Dieser Teil widmet sich der Vergabepraxis und stellt den Schwerpunkt unserer eigenen Untersuchung dar. Diese Schwerpunktsetzung beruht auf der grundlegenden Annahme, dass Märkte – auch und gerade die öffentlichen Beschaffungsmärkte – nicht lediglich durch einschlägige Gesetze, Rechtsprechung und ministerielle Verordnungen gestaltet werden, sondern auch durch die alltäglichen Verwaltungsentscheidungen und Interaktionen zwischen den Verwaltungsstellen und anderen Akteuren, die von diesen Entscheidungen betroffen sind. In unserem Fall sind dies insbesondere die teilnehmenden Firmen, sowie weitere organisierte Interessen, vor allem Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Vereinigungen von Konsument*innen der eingekauften Leistungen. ‚Market making‘ ist mit anderen Worten zu guten Teilen ‚street-level market making‘: In den Interaktionen auf den unteren Politik- und Verwaltungsebenen, die das vergabespezifische Regelwerk anwenden, wird wesentlich mit darüber bestimmt, wie stark der Preiswettbewerb um staatliche Aufträge eingeschränkt oder intensiviert wird.

Dieser Grundgedanke knüpft einerseits an etablierte Erkenntnisse der politikwissenschaftlichen und soziologischen Verwaltungsforschung an, die seit den 1970er Jahren im Rahmen der Implementationsforschung verdeutlicht hat, dass bei der Implementation politischer „Programme“ erhebliche Kontingenzspielräume für die Verwaltung bestehen (u. a. Mayntz 1980, 1983) und diese damit eben effektiv auch ‚Politik macht‘ (u. a. Howlett 2019; Martinsen et al. 2019). Dies gilt nicht nur für die Führungsebenen der Verwaltung, die zunächst im Fokus der Forschung standen, sondern auch für nachgeordnete Ebenen, welche zugleich die personelle Schnittstelle zwischen Verwaltung und Gesellschaft, also sozusagen das Gesicht der Behörde zu den Bürgerinnen und Bürgern sind. Letzteres ist insbesondere von der soziologischen Forschungslinie zur ‚street-level bureaucracy‘ (Lipsky 1980; Brodkin 2011; Hupe et al. 2015) herausgearbeitet worden. Mit dem Ausdruck ‚street-level market making‘ knüpfen wir an diese Forschungstradition an und nutzen sie gewissermaßen als Brille, durch die wir Vergabepraxis betrachten und versuchen, sie verstehend zu erklären.

Der Ausdruck ‚street-level bureaucracy‘ wurde von Michael Lipsky (1969) geprägt und bezeichnet jene Behörden, deren Angestellte in direkter Interaktion mit Bürgerinnen und Bürgern stehen und ihnen staatliche Leistungen oder auch Strafen zuteilen. Dazu zählen etwa Schulen, Polizei, die niedere Gerichtsbarkeit oder Arbeitsämter. Lipsky analysiert in seiner Studie die Art und Weise wie Lehrer*innen, Polizist*innen, Sozialarbeiter*innen und andere ‚street-level bureaucrats‘ ihre Ermessensspielräume nutzen und identifiziert gemeinsame Muster in den Handlungspraktiken und -rationalitäten dieser beruflich sehr heterogenen Gruppe. Diese Handlungspraktiken und Interaktionen zwischen Bürger*innen und staatlichen Bediensteten sind, so Lipskys Kernargument, ein wichtiger Bestandteil von Politik. Anstelle der strikten Trennung von Politik und Verwaltung, wie im idealtypischen Bürokratiemodell von Max Weber, wird Politik im Verständnis der ‚street-level bureaucracy‘-These nicht lediglich durch Gesetzgebung und Verwaltungserlasse gemacht, also nicht nur zwischen Parteien, Regierungen und Interessengruppen ausgehandelt, sondern es sind die alltäglichen Interaktionen und Entscheidungen auf der ‚Straßen-Ebene‘, die Politik ausgestalten und ihre Effekte wesentlich mitbeeinflussen.

Nun sind die Verwaltungseinheiten, die mit der Vergabe öffentlicher Aufträge befasst sind, keine ‚street level bureaucracies‘ in dem oben skizzierten Begriffssinn. Dennoch gibt es Parallelen in Bezug auf die Herausforderungen und Rahmenbedingungen, unter denen die Vergabestellen handeln. Zentrale analytische Unterscheidungen und Befunde zur ‚street-level bureaucracy‘ lassen sich daher in heuristischer Weise nutzen, also als Anleitung für die Suche und Erklärung von Handlungsmustern in der Vergabepraxis. Daher seien hier zunächst kurz die Grundzüge dieses Bürokratiemodells erläutert, soweit relevant für die nachfolgende Analyse.

1 Street-level bureaucracy – Grundzüge eines alternativen Bürokratiemodells

Zentrales Merkmale dieses Bürokratiemodells ist erstens der hohe Stellenwert von Ermessenspielräumen und das damit verbundene Handlungsmodell: Bürokratisches Handeln wird nicht, wie im idealtypischen Bürokratiemodell von Max Weber, als maschinenähnlicher Regelvollzug konstruiert, bei dem die gesatzten Regeln in weitgehend berechenbarer Weise angewendet werden. Nicht der Regelvollzug, sondern der Umgang mit Ermessensspielräumen wird gewissermaßen als Standardsituation konzipiert. Zwar haben Ermessensspielräume auch im Weber‘schen Bürokratiemodell ihren Platz; sie werden dort jedoch von den Beamten auf Basis ihrer fachlichen Expertise ausschließlich im Sinne der Organisationsziele gefüllt. Dass sich staatliche Bedienstete im Umgang mit Ermessenspielräumen von den Organisationszielen leiten lassen, wird zwar auch in der Perspektive der ‚street-level bureaucracy‘ anerkannt, aber nur als eine von mehreren Rollenerwartungen. Wichtiger Bezugspunkt des Handelns sind daneben Vorstellungen von einem „service ideal“, bzw. einer „ideal conception of the job“ (Lipsky 1980, S. xii), die ihrerseits durch kollektiv geteilte und auf das Gemeinwohl bezogene Normen geprägt sind.

Es ist kein Zufall, dass es sich bei vielen Berufsgruppen, die im Blickpunkt der ‚street level bureaucracy‘-Literatur stehen, um Professionen handelt. Als deren Kennzeichen gilt gemeinhin der relativ hohe Grad an Autonomie und die Orientierung an professionsspezifischen gemeinwohlbezogenen Normen. Im Falle der ‚street-level bureaucracies‘ beziehen sie sich typischerweise auf das individuelle Wohl der Adressaten der jeweiligen Leistungen oder Sanktionen, sind also klientenzentrierte („client-centered“) Ziele. Auch Angehörigen anderer, nicht-professionalisierter Berufe wird diese Orientierung am Gemeinwohl als Spezifikum des Berufsethos im öffentlichen Dienst aber attestiert. Diese Annahme teilt die Theorie der ‚street-level bureaucracy‘ im Übrigen mit einer breiten Literatur zu Werthaltungen im öffentlichen Dienst, auf die wir in Abschn. 5.3 noch näher zu sprechen kommen.

Dabei stoßen die street-level bureaucrats – und dies ist die zweite Kernannahme – allerdings berufsübergreifend auf ähnliche widrige Rahmenbedingungen, die es ihnen erschwert, ihre Aufgaben gemäß ihrer ‚ideal conception of the job‘ auszuüben. Dies ist zum einen ein Ungleichgewicht zwischen Ressourcen und der Nachfrage nach eben diesen Ressourcen. Street-level bureaucrats stehen üblicherweise vor der Aufgabe, eine massenhafte Anzahl von Fällen in knapper Zeit zu bearbeiten („mass-processing“). Hinzu kommt zweitens das Problem von uneindeutigen und zum Teil widersprüchlichen Zielen. So können klientenzentrierte, auf individuelle Bedarfe abstellende Ziele in Konflikt mit der Erwartung geraten, mithilfe der Leistung oder Sanktion auf die Verwirklichung gesellschaftlicher Ziele (sogenannter „social engineering goals“) hinzuwirken. Klientenzentrierte Ziele können auch in Konflikt mit Organisationszielen geraten, zumal wenn sich letztere infolge politischer Reformen ändern. Auf beide Arten von Zielkonflikten beziehen sich zahlreiche Forschungsarbeiten, die sich in Anwendung und Weiterentwicklung des SLB-Ansatzes mit dem Paradigmenwechsel zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat und der damit gepaarten Re-Organisation von Dienstleistungen in der Arbeitsförderung, Jugend- und Sozialhilfe befasst haben (u. a. Evans und Harris 2004; Brodkin 2011; Evans 2016).

Des Weiteren können Zielkonflikte und eine mangelnde Eindeutigkeit von Zielen auch daher rühren, dass die Organisationsziele oder die professionsspezifischen klientenzentrierten Ziele in sich selbst widersprüchlich oder zu allgemein gehalten sind. Im Falle von professionsspezifischen Zielen gibt es typischerweise nicht nur einen einzigen, allseits geteilten und über die Zeit unveränderlichen Verhaltenskodex (Lipsky 1980, S. 41). Im Falle von Organisationszielen bzw. organisationsübergreifenden politischen Vorgaben werden widersprüchliche Ziele oftmals in nur oberflächlicher Form in Kompromissformeln gegossen und damit zur Bearbeitung an die ausführenden Ebenen delegiert. Neben solchen expliziten (Schein-)Kompromissen verweist Lipsky zudem auf die Möglichkeit einer sukzessiven Anreicherung politischer Programme mit unterschiedlichen Zielen im Laufe der Zeit, bei der die Akteure mehr oder minder bewusst darauf verzichten, diese in widerspruchsfreier Weise miteinander zu verbinden oder in eine klare Rangordnung zu bringen, um die zugrundeliegenden Konflikte nicht offen anzugehen. Schließlich können Zielkonflikte auch ein Resultat vielfältiger Rollenerwartungen sein, die von der Öffentlichkeit, von Angehörigen der gleichen Berufsgruppe (‚peers‘), und nicht zuletzt auch von den Klient*innen an die street-level bureaucrats herangetragen werden.

Lipsky fasst demnach die grundlegende Herausforderung von street-level bureaucracies folgendermaßen zusammen:

„Street-level bureaucrats attempt to do a good job in some way. The job, however, is in a sense impossible to do in ideal terms. How is the job to be accomplished with inadequate resources, few controls, indeterminate objectives, and discouraging circumstances?“ (Lipsky 1980, S. 82).

In dieser Situation entwickeln ‚street-level bureaucrats‘ – und dies ist der dritte zentrale Argumentationsbaustein – verschiedene ‚Bewältigungsstrategien‘ („coping strategies“), um die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit zu verringern. Dies schließt zum einen bestimmte Handlungspraktiken und -routinen ein, mit denen Beschäftigte Kompromisse in der Ausbalancierung von Zielkonflikten unter den Bedingungen von Ressourcenknappheit schließen. Zum anderen schließt dies kognitive Anpassungen an, seien es Modifikationen des eigenen Aufgabenverständnisses (durch Abstriche von den eigenen Ambitionen, klare Ziel-Priorisierungen); oder veränderte Wahrnehmungen der Leistungsempfänger, etwa indem diese in mehr oder weniger unterstützungswürdige Gruppen unterteilt werden. Diese kognitiven Strategien dienen dazu, die Abweichung vom ‚service ideal‘ vor sich selbst, und in zweiter Linie vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen und kognitive Dissonanzen zu verringern.

Für diese Praktiken gilt das gleiche, was Hansbauer als angemessene Perspektive für das Verständnis von ‚Mikrorationalitäten des Verwaltungshandelns‘ beschreibt: Diese werden

„nicht als organisatorische Pathologien verstanden und unter Schlagworten wie ‚Vollzugsdefizit‘, ‚Zielverschiebung‘ oder ‚ungewollte Selektivität‘ thematisiert (vgl. Mayntz 1985, 216ff), sondern (…) als Anpassungsleistung von Akteuren an situativ gegebene Ungewissheitszonen“ (Hansbauer 1996, S. 69).

Bürokratische Handlungen sind demnach nicht als rein zweckrationale Wahlhandlungen zu verstehen, sondern folgen häufig auch sozial definierten Regeln der Angemessenheit, die im direkten sozialen Umfeld (Kolleg*innen) wie auch durch externe Instanzen (z. B. Berufsverbände) mitgeprägt werden.Footnote 1

2 Heuristik für die Analyse des ‚street-level market making‘

Die Kritik am Weber’schen Bürokratiemodell und die Formulierung alternativer Konzeptionen hat sich insbesondere mit Blick auf soziale, personenbezogene Dienstleistungen entwickelt. Dies hängt eng mit dem interaktiven, personenbezogenen Charakter dieser Dienstleistungen zusammen; Ermessensspielräume liegen hier, so Lipsky (1980, S. 15), in der Natur ihrer Aufgabe. Denn erst diese Spielräume erlauben es, in der interaktiven Arbeit mit Menschen allgemeine Zielsetzungen in eine Entscheidung zu übersetzen, die den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung trägt und damit den professionsspezifischen klientenzentrierten Normen gerecht wird (ähnlich Klatetzki 2010). Eine grundsätzlich bejahende Haltung zu Ermessensspielräume ist demnach gewissermaßen fester Bestandteil des professionellen Selbstverständnisses von Erwerbstätigen, die in personenbezogenen Dienstleistungen tätig sind.

Hier liegt die Frage nah, ob dies für andere Bereiche staatlicher Verwaltung, etwa die öffentliche Auftragsvergabe, ebenso gilt. Auf politischer Ebene ist jedenfalls, wie im ersten Teil dieses Buches gesehen, ja durchaus umstritten, welche Ermessensspielräume in der Vergabepraxis in Bezug auf die Berücksichtigung sozialer Ziele sinnvoll sind (Kann- vs. Muss-/Soll-Regeln). Es ist daher auch keineswegs ausgemacht, dass unter Vergabepraktiker*innen selbst eine ungebrochen positive Haltung zu Ermessensspielräumen vorherrscht. Auch die Entscheidungsinhalte und die Beziehungen zu den Adressaten der Entscheidungen sind so verschieden, dass sich viele der von Lipsky und anderen Studien dieser Forschungstradition beschriebenen Praktiken kaum als Schablone bei der Suche nach ähnlichen Praktiken in der Auftragsvergabe verwenden lassen. Vergabepraktiker*innen gewähren beispielsweise keine Leistungen, daher können Routinen wie die Rationierung von Leistungen kaum eine Antwort auf Handlungsdilemmata in der Vergabepraxis sein.

Wohl aber lässt sich auf allgemeinerer Ebene fragen, inwieweit Vergabefachkräfte im Alltag mit Diskrepanzen zwischen den Anforderungen und Ressourcen zu tun haben, und wie sie unter Nutzung ihrer Ermessensspielräume damit umgehen. Wie sieht das professionsspezifische ‚service ideal‘ der Vergabeverantwortlichen aus; welche professionellen Normen ziehen sie als Maßstab für ihr Handeln heran? Inwieweit geraten diese Normen in Konflikt mit anderen Normen – seien es politische Vorgaben oder gesellschaftliche Erwartungen? Inwieweit nehmen hier die oben beschriebenen Trends – die Vermarktlichung bzw. die Sozialpolitisierung der Auftragsvergabe – Einfluss auf den professionellen Zielkanon? Allgemeiner gefragt, welche typischen Herausforderungen und Handlungsdilemmata entstehen unter den gegebenen Rahmenbedingungen für die Vergabefachkräfte bei dem Versuch, ihre Vorstellungen eines angemessenen Verwaltungshandelns in die Praxis umzusetzen? Und welche praktischen Handlungsmuster und Kompromisse entwickeln sie, um diese Herausforderungen und Handlungsdilemmata zu bewältigen, um also die Lücke zwischen Ideal und Wirklichkeit zu schließen und unter den gegebenen Bedingungen ‚einen guten Job‘ zu tun?

Dieser Fragenkanon veranschaulicht den heuristischen Grundgedanken unserer Herangehensweise: So wie Max Webers idealtypisches Bürokratiemodell lange Zeit als Vergleichsfolie für die empirische soziologische Verwaltungsforschung herangezogen wurde, verstehen wir das Bürokratiemodell der ‚Street-level bureaucracy‘ als alternativen Idealtypus, der uns zu Vergleichszwecken dient und bei der Eingrenzung von Themen hilft, auf die wir bei der Auswertung einen Akzent setzen. Dabei macht sich die Analyse ebenfalls die oben skizzierte Sicht auf die zugrundeliegende Handlungsrationalität zu eigen: Auch dann, wenn die entwickelten Sichtweisen und Standardverfahren sich von Organisationszielen bzw. politischen Vorgaben – wie etwa der sozialverantwortlichen Auftragsvergabe – entfernen, oder in sich widersprüchlich sind, werden sich nicht als defizitäre Varianten zweckrationalen Handelns aufgefasst, sondern a priori als rationale, an situative Bedingungen angepasste Strategien, die in der Vergabepraxis den Umgang mit Einzelfällen anleiten und zugleich legitimieren. Dieses wertneutrale Verständnis schließt zugleich nicht aus, dass die identifizierten Handlungsmuster und Überzeugungen im Hinblick auf spezifische Ziele hin evaluiert werden können. In unserem Fall bleibt dies unsere Leitfrage, inwieweit sie dazu angetan sind, den Preiswettbewerb zugunsten besserer Arbeitsbedingungen einzuschränken.

Mit diesem heuristischen Grundgedanken wenden wir uns im folgenden Absatz nun dem Forschungsstand zu, der sich mit dem Einfluss von Vermarktlichung oder ‚Ökonomisierung‘ auf das Rollen- und Aufgabenverständnis von Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung befasst, und präzisieren dabei unsere Perspektive weiter.

3 Vermarktlichung und berufliches Ethos in der öffentlichen Beschaffung – Forschungsstand und offene Fragen

3.1 Zum Aufgabenverständnis von öffentlich Bediensteten unter dem Einfluss von ‚Ökonomisierung‘ und ‚Managerialisierung‘

Der Zusammenhang zwischen Vermarktlichung und beruflichem Ethos von öffentlichen Bediensteten ist bereits durch zahlreiche Forschungsarbeiten beleuchtet worden. Im Vordergrund stand dabei die Frage, wie sich die Ökonomisierung des öffentlichen Sektors, in Gestalt der Binnenmodernisierung der Verwaltung nach den Prinzipien des ‚New Public Management‘ sowie Sparzielen für öffentliche Haushalte, auf Werthaltungen und Handlungsorientierungen von Beschäftigten ausgewirkt hat (u. a. Behnke 2005; Schimank und Volkmann 2008; Flecker et al. 2014b; Sondermann et al. 2014; Klenk und Pavolini 2015; Greer et al. 2017; Gottschall et al. 2017; Graß et al. 2019; Vogel und Pfeuffer 2019). Viele dieser Arbeiten – insbesondere solche, die sich auf personenbezogene Dienstleistungsbereiche beziehen (Bildungseinrichtungen, Arbeitsmarkt- und Sozialverwaltung, Gesundheitsdienstleistungen) – haben dabei Spannungsverhältnisse herausgearbeitet, die durch die neue Ausrichtung an Kosteneffizienz und Kennziffern zur Leistungssteuerung für Berufstätige in diesen Bereichen entstehen. Die Ökonomisierung spitzt nach diesen Befunden gewissermaßen eine basale Konfliktlinie zu, die verwaltungs- und organisationssoziologische Arbeiten (u. a. die Beiträge in Mayntz 1968; Freidson 1986; Lipsky 1980) als Interessengegensatz zwischen Berufsgruppen mit unterschiedlichen Aufgabenverständnissen thematisiert haben: Nämlich zwischen den ‚professionals‘ bzw. allgemeiner den ‚Spezialisten‘ auf der einen Seite und den ‚managers/administrators‘ bzw. ‚Generalisten ‘ auf der anderen SeiteFootnote 2 (ausführlich Janning 1998, S. 342 ff.). Letztere priorisieren Organisationsziele – einschließlich externer Anforderungen aus dem institutionellen Umfeld der Organisation (zum Beispiel politische Vorgaben oder technische Normen) – und eine effiziente Leistungserstellung, und sind zu diesem Zweck auch um eine entsprechende Steuerung und Kontrolle von Spezialisten bemüht, unter anderem durch eine Standardisierung ihrer Leistungen sowie die Rationierung und Kontrolle ihrer zeitlichen Ressourcen.

All dies sind Facetten, die ausweislich zahlreicher Studien mit der Ökonomisierung und ‚Managerialisierung‘ der Verwaltung in spezifischer Weise intensiviert wurden – vor allem in Form einer stärkeren Ausrichtung von Organisationen an betriebswirtschaftlichen Zielen sowie der Einführung marktförmiger interner Steuerungsmechanismen (Zielvereinbarungen, Leistungsvergleiche, künstliche Wettbewerbe), welche den Problemdiagnosen und dem Aufgabenverständnis von ‚professionals‘ vielfach entgegenstehen. Bezogen beispielsweise auf die Arbeitsverwaltung kommen verschiedene Studien zu dem Ergebnis, dass durch die manageriale Umgestaltung sowohl mithilfe direkter Weisungen (Evans und Harris 2004; Rice 2013), als auch durch indirekte Einschränkungen mittels Kennziffernsteuerung und anderen Controlling-Instrumenten de facto Anreize zugunsten von Beratungs- und Vermittlungsstrategien gesetzt werden, welche dem Anspruch einer stärkeren Berücksichtigung individueller Klient*innen-Bedarfe zuwiderlaufen (u. a. Bonvin und Maochon 2007; Brodkin 2011; Soss et al. 2011; Jaehrling 2015; Sowa et al. 2020).

Aus der Perspektive der Spezialistinnen und Spezialisten kommt die ‚Managerialisierung‘ daher einem Angriff auf ihre eigenen professionellen Standards und Autonomie gleich (Schimank 2015), nicht nur durch Standardisierung und engmaschigere Leistungskontrollen, sondern auch durch die Rekrutierung von Personen mit geringerer fachlicher Qualifikation für (Teil-) Aufgaben der Spezialisten (s. auch Greer et al. 2017, S. 106 ff.). Das generalisierte Misstrauen gegenüber der Gemeinwohlorientierung und der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft öffentlich Bediensteter, das in den NPM-Reformen und begleitenden Diskursen zum Ausdruck kommt, erzeugt zudem auch bei gering qualifizierten Beschäftigten ohne starke berufsfachliche Orientierung, etwa bei Post oder Müllabfuhr, vielfältige „Anerkennungs- und Wertschätzungskonflikte“ (Grabe et al. 2012; Flecker et al. 2014a; Vogel und Pfeuffer 2019).

