Mit der Durchführung öffentlicher Dienstleistungen werden zunehmend private Unternehmen beauftragt. In Deutschland werden jährlich öffentliche Auträge im Wert von über 300 Mrd. Euro oder 10 % des BIP vergeben (BMWi 2021, S. 23)Footnote 1. Zwei übergreifende Trends prägen dabei die öffentliche Auftragsvergabe, sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern. Auf der einen Seite richtet sich eine Reihe von politischen Maßnahmen und Strategien gesellschaftlicher Akteure auf eine Revitalisierung inklusiver Arbeitsmarktordnungen. Dass etwa die sinkende Tarifbindung, Mitgliederverluste von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sowie Arbeitsmarktderegulierung zur Entstehung von Schutzlücken beigetragen haben, die die gesellschaftliche Integration gefährden, gilt mittlerweile vielfach nicht mehr als notwendiges Übel zur Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätzen, sondern als korrekturbedürftige Entwicklung. Auch in der Arbeits- und Industriesoziologie gilt ein wachsendes Forschungsinteresse den Möglichkeiten und empirisch feststellbaren neueren Ansätzen zur Herstellung „inklusiver Institutionen und Solidaritäten“ (Doellgast et al. 2018) unter den geänderten Rahmenbedingungen. Empirische Anknüpfungspunkte dafür bieten Strategien der gewerkschaftlichen Erneuerung und neue Formen der Mobilisierung schwach repräsentierter Gruppen (z. B. Lévesque und Murray 2010, Schmalz und Dörre 2013), aber auch die staatliche Re-Regulierung von Arbeitsmärkten, etwa durch die Einführung von Mindestlöhnen.

Die aktuellen Reformen der öffentlichen Auftragsvergabe lassen sich ebenfalls als ein Element zur Revitalisierung inklusiver Arbeitsmarktordnungen einordnen. Nicht zuletzt mit der jüngsten europäischen Vergaberechtsreform (2014) und ihrer Umsetzung auf nationaler Ebene (in Deutschland: 2016) wurde der Berücksichtigung sozialer Kriterien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge grundsätzlich ein größerer Stellenwert eingeräumt. Auch sind beispielsweise vergabegesetzliche Lohnvorgaben für öffentlich beauftragte Firmen in Deutschland – ebenso wie in zahlreichen anderen Ländern (Schulten et al. 2012; Duncan und Ormiston 2019) – ein zunehmend genutztes Instrument, welches die kollektivvertragliche Lohnsetzung durch Tarifverträge stützt und ergänzt. Eine Reihe von Untersuchungen hat diese und andere Ansätze der ‚sozialverantwortlichen Auftragsvergabe‘ auf nationaler Ebene beleuchtet (u. a. Howe und Landau 2009; McCrudden 2012; Jaehrling 2015; Ravenswood und Kaine 2015; Sack et al. 2016; Mori 2020).

Diese politischen Ansätze revitalisieren einen im Grunde genommen alten Anspruch an die Verantwortung des Staates für seine ‚Staatsdiener‘: So wie der Staat lange Zeit eine Vorbildrolle als ‚Guter Arbeitgeber‘ für die eigenen Bediensteten einnahm oder jedenfalls einzunehmen versprach (Beaumont 1992; Gottschall 2009), richtet sich nun an den Staat zunehmend auch die Erwartung, als ‚Guter Auftraggeber‘ zu handeln, also seinen Teil zu vernünftigen Arbeitsbedingungen im externen Teil des öffentlichen Sektors beizutragen. Dies kommt einem Perspektiv- und Politikwechsel gleich. Denn bislang ging, wie zahlreiche Untersuchungen gezeigt haben, die Auslagerung öffentlicher Aufgaben an private Unternehmen häufig mit Einbußen für die Beschäftigten in Hinblick auf Entlohnung, Beschäftigungsstabilität, Qualifizierungs- und Aufstiegschancen und damit auch mit einer Vertiefung der Ungleichheiten am Arbeitsmarkt einher (u. a. Emmenegger et al. 2012; Hermann und Flecker 2012, Vrangbaek et al. 2015; Grimshaw et al. 2015). Der Staat geriet dabei, auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur, lange Zeit vornehmlich als externer Akteur in den Blick, der sich der Arbeitgeberrolle durch die Auslagerung entledigt hat und allenfalls noch mittels allgemeiner Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die Rahmenbedingungen für die Aushandlungsprozesse zwischen Beschäftigten und Unternehmen gestaltet. In welcher Weise staatliche Akteure selbst als „stakeholder“ (Ravenswood und Kaine 2015), also in ihrer Rolle als Auftraggeber die Ergebnisse dieser Aushandlungsprozesse beeinflussen, blieb hingegen unterbelichtet. Mit der Norm der sozialverantwortlichen Auftragsvergabe ist auf politischer Ebene aber nun stärker ins Bewusstsein gerückt, dass sich die staatliche Einkaufsmacht in vielfältiger Weise nutzen lässt, um Löhne und weitere Arbeitsbedingungen auch bei beauftragten Firmen zu beeinflussen.

Solchen Ansätzen einer „Sozialpolitisierung“ (Sack und Sarter 2016) der Auftragsvergabe steht allerdings der übergreifende Trend der Vermarktlichung oder der kapitalistischen „Landnahme“ (Dörre 2009) gegenüber, der seit geraumer Zeit um sich greift. Diese Landnahme schließt nicht nur eine „Ökonomisierung des Nicht-Ökonomischen“ (Schimank und Volkmann 2017), also das Vordringen von Marktprinzipien in bislang davon weitgehend ausgenommene Bereiche ein (z. B. Bildungseinrichtungen), sondern auch eine Intensivierung von Marktprinzipien, also ihre stringentere Durchsetzung in bereits marktförmig strukturierten Bereichen – beispielsweise in Gestalt der Reorganisation und strategischen Neuausrichtung von Unternehmen und Märkten im Übergang zum Finanzmarkt-Kapitalismus (u. a. Windolf 2005).

In der öffentlichen Auftragsvergabe kommen beide Facetten der Vermarktlichung zum Tragen: Bereits seit den 1970er Jahren sind mit der zunehmenden Übertragung von öffentlichen Aufgaben an privatwirtschaftliche Firmen Marktprinzipien in Bereiche vorgedrungen, die bislang von Wettbewerb und Profitorientierung ausgenommen waren. Dazu kommt in jüngerer Zeit eine Intensivierung von Marktprinzipien, selbst in denjenigen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge, die schon seit langem in erster Linie durch private Firmen erbracht werden, wie der Bau öffentlicher Straßen und Gebäude. Denn es ist zwar schon lange so, dass öffentliche Aufträge an diese Firmen grundsätzlich im wettbewerblichen Verfahren vergeben werden; in diesem Sinne ist die öffentliche Auftragsvergabe schon seit über 100 Jahren marktförmig strukturiert. Wie in diesem Buch noch ausführlicher zu zeigen sein wird, stand die Ausgestaltung des Vergaberechts in Europa jedoch seit dem Beginn der 1990er Jahre unter der Zielvorgabe, das Prinzip des freien, grenzüberschreitenden Wettbewerbs im europäischen Binnenmarkt auch bei der Vergabe öffentlicher Aufträge konsequenter zur Geltung zu bringen und bisherige wettbewerbsbeschränkende Regeln zu eliminieren (s. Kap. 3). Dieses Ziel geriet wiederholt in Konflikt zu Maßnahmen, die den reinen Preiswettbewerb zugunsten sozialer Ziele zu begrenzen suchen.

In den beiden Trends manifestiert sich damit auch in der öffentlichen Auftragsvergabe jene Doppelbewegung aus Marktexpansion oder ‚Entbettung‘ und Gegenbewegungen zugunsten einer sozialen ‚Einbettung‘ wirtschaftlichen Handelns, die nach Polanyi (2015 [1944]) moderne kapitalistische Gesellschaften von Anbeginn geprägt haben. Diese Doppelbewegung eignet sich nach unserem Dafürhalten auch in heutigen, demokratisch verfassten Marktwirtschaften noch als Ausgangspunkt der Analyse. Dies bedeutet, wie verschiedene Autor*innen (Streeck 2009, S. 246; Block und Somers 2014; Atzmüller et al. 2019) betonen, nicht etwa davon auszugehen, dass sich in jeder historischen Phase eine Art Gleichgewicht der Kräfte herausbildet; oder dass das Pendel nach einer Phase der Entbettung unweigerlich zurückschlägt in Richtung sozialer Einbettung. Beide Bewegungen können eben auch in sehr asymmetrischer Weise koexistieren, und auch in extreme Formen sozialer Ungleichheit und eine tiefgreifende gesellschaftliche Destabilisierung münden.Footnote 2

Der heutige Wert von Polanyis Perspektive besteht also nicht darin, die potenziell destruktiven und exklusiven Wirkungen der Vermarktlichung und der aus ihr resultierenden Dynamiken durch Verweis auf ‚einbettende‘ Gegenkräfte zu entdramatisieren, sondern darin, das Spannungsverhältnis zwischen beiden Bewegungen zum Ausgangspunkt der politisch-ökonomischen Analyse aktueller Wandlungsprozesse zu machen, und so die konkreten historischen Erscheinungsformen dieser Doppelbewegung aufzuspüren (Streeck 2011).Footnote 3 In diesem Sinne widmet sich das Buch den Dynamiken, die sich aus dem Nebeneinander von Vermarktlichung und anderen, quer dazu liegenden Trends, insbesondere der ‚Sozialpolitisierung‘ der öffentlichen Auftragsvergabe, ergeben. Im Zentrum steht die Frage, wodurch eine ‚gute‘ im Sinne von sozialverantwortliche Auftragsvergabe begünstigt oder gebremst wird, welche Formen sie annimmt, und inwieweit dies im Ergebnis die entstandenen Schwächen der kollektiven Selbstregulierung des Arbeitsmarktes wenigstens partiell ausgleichen kann. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf der Entwicklung der Vergabepolitik und -praxis in Deutschland seit der letzten großen Vergaberechtsmodernisierung (2016).

Insbesondere in zwei Hinsichten erweitert die Untersuchung dabei den Forschungsstand zum Thema:

Erstens nimmt die Analyse der Vergabepraxis sowie weiterer Orte der Normproduktion auch jenseits von Gesetzgebung und exekutiven Verordnungen in diesem Buch deutlich breiteren Raum ein als in bisherigen Publikationen. Denn eine ‚dünne‘ Institutionenanalyse, die sich auf die Entwicklung von Gesetzen beschränkt, blendet auch potenzielle Konflikte und gegenläufige Trends aus, die diese gesetzliche Regelungsarchitektur modifizieren können. Im Falle der Auftragsvergabe stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit die gesetzliche Öffnung für soziale Zwecke, die mit der letzten europäischen Vergaberechtsreform an Dynamik gewann, auch in der administrativen Praxis an Substanz gewinnt oder hier durch andere Trends konterkariert oder ausgebremst wird. Denn gerade bei der Implementation und Anwendung von Gesetzen werden Zielkonflikte manifest, die sich auf Gesetzesebene durchaus in Form von Kompromissformulierungen und unbestimmten Rechtsbegriffen vermeiden lassen.

Zweitens rückt die Untersuchung die Interaktionen und Wechselwirkungen zwischen dem etablierten System industrieller Beziehungen und der öffentlichen Auftragsvergabe in den Vordergrund. Mit welchen Strategien, Positionen und mit welchem Erfolg bringen sich die Akteure der industriellen Beziehungen, also vor allem Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, in diesem Feld jenseits der eingespielten Formen des Interessenausgleichs (Tarifverhandlungen, Mitbestimmung) ein? Die wenigen bislang dazu vorliegenden Analysen (v. a. Seikel 2014; Semple 2018) fokussieren bislang auf die Gesetzesentwicklung; unsere Untersuchung nimmt darüber hinaus in den Blick, wie sich die Akteure der industriellen Beziehungen auch in die Gestaltung der Vergabepraxis einzubringen versuchen, und inwieweit umgekehrt die zuständigen Akteure aus Politik und Verwaltung diese Akteure und die von ihnen bereitgestellten Ressourcen einbeziehen.

Dieses Interesse an den Interaktionen zwischen Vergabepolitik und -praxis und dem System industrieller Beziehungen ist von der Annahme getragen, dass die effektive Nutzung des vergabespezifischen Instrumentariums zwecks Kompensation der Schwächen kollektiver Selbstregulierung paradoxerweise wenigstens teilweise von der Existenz handlungsfähiger kollektiver Akteure abhängig ist, die sich an der Ausgestaltung und Kontrolle von Ansätzen der sozialverantwortlichen Auftragsvergabe beteiligen. Eine solche komplementäre Rolle von Vergabepolitik legten erste Vorarbeiten jedenfalls nah (v. a. Jaehrling et al. 2015; Jaehrling 2015), und unsere Analyse in diesem Buch bestätigt dies (s. ausführlich Kap. 9 in diesem Buch).

Wir verstehen unser Buch daher zum einen als Beitrag zur Arbeits- und Industriesoziologie von öffentlichen Dienstleistungen (Grabe et al. 2012), bei denen der Staat nicht als Arbeitgeber, sondern als wichtiger Käufer agiert.

Darüber hinaus eignet sich die Analyse der Vergabepolitik und -praxis auch als Lehrstück, das zu einem besseren Verständnis der Konflikte und Dynamiken beiträgt, welche aus dem Spannungsverhältnis zwischen Vermarktlichung und anderen, gegenläufigen oder zumindest inkongruenten Trends hervorgeht. Die gegenwärtige übergreifende Debatte zu diesem Spannungsverhältnis hat unsere Analyse wesentlich angeleitet. Der nachfolgende Abschnitt präzisiert daher unsere analytische Perspektive und den Beitrag, den das Buch zu dieser Debatte leistet. Im Anschluss stellen wir kurz die empirische Grundlage und die methodische Vorgehensweise dar.

1.1 Konzeptioneller Rahmen: Politische Mikroökonomie der Vermarktlichung

Ein breites Spektrum an Untersuchungen und Debatten beteiligt sich derzeit an der Vermessung der gegenwärtigen Erscheinungsformen und gesellschaftlichen Folgen der kapitalistischen ‚Landnahme‘. Auf einige ausgewählte Forschungs- und Debattenstränge aus diesem breiten Spektrum möchten wir hier näher eingehen; vor allem mit ihren Thesen und analytischen Konzepten setzt sich das Buch auseinander. Es leistet damit einen Beitrag zu einer politischen Mikroökonomie der Vermarktlichung. Diese Bezeichnung schlagen wir als Sammelbegriff für eine Gruppe lose verbundener Arbeiten vor, die sich aus einer akteurszentrierten Perspektive der Ausgestaltung von Märkten widmen – also im Detail beleuchten, an welchen Schauplätzen der Entscheidungsfindung welche Akteure mit welchen Interessen um jene Regeln ringen, die den ökonomischen Austausch strukturieren – und dabei eine Intensivierung oder eben auch Einbettung von Marktprinzipien herbeiführen können.

Die Bezeichnung politische Mikroökonomie für diese Art von ‚Vermessungsarbeiten‘ zur gegenwärtigen kapitalistischen Welt knüpft an die Unterscheidung zwischen den volkswirtschaftlichen Teildisziplinen der Mikro- und Makroökonomie an. ‚Mikro‘ zeigt also keine Beschränkung auf Entscheidungen mit geringer Reichweite oder auf nachgeordneten Hierarchieebenen an, sondern eine mikroskopische Vergrößerung der einzelnen Bausteine, aus denen sich der Trend zur Vermarktlichung zusammensetzt, und zwar mithilfe eines Fokus‘ auf das Verhalten von Wirtschaftssubjekten anstelle der Betrachtung aggregierter Größen. Und politische Mikroökonomie deshalb, weil politische Akteure, Strategien und Entscheidungen dabei eine gewichtige Rolle spielen – wenn auch eine umstrittene, wie noch weiter unten zu sehen sein wird.

Das Forschungsinteresse an einer solchen politischen Mikroökonomie der Vermarktlichung ist nicht zufällig im Gefolge der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 gestiegen. Denn während die weltweite Bankenkrise nach dem Platzen der US-amerikanischen Immobilienblase bis in konservative Kreise hinein Forderungen nach einer Zähmung der liberalisierten Finanzmärkte laut werden ließ, schienen ihre Grundlagen, nämlich neoliberale Glaubenssätze und Politikrezepte, doch weitgehend intakt geblieben oder „merkwürdig untot“, wie Colin Crouch (2011) feststellte (auch Peck 2013; Mirowski 2015). Gerade diese Resilienz des Neoliberalismus, ja sogar die Wiederbelebung eigentlich „gescheiterter [neoliberaler] Ideen“ (Lehndorff 2014), etwa bei der Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise, warf die Frage nach den Stabilisatoren oder Lebensspendern dieses ‚Untoten‘ auf. Verweise auf das Vorherrschen einer anonymen Ideologie, oder auf eine neoliberale ‚Gouvernementalität‘ – im Sinne einer weit verbreiteten Verinnerlichung der neoliberalen Rationalität, die ihr nahezu selbstgesteuert in sämtlichen Lebensbereichen zu Geltung verhilft – wurde dabei von einem Teil der Literatur als unzureichende Antwort empfunden.

Anstelle abstrakter Verweise auf Märkte als „unruly and totalising force“ bedürfe es, wie Ian Greer und Charles Umney formulieren, einer stärker empirischen Untersuchung von „the concrete ways in which they are created and managed in practice. Who “marketizes”? And how?“ (Greer und Umney 2022, S. 7). Ähnlich fordert Jamie Peck (2013) zu einer Präzisierung des ‚who did what‘ auf, und zwar sowohl in ‚lokalen‘, als auch in ‚globalen‘, kontextübergreifenden Entscheidungszusammenhängen.

“The indiscriminate cry that ‘Neoliberalism did it’ belongs in the same family as the ‘I blame Thatcher’ denunciations of old; who did what, to whom, where, and how must be specified in social, economic, and institutional terms. In the global or extra-local realm, this means teasing out neoliberalizing tendencies (…) in particular settings, circuits, and fields – such as decision-making cultures within multilateral agencies; channels of policy learning and mobility; the rules of regulatory regimes in investment, trade, and finance; the operations of epistemic communities and technocratic networks; governance at a distance through financial instruments, indexing and benchmarking systems, model-building and best-practice emulation; and so forth” (Peck, 2013, S. 150).

In dieser Auflistung weit verstreuter Handlungszusammenhänge, Verbreitungswege und Techniken, die auf ‚neoliberalizing tendencies‘ abzuklopfen sind, kommen einige Grundzüge der analytischen Perspektive zum Ausdruck, die wir der politischen Mikroökonomie der Vermarktlichung zuordnen. Es sei hier nochmals betont, dass diese Bezeichnung keine klar abgegrenzte, durch gemeinsame theoretische Grundlagen unterfütterte Denkschule umreißt, sondern eher die aus unserer Sicht verbindenden Elemente zwischen Arbeiten unterschiedlicher Forschungsstränge. Die Grundzüge dieser analytischen Perspektive erläutern die folgenden Abschnitte nun kurz und präzisieren dabei zugleich, was dies für die Analyse unseres Gegenstandes, die öffentliche Auftragsvergabe, bedeutet.

1.1.1 Neue Schauplätze der Entscheidungsfindung jenseits der bekannten Welt der (Arbeits-)Marktregulierung

Erstens richtet sich der Blick hier auf die Produktion von verteilungspolitisch relevanten Normen auch außerhalb der Handlungsfelder, in denen explizit und direkt über Verteilungsfragen entschieden wird, und die daher klassischerweise im Fokus von Arbeits- und Industriesoziologie sowie soziologischer Ungleichheitsforschung stehen: Während dort seit den 1990er Jahren der Ab- und Umbau von de-kommodifizierenden Sozialleistungen, von staatlicher Arbeitsmarktregulierung und von Institutionen der kollektiven Selbstregulierung im Vordergrund stand, gilt das Interesse hier umfassender der genauen Beschaffenheit oder „politischen Architektur von Märkten“ (Fligstein 1996, 2011), die auch im Blickpunkt wirtschaftssoziologischer Arbeiten und anderer politisch-ökonomischer Denkschulen stehen. Dies kommt einer Perspektiverweiterung gleich. Im Fokus stehen eben nicht allein jene Institutionen, deren Zweck die Sicherung von Schutzrechten und materieller Teilhabe von Arbeitskräften ist, sondern alle marktschaffenden und -gestaltenden Regeln, seien sie wettbewerbsbeschränkender oder auch -intensivierender Natur – einschließlich solcher Regeln, die sich auf eher indirektem Weg auf die Teilhabe von Erwerbstätigen auswirken. Auch Produktmarktregulierungen haben etwa Effekte auf Arbeitsbeziehungen (Gallie 2007); oder eben die Regulierung von Finanzmärkten (Dörre 2009; Thompson 2013; Haipeter et al. 2016) und die im obigen Zitat von Peck erwähnte ‚governance at a distance through financial instruments‘.

Solche Regeln werden eben häufig an anderen als den bekannten Schauplätzen der staatlichen und kollektiven Arbeitsmarktregulierung produziert. Die Bedeutung solcher Schauplätze wird auch von den klassischen Arbeiten in der Tradition des ‚Varieties of Capitalism‘-Ansatzes oder auch neueren daran anknüpfender Arbeiten zu nationalen ‚Wachstumsregimen‘ (Hassel und Palier 2021) gewürdigt. Dort steht jedoch die Frage im Vordergrund, wie funktional diese Regeln für die Stabilisierung der national dominanten Produktionsregime sind, während es in den vorstehend aufgeführten Arbeiten eher darum geht, welche Konflikte hier ausgefochten werden und welche gesellschaftlich integrativen oder auch desintegrativen Wirkungen die getroffenen Entscheidungen besitzen.

Neue Schauplätze der Entscheidungsfindung jenseits der bekannten Welt der (Arbeits-)Marktregulierung – am Beispiel öffentliche Auftragsvergabe

Die Vergabepolitik selbst liegt als Ganzes außerhalb der Kernarenen politischer Arbeitsmarktregulierung und kollektiver Selbstregulierung. Hier sind es insbesondere haushalts- und wettbewerbsrechtliche Regeln – in Deutschland im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), in Vergabeverordnungen (VgV, UVgO), sowie in den Haushaltsordnungen von Bund, Ländern und Kommunen fixiert – welche maßgeblich die Handlungsspielräume und -prioritäten für öffentliche Auftraggeber bestimmen. Darin enthalten sind nicht nur Regelungen, die sich direkt auf die Zulässigkeit arbeitsbezogener Anforderungen beziehen, sondern auch Regelungen, die den Preiswettbewerb auf andere Weise beschränken oder akzentuieren und sich darüber indirekt auf die Arbeitsbedingungen auswirken können – etwa zur Häufigkeit von Ausschreibungen, oder zum Nachunternehmereinsatz (ausführlich Jaehrling 2015). Darüber hinaus legen auch steuer- und schuldenpolitische Entscheidungen den finanziellen Handlungsrahmen von Auftraggebern fest und beeinflussen damit maßgeblich, wie ‚preisbewusst‘ sie einkaufen müssen. Letztere, also die Steuer- und Schuldenpolitik, behandeln wir in diesem Buch nur als Rahmenbedingung; als wichtige Stellschraube für die Arbeitsbedingungen im (quasi-)öffentlichen Sektor gilt es sie jedoch im Blick zu behalten.

1.1.2 Marktregulierung als Geflecht informeller und formeller, öffentlicher und privater Normen

Zweitens gilt das Forschungsinteresse der politischen Mikroökonomie der Vermarktlichung umfassend dem dichten und vielfältigen Geflecht an Normen, mit dem Märkte jedweder Art gestaltet werden, wie Pecks Auflistung veranschaulicht. Denn auch vermeintlich deregulierte, nach neoliberalen Prinzipien umgeformte Märkte müssen institutionell abgesichert werden, weil sich gerade diese Marktordnung eben nicht auf natürlichem Wege durchsetzt. Das gilt bereits für den Laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts (Polanyi 2015 [1944], S. 192), und noch mehr für die neoliberale Programmatik der Nachkriegszeit (Peck 2008). Generell sind aber Marktordnungen jedweder Art durch zahlreiche formelle und informelle Routinen und Regeln gestützt, wie wirtschaftssoziologische Arbeiten unterstreichen. So zählt Fligstein (1996, 2011) zu den ‚Governance-Strukturen‘ von Märkten neben Gesetzen und Verordnungen auch dominante Einschätzungen, was als legales oder illegales Verhalten von Marktakteuren zu zählen ist; oder bestimmte organisationsinterne Praktiken – beispielsweise zur Gestaltung von Verträgen zwischen Firmen. Bei der Etablierung solcher informellen Routinen als Standards, die über Organisationsgrenzen hinweg wirken, können auch Berufsverbände oder der Austausch unter ‚Professionals‘ eine Rolle spielen, wie Fligstein in Anlehnung an organisationssoziologische Arbeiten ausführt (Fligstein 1996, S. 658). Dazu passen die von Peck angeführten ‚channels of policy learning and mobility‘ und das Wirken von ‚epistemic communities‘. Zudem schließt das Normengeflecht nicht nur öffentliche, sondern auch (halb-)private Formen der Marktregulierung ein – etwa in Gestalt der von Peck angesprochenen ‚indexing and benchmarking systems‘. Man denke hier etwa an die einflussreichen Firmen- und Staatenbewertungen von Rating-Agenturen; und auch digitale Plattformen, die neuerdings in vielen Bereichen zwischen Angebot und Nachfrage vermitteln und dabei durch ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) die Regeln setzen, lassen sich als private Formen der Marktregulierung einstufen.

Marktregulierung als Geflecht informeller und formeller, öffentlicher und privater Normen – am Beispiel öffentliche Auftragsvergabe

Als formelle Normen üben, neben Gesetzen und Verwaltungsordnungen, auch Gerichtsurteile, insbesondere das europäische Fallrecht, großen Einfluss auf die Durchsetzung und Weiterentwicklung des vergaberelevanten Wettbewerbsrechts aus. Das vorliegende Buch trägt nicht nur zur übergreifenden Debatte bei, wie die sogenannte ‚juridische Europäisierung‘ die Gesetzesentwicklung auf europäischer Ebene und mitgliedsstaatlicher Ebene beeinflusst (s. Kap. 3). Es geht darüber hinaus auch der bislang wenig untersuchten Frage nach, wie der Trend zur Verrechtlichung der Auftragsvergabe sich auf die Vergabepraxis auswirkt (Teil II des Buchs). Auch der juristische Diskurs ist, wie zu sehen sein wird, ein wichtiger Ort der Normsetzung, wo Verbände und ihnen nahstehenden Juristen mit kontroversen Gutachten um die gültige Interpretation von Gesetzgebung und Rechtsprechung ringen (s. Kap. 4). Informelle Normen spielen darüber hinaus insbesondere in Gestalt von ‚Soft law‘ eine Rolle, also Leitfäden, professionellen Standards und Schulungs- und Beratungsangeboten, die sich an die Entscheidungsträger in der kommunalen Vergabepraxis richten. Sie transportieren dabei zum einen Erwartungen an eine ‚gute‘ (i. S. v. innovative, ökologische, soziale oder qualitätsorientierte) Auftragsvergabe, und zeigen zugleich dazu passende Handlungsoptionen im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten auf (s. Kap. 6). Dieses Soft law wird sowohl von staatlichen als auch von nicht-staatlichen Akteuren (Verbände, NGOs) mitgestaltet.

1.1.3 ‚Engineering‘ von Vermarktlichung: Design und praktische Dilemmata der Spielregeln des ökonomischen Austauschs

Drittens schließlich gilt das Interesse stärker als bislang dem ‚engineering‘ oder der Feinsteuerung von Märkten, also der genauen Ausgestaltung und Umsetzung der Spielregeln, nach denen ökonomische Transaktionen ablaufen. Das Interesse dürfte zum einen durch den Befund motiviert sein, dass gerade liberalisierte Märkte eine engmaschige Verhaltenssteuerung und -kontrolle der Marktakteure erfordern, und dies paradoxerweise in vielen Bereichen eher eine „neoliberal bureaucratization“ (Hibou 2015) als den oft mit neoliberaler Politik assoziierten Bürokratieabbau mit sich bringt. Das Interesse am Detail dürfte aber auch der Erkenntnis geschuldet sein, dass sich trotz der Einebnung von Unterschieden zwischen den bislang unterschiedenen Spielarten des Kapitalismus auch innerhalb dieser stark angeglichenen Verhältnisse recht diverse Spielregeln des ökonomischen Austauschs etablieren können – und dass diese ‚feinen Unterschiede‘ auch relevante verteilungspolitische Unterschiede erzeugen können. Es kommt insofern entscheidend auch auf das proaktive „engineering“ (Greer und Umney 2022, S. 20) von Wettbewerb an.

Mit der unter den Namen ‚market engineering‘ oder ‚market design‘ firmierenden Forschungsrichtung (Gimpel et al. 2008; Roth 2002)Footnote 4 teilt diese Perspektive das Interesse an den genauen Techniken und Praktiken, mit denen Angebot und Nachfrage zusammengeführt werden. Erkenntnisinteresse ist hier jedoch nicht die Optimierung dieser Techniken unter Effizienzgesichtspunkten, sondern ein besseres Verständnis der Unzulänglichkeiten und Widersprüche, die sie in der Praxis hervorrufen, und der Strategien, mit denen Akteure diesen Widersprüchen begegnen. Eine herausragende Studie zu diesem ‚engineering‘ der Vermarktlichung, die aus unserer Sicht stilbildend ist und auch für das vorliegende Buch in vielerlei Hinsicht Anknüpfungspunkte bot, ist eine ländervergleichende Studie zur Vermarktlichung von Arbeitsmarktdienstleistungen (Greer et al. 2017; Knuth 2018). „Marketization generates dilemmata“ (Greer et al. 2017, S. 160), so bringen die Autor*innen die Ergebnisse ihrer Studie auf den Punkt, und zeigen dabei, dass und wie die verschiedenen Techniken der Vermarktlichung – etwa der Rückgriff auf Ausschreibungen anstelle von Zuwendungen an private Anbieter von Vermittlungsdienstleistungen, oder die Einführung von leistungsabhängiger Vergütung für Arbeitsmarktdienstleister – in der Praxis Dilemmata und unerwünschte Nebenwirkungen erzeugt; beispielsweise ein verstärkter Rückgriff auf ‚creaming‘-StrategienFootnote 5 als Antwort auf die leistungsabhängige Vergütung.

‚Engineering‘ von Vermarktlichung – am Beispiel öffentlicher Auftragsvergabe

Anstelle der Frage, ob und in welchem Umfang öffentliche Dienstleistungen an private Firmen ausgelagert werden, richtet sich der Blick in unserer Studie auf die Art und Weise, wie dies geschieht. So kann sich die Verfahrenswahl selbst, Volumen und Dauer von Verträgen, Vorgaben zur Qualität und weitere Aspekte dessen, was Greer et al. (2017, S. 44 ff) mit „transaction modes“ bezeichnen, in unterschiedlichem Maße Ressourcen(mangel) und Planungs(un)sicherheit für die privaten Anbieter generieren.

Ähnlich wird im vorliegenden Buch herausgearbeitet, wie auch bei der Wahl wettbewerblicher Ausschreibungsverfahren noch erhebliche Gestaltungsspielräume bestehen, die den Preiswettbewerb und damit auch den Preisdruck für Anbieter unterschiedlich stark akzentuieren können. Diese Gestaltungsspielräume sind allerdings stark bürokratisiert worden, infolge einer starken Verdichtung des vergaberechtlichen Regelwerks, das die effektive Herstellung von freiem und grenzübergreifenden Bieterwettbewerb zum Ziel hatte (Kap. 3). Diese ‚neoliberale Bürokratisierung‘ wirft erhebliche Hürden für eine Vergabepraxis auf, die sich von der Strategie der Billigpreisvergabe zu entfernen versucht (s. Teil II des Buchs).

1.1.4 Dezentrierung: Die Außenseite von Neoliberalismus und Vermarktlichung

Viertens liegt das Augenmerk auch auf Faktoren und Trends, die sich sowohl bei der Ausgestaltung als auch bei der praktischen Umsetzung der Spielregeln gegen eine bloße Intensivierung von Marktprinzipien sperren und insofern quer zum Trend der Vermarktlichung liegen. So zeigt bereits die oben zitierte Studie von Greer et al. (2017), dass die von der Vermarktlichung erzeugten Dilemmata und Probleme auch Korrekturen anstoßen, die den Grad der Vermarktlichung der Arbeitsmarktdienstleistung zum Teil wieder verringert haben. Diesen Aspekt, also die Gegenbewegungen zur Vermarktlichung, betonen andere Arbeiten unter dem Schlagwort „after neoliberalism“ (Larner und Craig 2005) noch stärker. Sie heben hervor, wie sich insbesondere in der sozialpolitischen Praxis genuin nicht-neoliberale Praktiken herausgebildet haben, die die Unzulänglichkeiten neoliberaler Politik einzudämmen und zu korrigieren suchen, ohne dass sich dies notwendigerweise in Modifikationen der politischen Ziele und Programme auf übergeordneter Ebene niederschlägt. Diese partiellen Korrekturen auf der Ebene der ‚street-level-operations‘ seien jedoch in ihrer Genese und ihren Effekten missverstanden, wenn man sie als bloße Bemäntelung oder Verwässerung des neoliberalen Projekts deute (Clarke et al. 2020). Noch weitergehend plädieren andere Autor*innen für eine „Dezentrierung“ der Governance, welche die „spannungsreiche Koexistenz“ (Bevir und McKee 2016, S. 209) verschiedener Technologien des Regierens anerkennt, um dadurch auch dem Stellenwert und den Eigenlogiken von nicht-neoliberaler Politik und Praxis Rechnung zu tragen.

„Since the mid- 1990 s, public sector reforms have consisted not only (and perhaps not even mainly) of attempts to spread market mechanisms, but also of attempts to spread networks, joining up, and long- term partnerships, and to build state capacity, social capital, and resilient communities.(…) These technologies exist alongside neoliberalism. Sometimes they are in conflict with neoliberalism. Sometimes they fill gaps or shore up weaknesses in neoliberalism. Either way, they are generally attempts to address problems created by the market reforms of a high neoliberalism” (Bevir 2016, S. 2).

Diese Betonung der Eigenständigkeit nicht-neoliberaler Ansätze und der Kontingenz in Hinblick auf ihre Wirkungen deckt sich mit der Forderung von Leitner et al. (2007), die Analyse vom Neoliberalismus zu „dezentrieren“. Es gelte, die multiplen Formen von ‚Anfechtungen’ (engl.: contestation) neoliberaler Politik nicht als bloß reaktive Praktiken des ‚Widerstandes‘ (engl. ‚resistance‘) zu verstehen, sondern eigenständige Triebkräfte und Wirkungen von gegenläufigen Trends im Blick zu behalten, die genuin außerhalb des Neoliberalismus liegen.

Dieses Verständnis wendet sich damit auch gegen die Einordnung nicht-neoliberaler Praktiken als lediglich ‚verunreinigende‘ oder gar legitimitätsstiftende Elemente aller ‚real existierenden Neoliberalismen‘ und damit als Bestandteile eines fortdauernden, anpassungsfähigen hegemonialen neoliberalen Projekts (in diese Richtung u. a. Peck und Tickell 2002; Brenner und Theodore 2002). Stattdessen zeichnet sich hier ein Verständnis gegenwärtiger Governance-Formen als Mischformen ab, die aus konkurrierenden Trends oder ‚Projekten‘ hervorgehen und ebenso Anknüpfungspunkte für ihre Weiterentwicklung in die eine oder andere Richtung bieten. Dadurch werden gewissermaßen die Außenseite neoliberaler Politik und Praxis und die aus ihr hervorgehenden Impulse, Lernprozesse und Modifikationen eingehender beleuchtet.

Dezentrierung: Die Außenseite der Vermarktlichung – am Beispiel öffentlicher Auftragsvergabe

Die Analyse der Gesetzesentwicklung und Rechtsprechung auf europäischer und nationaler Ebene zeigt, wie nahezu zeitgleich zu den zunächst dominanten Ansätzen einer stärkeren Vermarktlichung der öffentlichen Auftragsvergabe auch Forderungen nach einer ‚Sozialpolitisierung‘ der Auftragsvergabe Raum greifen und Erfolge verbuchen (Kap. 4). Zum Teil erfolgt dies in direkter Reaktion auf die ‚juridische Europäisierung‘, also die Vermarktlichung mithilfe des europäischen Fallrechts; zum Teil ist dies gespeist aus einem davon weitgehend unabhängigen, übergreifenden Trend zur ‚Hybridisierung‘ des Systems industrieller Beziehungen, also zur Anreichung und Stützung kollektivvertraglicher Standards durch staatliche Interventionen.

In der Vergabepraxis kommen sich insbesondere die durch die ‚neoliberale Bürokratisierung‘ erzeugten rechtlichen Detailvorschriften auf der einen Seite und Forderungen nach einer qualitativen Wende auch beim Einkauf einfacher Dienstleistungen auf der anderen Seite in die Quere (s. Kap. 7 und 8). Auch wird beleuchtet, wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sich im Eigeninteresse an einer Unterbindung ruinösen Preiswettbewerbs zum Teil aktiv an einer solchen qualitativen Re-Orientierung der öffentlichen Auftragsvergabe beteiligen (s. Kap. 9).

1.1.5 Depolitisierung oder Repolitisierung? Zur Rolle von Politik im demokratischen Kapitalismus

Vielen der bislang genannten Arbeiten ist ein kritischer Blick auf die Rolle von demokratischer Politik gemeinsam. Dies hängt zum guten Teil mit dem erstgenannten Punkt zusammen, nämlich der höheren Bedeutung von Schauplätzen jenseits der bekannten Welt der (Arbeits-)Marktregulierung. Denn an vielen dieser Schauplätze werden Entscheidungen eben nicht von gewähltem politischen Personal, nach demokratischen Verfahren und unter Aufsicht von Medien und erweiterter Öffentlichkeit getroffen. Vielmehr habe sich, so Streeck, die Arena des verteilungspolitischen Konflikts bereits seit den 1970er Jahren.

„allmählich vom Arbeitsmarkt in der Phase der Inflation auf die Sozialpolitik in der Zeit der Staatsverschuldung, die privaten Finanzmärkte in der Ära der Finanzialisierung und die internationale Finanzdiplomatie nach der Krise nach 2008 verlagert[e]: also in immer abstraktere, der Lebenserfahrung der meisten Menschen immer entferntere und dem Zugriff demokratischer Politik immer entrücktere Handlungsräume“ verlegt. (Streeck 2014, S. 154).

Form und Inhalt der Entscheidungsfindung gelten dabei als eng miteinander verbunden: Die Entdemokratisierung von Politik und der Wandel zu einer Scheindemokratie oder „Postdemokratie“ (Crouch 2004) gilt als Begleiterscheinung des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft. Wichtige Entscheidungen werden demnach zunehmend hinter einer bloßen Fassade demokratischer Grundprinzipien (Wahlen) von einer kleinen Elite in intransparenten Verfahren und primär im Interesse mächtiger Unternehmen und Verbänden getroffen. Für solche Formen der Entscheidungsfindung hat Pepper Culpepper den Ausdruck der „quiet politics“ geprägt. Er unterscheidet in seiner Arbeit vier Arten der Entscheidungsfindung, die nach dem Grad der öffentlichen Aufmerksamkeit (‚political salience‘) und der Formalisierung – verstanden als Beteiligung gewählter oder administrativer Amtsträger – variieren (Culpepper 2011, S. 181). Sogenannte „partisan politics“, also formalisierte Entscheidungsprozesse unter hoher Anteilnahme der Öffentlichkeit, sind dabei am ehesten gegen den Durchgriff von mächtigen Wirtschaftsinteressen geschützt. Nur in eingeschränkter Form gilt dies hingegen schon für die „bureaucratic network negotiation“, bei der die Entscheidungsfindung zwar nach formalen Regeln und unter Mitwirkung staatlicher Akteure erfolgt, aber abseits der Aufmerksamkeit von Wähler*innen und Medien und ohne nennenswerte Mitwirkung von politischen Parteien. Hier ist Expertise die „Währung“ (Culpepper 2016, S. 460) der Wahl, mit der Unternehmen ihre Interessen einbringen können, die administrativen Akteure verfügen jedoch über ein gewisses Ermessen, welche Interessen sie berücksichtigen. Die besten Durchsetzungschancen haben Unternehmensinteressen schließlich bei solchen Entscheidungsprozessen vom Typus der „private interest governance“, die durch geringe öffentliche Aufmerksamkeit und geringe Formalisierung gekennzeichnet sind, beispielsweise zur ‚Corporate Governance‘ von Unternehmen. Solche Formen von ‚quiet politics‘ leisten auch der Vermarktlichung Vorschub, wie Greer und Doellgast unter Rückgriff auf Culpepper argumentieren: Die Feinsteuerung von Märkten zugunsten einer Intensivierung des Preismechanismus vollziehe sich oftmals „in a technical, de-politicized way“ (Greer und Doellgast 2017, S. 201).

Diese Wahlverwandtschaft zwischen neoliberaler Wirtschaftspolitik und technokratischer Regulierung möglichst fernab von Verfahren der repräsentativen Demokratie lässt sich nicht nur in den Schriften neoliberaler Vordenker wie Friedrich August von Hayek und James M. Buchanan aufzeigen (Biebricher 2015; Slobodian 2019). Auf europäischer Ebene bot insbesondere das Krisenmanagement im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 auch empirisches Anschauungsmaterial, das sich als Bestätigung einer solchen Wahlverwandtschaft interpretieren lässt. Die Rolle der ‚Troika‘ (IWF, EZB, Europäische Kommission) bei der Bewältigung der Staatsschuldenkrise; ebenso wie die neuen Kontrollinstrumente und Steuerungsformen der ‚European Economic Governance‘ sind sowohl wegen der Stärkung der Exekutive und anderer, demokratisch schwach legitimierter Institutionen zulasten parlamentarischer Mitwirkungsrechte kritisiert worden, als auch wegen ihrer Stoßrichtung zugunsten von Privatisierung und dem Abbau sozialer Rechte und wohlfahrtsstaatlicher Infrastrukturen (u. a. Lehndorff 2014; Erne 2015). Insbesondere der Europäische Fiskalpakt von 2012, der die im Vertrag von Maastricht beschlossenen Regelungen zur nationalen Haushaltsdisziplin verschärft und erstmals mit Sanktionen hinterlegt hat, kommt der Verwirklichung von James Buchanans Vorstellung einer Schuldenbremse mit Verfassungsrang recht nahe, welche gewählte Regierungen zu Ausgabendisziplin zwingen und den verteilungspolitischen Spielraum für Mehrheitsentscheidungen beschränken soll (Biebricher 2016). Für manche Beobachter*innen nimmt der „neoliberale Konstitutionalismus“ (Gill 2002) – also die Verankerung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung in zwischenstaatlichen Verträgen mit verfassungsähnlichem Status, den Gill bereits im Maastrichter Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion von 1992 angelegt sah – damit zunehmend autoritäre Züge an, insofern hier neue Instrumente außerhalb dieser Verfassung geschaffen werden (neue zwischenstaatliche Verträge wie den Fiskalpakt) und stärker repressive Elemente (schärfere Kontrollen und Sanktionen) eingeführt werden (Oberndorfer 2016; Kannankulam 2019). Bezogen auf die nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Mitgliedsländern der EU analysieren andere Autor*innen unter Rückgriff auf Culpepper, wie wichtige Entscheidungen zur Stabilisierung nationaler Wachstumsmodelle unter den Bedingungen globalisierter und finanzialisierter Märkte im Einklang mit den Interessen der dominanten Wirtschaftssegmente wesentlich im Rahmen von ‚quiet politics‘ getroffen werden (Bohle und Regan 2021; weitere Beiträge in Morgan und Ibsen 2021).

Empirisch betrachtet erscheint der politische Betrieb demnach in der aktuellen Phase weniger denn je als ein Ort der Gegenmobilisierung gegen die Entfesselung von Marktprinzipien, wie ihn Polanyi (2015 [1944]) konzeptionell begriff, sondern im Gegenteil als vereinnahmt von Akteuren, die diese Entfesselung vorantreiben, oder zumindest sozial inklusivere Wirtschaftsmodelle verhindern. Zwar heben die vorstehenden Analysen dabei zum Teil unterschiedliche Akteure mit auch unterschiedlicher Zielsetzung als treibende Kräfte hervor – neoliberale Think Tanks (Mirowski und Plehwe 2009); politische Eliten, die qua Amt den neoliberalen Doktrinen der europäischen Verträge zur vollständigen Entfaltung und Radikalisierung verhelfen; Einzelunternehmen und Kapitalfraktionen, denen diese neoliberale Agenda nützt (van der Pijl und Yurchenko 2014); oder aber die Interessenverbände derjenigen Wirtschaftssegmente, auf die sich das jeweilige nationale Wachstumsmodell stützt. Ihnen gemeinsam ist aber die Diagnose einer Entdemokratisierung und Depolitisierung verteilungspolitischer Entscheidungen, die bestehende soziale Ungleichheiten stabilisiert oder vertieft. Während die neoliberale ökonomische Regulationstheorie (Stigler 1971), aber auch die politikwissenschaftliche Regulationstheorie (Majone 1997, 2011) technokratische und konstitutionell gezähmte Entscheidungsverfahren als Vorkehrung verstehen, um den Staat vor einer Vereinnahmung (‚capture‘) durch mächtige Interessengruppen zulasten des Gemeinwohls zu schützenFootnote 6, erleichtern im Gegenteil aus der Perspektive der obenstehenden Arbeiten solche entpolitisierten und entdemokratisierten Verfahren Entscheidungen zulasten des Gemeinwohls.

Allerdings sprechen einige Argumente auch gegen den dauerhaften Erfolg einer solchen Depolitisierung der Marktregulierung im Interesse mächtiger Wirtschaftsakteure oder zugunsten einer neoliberalen Marktordnung. Das ist zum einen der fehlende wirtschaftswissenschaftliche Konsens zu ökonomischen Wirkungszusammenhängen und geeigneten Formen der Marktregulierung, sodass bereits die Expertise, auf die sich eine vorgeblich apolitische, nur Sachfragen verpflichtete Marktregulierung stützen könnte, umstritten bleibt (Biebricher 2016, S. 855). Zudem besitzen die zu entscheidenden Sachverhalte unabweisbar verteilungspolitische Implikationen und sind daher auch mit einiger Wahrscheinlichkeit der Politisierung durch Laien, insbesondere durch die Verlierer*innen dieser Entscheidungen ausgesetzt – wie die Entstehung neuer Parteien wie ‚Podemos‘ in Spanien und ‚Syriza‘ in Griechenland belegen (ebda.).

Auch die von Morgan und Ibsen versammelten Analysen dokumentieren zwar, dass ‚die Wirtschaft‘ („business“) diskrete ‚quiet politics‘ bevorzuge. Die Analysen zeigen jedoch zugleich, dass solche Strategien in mehreren Ländern aktuell schwer aufrechtzuerhalten sind und zunehmend auf „noisy politics“, also eine Politisierung stoßen, die sich gegen bestimmte Hinterzimmer-Deals wenden, oder sogar gegen den Einfluss von Expert*innen und Eliten generell (Morgan und Ibsen 2021, S. 13). Treibende Kräfte sind dabei auch diesen Analysen zufolge die Verlierer verteilungspolitischer Entscheidungen. Neben links- und rechtspopulistischen Parteien, die die Abwehr- und Protestbewegungen in unterschiedlicher Weise politisch kanalisieren, schließe dies auch Teile der Wirtschaft selbst ein. Die Wirtschaft sei eben kein homogener Block; dies komme in Culpeppers Perspektive tendenziell zu kurz (Morgan und Ibsen 2021, S. 13).

Eine differenziertere Perspektive auf die Rolle der Wirtschaft werfen auch die Arbeiten von Fligstein. Auch er bedient sich der Denkfigur des ‚capture‘ von staatlichen Institutionen, allerdings in heuristisch neutralisierter Form (Fligstein 2011, S. 56). Demnach streben Unternehmen primär nach Stabilisierung ihrer Marktposition und haben daher ein Interesse an der Begrenzung von Preiswettbewerb, welcher grundsätzlich als destabilisierendes Element begriffen wird. Ihre Lobbying-Aktivitäten gegenüber staatlichen Akteuren richten sich demnach darauf, Marktinstitutionen oder Regeln zu etablieren, die den Erfolg des eigenen Geschäftsmodells garantiert. Solche Strategien können im Ergebnis sehr selektiven Partikularinteressen nützen. Je nach politischer Konstellation und Allianzen mit anderen gesellschaftlichen Akteuren kann dies aber auch in eine Marktregulierung münden, die einer breiteren Interessenkoalition zugutekommt.

Fligsteins konzeptionelles Verständnis rückt ins Bewusstsein, dass es keineswegs dem natürlichen Interesse dominanter Wirtschaftsakteure entsprechen muss, eine Vermarktlichung im Sinne einer Intensivierung des Preismechanismus (Greer und Doellgast 2017) zu unterstützen. Es unterstreicht die Interessenheterogenität von wirtschaftlichen Akteuren, die im Eigeninteresse um die politische Marktregulierung ringen, im Ergebnis aber Marktordnungen mit unterschiedlichem Grad der ‚Einbettung‘ unterstützen können. Dass diese Interessenheterogenität und daraus hervorgehende Impulse zur Politisierung der bestehenden Marktregulierung mehr Aufmerksamkeit bedürfen, konzediert auch Culpepper in seiner Replik auf Morgan und Ibsen: Wirtschaftliche Akteure hätten zunehmend Schwierigkeiten, mit einer Stimme zu sprechen – eine basale Voraussetzung für den Erfolg von ‚quiet politics‘ (Culpepper 2021, S. 136). Diese Schwierigkeiten der kollektiven Interessenaggregation führt Culpepper auf die wachsende wirtschaftliche Macht von Einzelfirmen zurück, aber auch auf die Internationalisierung und Finanzialisierung der Wirtschaft, die einen Spalt zwischen diejenigen Branchen und Firmen treibe, die davon profitieren, und die, die das nicht tun.

Es spricht also einiges dafür, dass auch und gerade in der gegenwärtigen Phase heterogene Interessenlagen einen reichhaltigen Nährboden für die Politisierung selbst solcher Entscheidungsgegenstände bilden, die bislang eher im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit lagen. Offen bleibt allerdings, unter welchen Bedingungen eine solche Politisierung auch ein Gegengewicht zum Trend der Vermarktlichung darstellen kann. Denn auch dominante wirtschaftliche Akteure können lernen, ihre Interessen unter den Bedingungen von „noisy politics“ durchzusetzen, wie einzelne Arbeiten zeigen (u. a. Emmenegger und Marx 2019). Culpepper sieht dennoch insbesondere in der Herstellung öffentlicher Aufmerksamkeit durch eine freie Medienberichterstattung weiterhin grundsätzlich den zentralen Mechanismus, mit dem politische Änderungen auch gegen die strukturelle Macht dominanter Wirtschaftsakteure durchgesetzt werden können – auch wenn die zunehmenden populistischen Angriffe auf ‚mainstream‘-Medien und die Entstehung von medialen Parallel-Universen diese Funktion unterminieren (Culpepper 2021, S. 140).

Allerdings: Regierungen, politische Parteien und staatliche Bürokratien erscheinen auch in dieser Perspektive weniger als Akteure mit eigener Agenda, denn als Hüter des Status quo, die erst auf äußeren Druck hin zu Konzessionen zu bewegen sind.

„Voters can influence governments only when governments think voters are paying attention to what they are doing. The way they pay attention is through newspapers, television, and social media.“ (Culpepper 2021, S. 40).

Selbst in Beiträgen, die die Repolitisierung verteilungspolitischer Fragen thematisieren, bleiben die politischen Machtzentren damit eigentümlich leer und die Eigendynamiken des politischen Betriebs auf den Wettbewerb um Wählerstimmen verkürzt. Das Augenmerk liegt hier, wie auch in zahlreichen anderen Beiträgen zur ‚contestation‘ von neoliberaler Politik, vorrangig auf Strategien der Gegenmobilisierung von ‚unten‘ und ‚außen‘, also etwa durch Verbände, zivilgesellschaftliche Organisationen und lokale Bündnisse (u. a. Lessenich 2014; Blühdorn und Deflorian 2021) oder durch Parteien am linken und rechten Rand des politischen Spektrums (Streeck 2021). Dies blendet jedoch tendenziell Konflikte und Kompromisse ‚oben‘ und ‚innen‘ aus – also in der Gesetzgebung, im Regierungshandeln, in der Verwaltung, in der Rechtsprechung und an weiteren Schauplätzen, an denen formelle und informelle Normen zur Marktsteuerung gesetzt werden. Auch durch sie geht aber, so eine zentrale Ausgangsannahme unserer Untersuchung, ein Riss in Gestalt des Polanyi’schen Spannungsverhältnisses zwischen Vermarktlichung und Einbettung bzw. ‚Sozialpolitisierung‘.

An dieser Lücke setzt daher die nachfolgende Analyse an. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf die vielfältigen Formen der Politisierung, die das Thema der öffentlichen Auftragsvergabe zum Gegenstand öffentlicher(er) und kontroverserer Auseinandersetzungen gemacht haben und beleuchtet dabei, wie äußerer Druck und ‚innere‘ Dynamiken des politischen Wandels zusammenwirken.

Repolitisierung von ‚quiet politics‘ – am Beispiel öffentlicher Auftragsvergabe

Entscheidungen zur öffentlichen Auftragsvergabe verteilen sich über verschiedene der von Culpepper unterschiedenen Quadranten des ‚governance space‘. Tariftreue- und Vergabegesetze haben qua Gesetzgebungsverfahren die größte Nähe zum Typus der ‚partisan politics‘, wohingegen vergabepraktische Entscheidungen, aber auch die Rechtsprechung eher dem Typus der ‚bureaucratic network negotiation‘ entsprechen, der durch formale Verfahren unter Beteiligung staatlicher Akteure (Gerichte, Verwaltungen), aber wenig öffentliche Aufmerksamkeit gekennzeichnet ist. Das Soft law in Form von Leitfäden und Best-Practice-Sammlungen zur Auftragsvergabe umfasst informelle Normen, die zum Teil auch von nicht-staatlichen Akteuren produziert werden, und lässt sich daher am ehesten dem Typus der ‚private interest governance‘ zuordnen. Damit nehmen solche Formen der Entscheidungsfindung, die Culpepper als anfällig für ‚quiet politics‘ sieht, in der Auftragsvergabe erheblichen Raum ein. Die Analyse dieser verschiedenen Arenen der Entscheidungsfindung verdeutlicht jedoch, dass und wie es über die verschiedenen Arenen hinweg zu einer Politisierung – im Sinne einer Infragestellung, Pluralisierung und Konkurrenz der dort produzierten Normen – kommt. Dabei greifen Impulse von außerhalb und innerhalb des politisch-administrativen Systems ineinander.

Bezogen auf die Vergabepraxis analysiert das Buch beispielweise, wie im beruflichen Rollenverständnis der zuständigen Verwaltungskräfte eine stärkere Ausrichtung am Leitbild des Staates als kundenfreundlicher ‚Guter Dienstleister‘ zu erkennen ist, das auch von außen, namentlich von Vertreter*innen der ‚Kund*innen‘ der staatlichen Dienstleistungen selbst an die Verwaltung herangetragen wird (s. Kap. 7 und 8). Auch das Soft law, also die externe Expertise, die sich mit dem Anspruch der Professionalisierung und professionellen Beratung der Vergabepraxis an diese richtet, ist ein Terrain, auf dem zahlreiche Akteure mit unterschiedlicher politischer Stoßrichtung aktiv sind; ihre Aktivitäten lassen sich daher als „politische Professionalisierung“ bezeichnen (s. Kap. 6). Schließlich kann sich neben der Gesetzgebung auch die einschlägige Rechtsprechung einer Politisierung nicht entziehen (s. Kap. 4). Im Unterschied zu den ‚noisy politics‘ von Protestbewegungen oder Kampagnen populistischer Parteien kommen die Politisierungsprozesse in diesen Entscheidungsfeldern abseits der Gesetzgebung jedoch mitunter weniger lautstark daher und gewinnen auch erst über einen längeren Zeitraum an Dynamik. Sie sind jedoch ein wichtiges Komplement zu den politischen Auseinandersetzungen in der Kernarena der repräsentativen Demokratie – ohne sie bleiben auch Reformen und neue Kompromisse auf gesetzlicher Ebene fragil und oberflächlich.

1.2 Kurzüberblick: Untersuchungsdesign und empirische Grundlage

Das Buch ist in zwei Teile untergliedert. Der erste Teil beleuchtet die Entwicklung von Vergabepolitik. Der zeitliche Schwerpunkt dieser Analyse liegt dabei auf dem Zeitraum von der jüngsten europäischen Vergaberechtsreform (2014) bis zum aktuellen Rand, greift aber zur Kontextualisierung dieser Entwicklungen historisch weiter zurück.

Die Analyse in diesem Teil stützt sich dabei auf eine relativ umfassende politik- und rechtswissenschaftliche Literatur, sowie die inhaltsanalytische Dokumentenanalyse (Hoffmann 2018) von ausgewählten Gesetzesdokumenten, Plenarprotokollen, Anhörungen, Gerichtsurteilen und Stellungnahmen von Interessenorganisationen. Ergänzend dazu haben wir 16 inhaltsanalytisch ausgewertete Expert*innen-Interviews (Mayring 2015) mit Personen geführt, die uns aufgrund ihrer beruflichen Position und Erfahrung Einblicke in die ‚Governance‘ öffentlicher Auftragsvergabe, also die Entwicklung der formellen Normen wie auch der informellen Normen und der begleitenden Debatten und Konflikte, gewähren konnten. Dies waren fachlich versierte Politiker*innen auf Landesebene (2), Vertreter*innen von Arbeitgeberverbänden (3) und Gewerkschaften (5), und von quasi-öffentlichen (5) sowie privatwirtschaftlichen (2) Beratungsorganisationen. Die Interviews mit den Beratungsorganisationen (z. B. Auftragsberatungsstellen, sogenannte ‚Kompetenzstellen‘ für die strategische Beschaffung, Vergaberechtskanzleien) flossen auch in die Analyse im zweiten Teil des Buches ein.

Der zweite Teil des Buchs widmet sich der Vergabepraxis und stellt den Schwerpunkt der eigenen empirischen Erhebung dar. Kernstück unserer Untersuchung bilden hier lokale Intensiv-Fallstudien, die wir im Zeitraum zwischen Januar 2017 und März 2020 in fünf Städten Deutschlands – sowohl im Norden und Süden als auch in westlichen und östlichen Landesteilen – durchgeführt haben. Dafür wurden neben der Analyse schriftlicher Vergabeunterlagen und weiterer Dokumente zur lokalen Vergabepraxis über 60 Interviews mit Vertreter*innen von lokaler Politik und Verwaltung, lokalen Verbänden von Arbeitgebern und Gewerkschaften, beauftragten Firmen und deren Beschäftigten(-vertreter*innen), sowie weiteren Organisationen geführt, die örtlich oder regional in die Vergabepraxis involviert waren. Die Auswahlkriterien, nähere Informationen zu den ausgewählten Städten, sowie unsere genaue Vorgehensweise bei der Erhebung und Auswertung der qualitativen Daten werden in der Einleitung zu Teil 2 näher erläutert (s. Kap. 5).

Der Fokus liegt in diesem zweiten Teil auf zwei ausgewählten Wirtschaftssegmenten, nämlich der Schulverpflegung und den Sicherheits-Dienstleistungen. Die beiden Segmente weisen unterschiedlich stark fragmentierte und lückenhaften Interessenvertretungsstrukturen auf: Die Sicherheitsbranche verfügt nahezu flächendeckend über die organisatorischen Grundstrukturen für die kollektivvertragliche Normsetzung (tariffähige Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) und vergleichsweise zentralisierte Tarifstrukturen, während beides im Bereich der Schulverpflegung weitgehend fehlt (s. ausführlich Abschn. 9.2) Dieses branchenvergleichende Untersuchungsdesign erlaubt uns daher, die Wechselwirkungen zwischen den branchenspezifischen Systemen industrieller Beziehungen und der Vergabepolitik zu studieren, und die oben formulierte Annahme zu überprüfen, dass sozialverantwortliche Auftragsvergabe die Schwachstellen der kollektivvertraglichen Arbeitsmarktregulierungen umso besser kompensieren kann, je stärker sie auf die Unterstützung durch die Akteure und Ressourcen des Systems industrieller Beziehungen zählen kann.

Was die Verallgemeinerbarkeit unserer Befunde aus diesen Fallstudien anbelangt, ist zu beachten, dass die Auftragsvergabeprozesse in größeren Städten wie den von uns ausgewählten (mindestens 200.000 Einwohner) nach den Einschätzungen vieler Expert*innen im Durchschnitt in höherem Maße professionalisiert sind und damit oftmals weiter fortgeschritten in der Implementation ‚strategischer‘ (ökologische, innovativer, sozialer) Beschaffungsziele. Die Fallstudien zeichnen somit ein Bild von Dynamiken, die sich unter vergleichsweise günstigen organisatorischen Bedingungen entfaltet haben, und an vielen Orten (noch) keine Realität ist.

Gleiches gilt für die finanziellen Rahmenbedingungen; auch sie waren vergleichsweise günstig für eine Auftragsvergabe, die sich nicht ausschließlich nach dem niedrigsten Preis richtet. Denn die Haushaltssituation der untersuchten Kommunen spiegelte die generell günstige Entwicklung wider, die die Finanzen von Bund, Ländern und Kommunen in den Jahren vor der Corona-Pandemie geprägt haben (s. ausführlich Kap. 5). Es ist plausibel anzunehmen, dass sich die Einbrüche bei den Einnahmen der öffentlichen Haushalte und die enormen Ausgabensteigerungen zur Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie eher bremsend auf die weitere Verbreitung und Intensivierung einer sozialverantwortlichen Auftragsvergabe auswirkt, insofern diese die Beschaffung zumindest in kurzfristiger, auf den einzelnen Haushaltstitel bezogenen Perspektive verteuert. Ein Automatismus ist dies aber nicht, da die zumindest vorübergehende Aufhebung der Schuldenbremse die finanziellen Spielräume von Bund, Ländern und Kommunen erweitert hat.

1.3 Gliederung und Kernbefunde des Buches

Der erste Teil des Buches widmet sich der gesetzlichen Entwicklung auf europäischer Ebene und in Deutschland. Hier geht es also um die Produktion der formellen Regeln (Gesetzgebung und Verordnungen), nach denen öffentliche Aufträge vergeben werden, und um die autoritative Ausdeutung dieser Regeln durch die Rechtsprechung. Letztere ist nicht nur für die Umsetzung der Gesetze von hoher Bedeutung, sondern nimmt auch in Gestalt der ‚juridischen Europäisierung‘ auf die Gesetzgebung selbst starken Einfluss.

Kernbefund dieses Teils ist, dass die Entwicklungsdynamik überwiegend der Variante institutionellen Wandels entspricht, für die in der Literatur der Begriff des „institutional layering“ geprägt wurde (Kap. 2). Weder schiebt die Sozialpolitisierung im Sinne eines Paradigmenwechsels soziale und andere ‚vergabefremde‘ Zwecke an erste Stelle, noch beherrscht der ‚Schatten‘ des marktliberalen europäischen Fallrechts unverändert das Geschehen. Vielmehr ist es zu einer Doppelbewegung aus Vermarktlichung und Sozialpolitisierung gekommen. Die beiden Entwicklungslinien lösen einander nicht ab, sondern überlagern sich und bestehen bis heute nebeneinander her.

So zeigt die Untersuchung in Kap. 3, wie es einerseits ab Ende der 1980er Jahre zu einer Intensivierung von Marktprinzipien in Form einer Verdichtung und forcierten Durchsetzung von wettbewerbsschützenden Regeln kam. Diese Vermarktlichung erfolgt „im Modus der Verrechtlichung“, also gestützt auf Verfahren, Akteure und Doktrine des Rechtssystems. Die verschiedenen Facetten dieser Entwicklung – etwa die Einführung neuer Regeln und Instanzen des Bieterschutzes, oder die regulative Expansion und Vervielfältigung von Detailregeln, welche die Entscheidungsspielräume von nationaler Politik und Vergabepraxis verringern – kommt einer Institutionalisierung und Quasi-Konstitutionalisierung des Wettbewerbsprinzips gleich, die in dieser Qualität neu ist.

Kap. 4 beleuchtet dann die zweite Entwicklungslinie und zeigt, dass Anfang der 1990er Jahre nahezu zeitgleich zum Beginn der Vermarktlichung auch das Ringen um den Stellenwert sozialer und anderer ‚vergabefremder‘ Ziele eingesetzt hat. Diese Sozialpolitisierung erfolgte „im Modus der Politisierung – also gestützt auf Verfahren, Akteure und Ziel-Programme des politischen Systems. Im Ergebnis öffnen die jüngsten Gesetzesreformen und Gerichtsurteile auf europäischer Ebene die öffentliche Auftragsvergabe mehr denn je für soziale Zwecke, heben den Konflikt zwischen Wettbewerbsschutz und sozialen Zielen allerdings nicht auf. Vielmehr ist es hier gewissermaßen zu einer Institutionalisierung des Nebeneinanders von Vermarktlichung und Sozialpolitisierung gekommen. Wie beide Prinzipien ausbalanciert werden, hängt umso mehr von der Ausgestaltung von Gesetzen und Verwaltungspraxis auf der nationalen Ebene ab. Bereits in der Vergangenheit sind von nationaler und vor allem subnationaler Ebene zentrale Impulse für die Repolitisierung von Entscheidungen zur öffentlichen Auftragsvergabe ausgegangen, wie das Kapitel zeigt, und dies bleibt auch für die nähere Zukunft absehbar der Fall. Wesentlichen Anteil hatten daran die Wechselwirkungen der Vergabepolitik mit dem System der industriellen Beziehungen und einem übergreifenden Politikwandel, nämlich der Hybridisierung des deutschen Systems der Lohnfindung, also der staatlichen Stützung und Ergänzung kollektivvertraglich vereinbarter Tarifnormen. Um den vergabepolitischen Teil dieses Politikwandels zu verstehen, muss daher auch dieser erweiterte Kontext einbezogen werden. Von größter Bedeutung sind bis heute vor allem die Wechselwirkungen zwischen Vergabepolitik und den Entscheidungen und Konflikten zum staatlichen Mindestlohn sowie zur Stärkung der Tarifbindung. Besonders deutlich wird dies an einer zentralen politischen Innovation, den vergabespezifischen Mindestlöhnen: Neben ihrer unmittelbaren Schutzwirkung für den Bereich der öffentlichen Aufträge waren sie zunächst Vorreiter eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes, und wurden nach 2015 zum Vorreiter eines allgemeinen gesetzlichen ‚living wages‘, also eines armutsfeste(re)n Mindestlohns, wie er seit einiger Zeit sowohl auf nationaler Ebene, als auch auf europäischer Ebene diskutiert wird.

Die Institutionalisierung zweier widersprüchlicher Logiken in der Gesetzgebung ist auch eine prägende Rahmenbedingung für die aktuelle Vergabepraxis in Deutschland. Sie wird im zweiten Teil des Buchs näher beleuchtet.

Kap. 5 führt hier unsere analytische Perspektive des ‚street-level market making‘ ein. Dabei knüpfen wir an die soziologische Forschungslinie des ‚street-level-bureaucracy‘ (SLB)-Ansatzes an (Lipsky 1980), welche den Fokus auf die Denk- und Handlungsmuster von staatlichen Bediensteten im Umgang mit den Dilemmata oder Herausforderungen legt, die sich unter anderem aus uneindeutigen und zum Teil widersprüchlichen Zielvorgaben und eigenen professionellen Standards ergeben. Mit diesen Handlungspraktiken gestalten staatliche Bedienstete in ihren täglichen Interaktionen mit Bürger*innen nach dem Verständnis des SLB-Ansatzes Politik wesentlich mit. In Analogie dazu leisten – dies fängt der Ausdruck des ‚street-level-market making‘ ein – Verwaltungskräfte, welche für die Vergabe öffentlicher Aufträge zuständig sind, in ihren Interaktionen mit Bietern einen Beitrag zur politischen Marktschaffung und -gestaltung. Der Fokus unserer Analyse liegt entsprechend auf dem gewandelten Aufgabenverständnis von Verwaltungskräften im Umgang mit vergabespezifischen Zielkonflikten und Herausforderungen. Unsere Analyse in diesem Kapitel schließt damit an eine Reihe von Studien zum beruflichen Ethos öffentlich Bediensteter unter dem Einfluss von Vermarktlichung oder ‚Ökonomisierung‘ an. Sie erweitert diese Perspektive aber, indem sie nach den Dilemmata und Handlungspraktiken fragt, die sich aus der skizzierten Doppelbewegung von Vermarktlichung und Sozialpolitisierung ergeben.

Kap. 6 ist dabei zunächst ein Zwischenschritt und Verbindungsglied zwischen Vergabepolitik und Vergabepraxis: Es widmet sich den nicht-verbindlichen Deutungsangeboten, die auch im Gefolge der Doppelbewegung von Vermarktlichung und Sozialpolitisierung stark ausgebaut wurden. Diese Deutungsangebote richten sich mit dem Anspruch an die Vergabepraxis, diese zu professionalisieren und so bei der Bewältigung der gestiegenen (und diversen) Ansprüche an die öffentliche Auftragsvergabe zu unterstützen. Berufsverbände der Vergabepraktiker*innen selbst spielen dabei keine so zentrale Rolle wie im Falle der klassischen Professionen des Gesundheits- und Sozialwesens. Vielmehr werden die professionellen Standards von einer Vielzahl auch externer Akteure mitentwickelt, die mit unterschiedlichen Interessen und politischer Stoßrichtung den Vergabepraktiker*innen ihre Expertise in Form von Leitbildern, Beratungen, Wissenssammlungen und Standards einer ‚guten‘ Auftragsvergabe andienen. Ihre Aktivitäten lassen sich daher als „politische Professionalisierung“ bezeichnen. Einen politischen Charakter erhalten diese Tätigkeiten nicht zuletzt dadurch, dass hier auch externe Akteure des politischen Systems selbst an der Professionalisierung mitwirken, etwa die Europäische Kommission. Insbesondere im Bereich der Sicherheitsdienstleistungen rücken mit den Normierungs-Bestrebungen des Arbeitgeberverbandes zudem Strategien der Einflussnahme durch die Produzenten der Dienstleistungen selbst in den Blick. Von verschiedenen Seiten und mit unterschiedlicher Akzentuierung werden dabei Versatzstücke eines dennoch halbwegs kohärenten neuen vergabespezifischen Leitbildes zusammengetragen, das ähnlich wie in anderen Teilen der öffentlichen Verwaltung auch die Gewährleistung guter öffentlicher Dienstleistungen zum Kern hat. (Leitbild ‚Guter Dienstleister‘). Dieses ist weder mit einem ‚vermarktlichten‘ Leitbild (‚Hüter des Wettbewerbs‘) noch mit einem ‚sozialpolitisierten‘ Leitbild (‚Guter Auftraggeber‘) deckungsgleich, sondern liegt quer zu beiden.

Kap. 7 begibt sich dann auf empirische Spurensuche dieser verschiedenen Leitbilder in der Vergabepraxis der Kommunen. Hier steht die Frage im Vordergrund, inwieweit kommunale Vergabepraktiker*innen sich in ihren Werthaltungen an den verschiedenen Leitbildern orientieren; welchen Herausforderungen und Dilemmata sie sich dabei gegenüberstehen sehen. In den Interviews mit Verwaltungskräften zeichnet sich dabei ein recht deutlicher, branchen- und ortsübergreifender Trend ab, und zwar zugunsten einer stärkeren Gewichtung der Qualität der eingekauften Dienstleistungen, sowie weiterer Ziele, die sich auf das Wohl der Adressat*innen der Dienstleistungen beziehen. Das Leitbild des Staates als ‚Guter Dienstleister‘ scheint also auf dem Vormarsch – selbst in den beiden untersuchten Branchen, in denen lange Zeit nach einmütiger Einschätzung aller Befragten das billigste Angebot stets als wirtschaftlichstes Angebot galt und den Zuschlag erhielt. Folglich beziehen sich auch viele der wahrgenommenen Herausforderungen und Handlungsdilemmata in erster Linie auf Aspekte, die eine Steigerung der Dienstleistungsqualität erschweren. Die beiden anderen Leitbilder, die die Großtrends von Vermarktlichung und Sozialpolitisierung widerspiegeln (‚Guter Auftraggeber‘ und ‚Hüter des Wettbewerbs‘) nehmen demgegenüber einen sekundären Platz im Wertekanon der Vergabepraktiker*innen ein, und werden in erster Linie funktional auf das primäre Leitbild bezogen: Sie gelten also insoweit als nützlich (bzw. schädlich), als sie die Gewährleistung von qualitativ guten Dienstleistungen unterstützen (bzw. dem entgegenstehen). Die Zielverschiebung zugunsten einer guten Qualität staatlicher Dienstleistungen ist damit für sich genommen weder Türöffner noch Hindernis für soziale Ziele.

Die drauffolgenden beiden Kapitel widmen sich dann den praktischen Handlungsstrategien der Kommunen in Interaktion mit den Bietern, aber auch mit Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden, Vertreter*innen der Nutzer öffentlicher Dienstleistung und weiteren zivilgesellschaftliche Akteuren, sowie Anbietern von externer Expertise. Um das Vorgehen der Behörden zu verstehen, ist es auch hier erforderlich, ihre Praktiken in Bezug auf soziale Kriterien nicht isoliert zu betrachten, sondern im Gesamtkontext. Konkret bedeutet dies zu fragen, wie sich Praktiken der sozialverantwortlichen Auftragsvergabe in den übergreifenden Wandel zugunsten einer höheren Qualität von Dienstleistungen einschreiben.

In Kap. 8 liegt der Fokus daher zunächst auf den Vorgehensweisen und Lernprozessen der Verwaltung in ihrem Bemühen, sich vom ