Schlüsselwörter

1 Einleitung

Partizipative Forschungsansätze erfahren im deutschsprachigen Raum wachsende Popularität (Bergold & Thomas, 2017; Eßer et al., 2020; von Unger, 2014) und werden auch für die Fluchtforschung zunehmend reflektiert (als Überblick: Aden et al., 2019). Im Allgemeinen sind mit partizipativer Forschung ambitionierte Erwartungen im Hinblick auf kritische Reflexivitätssteigerungen, erkenntnisförderliche Innovationspotenziale, Stärkung von Selbstermächtigung (Empowerment) sowie politischer Veränderungskraft verbunden. Darüber hinaus scheinen mit der AnrufungFootnote 1 von Partizipation, Bürger*innenforschung und ähnlichen Forschungsansätzen gelegentlich aber auch symbolisch-legitimatorische Erwägungen und fragwürdige Effizienzeffekte bei der Datengewinnung verbunden zu sein. Die Rede von Partizipation kann also durchaus ambivalente Aspekte und forschungsethische Spannungen evozieren (Bröckling, 2005; Sprung, 2016) – nicht zuletzt auch im Kontext von Asyl- und Migrationspolitik.

Die im Titel gewählte Formulierung partizipative Teilhabeforschung dient dazu, die Differenz von Gegenstandsbezug (Teilhabe) und Modus Operandi (Partizipation) der Forschung kenntlich zu machen. Längst nicht jede Forschung zu Teilhabe verfährt partizipativ und nicht alle partizipativen Forschungsansätze beschäftigen sich notwendigerweise mit Aspekten der Teilhabe.Footnote 2 Unter partizipativer Teilhabeforschung verstehen wir (empirische) Forschungsvorhaben, die Teilhabephänomene von Personen bzw. Gruppen in zumeist vulnerablen, marginalisierten und prekären Lebenslagen zum Gegenstand haben und die eine aktive Mitwirkung von Vertreter*innen dieser Lebenslagen im Forschungsprozess selbst vorsehen. Damit zielt diese Art des Forschens darauf ab, die für Teilhabe- und Exklusionsphänomene zu untersuchenden Praxen und Lebenslagen (Bartelheimer et al., 2020) – in unserem Fall mit Fokussierung auf Fluchtmigration und Behinderung – in ihrer interventionistischen Ambivalenz (Kommission Sozialpädagogik, 2019) und ihren Wechselwirkungen mit der Forschungspraxis systematisch zu reflektieren.

Die Entscheidung zur Fokussierung auf lediglich zwei Differenzkategorien – Behinderung und Fluchtmigration – ist notwendigerweise mit einer Engführung der intersektionalen Perspektive verbunden. Das hat hier inhaltliche Gründe: Zum einen wirken institutionelle Eingriffe und Exklusionsstrukturen aufgrund der Einbettung in rechtlich-institutionelle AsylprozedurenFootnote 3 und formalisierte Bedingungen der Eingliederungs- und Behindertenhilfe besonders invasiv bzw. restriktiv auf die Möglichkeiten selbstbestimmter Lebensgestaltung ein. Zum anderen stammen unsere exemplarischen Forschungserfahrungen aus Projekten, die sich primär mit der Lebens- und Versorgungssituationen geflüchteter Menschen mit Behinderungen beschäftigt haben.

Grundlegend ist eine analytische Unterscheidung zwischen Subjekterfahrung und Objektform: Es wird zunächst von der existenziellen (jedoch nicht determinierten) Subjekterfahrung der Flucht bzw. einer Beeinträchtigung ausgegangen, die erst durch institutionelle Politiken, Regelungen und Praktiken der ‚Besonderung‘ in eine bestimmte rechtliche Objektform als Flüchtling bzw. als Menschen mit Behinderungen gebracht wird (Otten, 2019; 2020). Partizipative Teilhabeforschung zielt darauf ab, die Wechselwirkungen dieser beiden Beobachtungsebenen besser zu verstehen und so dazu beizutragen, die Möglichkeiten zur selbstbestimmten Lebensgestaltung zu stärken.