Allerdings verdeutlichen die Befunde zugleich, dass der idealtypische Interessengegensatz zwischen administrativen Führungskräften und Spezialisten, bzw. zwischen ‚traditioneller‘ und ‚managerialistischer‘ Werthaltung, die Unterschiede und interne Kohärenz von tatsächlich vorfindbaren Handlungsorientierungen eher überzeichnet. Dies hat zum einem mit der beruflichen Sozialisierung von Angehörigen beider Statusgruppen zu tun: So werden Leitungspositionen oftmals mit Angehörigen der gleichen Berufsgruppe wie die Spezialisten besetzt (Evans 2011; Wolf und Ostermann 2019). Auch in den Verwaltungsausbildungen für Führungskräfte haben managerialistische Reformen zumindest in Deutschland nur wenig Spuren hinterlassen; weiterhin spiegeln nach einer Untersuchung von Schröter und Röber (2015) die dort vermittelten Rollenbilder und Werte ganz überwiegend die starke legalistische Verwaltungstradition in Deutschland wider. Auf Seiten der ‚Spezialisten‘ lässt zudem die Reduzierung ihres Wertekanons auf die Gemeinwohlorientierung in Vergessenheit geraten, dass die traditionell legalistische Verwaltungskultur ebenfalls Handlungsdispositionen hervorbringen konnten, die vor allem Prozessnormen (wie Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns), und weniger ergebnisbezogenen Gemeinwohlvorstellungen den Vorrang gaben. Schließlich haben auch hierarchische Steuerungsformen standardisierten Handlungsprogrammen zur Geltung verholfen, die etwa im Bereich personenbezogener Dienstleistungen die „repressive Dimension von Sozialpolitik“ (Greven et al. 1980, S. 143) akzentuiert haben und eben nicht allein an Klientenbedürfnissen ausgerichtet waren (s. auch Paugam 1993). Der Bruch zwischen dem Vorher und Nachher dürfte insofern auch weniger stark ausfallen als die idealtypische Gegenüberstellung von traditioneller Gemeinwohlorientierung hier und modernen managerialistischen Wertvorstellungen dort vermuten lässt.

Darüber hinaus haben die NPM-Reformen in Deutschland wie auch in anderen Ländern Gegenbewegungen in Gang gesetzt, die die Gemeinwohlorientierung von öffentlich Bediensteten ins Zentrum von Leitbildern und organisatorischen Reformen rückten (Behnke 2009; Pfeuffer et al. 2014). Bereits die Konzepte des ‚Neuen Steuerungsmodells‘ (NSM) in Deutschland, und des ‚New Public Service‘ (NPS) in der internationalen Debatte (Denhardt und Denhardt 2003) haben die einseitig betriebswirtschaftliche Reformausrichtung durch eine stärkere Betonung von Zielen wie Kundenorientierung, Transparenz und Dienstleistungsorientierung ergänzt. In neueren Leitbildern zur „kundenorientierten Verwaltung“ (Lorig 2009), oder im Reformmodell der “Bürger-Kommune“ (Bogumil et al. 2003), wurde auch die einseitige Beschränkung auf den Bürger als Konsumenten zugunsten anspruchsvollerer Beteiligungsrollen aufgegeben. Moderne Verwaltungsleitbilder haben den einseitig betriebswirtschaftlich geprägten Reformkonzepten also schon seit längerem die Spitze gebrochen.

Wohl auch in Anerkennung dieser empirischen Gemengelage werden die normativen Konflikte rund um die Ökonomisierung des öffentlichen Dienstes seltener als Konflikte zwischen konkreten Berufsgruppen, sondern als Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen ‚Verwaltungskulturen‘ (König et al. 2014), ‚Rechtfertigungsordnungen‘ (Wiegrefe 2014, mit Rekurs auf Boltanski und Thévenot 2007) oder ‚institutionellen Logiken‘ (Reich 2014; Wolf und Ostermann 2019) thematisiert. Diese Ordnungen, Kulturen oder Logiken ringen im Verwaltungsalltag um Geltung und müssen von den Beschäftigten auf verschiedene Weisen ausbalanciert oder jedenfalls in Beziehung zueinander gesetzt werden. Übereinstimmend identifizieren eine Reihe von Studien dabei Beharrungstendenzen der Beschäftigten zugunsten ihres hergebrachten Aufgabenverständnisses. Dies gilt erneut über alle Berufs- und Statusgruppen hinweg; also nicht nur für die Spezialist*innen in den personenbezogenen Dienstleistungsbereichen, sondern auch für administrative Führungskräfte (Wiegrefe 2014) und für Berufstätige in den Bereichen der Daseinsvorsorge und Infrastrukturleistungen (ÖPNV, Müllabfuhr, Post, Stadtwerke, Grünflächenamt). Letztere verstehen vor allem die kontinuierliche und flächendeckende Versorgung mit wichtigen Gütern und Dienstleistungen des Alltags als ihren gemeinwohlbezogenen Auftrag (Vogel und Pfeuffer 2019).

Neben der Distanzierung von einem ‚ökonomisierten‘ Aufgabenverständnis dokumentieren andere Studien aber auch Versuche, die unterschiedlichen Anforderungen miteinander zu verbinden. Dies kann auf oberflächliche, die Widersprüche kaum auflösende Weise erfolgen (u. a. Behrend 2007). Die Studie von Gottschall et al. (2017) identifiziert aber auch weniger spannungsgeladene Kombinationen. Demnach ließ sich bei Beschäftigten in den Bereichen der Energieregulierung, Polizei und Müllabfuhr ein „Mix an Werthaltungen“ identifizieren, der Elemente zweier idealtypischer Werthaltungen (der Weber’sche ‚traditionelle Staatsdiener‘ und der an Prinzipien des NPM orientierte ‚Dienstleister‘) vereint. Das neue Mischungsverhältnis füge sich zum Handlungsethos eines „‘modernisierten und demokratisierten Staatsdieners‘, das sich über verschiedene Tätigkeitsbereiche hinweg nach wie vor mit der Erbringung eines öffentlichen Gutes identifiziert, sich dabei jedoch nicht nur von Neutralität und regelgeleitetem Handeln, sondern auch von Effizienz, Transparenz und Serviceorientierung leiten lässt“ (Gottschall et al. 2017, S. 103; teilweise ähnliche Befunde bei Wiegrefe 2014).

Alte und neue Normen scheinen somit nicht in allen Tätigkeitsbereichen gleichermaßen als unvereinbarer Gegensatz wahrgenommen zu werden, sondern lassen sich in ein neues Handlungsethos integrieren, das in erster Linie der guten Gewährleistung öffentlicher Aufgaben verpflichtet ist. Damit erscheint dieses modernisierte Staatsdiener-Ethos als passendes Gegenstück zum Modell des sogenannten ‚Neo-Weberianischen Staates‘ (NWS). Nach Befunden der international vergleichenden Verwaltungsforschung zu den Varianten des ‚New Public Management‘ in verschiedenen Ländern entspricht der deutsche Reformpfad am ehesten dem ‚NWS model‘ (Pollitt und Bouckaert 2004, 2017). Vom ‚NPM model‘ unterscheidet es sich unter anderem dadurch, dass es weiterhin eine starke Rolle des Staates in der Regulierung und Leistungserbringung vorsieht; dass es traditionelle bürokratische Prozeduren weniger durch Marktmechanismen ersetzt hat, sondern durch eine konsultative und professionalisierte Variante hierarchischer Steuerung; und dass als Maßstab des Handelns weniger die Prozesse zur Leistungserstellung als die Ergebnisse gelten.Footnote 3

Insgesamt ist den vorliegenden empirischen Befunden für Deutschland gemein, dass sie sich als Beleg für den ‚Eigensinn‘ politischer und sozialer Dynamiken interpretieren lassen, die sich gegen eine umfassende Umorientierung in Richtung einer ökonomisierten Handlungslogik sperren. Die Ökonomisierung und ihre Gegenbewegungen hatte zunächst eine Pluralisierung der Verwaltungsleitbilder oder ‚institutionellen Logiken‘ zur Folge. Auf Seiten der Verwaltungsmitarbeiter*innen übersetzt sich dies in vielfältige Zielkonflikte und Handlungsdilemmata, zum Teil aber auch in die Ausbildung neuer, in sich mehr oder weniger kohärenter Wertehaltungen – auch letztere aber in Distanz zu einem einseitig ökonomisierten Aufgabenverständnis.

3.2 Vergabespezifisches Berufsethos: jenseits der Dichotomie von ‚traditionellem‘ und ‚ökonomisiertem‘ Aufgabenverständnis

An diese Analyseperspektiven und Befunde anknüpfend lässt sich auch für die öffentliche Auftragsvergabe fragen, ob die Vermarktlichung der Auftragsvergabe – im Sinne einer stärkeren Ausrichtung des Vergaberechts an wettbewerbsrechtlichen Prinzipien – dazu geführt hat, dass Vergabepraktiker*innen sich heute in erster Linie den Prinzipien eines offenen und wettbewerbsfreundlichen Verfahrens verpflichtet sehen, oder ob im Gegenteil auch hier andere Ziele einen solchen Trend bremsen oder modifizieren. Wie wir sehen werden, lassen unsere Befunde durchaus Parallelen zu den skizzierten Entwicklungen in den anderen Tätigkeitsbereichen erkennen. Die öffentliche Auftragsvergabe unterscheidet sich allerdings in drei entscheidenden Punkten von allen bisher angesprochenen staatlichen Aufgabenfeldern; dies führt uns auch zu einer etwas anderen Schwerpunktsetzung bei der Auswertung und Darstellung unserer Befunde.

Erstens untersuchen wir nicht die Effekte, die die Ökonomisierung (und andere neue Leitbilder) auf Arbeitsmotivation und Berufsethos derjenigen Beschäftigten hat, die öffentliche Dienstleistungen erbringen, sondern der Beschäftigten, die diese Leistungen einkaufen, die also gewissermaßen im Auftrag des Staates als ‚Großkunden‘ von Unternehmen agieren. Sie setzen mit ihrer Einkaufsentscheidung wichtige Rahmenbedingungen für die Leistungserbringung. Unter diesem vergabespezifischen Berufsethos verstehen wir Normen und Sichtweisen von Vergabebeauftragten mit Bezug auf die Frage, welche Ziele und Standards bei der Beschaffung öffentlicher Güter und Dienstleistungen vorrangig verfolgt werden sollen; für uns von besonderem Interesse sind dabei Einstellungen zur Frage, ob die Einkaufsmacht des Staates auch zur Verfolgung von sogenannten ‚sekundären‘ Zwecken eingesetzt werden darf.

Zweitens stellt sich die Frage nach einer geeigneten Vorgehensweise zur Untersuchung dieses vergabespezifischen Berufsethos unter dem Einfluss der beschriebenen Doppelbewegung aus Vermarktlichung und Sozialpolitisierung. Denkbar wäre, analog zur oben skizzierten methodischen Vorgehensweise ein vergabespezifisches ‚traditionelles‘ und ein neueres, an ökonomischen Prinzipien ausgerichtetes idealtypisches Ethos zu konstruieren und die empirisch vorfindbaren Werthaltungen mit ihnen abzugleichen. Diese Vorgehensweise scheint uns allerdings wenig geeignet, weil zu erwarten ist, dass die empirische Entwicklung von einem solchen stilisierten Wandel deutlich abweicht. Denn erstens hat im Falle der öffentlichen Auftragsvergabe die Ökonomisierung gewissermaßen schon das ‚Gründungsethos‘ geprägt, zumal in den von uns analysierten Dienstleistungsbranchen. Die Ausgliederung der ‚Randfunktionen‘ des öffentlichen Dienstes (wie Essensverpflegung oder Wäschereien in Krankenhäusern; Reinigungs- und Sicherheitsdienstleistungen für öffentliche Gebäude) war seit den 1970er Jahren in erster Linie durch das Ziel der Kosteneinsparungen motiviert (u. a. Mayer-Ahuja 2003 für den Reinigungssektor). Hinzu kommt, dass die Kernwerte des traditionellen Staatsdiener-Ethos, wie Neutralität, Transparenz und Regeltreue, durchaus kompatibel mit dem Ziel der Kosteneinsparungen sind. Denn der ‚neutrale‘ Einkauf von Angeboten unter Beachtung von althergebrachten vergaberechtlichen Prinzipien wie Transparenz und Wirtschaftlichkeit führt in Märkten mit niedrigen Marktzugangsbarrieren und stark standardisierten Dienstleistungen zuverlässig zu einem starken Preiswettbewerb. Ökonomisierung und traditionelles Beamtenethos stehen hier also keineswegs im Gegensatz zueinander. Vielmehr fügen diese sich wenigstens theoretisch zu einem durchaus kohärenten Wertemix, der Transparenz, Regeltreue und Neutralität auf die Auftragsvergabe bezogen als Gebot der Nichteinmischung in den Preiswettbewerb interpretiert.

Es erscheint daher plausibel davon auszugehen, dass nicht erst Managerialisierung und die jüngere wettbewerbsrechtliche Ausrichtung des Vergaberechts, sondern bereits die Anfänge der Ökonomisierung, die bis in die 1970er Jahre zurückreichen (Schimank und Volkmann 2017), den Grundstein für einen solchen Wertemix im realen Rollenverständnis von Vergabepraktiker*innen gelegt haben. Soweit wir überhaupt von einem ‚traditionellen‘ vergabespezifischen Ethos sprechen können, zeichnet sich dieses also mit großer Wahrscheinlichkeit nicht durch eine klare Distanz von Wettbewerbsprinzipien und marktförmiger Organisation aus. Und zweitens gilt auch für die konzeptionelle Erfassung der ‚neuen‘ institutionellen Logik, dass die Engführung auf einen ‚ökonomisierten‘ Typus des vergabespezifischen Ethos wichtige Entwicklungen ausblenden würden. Denn von politischer Seite wurden im Zuge der jüngeren Entwicklung ja nahezu gleichzeitig Impulse in unterschiedliche Richtung gesetzt, nämlich in Richtung Vermarktlichung wie auch in Richtung einer Öffnung für soziale Ziele.

Damit sind wir bei einem dritten Punkt angelangt, der in den jüngeren Studien zum Berufsethos von öffentlich Bediensteten weitgehend ausgeblendet blieb, nämlich die Frage, wie es öffentlich Bedienstete mit politischen Vorgaben halten, welche eine ganz andere, vielleicht sogar gegenläufige Stoßrichtung haben als Kosteneffizienz, Serviceorientierung oder Bürgerbeteiligung. Wie verhalten sich öffentlich Bedienstete, wenn ihnen abverlangt wird, politisch durchaus umstrittene Ziele und Handlungsprogramme – wie im Falle der sozialverantwortlichen Auftragsvergabe – umzusetzen? Greift hier heutzutage noch die Loyalität – als Kernwert des weberianischen ‚Beamtenethos‘ – oder orientieren sich Verwaltungsmitarbeiter*innen primär an quer dazu liegenden Berufsnormen, eigenen Überzeugungen oder gesellschaftlichen Erwartungen? Im ‚street level bureaucracy‘-Ansatz werden solche politischen Vorgaben, wie oben erwähnt, unter der Bezeichnung ‚social engineering goals‘ thematisiert. Hierbei handelt es sich um Ziele, die über den Kernzweck der jeweiligen interaktiven Dienstleistung hinausgehen, also nicht auf Unterstützung, Erziehung oder Strafe im Einzelfall ausgerichtet sind, sondern auf übergreifende Ziele – wie, beispielsweise im Falle der Arbeitsverwaltung, die Sicherstellung eines Arbeitsangebotes für niedrig entlohnte Tätigkeiten (Lipsky 1980, S. 42). Häufig geraten solche Ziele in Konflikt mit den klientenzentrierten Zielen der ‚street level bureaucrats‘. Auch die sozialverantwortliche Auftragsvergabe, so könnte man argumentieren, geht über den Kernzweck der öffentlichen Auftragsvergabe, nämlich die Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen, hinaus. Es handelt sich hier gewissermaßen um ein ‚market engineering goal‘. Von besonderem Interesse ist daher, welche Zielkonflikte und Handlungsdilemmata sich aus dem Zusammentreffen dieses ‚market engineering goals‘ mit anderen Zielen im Wertekanon der Vergabepraktiker*innen ergeben, und auf welche Weise sie es in ihr Aufgabenverständnis integrieren.

Für unsere eigene Untersuchung ziehen wir aus den Befunden der Forschung wie auch aus diesen Besonderheiten der öffentlichen Auftragsvergabe drei Schlussfolgerungen:

  • Erstens ist es gerade für die Auftragsvergabe erforderlich, sich von der Dichotomie ‚traditionelles‘ versus ‚ökonomisiertes‘ Berufsethos zu lösen – sowohl wegen der inhaltlichen Überlappung beider Wertekanons speziell in der Auftragsvergabe, als auch wegen des hohen Stellenwerts weiterer Leitbilder. Bei unserer Spurensuche nach verschiedenen Werthaltungen ziehen wir daher nicht das bekannte Paar heran, sondern gleichen die Werthaltungen der von uns Befragten in erster Linie mit den aktuellen Leitbildern in der vergabepolitischen Debatte ab, auf die wir im folgenden Kapitel noch näher eingehen. Dabei verzichten wir a priori auf eine zeitliche Reihung dieser Leitbilder im Verhältnis zu einem vermeintlich traditionellen Wertekanon. Konkret bedeutet dies vor allem, dass wir bei der Interpretation Vorsicht walten lassen, inwieweit die Befürwortung von Wettbewerbsprinzipien tatsächlich Ergebnis neuerer Entwicklungen ist oder von einem in der Praxis seit langem fest verankerten Aufgabenverständnis zeugt.

  • Zweitens zielt unsere Analyse, anders als viele der oben zitierten Studien, nicht in erster Linie darauf ab, aktuelle Typen von Werthaltungen zu identifizieren, sondern aktuelle Typen von Konflikten, Herausforderungen und Handlungsdilemmata. Dieser Fokus auf typische Dilemmata im Einklang mit dem ‚street-level bureaucracy‘-Ansatz erscheint uns für die Analyse des aktuellen Wandels besonders geeignet. Denn eben dies ist, wie gesehen, ein entscheidendes Strukturmerkmal des aktuellen Wandels: die Gleichzeitigkeit zum Teil konfligierender, zum Teil überlappender Leitbilder oder institutioneller Logiken, die im öffentlichen Dienst und auch in der Auftragsvergabe um Geltung ringen. Diese erzeugen in der Praxis Dilemmata oder, allgemeiner ausgedrückt, Herausforderungen, für die Vergabepraktiker*innen sowohl kognitive als auch praktische Lösungsstrategien entwickeln müssen. Um die Vergabepraxis zu verstehen, ist es also notwendig, im ersten Schritt neben ihren normativen Orientierungen auch zu verstehen, welchen Herausforderungen sie sich gegenübersehen. Zwar hat Lipsky die von ihm identifizierten „dilemmas of the individual in public services“ (Lipsky 1980) eher in statischer Weise zur Beschreibung immer wiederkehrender Herausforderungen genutzt. Dass sich dieses grundlegende Verständnis aber auch zur Beschreibung von Dynamiken des Wandels unter dem Vorzeichen der Vermarktlichung eignet, belegt unter anderem anschaulich die bereits in der Einleitung zitierte Studie von Greer et al. (2017) zu den Reformen von Arbeitsmarktdienstleistungen. Vermarktlichung erzeugt Dilemmata, so ein zentraler Befund der Studie (Greer et al. 2017, S. 160 ff.), und diese Dilemmata geben ihrerseits verschiedenen Lösungsstrategien Anstoß, welche diese Reformen zum Teil modifizieren oder sogar zurückdrehen. Ein solches dialektisches Verständnis des Wandels hilft auch, um aktuelle Transformationsprozesse in der Auftragsvergabe zu erhellen. Neben den Dilemmata, die durch die Vermarktlichung hervorgerufen werden, thematisieren wir dabei auch solche, die durch die Sozialpolitisierung hervorgerufen werden; sowie durch das neue vergabespezifische Leitbild des ‚Guten Dienstleisters’, das wir im folgenden Kapitel noch näher erläutern.

  • Drittens schließlich beschränken wir uns nicht darauf, Herausforderungen zu identifizieren, die sich aus dem Zusammentreffen unterschiedlicher Leitbilder ergeben; sondern auch Dilemmata oder Herausforderungen, die durch die Inkongruenz zwischen Zielen und Ressourcen sowie weiteren Rahmenbedingungen entstehen. Auch dieser Typus von Dilemmata ist ein analytischer Baustein des SLB-Ansatzes, den wir hier übernehmen. Er trägt der grundlegenden Erkenntnis Rechnung, dass handlungsleitend nicht nur normative Überzeugungen sind, was wünschenswert ist, sondern auch evaluative Überzeugungen, was unter den gegebenen Rahmenbedingungen machbar ist. Während der SLB-Ansatz hier vor allem Herausforderungen thematisiert, die aus dem typischen Mangel an zeitlichen Ressourcen erwachsen, sowie aus den Spezifika der interaktiven Dienstleistungsarbeit mit individuellen Klient*innen, so sind dies im Falle der öffentlichen Auftragsvergabe insbesondere Herausforderungen, die sich aus den gestiegenen Anforderungen an die Wissensressourcen (fachliche und rechtliche Expertise) ergeben, sowie aus den spezifischen Marktstrukturen und den Interaktionen mit den Anbietern der Leistungen.

In den ersten beiden Kapiteln dieses Teils werden im Folgenden also zunächst die Rahmenbedingungen und daraus resultierende Herausforderungen und Handlungsdilemmata für den Alltag der Vergabepraxis identifiziert. Kap. 6 widmet sich dabei zunächst der Frage, welche professionellen Standards sich als Maßstab für die Vergabepraxis herausgebildet haben, sowohl allgemein als auch bezogen auf die beiden ausgewählten Segmente (Schulverpflegung und Sicherheitsdienstleistungen). Diese professionellen Standards werden von einer Vielzahl auch externer Akteure mitentwickelt, die mit unterschiedlichen Interessen den Vergabepraktiker*innen ihre Expertise in Form von Leitbildern und Standards einer ‚guten‘ Auftragsvergabe andienen. Das Kapitel beschreibt Akteure und inhaltliche Stoßrichtung dieser neuen ‚Expertise-Infrastruktur‘. Es zeigt, dass sich ähnlich wie in anderen Teilen der öffentlichen Verwaltung auch bezogen auf die öffentliche Auftragsvergabe ein neues Leitbild herausgebildet hat, das die Gewährleistung guter öffentlicher Dienstleistungen zum Kern hat.

In Kap. 7 steht dann die Frage im Vordergrund, inwieweit kommunale Vergabepraktiker*innen sich in ihren Werthaltungen und Vorstellungen von einem idealen Beschaffungsvorgang an diesem neuen Leitbild oder anderen Leitbildern orientieren; inwieweit dabei Zielkonflikte auftreten, oder allgemeiner Herausforderungen und Dilemmata aufgrund wahrgenommener Diskrepanzen zwischen Zielen und Ressourcen. Dies dient dazu zu bestimmen, welchen relativen Stellenwert die sozialverantwortliche Auftragsvergabe besitzt, und in welchem Verhältnis sie zu anderen Zielen steht. Wird dieses Ziel als ‚social engineering‘-Ziel bzw. ‚market engineering‘-Ziel wahrgenommen, das mit dem eigenen vergabespezifischen Dienstleistungsideal in einem Spannungsverhältnis steht? Oder wird es in das eigene Aufgabenverständnis integriert, und wenn ja, in welcher Weise?

Die drauffolgenden beiden Kapitel widmen sich dann den Handlungsstrategien der Kommunen. Wie gehen sie mit den skizzierten Herausforderungen und Handlungsdilemmata um und welche Lösungen entwickeln sie dafür? Inwieweit nutzen lokale Akteure ihre Ermessensspielräume und ziehen arbeitsbezogene Mindeststandards sowie weitere Parameter der Auftragsvergabe wie Preisgewichtung, Dauer der Verträge oder Qualitätsvorgaben heran, um den Bieterwettbewerb in erwünschter Weise zu gestalten? Welche Rolle spielen dabei Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und zivilgesellschaftliche Akteure, sowie öffentliche und private Anbieter von externer Expertise? Um das Vorgehen der Behörden zu verstehen, ist es auch hier erforderlich, ihre Praktiken in Bezug auf soziale Kriterien nicht isoliert zu betrachten, sondern im Gesamtkontext. Konkret bedeutet dies zu fragen, wie sich Praktiken der sozialverantwortlichen Auftragsvergabe in den übergreifenden Wandel zugunsten einer höheren Qualität von Dienstleistungen einschreiben. Bevor die Strategien und Aushandlungsprozesse im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen näher in den Blick genommen werden (Kap. 9), liegt der Fokus daher in Kap. 8 zunächst auf den Vorgehensweisen und Lernprozessen der Verwaltung in ihrem Bemühen, sich vom ‚Diktat des billigsten Preises‘ zu entfernen, sowie auf den Schwierigkeiten und Gelingensbedingungen für diese Lernprozesse.

4 Methoden und empirische Grundlage

Kernstück unserer Untersuchung bilden Fallstudien zur Vergabepraxis in fünf deutschen Städten. Dabei wurden die Vergabeprozesse mit einem Fokus auf zwei Dienstleistungen beleuchtet: Schulverpflegung und Sicherheitsdienstleistungen für Flüchtlingsunterkünfte. Diese Engführung erleichtert den fallstudienübergreifenden Vergleich. Zudem stehen damit zwei Dienstleistungen im Vordergrund, deren Qualität zumindest zeitweise Gegenstand (kritischer) öffentlicher Aufmerksamkeit war, und bei denen damit auch seitens der Wählerschaft, der Medien und der Nutzer öffentlicher Dienstleistungen Impulse zur qualitätsorientierten Vergabe an die Verwaltung herangetragen wurden. Umso eher eignen sich beide Segmenten, um zu untersuchen, welche Praktiken anstelle der Vergabe nach dem billigsten Preis treten. Neben den Fallstudien stützt sich unsere Analyse auf die Auswertung von Feldnotizen aus teilnehmender Beobachtung während des Besuchs von Fachtagungen sowie von zwei nicht-öffentlichen Schulungskursen zum Vergaberecht für Verwaltungsbeschäftigte. Weiterer Bestandteil unseres Forschungsdesigns war schließlich die Recherche und Analyse weiterer Vergabedokumente in Bezug auf die untersuchten Branchen (je rund 50 Fälle), um auf diese Weise Aufschluss über das Spektrum an branchenüblichen Formen und Vorgaben bei der Auftragsvergabe zu erhalten und – so das ursprüngliche Ziel – einen Vergleichsmaßstab für diejenigen Vergabepraktiken zu gewinnen, die im Rahmen der lokalen Fallstudien vertiefend analysiert wurden. Zwar erhöhte dieser Einblick unser Hintergrundwissen und half bei der Ausarbeitung der Interviewleitfäden für die Fallstudien. Als Bewertungsmaßstab für die untersuchten lokalen Praktiken erwies sich die Auswertung jedoch wegen Datenlücken und methodischer Schwierigkeiten als wenig geeignet (nähere Informationen dazu siehe Anhang A-5). In die Analyse der Fallstudien ist diese Auswertung daher nur punktuell eingeflossen.

Nachfolgend erläutern wir die Auswahlkriterien für die lokalen Fallstudien sowie die Vorgehensweise bei Datenerhebung und Auswertung und geben nähere Informationen zu den ausgewählten Städten.

4.1 Lokale Intensivfallstudien – Auswahlkriterien und Hintergrundinformationen

Unser Forschungsdesign ist qualitativ und vergleichend angelegt und basiert auf acht lokalen Intensiv-Fallstudien (jeweils vier pro Branche), die wir im Zeitraum zwischen Januar 2017 und März 2020 in fünf Großstädten Deutschlands – sowohl im Norden und Süden als auch in westlichen und östlichen Landesteilen – durchgeführt haben. Die Orte für unsere Fallstudien sind vorab und auf Basis eigener Recherchen sowie nach Auskunft interviewter Branchenexpert*innen nach folgenden Kriterien ausgewählt worden: Jeweils eine Stadt sollte sich im Hinblick auf die Thematik einer sozialverantwortlichen Vergabepraxis als ‚politisiert‘ erweisen – insofern, als diese sich in öffentlichen Debatten oder politischen Entscheidungen zugunsten einer Auftragsvergabe niederschlägt, die sich nicht nur am niedrigsten Preis, sondern auch an sozialen Zielsetzungen orientiert. Da ersten Erkenntnissen zufolge noch selten vorzufinden, sollten diese in größeren Städten durchgeführten Pilotfallstudien (in Berlin für die Schulverpflegung; in A-BURG für die Sicherheitsdienstleistungen) als Kontrastfolie für die weiteren, vergleichsweise ‚typischen‘ und eher ‚unauffälligen‘ Städte dienen, die eine Größe von ca. 200.000 bis 300.000 Einwohner*innen haben. In diesen drei ‚unauffälligen‘ Städten (C-FURT, D-BRÜCK und E-HAUSEN) wurden jeweils Fallstudien zu beiden Dienstleistungen geführt.

Die Städte werden hier nicht namentlich genannt, sondern mit Pseudonym versehen. Diese Darstellung entsprach auch dem expliziten Wunsch vieler Gesprächspartner*innen aus der Verwaltung. Nur in einem Fall lässt sich aufgrund der speziellen politisch-administrativen Konstellation eine solche Anonymisierung der untersuchten Stadt faktisch nur bedingt gewährleisten, da hier andernfalls zu viele, für das Verständnis wichtige Kontextinformationen ausgeblendet bleiben müssten. In diesem Fall handelt es sich um den Stadtstaat Berlin. Für das Verständnis nicht erforderlich und daher anonymisiert bleiben aber auch hier der Name des Bezirks, den wir für die Interviews mit Vergabestelle und Fachamt ausgewählt haben; sowie die einzelnen Gesprächspartner*innen.

Der Annahme folgend, dass mit variierenden Regierungsmehrheiten in der Lokalpolitik auch Unterschiede in den Handlungsorientierungen der vergabeverantwortlichen Akteure einhergehen, war es zielführend, auch die politische Zusammensetzung in den Stadträten zu berücksichtigen. Es ist uns gelungen, hier ein ausgewogenes Verhältnis abzubilden (s. Tab. 5.1 unten): In zwei Fallstudien (A-BURG und C-FURT) bestanden im Untersuchungszeitraum Koalitionen mit Beteiligung der CDU, einmal auch unter Führung eines konservativen Oberbürgermeisters im schwarz-grünen Bündnis. Berlin war sozialdemokratisch geführt und durch eine Koalition aus SPD, die Linke und Bündnis 90/Die Grünen regiert. Die Lokalpolitik in D-BRÜCK und E-HAUSEN wurde durch wechselnde Mehrheiten aus SPD, CDU und die Linke geprägt.

Tab. 5.1 Fallstudien und qualitative Interviews, Zeitraum Januar 2017 – März 2020

Die Haushaltssituation der untersuchten Kommunen spiegelt die generell günstige Entwicklung wider, die die Finanzen von Bund, Ländern und Kommunen in den Jahren vor der Corona-Pandemie geprägt hat. Sowohl der Kommunale Finanzreport der Bertelsmann-Stiftung (2019) als auch die jährlichen Gemeindefinanzberichte (seit 2018: Stadtfinanzbericht) des Deutschen Städtetags (2018, 2019) dokumentieren, dass sich die Kommunalfinanzen seit einigen Jahren fundamental verbessert hatten.Footnote 4 Vor allem in Bezug auf die Einnahmeseite hatte sich die Haushaltslage in den Fallstudien-Kommunen verbessertFootnote 5. Die verfügbaren Deckungsmittel je Einwohner*inFootnote 6 haben sich seit 2007 kontinuierlich erhöht, mit über 40 % in den beiden ostdeutschen Kommunen D-BRÜCK und E-HAUSEN sowie der westdeutschen Stadt C-FURT. A-BURG verfügt im Vergleich über die höchsten Deckungsmittel, während C-FURT die geringsten aufweist. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei weiteren Indikatoren: Die Verschuldung im Kernhaushalt ist deutlich zurückgegangen, mit Ausnahme von C-FURT, die seit 2007 konstant einen relativ hohen Schuldenstand aufweist. Entsprechend ist der Umfang benötigter Kassenkredite in C-FURT höher (wenn auch deutlicher unter gesamtdeutschem Niveau) als in den übrigen Kommunen, die davon kaum oder gar nicht Gebrauch machten. Die Kommunen weisen schließlich ein nahezu ausgeglichenes Finanzmittelsaldo auf oder sogar Überschüsse (A-BURG und D-BRÜCK), einzig in C-FURT überstiegen die Auszahlungen zuletzt die Einzahlungen.Footnote 7 Insgesamt lassen sich die Fallstudienkommunen eher zu den finanzstärkeren in Deutschland zählen. Dies gilt mit Ausnahme von Berlin. Wegen auffälliger Haushaltskennzahlen war der Stadtstaat zwischen 2010 und 2017 zu einem strikten Konsolidierungskurs unter Aufsicht des StabilitätsratsFootnote 8 gezwungen. Auch hier trugen zwar neben Ausgabendisziplin auch steigende Einnahmen dazu bei, dass ab 2012 Haushaltsüberschüsse erzielt wurden und der Schuldenstand bis Ende 2019 sank. Auch zu diesem Zeitpunkt überstieg die Verschuldung pro Einwohner aber noch den als kritisch definierten Wert von 220 % des Länderdurchschnitts (Berliner Senat 2021).

4.2 Datengrundlage – Erhebung und Auswertung

Im Untersuchungszeitraum sind 64 Interviews geführt worden, teils mit zwei oder mehr Gesprächspartner*innen, darunter auch einige wenige Folgeinterviews mit denselben Personen bzw. Organisationen (s. Tab. 5.1). Die wichtigste Quelle waren dabei Gespräche mit jenen Personen, die die Vergabeprozesse durchführen, also Verwaltungsmitarbeiter*innen aus Fachämtern und zentralen Vergabestellen. Diese Zweiteilung des Vergabemanagements hat sich im Zuge einer Reorganisation bzw. Zentralisierung verwaltungsinterner Abläufe in den letzten Jahren herausgebildet (s. Abschn. 8.1) und ist in den untersuchten Kommunen etabliert. Bis auf D-BRÜCK waren Feldzugang und Erhebung in beiden Verwaltungseinheiten erfolgreich (insgesamt 12 Interviews).Footnote 9 Zur Erhebung der normativen und evaluierenden Überzeugungen dieser Vergabepraktiker*innen haben wir eine Mischform aus problemzentrierten (Witzel 2000) und episodischen Interviews (Flick 2011) genutzt, die Elemente von Befragung und Erzählung kombiniert. Anstelle einer direkten Abfrage ihrer Überzeugungen haben wir die Vergabepraktiker*innen also anhand eines möglichst kurz zurückliegenden Beispiels um eine Beschreibung ihrer Vorgehensweise bei der Vergabe von Aufträgen gebeten; nach möglichen Veränderungen, nach Gründen dafür und Vor- und Nachteilen gegenüber anderen Vorgehensweisen, nach möglichen Schwierigkeiten und Verbesserungswünschen für die Zukunft gefragt. Diesen Schilderungen lassen sich sowohl die konkreten lokalen Praktiken als auch Rechtfertigungen für diese Praktiken, sowie Bewertungen anderer, nicht (mehr) angewandter Praktiken entnehmen.

Je Branche haben wir zwei Bedarfsstellen aufgesucht, in denen die eingekaufte Dienstleistung nachgefragt und erbracht wird. Der Besuch der Schulmensen und Flüchtlingsunterkünfte bot sich zum Teil als Kulisse an für die halbstrukturierten Interviews mit Vertreter*innen von Unternehmen, die im öffentlichen Auftrag Schulverpflegungsleistungen bzw. Sicherheitsdienstleistungen erbringen. Zugleich war es hierdurch möglich, Einblicke in Arbeitsbedingungen und -abläufe zu gewinnen und sich hierzu mit Beschäftigten auszutauschen (insgesamt 4 Interviews).Footnote 10 In anderen Fällen zogen die Unternehmensvertreter*innen es vor, die Gespräche in den eigenen Räumlichkeiten zu führen. Gemeinsam mit Einsatz- über Bereichsleiter*innen bis hin zu Geschäftsführer*innen der beauftragten Anbieter sollten die praktischen Herausforderungen unter den Rahmenbedingungen der Vergabe beleuchtet werden (insgesamt 14 Interviews).

Expert*innen-Interviews mit den Branchengewerkschaften NGG und ver.di (insgesamt 8) sowie Arbeitgeberverband DEHOGA bzw. einem weiteren, regional tätigen Cateringverband und BDSW (insgesamt 6) trugen dazu bei, die lokale Vergabepraxis im Hinblick auf besonders vorbildliche (sozialverantwortliche bzw. qualitätsorientierte) oder ‚typische‘ Praktiken einzuordnen und besondere Herausforderungen aus der jeweiligen Branchenperspektive herauszuarbeiten. In zwei Fällen (BDSW in C-FURT; Gewerkschaft NGG in D-BRÜCK), kam kein Gespräch zustande, mal aus mangelnder Bereitschaft, mal aus dem Eingeständnis heraus, in der Thematik nicht aussagefähig zu sein. In den Fallstudien für den Bereich des Schulcaterings sprachen wir mit mehreren ‚Vernetzungsstellen Schulverpflegung‘,Footnote 11 die sich für qualitative Verbesserungen des Schulmittagessens einsetzen (insgesamt 6 Interviews), und führten im Falle der Pilotfallstudie in Berlin ergänzend ein Expert*innen-Interview mit der Landeselternvertretung. Auf Ebene der Lokalpolitik erklärten sich auf unsere Anfrage hin, bis auf C-FURT, Stadtratsvertreter*innen der Parteien SPD, Linke und CDU (insgesamt 7 Interviews) bereit, mit uns über die politische Ebene der jeweiligen lokalen Vergabepraxis zu sprechen.

Zusätzlich haben wir öffentlich zugängliche Dokumente zur lokalen Vergabepolitik herangezogen, sowohl Beschlüsse im Stadtrat als auch lokale Vergaberichtlinien. Auch zogen wir, sowohl in Vor- als auch Nachbereitung der Interviews mit den Vergabepraktiker*innen, die größtenteils öffentlich zugänglichen Vergabedokumente der Kommunen heran und werteten sie, parallel zu den transkribierten Interviews, nach der Methodik der qualitativen Inhaltsanalyse softwareunterstützt aus (Mayring 2015; Kuckartz und Rädiker 2020). Zur Auswertung der beruflichen Werthaltungen und handlungsleitenden Überzeugungen der Vergabepraktiker*innen diente ein zunächst auf theoretischen Vorannahmen gebildetes Kategorienschema, das nach einem ersten Materialdurchlauf revidiert und angepasst wurde. Während zentrale Leitbilder-Kategorien im ersten Schritt deduktiv entstanden, dann im Abgleich mit den empirisch vorfindbaren Werthaltungen korrigiert und ausdifferenziert worden sind (‚Strukturierung‘; Mayring 2015, S. 97 ff.), wurden die unterschiedlichen Herausforderungen und Handlungskonflikte der Vergabepraktiker*innen überwiegend induktiv erfasst (‚Zusammenfassung‘; ebda., S. 69 ff.). Auf dieser Grundlage konnten einerseits die vielfältigen handlungsleitenden Ziele und Leitbilder identifiziert und im Zusammenspiel mit typischen Herausforderungen und Dilemmata interpretiert werden.