorstellungen durchkreuzt werden, was sich nicht selten in merkwürdigen Verdrehungen äußert, zum Beispiel von Opfer- und Täterzuschreibung. Dabei bleiben die Verohnmächtigungsdiskurse dominant, vor allem in den Hinterzimmern, in den Zusammenhangsräumen.

Meine Arbeit als Schriftstellerin beginnt meist auf der Ebene der Begegnung im Gespräch. Ich recherchiere am liebsten mit dem Aufnahmegerät in der Hand, höre Menschen zu, die ich als Expert:innen in ihrem Feld erachte, und ich betrachte selbst theoretisches Wissen immer unter dem Aspekt des Erfahrungswissens. Und so habe ich Gespräche mit Menschen aus der Ökonomie, Dolmetscher:innen, Schuldnerberater:innen, NGO-Mitarbeitenden, Flughafenangestellten und Anwält:innen gesucht, in den letzten Jahren zunehmend mit solchen aus der Zivilgesellschaft. Warum? Geht man auf eine konkrete soziale Verortung der eben beschriebenen Handlungsrhetorik ein, wird diese Frage, wer oder was über unsere Gegenwart entscheidet, heute am ehesten von Akteur:innen aus der Zivilgesellschaft mit einem stolzen „Wir“ beantwortet, sicherlich im Sinne einer kämpferischen Rhetorik. Schön und gut, werden Sie sagen, aber wer ist da überhaupt das symbolische Subjekt der Handlung? Schon lange sind es zumindest im Mediendiskurs nicht mehr so sehr Großparteien, alte Machtblöcke und gewerkschaftliche Zusammenschlüsse, die als Triebkräfte einer Veränderung gesehen werden, auch wenn letztere doch Ansprechpartner:innen von Initiativen sind. Es ist diese ausdifferenzierte Landschaft aus zivilgesellschaftlichem, themenbezogenem Engagement, die die alte Parteienzugehörigkeit bis zu einem bestimmten Grad symbolisch ersetzt hat. Auch das Lobbysystem der DAX-Unternehmen wurde mit einer sich zusehends professionalisierenden zivilgesellschaftlichen Lobbyarbeit beantwortet.

Wer ist überhaupt diese Zivilgesellschaft? Das ist gar nicht so einfach zu beschreiben. Institutionen, NGOs, fluide Zusammenschlüsse, Bürgerinitiativen, kleine und große Online-Plattformen, die sich da oder dort gründen. In meiner Gesprächsreihe „Welt verändern“ im Schauspiel Köln, zu der ich Menschen einlade, die außergewöhnliche und nachhaltige Wege in dieser Zivilgesellschaft nehmen, um aus der Welt einen besseren Ort zu machen, einen solidarischen, nachhaltigen, ressourcenschonenden, gerechten, friedliebenden, oder schlicht ein sozial annehmbares Miteinander am Laufen halten, höre ich von Biographien, die meist mit einer Vielzahl dieser Zusammenschlüsse zu tun haben, niemals nur in einer aktiv sind. Denn so viel ist allen klar: Eine NGO besteht nicht für sich alleine, sondern agiert in einem Feld aus medialen und institutionellen Ansprechpartnern. Die sehr unterschiedlichen Akteur:innen mit denen ich seit Jahren zu tun habe, arbeiten in international agierenden Instituten wie dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin, das Hunderte von jungen Jurist:innen anzieht, um sich gegen Menschenrechtsverletzungen aller Art zu wehren, in parteinahen Stiftungen, die Plattformen schaffen, an denen sich unterschiedliche Positionen begegnen können, oder sind Teil einer Selbsthilfegruppe in Neukölln in Vereinsstruktur, die mehr nach innen gerichtet ist, leben in studentischen AGs oder partizipieren in den Bürgerinitiativen aus dem Rhein-Main-Gebiet, die sich gegen die Flughafenerweiterung gewehrt haben. Alle sind sie gewissermaßen Expert:innen in ihrem Feld und versuchen, die Situation von Betroffenen zu verbessern.

Aber wie, fragen Sie, bewegt man nun etwas? Indem man großflächige Allianzen eingeht, eine breite Diskussion anstößt, sich mit an „runde Tische“ setzt? Gerade in den letzten Jahren hat diese Form der Verständigung zugenommen. So wurde nicht nur die Hambacher-Forst-Aktivistin Antje Grothus Teil der Kohlekommission, seit langem werden im Grunde in jedem heiklen politischen Moment zivilgesellschaftliche Akteur:innen an runde Tische gebeten, und Planfeststellungsverfahren, die alle Beteiligten einbinden sollten, gehören sowieso schon länger zum politischen Repertoire. Und ebenso lange hören wir die Klage, dass sie eher zu Informationsveranstaltungen für interessierte Bürger:innen verkommen sind, die beruhigt werden müssen, wenn der neue Flughafen, die neue Bahntrasse durch ihr Dorf gebaut werden soll, gegen ihre ureigensten Interessen zum vermeintlichen Wohl für die Allgemeinheit.

Dennoch ist es den politischen Vertreter:innen nicht abzusprechen, dass sie wirklich glauben, sie beteiligten sich alle an dem Prozess. Volksbegehren werden durchgeführt wie das der „Deutsche Wohnen enteignen“ in Berlin, an dem sich eine Million Menschen beteiligt haben und 59,1 % für eine Enteignung stimmten. Doch wie so ein Volksbegehren umsetzen? Da muss eine Fachkommission ran, die vermutlich die verfassungsrechtlichen Folgen prüft und zu dem Schluss kommen wird, dass es nicht so einfach geht. Und natürlich gibt es tausende, heute auch pandemiebedingte Bremsfaktoren, bis es zu so einer Kommission kommt. Es wird auf beiden Seiten im Sinne der Stadt, der Allgemeinheit und des Wohls der Bürger:innenschaft argumentiert, und die sich geprellt fühlende aktivistische Gruppe beginnt sich zu radikalisieren. Nicht selten wird mit Mitteln der Einschüchterung gearbeitet, ob durch Hate Posts oder Protestformen, die längst ihre Harmlosigkeit eingebüßt haben, seit sie von gewaltbereiten Rechtsextremen gekapert wurden. Die Mahnwachen vor den Häusern von Politiker:innen, die ich schon 2012 im Rahmen der Flughafenerweiterung in Frankfurt wahrgenommen habe, wirken im Zeitalter der Coronaspaziergänge einfach anders.

Und dennoch fühlt sich die grüne Aktivistin und Bürgerrechtsbewegte Antje Grothus (2020) nur noch „verkohlt“ von der Kohlekommission, und die zahlreichen Bürgerinitiativen, die ich im Jahr 2012 im Rhein-Maingebiet gesprochen habe, sehen sich betrogen von ihren Landesregierungen. Sie erzählten alle von Symbolpolitik und Scheinbeteiligung. Damals als Mainzer Stadtschreiberin wurde mir klar, dass die alten Machtblöcke durchaus noch existieren, jene Verbindung von Konzernen und Regierungen. Lufthansa hat nicht umsonst seine Brüsseler Vertretung direkt an die der hessischen Landesregierung gebaut. RWE ist mit Nordrhein-Westfalen verheiratet, und wir erleben es in diesen Tagen, wie der kriegsbedingte Gedanke eines Umschwungs in der Energiepolitik wieder in einer Verlängerung der Braunkohletagebauabbauzeiten verschwindet, nur mit dem Unterschied, dass das Versorgungsargument das Arbeitsplatzargument ablöst.

Die Lieferkettenpanik ist Teil der großen Angstkulisse, in die wir ständig hineingeraten, und die sich als Handlungshemmung tief in unsere Köpfe senkt. Die Wachstumsgesellschaft tut ihren Teil dazu, und alle Versuche, alternative Ökonomien in Gang zu setzen, werden im Mediendiskurs nur halbherzig vorgeschlagen. Immer wieder kommt hier das politische Vorstellungsvermögen an seine Grenzen. Wird zu wenig über Erfolge kommuniziert? Ist es ein hartnäckiges Festhalten aus identitätspolitischen Gründen, weil man zu viel verlieren würde, wenn man den Lebensplan ändert? Oder sind wir am Ende wieder bei den wirkmächtigen Narrativen angelangt, denen auch ich in meinen literarischen Weltentwürfen oft genug auf den Leim gehe?

Ja, die Narrative. Von ihnen war bis jetzt noch nicht wirklich die Rede, dabei haben sie das abgelöst, was man einmal früher als Ideologiekritik bezeichnet hat. Heute gilt es, sehr genau sich zu Narrativen zu verhalten, sie zu bestärken, ihnen etwas entgegenzusetzen. Der größte Unterschied zum Ideologiebegriff ist, dass sie keinen verbindlichen Zusammenhang ergeben, sondern pluraler, flexibler und in unterschiedlichen Abstraktionsgraden vorhanden sind. Es gibt keinen gezwungenen Zusammenhang. Man kann einem Verschwörungsnarrativ aufsitzen oder dem rassistischen Narrativ des „weiße-Frauen-vergewaltigenden-POC-Mannes“. Die Verohnmächtigungserzählung, das dystopische Narrativ der Ausweglosigkeit ist nur eines von vielen, auch wenn sie auf einer größeren Abstraktionsebene funktioniert, oftmals viele kleine Narrative verbindet.

Es ist ja so, dass wir Schriftsteller:innen besonders angstbegabte Wesen sind und uns gerne Szenarien aller Art vorstellen, wobei wir zunehmend zu Verohnmächtigungserzählungen greifen. Warum? Es sind die Welterzählungen, die noch zu erzählen sind, ob in der Dystopie oder im Gegenwartsbefund, in ihnen stellt sich noch ein Zusammenhang her, die Verknüpfung unseres sozialen Miteinanders. Denn indirekt verweisen sie immer auf die reale Komplexität, multilaterale politische Strukturen und Unübersichtlichkeit. Und dennoch wirkt in ihnen ein Gift, das mir ausgerechnet eine Netflixserie, Black Mirror, vor Augen geführt hat.

Die auf wohligen Konsum angelegte dystopische Serienform ließ mich nämlich fragen, wie weit ich von diesem Narrativ wirklich entfernt bin. Dem kultivierten Gefühl der Unausweichlichkeit und der Vergeblichkeit mit der Ausrede des Vorführens des Kritisierten, um es anzuprangern, ist keine Zukünftigkeit mehr zu entlocken. Im Grunde wird immer suggeriert, dass in Wirklichkeit niemand mehr entscheidet, dass die Gegenwart der reinste Selbstläufer ist und in eine Zukunft hineinläuft, die merkwürdig geschlossen ist. Niemand kann noch eine wirkliche Entscheidung treffen, einen Unterschied machen. Und doch werden ja real Unterschiede gemacht – Protestbewegungen setzen Themen, lassen Entscheidungen unumgänglich werden, private Initiativen wie die jetzt deutlich werdende Geflüchtetenunterstützung zeigen eine durchaus positive Weltsicht. Und in der Frage nach den Narrativen ist heute klipp und klar, dass es politisch nicht unschuldig ist, welche Erzählung man bedient.

Ergebnis aus dieser Erkenntnis, sind zum Beispiel die Publikationen des Sozialpsychologen Harald Welzer, der seit einigen Jahren im S. Fischerverlag Erfolgsgeschichten der Nachhaltigkeit und Resilienz sammelt, auch die Kuratorin und ehemalige Berliner Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur Adrienne Göhler, verfolgt die Strategie „Zur Nachahmung empfohlen“, so der gleichnamige Titel ihrer seit zehn Jahren global tourenden Ausstellung, in der Ideen weitergegeben werden, Lösungsansätze kursieren. Es wird eben nicht mehr das Untergangsbild alleine beschworen, wenn wir von ökologischen Krisen sprechen. Nicht mehr die Drohkulisse aufgerufen, die tickende Zeit, Bilder, die ohnehin bekannt sind und eine gewisse Abwehr erzeugen. Das ist eingängig und für mich war die Frage, in welcher Form ich mich dem anschließen könnte. Heldenerzählungen sind nur meine Sache nicht. Gerade das Erfolgsgesicht der Organisationen wirkte wie eine PR-Maßnahme, die mich nur zu gerne in den Dienst genommen hätte. Literatur als Hagiographie des zivilgesellschaftlichen Widerstands? Kommt da nicht die reale Machtfrage zu kurz?

Meine Recherchen sind bestimmt davon, ein Aktionsfeld dynamisch zu verstehen, weniger darum, dies Feld sauber abzustecken. Also jetzt nicht Gesprächspartner:innen ideal auszusuchen, sondern immer ein Plus, ein Drumherum zu erzeugen. Es ist letztendlich eine sehr einfache Vorgehensweise. Ich werde mir zu einem Problem, das zugleich immer schon auch ein ästhetisches Problem ist, Fragen stellen. Wie gehen wir damit um? Wie ist dieses Problem gelagert? Wie verbindet es sich mit anderen Krisenlagen? Wer ist beteiligt? Und mit welchen Sprachen wird darüber gesprochen? In welcher Form zeigt es sich, und vielleicht ist sogar diese Form mein erster Bezugspunkt. Ziemlich schnell werde ich feststellen, dass mein Verständnis vom Problem nicht ganz richtig ist und meine Fragestellung revidieren und erweitern, neu justieren, um erneut loszulegen. Literarisches Schreiben ist im Grunde der Prozess zu lernen, die Fragen richtig zu stellen. Es ist sowohl eine Kontaktnahme nach innen, und ein sozialer Potlatch nach außen, eben ästhetische Grundlagenforschung. Niemals gibt es eine rein angewandte Literatur.

Mein neuestes Stück „Das Wasser“ ließ dieses Forschungsfeld breit ausdifferenzieren. Von den bewusst lokal agierenden Gruppen, den unsicher wirkenden lokalen Vernetzern zu den selbstbewusst agierenden Anwält:innen der großen NGOs wie Greenpeace und Germanwatch ist es ja ein weiter Weg. Und so habe ich mich in Dresden sowohl mit Cradle to Cradle, als auch der TU-Umweltinitiative Dresden, den Fridays for Future, Ende Gelände, German Watch, einer Pastorin der evangelischen Kirche, Greenpeace, einem Wasserstoffunternehmer, dem Umweltzentrum Dresden, einem Streuobstwiesenbetreiber und dem Umweltamt unterhalten. Ach, da wären noch Vertreter:innen der „Woche des guten Lebens“, ein Gentrifizierungsaktivist, die Grüne Liga und eine Bewässerungsbeauftragte einer rheinischen Stadt, sowie Vertreterinnen der Ökologie-AG im sächsischen Staatstheater. Es ging mir um eine Multiperspektive zivilgesellschaftlicher Organisationen zu einer Krisenfrage, und es war klar, dass diese nicht nur lokal oder regional zu beantworten ist. Wer handelt? Wie ist noch zu handeln? Was bremst einen? Was ist überhaupt die Krise? Wie wird sie gefasst (beispielsweise leidet ein Drittel der Fläche Deutschlands unter Trockenstress)? Schnell wurde mir klar, dass sie allerdings thematisch ebenfalls nicht wirklich abzuschließen ist, denn auch die Wohnungsfrage ist eine Umweltfrage, auch die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen ist eine. Selbst verwaltungstechnische Fragen oder die nach Rechtssystemen könnte man stellen und die nach Kolonialismus, dem heteronormativen Patriachat. Und schließlich sind so was wie zivilgesellschaftliche Handlungen ohne die sie umgebenden staatlichen Behörden und politischen Kräfte nicht denkbar.

Erstaunlicherweise hörte ich in den sehr unterschiedlichen Gesprächen viel von Blockaden, Hindernissen, Bremsfaktoren, ja, kaum ging ich ins Detail, kam ich von dem stolzen „Wir“, das etwas verändert, schnell zu einem „Wir leider nicht“ und landete bei Vergeblichkeitserzählungen. Sicherlich habe ich dieses wiederkehrende Erzählmuster meiner Gesprächspartner:innen durch meine Fragen provoziert, aber es zeigte sich auch, dass diese Organisationsform nicht nur eine Verschiebung im sozialen Zusammenschluss von Akteur:innen bedeutet, sondern auch die der zeitlichen Handlungsstruktur, was wiederum zur Folge hat, dass viele der zivilgesellschaftlichen Verbünde flüchtig und zeitlich begrenzt funktionieren, man arbeitet mal in der einen, trifft sich womöglich in einer anderen wieder, aber sicher ist es nicht. Die eigene Meinung zu diesem oder jenem Thema löst eine grundsätzliche Genossenschaft ab. Vieles hängt an einzelnen Menschen, und insofern ist heute mehr von der Burnoutfalle von Graswurzel-NGOs zu hören, als von dem realpolitischen Ausbrennen in großen Strukturen. Und vor allem große Organisationen wie zum Beispiel Greenpeace, Amnesty International oder Germanwatch zeigen sich resilienter gegenüber diesen Flüchtigkeitsgefahren als eine lokale Bürger:inneninitiative, die sich gegen einen Autobahnanschluss wehrt.

Die einzigen, die nicht von Burnout und Bremswirkung erzählten, waren durch die Bank die Jurist:innen größerer NGOs, und es kam nicht von ungefähr, dass sie derart souverän auftraten. Sie hatten gerade den Durchbruch in Karlsruhe erlebt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht Ende April 2021, der von Germanwatch und Greenpeace mit unterstützten Klage Recht zu geben. Dies hat einen großen Impuls in die Szene getragen. In jeder Demonstration der Fridays for Future oder im nordrheinwestfälischen Braunkohlerevier im letzten Jahr wurde erwähnt, wie sich endlich, nach Jahren der Arbeit, dieser Etappensieg ereignen konnte, der die Bundesregierung dazu zwingt, in ihrer Gesetzgebung nochmal in Hinblick auf Generationengerechtigkeit nachzuarbeiten. Das Urteil, das die Freiheit künftiger Generationen in die Waagschale wirft, spricht von der hohen Wirksamkeit dieser von zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützten Klagen, wie sie in den letzten Jahren als politisches Instrument sich erwiesen haben, ob im Menschenrechtsbereich oder als Verfassungsbeschwerde. Gerade der Freiheitsbegriff öffnet hier die Tür. Aber ob sich diese sich veränderte Rechtsprechung in Realpolitik umsetzen lässt, steht noch zur Disposition. Hier beginnt erneut, Sie werden es bereits ahnen, schon wieder das „Ja, aber“ meiner Erzählung.

Wir kommen schon wieder zur Begrenztheit, der fragilen Struktur und Anfälligkeit für Burnout der zivilgesellschaftlichen Organisation, schließlich hängt die Schlagmacht oft an ganz konkreten Personen. Auch sehen sie sich einem sehr mächtigen politischen und ökonomischen Gegner gegenüber, der sich ganz anders organisieren kann. Aber man soll sich nicht täuschen, auch das sind nicht festsitzende Blöcke. Nicht nur in der Politik, auch in den Vorständen von Unternehmen gibt es mittlerweile Einsicht, dass anders gehandelt werden muss, und oftmals wird eine Zusammenarbeit auch versucht. Der größte Feind ist dabei wiederum nicht alleine das ökonomische und machtpolitische Interesse, sondern die fehlende politische Imagination. Man kann sich Veränderung einfach nicht vorstellen. Es gibt eine persistierende Unvorstellbarkeit von Veränderung, aus der wiederum eine fehlende Selbstwirksamkeitserfahrung resultiert, in dem Gefühl von zu geringer Handlungsmacht, egal, wo wir uns befinden. Beißt sich die Katze hier in den Schwanz? Aber natürlich – dieser Essay folgt der Kreisförmigkeit, die sich in meinen Gesprächen so deutlich ergeben hat.

Darin fand sich ein weiterer Aspekt: Die strukturelle Angleichung an das woanders Erlebte. „Ich mache doch nicht in meiner Freizeit bei denselben autoritären Strukturen mit wie auf Arbeit!“, so äußerte sich ein Bekannter, der sich neben seiner Arbeit rundfunkpolitisch engagieren wollte. Er machte seiner Enttäuschung darüber Luft, dass sich in der freigewählten Struktur genau das wieder herstellte, was er bei seinem Arbeitgeber, einer großen öffentlich-rechtlichen Institution, erlebt – das Einziehen von Hierarchien und eine Kultur der Angst. Im Umbau unserer Medienlandschaft als Antwort auf die rasanten Digitalisierungsschübe in der Gesellschaft entsteht daraufhin ein rasendes Mitläufertum vor der Angstkulisse des Verlusts von Reichweiten, und es werden Hierarchien eingezogen, wo vorher keine waren. Und wie wir alle wissen, ist hierarchisches Denken rasant ansteckend, denken Sie nicht?

Aber ich sehe, Sie sind ganz woanders. Sie würden an dieser Stelle gerne mal grundsätzlich einwenden, dass mein Politikverständnis einem bürgerlichen Blick unterliegt. Wie sehen Schulterschlüsse und Repräsentationsvorgänge derer aus, die nicht für sich sprechen können, das heißt, wer kann das wirklich? Und wieso begegne ich nicht dem Vorwurf, dass manches bürgerschaftliche Engagement gar nicht so allgemeinwohlorientiert ist, sondern einzig den eigenen Interessen verpflichtet – das berühmte Windrad vor dem eigenen Haus? Aber bevor ich Ihnen nun genügend Gegenbeispiele des sehr wohl am Gemeinwohl Interessiertseins vorführe, möchte ich eine ganz einfache Sache sagen, jenseits einer moralischen Bewertung: Die Zivilgesellschaft ist in der politischen Arbeit überhaupt nicht mehr wegzudenken. Sie mag sich symbolisch etwas verbraucht haben, aber in der realen Situation durchaus nicht. Ob daraus etwas erwächst, was wirklich einen Unterschied macht, lässt sich schwer abschätzen, es wundert jedenfalls nicht, dass dieses Engagement auch von zahlreichen Institutionen und Verbänden, parteinahen Stiftungen und einzelnen Politiker:innen unterstützt wird. Sie ist ein Ort der Aushandlungen, wie sie für demokratische Prozesse notwendig sind. Zu fordern bleibt, ebenso kreisförmig, dass die Beteiligung der Bürger:innen nicht nur scheinhaft ist, dass sie im Dialog mit Wissenschaft und Politik, auch mit der Kunst in Kontakt bleibt, weil die politische Imaginationskraft dringend Stärkung braucht.

An diesem Punkt angekommen, fällt mir auf, Sie haben interessanterweise noch immer nicht gefragt, woher die Gelder für diesen Text kommen? Das ist typisch für Ihre Generation (oder die Generationen, die Sie umgeben.) An gewissen Stellen wird einfach nicht nach dem Geld gefragt. Also dieser Text wurde von der Brenner-Stiftung teilfinanziert, quer durch die Hochschule für Kunst und Medien und die Akademie der Künste. Könnte man sagen, und man würde einem gewissen Transparenzbegriff Genüge tun. Man kann es aber ganz anders darstellen, und von jeder Menge Zwischenfinanzierungen, sowie sehr unklaren Ressourcengeber:innen sprechen. Auch darin läge ein Reiz.