2 Zum Forschungsstand

Lebenslagen und Subjektivierungspraxen von geflüchteten Menschen mit BehinderungenFootnote 4 in sozialstaatlichen Hilfe- und Leistungssystemen und in politisch-aktivistischen Kontexten werden erst seit einigen Jahren reflektiert und empirisch untersucht (Afeworki Abay et al., 2021; Westphal & Wansing, 2019; Otten, 2019; Afeworki Abay & Engin, 2019). Das könnte daran liegen, dass die gängige Idee von subjektorientierter Teilhabe demokratietheoretisch erstens auf einem starken (Staats)Bürgerschaftskonzept aufbaut und zweitens eine prinzipiell anspruchsfähige RechtspositionFootnote 5 der Subjekte innerhalb eines sozialpolitischen Leistungs- und Hilfesystems annimmt (Bartelheimer et al., 2020). Beides kann aber im Kontext prekärer Fluchtmigration nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden. Wenn z. B. der aufenthaltsrechtliche Status einer Person (noch) nicht geklärt ist oder Erfahrungen mit den Funktionsweisen der sozialrechtlichen Systeme nicht vorliegen, sind die Möglichkeiten zur Wahrnehmung der politischen und sozialen Teilhabe bzw. des Rechts auf Sozialleistungen stark eingeschränkt (Gag & Weiser, 2020; Otten, 2018). Gleichzeitig sind institutionelle und professionelle Kategorisierungen als ‚Flüchtling‘, ‚Asylbewerber*in‘ oder ‚Schwerbehinderte*r‘, mit denen symbolische Zugehörigkeiten und sozialrechtliche Anspruchspositionen begründet oder verwehrt werden, überaus wirkmächtig (Grendel, 2018; Behrens, 2019). Unter diesen Vorzeichen stellt Teilhabe ein komplexes Politikziel dar, das sich weder formaljuristisch (Schülle, 2017) noch mit herkömmlichen Parametern der zivilgesellschaftlichen Engagementforschung allein hinreichend erfassen lässt (Lenz, 2019).

Studien im Schnittfeld Fluchtmigration und Behinderung können jedoch auf gesellschaftstheoretische Fundierungen aus der rassismuskritischen Intersektionalitätsforschung und den Disability Studies aufbauen und insofern auf theoretisch-begrifflicher Ebene gut an den kritisch-politisierten Impetus partizipativer Forschung anschließen (Köbsell, 2012; Otten, 2020). Hinsichtlich des Behinderungsbegriffs lässt sich dabei an das soziale bzw. das kulturelle Modell von Behinderung anknüpfen. Zudem ist der menschenrechtliche AnsatzFootnote 6 von Behinderung (Degener, 2015) gerade im Asylkontext von besonderer Bedeutung, weil er universelle Grundrechte zur Grundlage von Teilhabe macht (Waldschmidt, 2021). Eine Gemeinsamkeit dieser verschiedenen theoretisch-konzeptionellen Bezugspunkte liegt in der Betonung der sozial- und machtkritischen Perspektive, die Forschung dezidiert als Möglichkeit der gesellschaftspolitischen Kritik und Intervention auffasst.

Vor dem Hintergrund dieser knappen diskursiven und begriffstheoretischen Einordnung stellt sich die Frage nach empirischen Feldzugängen und der forschungsethischen Adressierung von Menschen, deren Lebenslagen durch Flucht- und Behinderungserfahrungen geprägt sind. Die individuellen und kollektiven Selbstvertretungsmöglichkeiten geflüchteter Menschen sind mit und ohne Behinderungen oft limitiert und zudem seltener in artikulations- und durchsetzungsstarken Vereins- und Verbandsstrukturen organisiert als etwa die etablierten Strukturen der Behindertenselbstvertretung. Für die intersektionale Erfahrung von Flucht und Behinderung existiert somit keine selbstdefinierende Community, aus der heraus partizipative Prozesse mit initiiert und begleitet werden (Otten, 2020). Auch für den weiteren Verlauf von Forschungsprojekten mit seinen mehr oder minder typischen forschungspraktischen Etappen (Antragstellung, Erhebungen, Interpretation, Ergebnisdarstellung), ist die Kontinuität aktiver Mitwirkung aller Beteiligten oft schwierig und verlangt hohe Flexibilität von allen Seiten (Afeworki Abay & Engin, 2019; von Unger, 2018).

Erfahrungen und Reflexionen aus verschiedenen neueren empirischen (Explorations-)Studien (Afeworki Abay & Engin, 2019; Farrokhzad et al., 2018; Gräber, 2020; Korntheuer et al., 2021; Lätzsch et al., 2021) verdeutlichen neben den theoretisch-konzeptionellen Herausforderungen, dass mit der Wahl partizipativer Ansätze auch erhebliche methodologische und forschungsstrukturelle Probleme einhergehen. Im Folgenden skizzieren wird daher zunächst, warum wir eine Kopplung intersektionaler und partizipativer Zugänge für die Schnittstelle Fluchtmigration und Behinderung für sinnvoll halten (Abschn. 3) und welche methodischen Potenziale und Herausforderungen damit für partizipative Teilhabeforschung verbunden sind (Abschn. 4).

3 Intersektionale und partizipative Zugänge zur Teilhabeforschung

Vor dem Hintergrund der rechtlich-institutionell und fachwissenschaftlich weitgehend separierten Diskurse zu Behinderung/Inklusion einerseits und zu Fluchtmigration/Integration andererseits wurden die Verwobenheiten dieser beiden Differenzkategorien lange übersehen und erst in jüngerer Zeit genauer in den Blick genommen (Otten, 2018; Schülle 2017; Wansing & Westphal, 2014). Während die Differenzkategorien auf institutioneller Ebene (Objektform) auf weitgehend getrennte Gestaltungs- und Regelungssphären verweisen, verschmelzen sie auf der Ebene subjektiver lebensweltlicher Erfahrungshorizonte zu einer (oft diffusen) Figuration von Ein- und Ausschlussereignissen. Diese Erfahrungen sind in wirkmächtige Normalismusregime eingebettet, die mitunter strukturelle Formen von Kulturalismus, Rassismus bzw. AbleismFootnote 7 aufweisen (Attia, 2013; Gummich, 2015; Schroeder et al., 2019; Afeworki Abay, 2022; Winker & Degele, 2009).

Im deutschsprachigen Raum haben besonders die von Gudrun Wansing und Manuela Westphal herausgegebenen Sammelbände auf den Zusammenhang von Migration, Flucht und Behinderung aufmerksam gemacht (Wansing & Westphal, 2014; Westphal & Wansing, 2019). Für die internationale Forschung haben die kulturwissenschaftlich geprägten Arbeiten von Fiona Kumari Campbell (2009) und Nirmala Erevelles (2011) grundlegende Verschränkungen von Ableism und Ethnizität (,Race‘) aufgezeigt. Eine postkoloniale Kritik der Engführungen der (westlichen) Disability Studies in einer globalen Perspektive hat ebenfalls die Einsicht in die intersektionale Verflechtung gestärkt (Grech & Soldatic, 2015; Pisani & Grech, 2015).Footnote 8 Eine postkoloniale Kritik eurozentristischer Wissensproduktion über Behinderung wird, wenngleich etwas verzögert, ebenfalls im deutschsprachigen Raum artikuliert (Attia, 2013; Afeworki Abay et al., 2021).

Mit einer kategorisierungskritischen Perspektive der Intersektionalität bietet sich eine Chance, Nicht/Behinderung (Dis/Ability) als eine Schlüsselkategorie von Teilhabe in einer pluralistischen Migrationsgesellschaft zu fundieren und in der Kopplung mit anderen Sozialkategorien, also in den Wechselwirkungen von Differenzkonstruktionen und nicht nur als akkumulierte Mehrfachdiskriminierung, freizulegen. So berücksichtigt beispielsweise das Mehrebenenmodell der Intersektionalität von Gabriele Winker und Nina Degele (2009) den ‚bewegten’ und mobilen Körper vor allem als soziologische und nicht primär als medizinische Kategorie und schließt so an soziale und kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies an (Waldschmidt, 2018).

Den Ausgangspunkt im intersektionalen Mehrebenenmodell bildet die Rekonstruktion von subjektbezogenen Auseinandersetzungen mit binären Identitätskonstruktionen, für die sich dann auf der Strukturebene und der Repräsentationsebene Entsprechungen beobachten lassen, welche die Identitätskonstruktionen als Strukturbedingungen und Diskurse „perpetuieren“ (Winker & Degele, 2009). Auch Christine Riegel (2016) versteht den Intersektionalitätsansatz als analytisches Gerüst, das dazu verhelfen kann, mehrdimensionale Differenzfigurationen auf verschiedenen Ebenen von Handlungspraxen, Identitätskonstruktionen und institutionellen Ordnungen zu re- und dekonstruieren. Im Sinne der Verschränkung von Gegenstandsbezug und Modus Operandi des Forschens dient er außerdem als methodologisches Reflexionsinstrument, weil der Ansatz für die Standortgebundenheit der Forschenden und damit verbundene Risiken der Reifizierung sensibilisiert (Riegel, 2016).

Aus der Perspektive der empirischen Fluchtforschung (Behrensen & Westphal, 2019; Klomann et al., 2019; Kaufmann et al., 2019) blickend, kann indessen eine kritische Perspektive auf räumliche und sozio-kulturelle Grenzsetzungen/-übergänge dafür sensibilisieren, dass der vermeintliche common sense aktiver Teilhabe an Gesellschaft häufig durch politisch-institutionelle Praxen von Exklusion bzw. durch Inklusionsvorbehalte konterkariert wird (Korntheuer, 2020; Otten, 2020; Scherr 2020; Schroeder et al., 2019).

Als Zwischenresümee lässt sich festhalten, dass das Konzept der Intersektionalität als politisches Aufgabenfeld und als Theorierahmen in vielen Disziplinen mittlerweile angekommen ist (Aden et al., 2019; Demmer & Heinrich, 2018; Kaufmann et al., 2019; Afeworki Abay, 2022; Krause & Williams, 2020). Die Übersetzung dieser macht- und diskriminierungskritischen Einsichten in methodologisch-empirische Forschungsdesigns ist allerdings weniger entwickelt. Partizipatives Forschen stellt in diesem Zusammenhang nicht etwa die forschungspraktische und methodische ‚Antwort’ auf die theoretisch-konzeptionellen Herausforderungen der Intersektionalität dar, sondern sie steigert vielmehr noch die Komplexität und den Reflexionsbedarf im Forschungsprozess (Hempel & Otten, 2021).

4 Methodische Reflexivität im Forschungsprozess

Auch dieser Beitrag basiert auf selbstkritischen Reflexionen zu bestimmten methodisch-konzeptionellen Herausforderungen partizipativer Forschung, die uns in eigenen Projekten, im kollegialen Austausch mit Partner*innen in Forschung und Praxis und in der Literatur begegnen. Im Folgenden werden drei zentrale Aspekte des forschungspraktischen Prozesses etwas genauer auf ihr partizipatives Potenzial hin betrachtet:

  • Feldzugänge und forschungsleitende Interessenklärung,

  • Datenerhebung und Lebensweltbezug,

  • Dateninterpretation und Ergebnisdarstellung.

4.1 Feldzugänge und forschungsleitende Interessenklärung

Eine Hauptforderung partizipativer Forschung lautet, dass bereits die Forschungsinteressen und Fragestellungen mit Community-Vertreter*innen gemeinsam entwickelt werden sollen. Dieser für partizipative Forschung entscheidende erste Schritt ist im Kontext von Fluchtmigration und Behinderung aufgrund des oft komplizierten Feldzugangs schwerer zu realisieren als mit anderen sozial organisierten Gruppen. Ohne eine sozialräumlich, kommunal oder institutionell verankerte Zugangsposition zu stark reglementierten und aufgrund der Unterbringung meistens segregierten Lebenswelten von Geflüchteten (mit Behinderungen) ist es kaum möglich, diese ‚Gruppe’ jenseits von Einzelfällen zu erreichen. Ein systematischer Feldzugang, wie er über eine kommunale Koordinationsstelle für Neuzugewanderte in der Studie von Annette Korntheuer (2020) beispielsweise möglich war, wäre zwar eine günstige, aber selten für Forschungsvorhaben so vorzufindende Ausgangslage. Auch Hella von Unger (2014; 2018) weist darauf hin, dass für partizipative Studien die Gewinnung von Co-Forscher*innen in marginalisierten und prekären Lebenssituationen oft schwierig ist, da sie seltener in Selbstorganisationen, Selbsthilfegruppen oder Vereinen als Interessensbündelungen engagiert sind. Wenn im Asyl-/Fluchtkontext noch weitere Faktoren hinzukommen, wie erhöhte sprachlich-kommunikative Übersetzungsanforderungen, eine besondere Vulnerabilität und bei vielen geflüchteten Menschen eine nachvollziehbare Skepsis gegenüber ‚Befragungen‘ jeglicher Art, so werden die ethischen und forschungspraktischen Herausforderungen angemessenen Feldzugangs und Vertrauensaufbaus zu Co-Forschenden offenkundig.

