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1 Einleitung

Das Verständnis von Behinderung als Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- sowie umweltbedingten Barrieren weist einen lokalen Bezug auf. Allerdings ist bislang weitgehend ungeklärt, wie in diesem Wechselspiel „Behinderungen unter welchen konkreten Bedingungen mit welchen Wirkungen für Lebenschancen und die Lebensführung hervorgebracht werden“ (Wansing, 2016, S. 258) und welchen Einfluss sozialrechtliche Teilhabeleistungen darauf haben. Es ist daher für die Teilhabeforschung grundlegend, ein Verständnis für teilhabeförderliche und teilhabehinderliche Prozesse auf lokaler Ebene zu entwickeln. Das lokale Geschehen und die Ausgestaltung der Infrastruktur auf dieser Ebene werden maßgeblich geprägt durch die Entscheidungen von Kommunen. Mit Kommunen sind hier in erster Linie die Gebietskörperschaften gemeint, deren Handeln durch demokratische Entscheidungsprozesse bestimmt wird. Sie nehmen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland eine besondere Stellung ein, die in Artikel 28 des Grundgesetzes begründet ist. Demnach muss für sie das Recht gewährleistet sein, „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln“. Daraus ergibt sich über die zugewiesenen Aufgaben und die Pflichtaufgaben hinaus ein Gestaltungsbereich für die soziale Infrastruktur, in der die „Allzuständigkeit“ (Bogumil, 2018, S. 772) der Kommunen für alle Angelegenheiten ihrer Bewohner*innen gilt. Diese lässt sich nicht auf eine nach funktionalen Regeln der Zuständigkeit begrenzte Verantwortung reduzieren. Die Gestaltung öffentlicher Räume und grundlegender Dienstleistungen für alle Einwohner*innen vollziehen sich in demokratischen Prozessen, die über die Beteiligung an Wahlen und Mehrheitsentscheidungen hinausgehen. Das Zusammenleben in einem überschaubaren lokalen Gemeinwesen ermöglicht eine Einflussnahme durch öffentliche Diskussionen und unkonventionelle Formen der Beteiligung. Die verfasste Kommune mit ihren gewählten Organen und ihrer Verwaltung kann dabei eine Federführung für die Integration unterschiedlicher gesellschaftlicher Aktivitäten übernehmen. Eine für alle zugängliche und nutzbare Infrastruktur im Gemeinwesen ist entscheidend für die Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensführung und sozialer Teilhabe. Leistungen von Rehabilitationsträgern können aus sich heraus Teilhabemöglichkeiten im Gemeinwesen nicht herstellen.

Es ist zum einen notwendig, die Möglichkeiten der Entwicklung teilhabeförderlicher Strukturen durch Aktivitäten auf kommunaler Ebene zu klären, und zum anderen, die Entwicklung von inklusiven Infrastrukturen auf kommunaler Ebene stärker zu einem Gegenstand empirischer Forschung zu machen. In diesem Zusammenhang soll dieser Beitrag die Bedeutung von Kommunen für die Teilhabeforschung verorten.

2 Kommunen als Ort der Inklusion und Ausgrenzung

Der menschenrechtliche Ansatz der Inklusion reagiert auf die Erfahrung von Ausgrenzung, die Menschen mit Beeinträchtigungen und andere soziale Gruppen machen. Durch die Sicherung von grundlegenden Rechten soll ein selbstbestimmtes Leben und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe ermöglicht werden. Gesellschaftliche Ausgrenzungen entstehen durch Institutionen und Organisationen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Es darf daher nicht der Eindruck erweckt werden, dass allein die Orientierung an Inklusion auf kommunaler Ebene stellvertretend die gesellschaftlichen Tendenzen der Ausgrenzung bearbeiten könnte. Kommunen haben auf die Entwicklung wichtiger gesellschaftlicher Bereiche, wie das Wirtschaftssystem, das System der sozialen Sicherung, das Bildungssystem oder das Rechtssystem, nur einen vergleichsweise geringen Einfluss. Dennoch gilt, dass in allen Lebensbereichen Organisationen entstehen (z. B. Betriebe, soziale Dienste, Schulen oder Gerichte), die in einem Gemeinwesen lokalisiert sind. Die Chancen der Teilhabe werden auch davon bestimmt, dass diese Organisationen lokal so gestaltet und angeordnet werden, dass sie erreichbar und nutzbar sind. Hier gibt es in kommunalen Verfahren beispielsweise bei der Erschließung von Gebieten, der Genehmigung von Bauten, der Planung von Verkehrswegen oder der Organisation sozialer Dienste Gestaltungs- und Ermessensspielräume.

Für die Teilhabeforschung ist die Entwicklung sozialer Dienste von besonderer Bedeutung, da diese soziale Räume strukturieren. Sie sind räumlich situiert, beeinflussen die Lebensführung der Adressat*innen und machen den gesellschaftlichen Umgang mit den jeweiligen Zielgruppen wahrnehmbar. Sie können somit Barrieren oder förderliche Faktoren für die gleichberechtigte Teilhabe darstellen.

In der Vergangenheit führte die in sich geschlossene Anstalt als Modell des Umgangs mit Beeinträchtigungen und chronischen Erkrankungen zur Separierung und zum Ausschluss ihrer Insass*innen aus anderen gesellschaftlichen Lebensbereichen. Anstalten haben dazu beigetragen, Beeinträchtigungen nicht als Teil menschlicher Vielfalt, sondern als Bedrohung wahrzunehmen. Spezialeinrichtungen signalisieren weiterhin die zumeist negativ wahrgenommene Besonderheit der Zielgruppe und begünstigen soziale Beziehungen, die auf die Unterstützung fokussiert sind. Sie können in Folge ihrer Spezialisierung das Ziel der „volle[n] Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens“ (Art. 26 Abs. 1 UN-BRK) nicht realisieren. Der UN-Ausschuss zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention drängt daher in seinen Bemerkungen zu den Staatenberichten und auch in den allgemeinen Empfehlungen (General comments) auf systematisch gestaltete Prozesse der Deinstitutionalisierung.

Solche systematischen Bemühungen sind in der Bundesrepublik Deutschland nur bedingt erkennbar. Die bundesgesetzlich geregelten Ansprüche auf Leistungen folgen in den einzelnen Büchern des Sozialgesetzbuches einer eigenständigen Logik und differenzieren versäulte und abgegrenzte Felder beispielsweise der Pflege, der Psychiatrie, der Eingliederungshilfe, der Arbeitsverwaltung oder der Kinder- und Jugendhilfe immer weiter aus. Die Problematik einer versäulten Entwicklung wird mittlerweile in vielen Feldern gesehen und vor allem als Planungs- und Steuerungsproblem thematisiert (Klie, 2017, 2020; Schädler & Reichstein, 2018; Schädler & Rohrmann, 2020; Luthe, 2013; Hopmann et al., 2019, S. 146 ff.). Damit einhergehende konzeptionelle Koordinationsansätze und Fachkonzepte wie die Sozialraumorientierung treffen jedoch ohne eine verbindliche rechtliche Grundlage auf Zurückhaltung bei den öffentlichen Trägern der Leistungen. Entsprechende Planungsaktivitäten können zudem Widerstände bei den freigemeinnützigen und privaten Leistungsanbietern mobilisieren, die sich in ihrer Autonomie beschränkt sehen und Wettbewerbsnachteile befürchten. Ohne einen solchen Planungsrahmen laufen Appelle zu einer Orientierung am Sozialraum ins Leere. Es stellt sich für die Teilhabeforschung vor allem die Frage, wie sich die Entwicklung sozialer Dienste in die Gestaltung einer inklusiven Infrastruktur einfügen lässt.

3 Die Entwicklung einer inklusiven Infrastruktur als Aufgabe der Kommunen

Kommunen werden unmittelbar hinsichtlich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention adressiert. Nach Artikel 4 Abs. 5 gelten die Bestimmungen der Konvention ohne Einschränkungen oder Ausnahme für alle Teile eines Bundesstaates. Sie sind verpflichtet, mit Beteiligung von Menschen mit Behinderungen geeignete Maßnahmen zur Vermeidung von Diskriminierung und zur Herstellung von Möglichkeiten der gleichberechtigten Teilhabe zu ergreifen.

In einigen Handlungsfeldern finden sich die Grundlagen für geeignete Maßnahmen in gesetzlichen Vorgaben. Zu nennen sind diesbezüglich insbesondere die Vorgaben zur Barrierefreiheit. Diese werden konkretisiert in EU-Richtlinien, in Gleichstellungsgesetzen, in entsprechenden DIN-Normen, in Bauordnungen oder in Bestimmungen für einen barrierefreien Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Das rechtliche Verständnis von Barrierefreiheit stellt die Auffindbarkeit, Zugänglichkeit und Nutzbarkeit „in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe“ (§ 4 BGG) in den Mittelpunkt. Es handelt sich insofern um eine inklusive Norm, als sie zwar im Kontext des Behindertengleichstellungsgesetzes auf Menschen mit Behinderungen bezogen wird, prinzipiell aber für alle Menschen gilt (Maaß & Rink, 2020, S. 42). Gleichzeitig bleibt die Norm abstrakt und vage (vgl. Welti, 2021, S. 19). Sie kann vermutlich nicht spannungsfrei in Bezug auf Menschen mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen konkretisiert (Maaß & Rink, 2020, S. 40) und empirisch immer nur begrenzt (Trescher & Hauck, 2020, S. 73) umgesetzt werden.

Die bisher ergriffenen Maßnahmen werden zunehmend in öffentlichen Räumen wahrnehmbar. Betrachtet man diese jedoch genauer, so bleiben sie oft punktuell und schaffen häufig lediglich unverbundene Inseln der Barrierefreiheit. Auch ist beobachtbar, dass meist nur zielgruppenspezifische Kriterien von Barrierefreiheit – insbesondere Barrieren für die Mobilität in der baulichen Umwelt und Barrieren der Kommunikation im Bereich des Sehens bei digitalen Medien – in der konkreten Umsetzung berücksichtigt werden. Die Verbindlichkeit der Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen bei Planungen und die Sanktionierung bei Nichtbeachtung sind gering. Es ist jedoch eindeutig, dass sich aus den rechtlichen Normen originäre Handlungsverpflichtungen für Kommunen ergeben. Sie müssen Barrierefreiheit in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich – beispielsweise in Verwaltungsabläufen – umsetzen und die Beachtung durch andere, beispielsweise in der Bauaufsicht, überwachen. Darüber hinaus kann die Kommune durch Anreize oder die Verknüpfung mit kommunalen Förderungen (z. B. in der Jugendarbeit oder bei Sportvereinen) entsprechende Impulse setzen.

Die Überwindung von Barrieren ist grundlegend für gleichberechtigte soziale Teilhabe. Für die Teilhabeforschung stellt sich die Aufgabe, ein vertieftes Verständnis von Barrieren hinsichtlich ihres materiellen Gehaltes anzustreben und das Thema auch als Gegenstand der Aushandlung zwischen unterschiedlichen Interessen (Trescher & Hauck, 2020, S. 75) zu verfolgen. Kommunen bieten ein ideales Forschungsfeld, um solche „Aushandlungspraxen“ (ebd.) als politische Teilhabe bzw. politische Partizipation empirisch zu erforschen. Barrieren im Alltag sind häufig eine Legitimation für Spezialeinrichtungen, da hier vermeintlich barrierefreie Sonderwelten geschaffen werden können, die aber zugleich selbst eine Barriere der gleichberechtigten Teilhabe darstellen. Es besteht also die Herausforderung, die Überwindung von Sondereinrichtungen mit der Entwicklung einer barrierefreien Umwelt zu verknüpfen. Ansätze, wie eine Zusammenarbeit zwischen Selbstvertreter*innen, Sozialleistungsträgern und Trägern von Diensten und Einrichtungen gestaltet werden können, werden zwar in der Praxis erprobt, sind aber nur selten Gegenstand empirischer Forschung.

4 Partizipation in der Kommune

Politische Fragen auf kommunaler Ebene zeichnen sich durch ein vergleichsweise höheres Maß an Konkretheit aus und betreffen Bürger*innen in ihrem Alltagsleben, sodass diese sich hier auch außerhalb von Parteistrukturen engagieren. Eigene Expertise, eigene Überzeugungen und Interessen können und sollen zum Ausdruck gebracht und in den öffentlichen Diskurs eingebunden werden. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) misst der politischen Partizipation einen hohen Stellenwert zu und ist von diesem Aspekt so durchdrungen, dass Hirschberg (2010, S. 1) von einem „Querschnittsanliegen“ der Konvention spricht. Neben dem grundsätzlichen die UN-BRK durchziehenden Tenor, dass bei allen Angelegenheiten, die Menschen mit Behinderungen betreffen, sie auch einbezogen werden müssen, behandelt Art. 29 UN-BRK das Thema Partizipation dezidiert und verpflichtet zur Förderung der „Bildung von Organisationen von Menschen mit Behinderungen, die sie auf internationaler, nationaler, regionaler und lokaler Ebene vertreten“.

Wie verbreitet diese organisierten Partizipationsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene sind, also durch Gremien wie Beiräte für Menschen mit Behinderungen oder durch Einzelpersonen wie Behindertenbeauftragte, wurde in Nordrhein-Westfalen untersucht (Kempf, 2019). Während es in allen kreisfreien Städten und in der Mehrzahl der Kreise (87 %) mindestens eine Form der Interessenvertretung gibt, sind diese auf Ebene der kreisangehörigen Städte (61 %) und Gemeinden (26 %) deutlich seltener. Gegenüber einer früheren Erhebung im Jahr 2014 (LAG, 2015) ist ein moderater Anstieg um 6 % zu verzeichnen, sodass jetzt insgesamt in etwas mehr als der Hälfte (53 %) aller Gebietskörperschaften in NRW eine Interessenvertretung vorhanden ist. Im Umkehrschluss besteht aber auch in knapp der Hälfte keine Möglichkeit, die eigenen Interessen in organisierter Form zu vertreten. Wenn 15 Jahre nach Einführung der Verpflichtung, durch Satzung zu regeln, wie die Belange von Menschen mit Behinderungen in der Kommune gewahrt werden, 80 % der Gebietskörperschaften dieser Regelung nicht nachgekommen sind, scheinen auch gesetzliche Regelungen nur wenig Wirkung zu entfalten.

Ob und wie unterschiedliche Formen der Interessenvertretung im Zusammenspiel mit der Selbstvertretung, der Verwaltung und den direkt gewählten Gremien der Kommunen wirksam werden und verbessert werden können, war eine Fragestellung der wissenschaftlichen Begleitung des Projektes „Mehr Partizipation wagen!“ der LAG Selbsthilfe NRW (2021). Kommunen wurden bei der (Weiter-)Entwicklung von Strukturen der Interessenvertretung in Workshops unterstützt. Hierzu erarbeiteten Menschen mit Behinderungen, Kommunalpolitiker*innen der Ratsfraktionen und Beschäftigte der Verwaltung konkrete Handlungspläne für die folgenden sechs Monate. Während der Begleitung dieser Arbeitsprozesse wurden sowohl bestehende Barrieren als auch wirksame Handlungsmöglichkeiten erkennbar (vgl. LAG Selbsthilfe NRW, 2021, S. 106 ff.). So war die Zusammenarbeit dieser drei Personengruppen überall ein Novum, welches als sehr positiv bewertet und als wirksame Form der Vernetzung angesehen wurde. Auch die gemeinsame Er- und Bearbeitung von Maßnahmen für verbindlichere Strukturen der politischen Mitbestimmung in der Kommune oder zur Verbesserung der Barrierefreiheit bei der politischen Partizipation (z. B. zugängliche Dokumente, Assistenz(-Finanzierungs)-Regelungen) wurden von den Mitwirkenden in einer Befragung nach einem halben Jahr als positiv bewertet. Die Einschätzungen über die Mitwirkungsmöglichkeiten fielen in den drei beteiligten Gruppen allerdings unterschiedlich aus. Insbesondere Personen aus der Politik schätzten die Partizipationsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen vor Ort nach einem halben Jahr sogar skeptischer ein. Allerdings kann die Angleichung der Sichtweisen als eine realistischer werdende Perspektive auf die vorhandenen Barrieren und Möglichkeiten angesehen werden.

Durch die formale Existenz von Gremien werden notwendige Voraussetzungen zur politischen Partizipation geschaffen, aber es sind weitere Aspekte zu beachten. So spiegeln vorhandene Gremien nur teilweise die Vielfalt der Menschen mit Behinderungen wider. Beispielsweise sind Menschen mit psychischen Erkrankungen und Menschen mit LernschwierigkeitenFootnote 1 lediglich in weniger als halb so vielen Beiräten vertreten wie Menschen mit Körperbehinderungen (Kempf, 2019, S. 22). Gehörlose oder schwerhörige Personen fehlen in ca. einem Drittel der Beiräte (ebd.). Ein weiteres Problem ist, dass die gleichberechtigte Mitwirkung in den allgemeinen lokalpolitischen Gremien, wie Stadträten und Ausschüssen, aufgrund von Barrieren meist nicht möglich ist.

Betrachtet man die Themen, die von Beiräten und anderen Interessenvertretungen bearbeitet werden, so steht das Themenfeld Barrierefreiheit deutlich im Vordergrund. Die Mitwirkung im Bereich der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen gehört hingegen bislang deutlich seltener zu ihrem Aufgabenbereich (vgl. LAG Selbsthilfe NRW, 2015, S. 99, 2021, S. 155 ff.). Dies muss sich im Rahmen der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe ändern. Viele Länder verpflichten in ihren Ausführungsgesetzen zum Bundesteilhabegesetz (BTHG) (z. B. § 5 Abs. 3 Hessisches Ausführungsgesetz zum SGB IX) die Träger der Eingliederungshilfe zur Bildung von Planungsstrukturen auf kommunaler Ebene unter Einbeziehung der örtlichen Vertretungen von Menschen mit Behinderungen. Inwieweit dies dazu genutzt werden kann, die Entwicklung von Barrierefreiheit und die Entwicklung von Unterstützungsdiensten im Zusammenhang zu betrachten, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht absehen.

5 Die Bedeutung der Kommunen für das Rehabilitationsgeschehen

Die Entwicklung der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen lässt sich als ‚Entkommunalisierung‘ darstellen. Die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen wurde aus der kommunalen Fürsorge herausgelöst und wird zunehmend durch Leistungsansprüche gegenüber überregional organisierten Rehabilitationsträgern geregelt. Den damit einhergehenden Erfolgen der Professionalisierung und Verrechtlichung stehen die Koordinationsprobleme der Rehabilitationsträger und der mangelhafte Bezug der Leistungen auf individuelle Bedarfslagen gegenüber. Für Menschen, die in ihrem Lebenslauf mit dem Eintritt einer Behinderung konfrontiert werden, stellt sich das Unterstützungssystem als unübersichtlich, wenig transparent und bürokratisch verregelt dar. Es gelingt nur mit großen Schwierigkeiten, ein in der individuellen Lebenssituation passendes Hilfearrangement zu entwickeln.

Wenngleich das Problem der Koordination von Leistungen auf lokaler Ebene und die Probleme des Zugangs zu Leistungen gesehen werden, erweisen sich die diesbezüglichen Regelungen im SGB IX als unzureichend und werden von den verantwortlichen Rehabilitationsträgern schlicht nicht umgesetzt. Mit dem BTHG wurde die Vorschrift zur Bildung regionaler Arbeitsgemeinschaften durch die Rehabilitationsträger (§ 25 Abs. 2 SGB IX) wortgleich aus der bis 2017 gültigen Fassung des SGB IX (§ 12 Abs. 2) übernommen, obwohl dem Gesetzgeber bewusst war, dass zwischen 2001 und 2017 keinerlei diesbezügliche Aktivitäten bekannt wurden.

Der erkennbare Schwerpunkt zur Koordination und Steuerung des Leistungsgeschehens im geänderten SGB IX liegt auf der Ebene des Einzelfalls. Hier werden Vorgaben für die Verfahren der Planung und der Bedarfsermittlung verbindlich für alle Rehabilitationsträger vorgegeben. Die Eingliederungshilfe im SGB IX umfasst eine Neuregelung des Gesamtplanverfahrens, das nun verbindlich durch die Träger der Eingliederungshilfe unter Beteiligung der leistungsberechtigten Personen durchgeführt werden soll. Unter den acht Kriterien, die für die Ausgestaltung der Verfahren genannt werden, ist auch „Sozialraumorientierung“ aufgelistet (§ 117 Abs. 1 Nr. 3 g). Es bleibt jedoch an dieser Stelle und im gesamten BTHG offen, ob dieser Begriff im Sinne von subjektiv wahrgenommenen und gestalteten Beziehungsräumen oder im Sinne von sozialen Nahräumen verstanden wird. Aus beiden Perspektiven ist eine intensive Auseinandersetzung mit den angestrebten Aktivitäten der Personen und den räumlichen Rahmenbedingungen im Gesamtplanverfahren notwendig. Dazu ist eine Kenntnis der lokalen Gegebenheiten und ggf. auch eine Einflussnahme auf kommunale Gestaltungsspielräume notwendig.

Die Instrumente zur Bedarfsermittlung sollen in Orientierung an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) die dort genannten neun Lebensbereiche zur Klassifikation der Aktivitäten und Teilhabe berücksichtigen (§ 118 SGB IX). Im Konzept der ICF müssen diese als Kontext zu eigens klassifizierten ‚Umweltfaktoren‘ in Beziehung gesetzt werden. Es ist allerdings der Einschätzung zuzustimmen, dass die in der ICF hinterlegten Codierlisten „für den Alltagsgebrauch zu kompliziert und wenig praxistauglich sind“ (Lüttringhaus & Donath, 2019, S. 103). Dem lässt sich allerdings dadurch begegnen, dass in der Gesamtplanung keine Codierung von Items, sondern nur eine offene, nach Lebensbereichen gegliederte Beschreibung vorgenommen wird, auch um Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen und Bezüge zu Umweltfaktoren sichtbar zu machen.

Anspruchsvoller ist hingegen die Aufgabe, die im Gesamtplanverfahren festgestellten Barrieren in der Umwelt mit den für die Beseitigung der Barrieren zuständigen Stellen zu kommunizieren und für ihre Beseitigung zu sorgen. Dies überschreitet den unmittelbaren Auftrag einer personenzentrierten Gesamtplanung. Der sich darüber hinaus ergebende Auftrag kann zum einen durch die Benachrichtigung der im Einzelfall zuständigen Stellen erfolgen. Zum anderen muss die individuelle Planung durch eine sozialräumliche fallübergreifende Planung in der Kommune ergänzt werden, in die neben anderen Quellen die fallübergreifenden Erkenntnisse aus der Gesamtplanung eingehen (vgl. Lüttringhaus & Donath, 2019, S. 104 ff.). Bisher sind dafür geeignete Verfahren noch nicht entwickelt. In der Erarbeitung von geeigneten Vorgehensweisen und in der Begleitung entsprechender Modellvorhaben liegt für die Teilhabeforschung die Chance, Wechselwirkungen, die zu einer Behinderung der Teilhabe in der alltäglichen Lebenspraxis führen, besser zu verstehen. Wenn diese Lücke nicht gefüllt ist, kann die Kritik an der Nutzung der ICF im Rehabilitationsrecht zum Zwecke einer pathologisierenden Diagnostik (vgl. Sturm, 2019, S. 120 ff.) nicht entkräftet werden.

6 Möglichkeiten und Grenzen kommunaler Planung zur Umsetzung der UN-BRK

Empirische Erhebungen belegen eine intensive Auseinandersetzung mit der UN-BRK auf kommunaler Ebene (bezogen auf Nordrhein-Westfalen vgl. Rohrmann et al., 2014b; Schmitz & Engels, 2020, S. 230 ff.). Ähnlich wie vom Bund und von den Ländern werden Aktionspläne zur Umsetzung der Konvention erstellt oder andere Planungsaktivitäten entfaltet. Die Entwicklung wird durch zahlreiche Empfehlungen, Projekte und Initiativen unterstützt.Footnote 2 Diesem Engagement steht die Gefahr gegenüber, dass Aktivitäten mit der Konvention verbunden werden, bei denen eine innovative oder teilhabeförderliche Ausrichtung fraglich ist. Maßnahmen scheinen teilweise an einem öffentlichen Darstellungsbedürfnis orientiert zu sein und mehr einem zeremoniellen als pragmatischen Umgang mit der Konvention zu folgen. Dabei haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, dass sich die originären Aufgaben der Kommunen mit den Verpflichtungen der kommunalen Ebene aus der UN-BRK überschneiden. Kommunen, die planerisch die Umsetzung der Konvention verfolgen, werden mit Herausforderungen konfrontiert, die nun abschließend knapp mit Blick auf ihre Implikationen für die Teilhabeforschung eingeordnet werden.

6.1 Prozesshafte Umsetzung auf drei Ebenen kommunaler Planung

Die Herausforderungen, aber auch die Möglichkeiten für kommunale Inklusionsplanung, werden in Abb. 1 verdeutlicht. Die Ausgangssituation wird für Kommunen von Faktoren beeinflusst, die unabhängig von der örtlichen Situation sind, wie den normativen Grundlagen und gesetzlichen Regelungen. Für Planungsprozesse ist zu klären, wie gut es gelingt, diese wichtigen Orientierungspunkte in einen fachlichen Entwicklungsdialog zu integrieren. Auch die bisherige Landschaft, beispielsweise an Sozialen Diensten und Organisationen der Selbstvertretung, sind für das Verständnis von Entwicklungspfaden wichtig. Wie sich Akteurskonstellationen auf Prozesse und deren langfristige Folgen auswirken, ist ein wichtiges Forschungsfeld. Auch wie sich die eigentlichen Prozessaktivitäten, wie Planung, Gestaltung von dauerhaften Strukturen und kurzfristigen Maßnahmen und Projekten zueinander verhalten, sollte näher betrachtet werden. Während der Konzentration auf dauerhafte Strukturen die Gefahr des Erstickens von Initiative und Flexibilität innezuwohnen scheint, sind Maßnahmen und Projekte umgekehrt mit dem Risiko konfrontiert, dass unklar bleibt, welche langfristigen Veränderungen daraus resultieren. Planungsaktivitäten stehen im Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Polen. Zudem besteht die Herausforderung darin, dass partizipativ eruiert werden muss, inwieweit durch beide Aspekte tatsächlich das langfristige Ziel der Entwicklung inklusiver Gemeinwesen verfolgt wird. Hierunter verstehen wir, Bedingungen im örtlichen Gemeinwesen zu schaffen, die es (beeinträchtigten) Menschen ermöglichen, ihr Leben selbstbestimmt in Bezug auf die üblichen Institutionen im Lebenslauf zu gestalten und Zugehörigkeit zu erleben. Das Konzept der inklusiven Gemeinwesen kann für eine Vielzahl von kommunalen Entwicklungsaufgaben als strategiefähiger Begriff verwendet werden, um langfristig die Teilhabe generell zu verbessern. Inklusionsplanung setzt an drei Ebenen an und zielt darauf ab, eine dauerhafte Orientierung an Inklusion im allgemeinen Planungshandeln (z. B. Schul-, Jugendhilfe- oder Bauleitplanung) einer Kommune zu etablieren (Rohrmann & Kempf, 2019). Für die Organisation von flexiblen und inklusionsorientierten Unterstützungsdiensten im Sinne des Art. 26 UN-BRK wird eine Fachplanung für Menschen mit Behinderungen erforderlich bleiben. Rückmeldungen zu Barrieren, beispielsweise im Rahmen der individuellen Bedarfsermittlung, werden aber mit Sicherheit nicht auf das Sozialressort begrenzt bleiben, sondern auch beispielsweise Fragen der Barrierefreiheit im Bereich der Gesundheitsversorgung berühren. Somit ist bei der Analyse von Planungsaktivitäten auch die Ebene der Ressortplanung mit in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus adressieren mittel- und langfristige Veränderungsbedarfe auch die Ebene der kommunalen Entwicklungsplanung. Insbesondere Fragen der Barrierefreiheit sind (nur) langfristig bearbeitbar. Wie dargestellt, sind die notwendigen Herangehensweisen komplex und Teilhabeforschung muss hinreichend differenziert sein, um bei der Orientierung zu unterstützen und die Folgen von Planungen bewerten zu können.

Abb. 1
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(© Kempf & Rohrmann, 2021, Eigene Darstellung)

Herausforderungen der Inklusionsplanung

6.2 Planung und Partizipation

Ein wichtiger Faktor für Planungsprozesse (Art 4 Abs. 1 UN-BRK) stellt die Sicherstellung der Mitwirkung von Menschen mit Behinderungen dar.

Dies betrifft Fragen der Zusammensetzung von Arbeits- und Leitungsgremien ebenso wie die Wahl von Methoden und Fragestellungen, welche die Perspektive von Menschen mit Behinderungen in den Fokus rücken und deren Expertise nutzen (Kempf, 2015). In diesem Zusammenhang sind auch Fragen der Entscheidungsfindung in den Blick zu nehmen. Die Delegation der Prozessverantwortung an die Interessenvertretung der Menschen mit Behinderungen erscheint aber wegen der meist limitierten Ressourcen und der Frage der adäquaten Rollengestaltung problematisch. Ob es gelingt, dass Menschen mit Behinderungen als kritisches Korrektiv in allen Prozessphasen mitwirken können, muss überprüft werden. Die oben skizzierte Entwicklung der Entkommunalisierung bei der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen hat zu Planungstraditionen geführt, die Menschen mit Behinderungen nicht aktiv einbinden und in ihrer formalisierten Gestaltung erhebliche Barrieren darstellen können. Laub (2021) zeichnet eindrucksvoll nach, dass die Einbeziehung von Menschen mit psychischen Erkrankungen in solche Prozesse eine Herausforderung darstellt und eine Bereitschaft zur Mitwirkung nicht einfach vorausgesetzt werden kann. Vielmehr ist der Selbstdeutung derjenigen Personen, deren Mitwirkung gewünscht wird, in solchen Prozessen Raum zu geben. Dass auch partizipativ angelegte Methoden der Sozialraumerkundung in ihren Folgen differenziert zu reflektieren sind und ein hohes Maß an Fachlichkeit verlangen, wird von Bertelmann und Konieczny (2018) beschrieben. Forschung in diesem Zusammenhang muss Chancen und Herausforderungen unterschiedlicher Partizipationsansätze in den Blick nehmen und zur Weiterentwicklung partizipativer Planungsprozesse beitragen.

Die Bezugnahme auf den Inklusionsbegriff erfolgt in der Konvention differenziert, meint im Kern aber immer die Möglichkeit, an konkreten Prozessen der Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben zu können – und zwar in allen Aspekten des Lebens (Art. 26 UN-BRK). Nur im konkreten Geschehen vor Ort kann sichergestellt werden, dass Beeinträchtigungen nicht durch einstellungs- und umweltbedingte Barrieren zu Behinderungen (in) der Teilhabe führen. Für die Teilhabeforschung sind die mit der Ebene der Kommunen verbundenen Fragestellungen bedeutsam. Die vom BTHG beförderte Betonung des Sozialraums wird die Forschungsaktivitäten (hoffentlich) weiter beleben.