Co-Forschende mit eigenen Flucht- und Behinderungserfahrungen sind oft erst darüber zu gewinnen, dass sie zuvor von anderen Institutionen und Professionen als geflüchtete Person mit einer individuellen Beeinträchtigung adressiert wurden und über diese kategorisierende Praxisvermittlung in ein Forschungsprojekt gelangen. Fachkräfte der Praxis können zwar als Akteur*innen durchaus co-forschend mitwirken, aber nicht die (Erfahrungs-)Perspektive der Geflüchteten ‚vertreten‘ oder ersetzen. Wenn Professionelle und Fachkräfte als Gatekeeper involviert sind, ist es daher umso wichtiger, dass sich die institutionellen Zuschreibungen in der Forschung nicht einfach reproduzieren, sondern prinzipiell neu ausgehandelt, dekonstruiert oder zurückgewiesen werden können (Aden et al., 2019; Afeworki Abay et al., 2021; Otten, 2020).

Was ‚lohnende’ Forschungsfragen und Erkenntnisinteressen sein können, wird oft durch politische Erwartungshaltungen (und Forschungsförderprogramme), durch den theoretischen Originalitätsanspruch des jeweiligen akademischen Milieus und methodologische Präferenzen dominiert.Footnote 9 Aus einer partizipationstheoretischen Perspektive sind solche Vorfestlegungen in der Begründungs- und Initiierungsphase einer geplanten Teilhabestudie problematisch, wenn sie nicht mehr verhandelbar sind. Partizipative Teilhabeforschung muss zudem jenseits der Erstkontakte (über Institutionen) tragfähiges Vertrauen aufbauen (Afeworki Abay & Engin, 2019) und breite Möglichkeiten zu multiperspektivischen Selbstdeutungen im Sinne einer gelebten Intersektionalität (Identitätsebene) eröffnen. Im Idealfall können sich Co-Forschende das Projekt im laufenden Prozess mehr und mehr ‚zu eigen machen’. Die Herausforderung im weiteren Forschungsverlauf besteht dann darin, nicht bei der subjektbezogenen Dekonstruktion von Identitätsaspekten stehen zu bleiben, sondern sie in Relation zu gesellschaftlichen Strukturen (z. B. Aufenthaltsstatus, formaler Bildungsverlauf usw.) und Fremd- und Eigenrepräsentationen (z. B. als geflüchtete und/oder behinderte Person) zu analysieren (Afeworki Abay, 2022). Forschungsprojekte könnten dabei von Überlegungen zur Zivilgesellschaftsforschung profitieren, die zwischen positionaler und prozessualer Intersektionalität in sozialen Bewegungen differenzieren und letztere stärker betont (Lenz, 2019).

4.2 Datenerhebung und Lebensweltbezug

In vielen Texten zur partizipativen Forschung scheint gerade die Datenerhebung als besonders geeignet zu gelten, um den Co-Forschenden eine intensive Teilhabe am Forschungshandeln zu ermöglichen. Damit soll die datenbasierte Relevanzsetzung aus der Perspektive und in der je eigenen ‚Sprache’ der erforschten Lebenswelten betont werden. Intersektionalität wird dabei insofern berücksichtigt, als die Co-Forschenden es bis zum gewissen Grad selbst ‚in der Hand’ haben, welche spezifischen Subjektpositionen und Differenzkategorien sie in den Daten betonen möchten, ohne sich von vornherein einer Kategorie unterordnen zu müssen. Anhand von Beispielen aus unseren eigenen Projekten illustrieren wir Aspekte des Feldzugangs:

Durch Einzelgespräche, Arbeitsberatungen und Workshops sowie Fachtagungen wurden betroffene/erfahrene Einzelpersonen, Interessens- und Selbstorganisationen, Fachverbände sowie Praxispartner*innen vorbereitend, begleitend und auswertend im gesamten Forschungsprozess der MiBeH-StudieFootnote 10 eingebunden (Afeworki Abay & Engin, 2019). Die Anwendung des multimethodischen Feldzugangs war mit dem Ziel begründet, möglichst differenzierte Perspektiven von Geflüchteten und Migrant*innen mit Behinderungen über bestehende Barrieren und Ressourcen der Teilhabe zu erlangen (Korntheuer et al., 2021). Die Heterogenität der Gruppe (nach Beeinträchtigungsart, Migrationsform, Geschlecht, Alter, religiöser und ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität, Aufenthaltsstatus) erwies sich für die Datenerhebung als Herausforderung. Zum Beispiel gestaltete sich die Entwicklung eines einheitlichen und vergleichbaren Befragungsinstruments für die Interviews als aufwendig. Dies bedeutete, dass hohe Flexibilität und situative Adaption in konkreten Interviewsituationen unabdingbar waren. Eine erste Langversion des Leitfadens wurde mit mehreren Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis dahingehend diskutiert, inwiefern die Schwerpunktsetzungen der Fragestellungen für den Leitfaden angemessen sind (Afeworki Abay & Engin, 2019). Der Pretest verdeutlichte allerdings, dass die entwickelten Leitfadenfragen für einige Forschungspartner*innen immer noch zu komplex waren, sodass zusätzlich eine vereinfachte Kurzform des Leitfadens erstellt und je nach Bedarf in den Interviewsituationen eingesetzt wurde (z. B. für Personen mit unterschiedlichen Schweregraden kognitiver und psychischer Beeinträchtigungen, aber auch für Personen mit geringeren Deutschkenntnissen). Durch das angepasste Untersuchungsinstrument konnte eine zumutbare Dauer des Interviews gewährleistet werden. Diese partizipative Vorgehensweise war zwar (zeit)aufwendig, bewährte sich aber, weil damit eine breitere Beteiligung im gemeinsamen Forschen gesichert wurde.

Im Forschungsprojekt Netzwerk für Flüchtlinge mit BehinderungFootnote 11 wurden u. a. leitfadengestützte Gruppeninterviews mit geflüchteten Personen mit Behinderungen organisiert, um deren spezifische Lebenslagen als konjunktive Erfahrungen zu rekonstruieren.Footnote 12 Ein Gruppeninterview fand mit einer Gruppe von gehörlosen jungen Männern aus Syrien statt. Bei der Planung dieses Gesprächs stellte sich die Frage, wie in diesem Fall eine kommunikative Übersetzung und transkriptionsfähige Dokumentation praktisch zu organisieren wäre. Die einbestellte Gebärdendolmetscherin konnte zwar deutsche Gebärden für die Audioaufzeichnung verbalisieren, aber nicht die Gebärden der syrischen Männer.Footnote 13 Die jungen Männer hatten allerdings selbst vorgesorgt und zwei Studierende aus einer Initiative gehörloser Studierender mitgebracht, die in einer arabischen Variante internationaler Gebärdensprache kommunizieren konnten. Einer der beiden Studierenden übersetzte die gebärdeten Äußerungen der syrischen Männer in die deutsche Gebärdensprache, die dann wiederum von der Gebärdendolmetscherin in die deutsche Lautsprache übersetzt wurde. Diese Lösung zeigt, wie sich die Beteiligten die Forschung ‚zu eigen machen’, die ohne die selbstbewusste Mitwirkung der syrischen Männer gar nicht möglich gewesen wäre.

Ein anderes Beispiel aus dem gleichen Projekt illustriert die Erkundung der sozialräumlichen Bedingungen einer Asylunterkunft aus der Perspektive eines blinden Mannes, der zum Zeitpunkt der Durchführung des Projekts bereits über erste Deutschkenntnisse verfügte. Im Vorgespräch kam die Idee auf, seine üblichen Wege von der Bahnhaltestelle bis zur Unterkunft und innerhalb der Unterkunft abzugehen und dabei (auf Deutsch) seine Erfahrungen zu kommentieren. Ein sehender Studierender assistierte dem Mann als Weggefährte (Blindenführer) und ein anderer Studierender unterhielt sich mit dem Mann während des Rundgangs über sein Erleben von Alltagssituationen (öffentliche Verkehrsmittel, Einkauf, Alltag in der Unterkunft). Der Rundgang wurde mit einer Handykamera gefilmt und die Äußerungen mit einfachen deutschen Sätzen untertitelt, sodass sehende (oder z. B. gehörlose) Menschen später in einer Ausstellung mitlesen und zusehen konnten. Das gleichzeitige Gehen und Reden war für den blinden Mann keine Zusatzbelastung, sondern wirkte sich positiv auf das selbstläufige Erzählen in deutscher Sprache aus. Das Gespräch blieb dadurch nicht bei fehlenden deutschen Begriffen oder unangenehmen Erlebnissen des Mannes ‚stehen’, sondern das gemeinsame Gehen hielt in diesem Fall einen Erzählfluss im wörtlichen Sinne ‚am Laufen’. Zudem dokumentierte diese Form nicht nur Probleme und Barrieren, sondern machte auch die Bewältigungsstrategien sichtbar.

4.3 Datenauswertung und Darstellung der Ergebnisse

Im Rahmen des MiBeH-Projekts stellte sich die partizipative Datenauswertung als Herausforderung dar. Diese ist vor allem darin begründet, dass die methodischen Vorgaben der gewählten Forschungsansätze, insbesondere in Bezug auf die gemeinsame Auswertung der erhobenen empirischen Daten, für die Co-Forschenden zumeist schwer zugänglich waren. Als pragmatisches Vorgehen wurden Workshops organisiert, in denen die ersten Analysen der erhobenen Daten gemeinsam mit Selbstbetroffenen, Akteur*innen aus den jeweiligen Communities, der Praxis, Politik und Wissenschaft unter Nutzung ihrer jeweiligen Perspektiven und Expertisen diskutiert wurden (Afeworki Abay & Engin, 2019). Ausgehend von den ersten empirischen Erkenntnissen wurden die Beteiligten nach Teilhabebereichen (Wohnen, Bildung, Arbeit, Freizeit usw.) sowie nach Schwerpunkten (Zugänge zu Unterstützungsstrukturen, Beratungsstellen usw.) aufgeteilt. Die Ergebnisse der Gruppendiskussionen der beiden Veranstaltungen wurden zunächst in Form eines Protokolls dokumentiert und flossen in einem nächsten Schritt in die Datenanalyse ein. Die partizipativen Elemente in diesem komplementären Auswertungsverfahren waren insofern hilfreich, als hierdurch die Interpretationen und Rekonstruktionen der Datenanalyse durch das Forschungsteam nachvollziehbar gemacht werden konnten.

Auch in dem Netzwerkprojekt in Köln wurde versucht, geflüchtete Personen und Menschen mit Behinderungen aktiv bei der Dateninterpretation und Ergebnisvorstellung zu beteiligen. Multiperspektivische Teams mit Studierenden der Studiengänge Soziale Arbeit und Design sowie Personen mit Flucht- und/oder Behinderungserfahrungen erkundeten Asylunterkünfte und sollten anschließend ihre Eindrücke zu Inklusion/Exklusion nach eigenen Vorstellungen künstlerisch dokumentieren und reflektieren. Das anfängliche Interesse war bei allen Beteiligten zunächst groß, ließ dann aber bei den Co-Forschenden bald wieder nach, sodass der partizipative Ansatz nur in zwei der vier Teams realisiert wurde. Die spontane Mitwirkungsbereitschaft der Co-Forschenden ließ sich mit dem vergleichsweise langsamen methodischen Vorgehen eines Forschungsseminars nur schwer synchronisieren. Außerdem waren für die meisten Co-Forschenden mehrmalige Treffen ohne Fahrdienste und besondere Absprachen nicht möglich. Diese Erfahrungen zeigen, dass die konsequente Berücksichtigung der vielfältigen sprachlichen, physischen, sozio-kulturellen Diversitäten und Alltagsbedingungen von Geflüchteten bzw. Menschen mit Behinderungen schnell zu einer Komplexität führten, die sich im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts nur noch begrenzt methodisch umsetzen ließen. Ähnliche Herausforderungen berichtet auch von Unger (2018) aus ihren Lehrforschungsprojekten im Fluchtkontext.

Trotz der genannten Einschränkungen haben einige Erkundungen zu kreativen Ergebnissen geführt, die am Ende des Semesters in einer öffentlichen Vernissage mit den Beteiligten vorgestellt wurden. Studierende griffen die Erfahrungen aus der oben erläuterten Ortsbegehung mit dem blinden Mann und Erzählungen anderer Geflüchteter in einer ‚Visualisierung’ in Form einer Bodeninstallation auf (siehe: Abb. 1). Die Installation war großflächig im Ausstellungsraum auf dem Boden angebracht und Gäste der Vernissage standen beim Betreten des Raums unweigerlich in einem verzweigten Lebenskreis, der die verschlungenen Wege bzw. Begrenzungen des subjektiven Handlungsraumes geflüchteter Menschen verdeutlicht. Ein gewisses Maß an optischer Verwirrung, die durch die Installation mit erzeugt wird, war durchaus so beabsichtigt, um auch Sehenden das subjektive Empfinden von zeitweiliger Desorientierung in einer Asylverfahrenserfahrung näher zu bringen.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Köln International School of Design KISD, TH Köln)

Begehbare Visualisierung des Asylverfahrens

5 Fazit

Eine intersektional informierte und partizipativ orientierte Teilhabeforschung sollte in ihren theoretischen und methodischen Ansätzen der Komplexität von Subjekterfahrungen mit gesellschaftlichen Kategorisierungsangeboten und -zumutungen gerecht werden. Die exemplarischen Erfahrungen aus unseren Forschungsprojekten zeigen, dass die Bedingungen für eine partizipative Vorgehensweise zu Projektbeginn selten bekannt sind. Wenn in Forschungsanträgen als Begutachtungskriterien bereits detaillierte Fragestellungen, eindeutige methodologische Verortungen von Erhebung und Interpretation und nicht selten auch schon Angaben zu geplanten Ergebnisformaten erwartet werden, so läuft dies einem partizipativen Vorgehen potenziell zuwider. Im günstigen Fall lassen sich wichtige Grundentscheidungen zur forschungspraktischen Umsetzung einer förderwürdigen Idee eine Weile offenhalten und später im Forschungsprozess aushandeln. Mitunter ergeben sich nur so erkenntnisreiche Abduktionen (Reichertz, 2013) und lebensweltliche Veränderungen, die sich bei einer Antragstellung noch nicht als Outcomes und Meilensteine benennen lassen.

In der interdisziplinären Fluchtforschung ist im Laufe der letzten Jahre eine durchaus selbst-kritische Theorie- und Methodenreflexion entstanden, die deutlich macht, dass zentrale forschungsethische Anforderungen ohne eine umfassende Partizipation kaum einzuhalten sind. Auch aus der Intersektionalitätsforschung gibt es methodologische Vorschläge, die der gegenstandsangemessenen Komplexität und emanzipatorischen Programmatik Rechnung tragen sollen. Für die Disability Studies ist die Erwartung einer machtkritischen Revision von Gegenstandskonstruktionen von (Nicht-)Behinderung und entsprechender Forschungsabsichten seit jeher konstitutiv. Diese reflexiven Ansprüche sollten auch für eine partizipative Teilhabeforschung aufgegriffen werden, um Partizipation gleichermaßen als Gegenstand und Modus Operandi demokratisch-reflexiver Teilhabeforschung zu fördern.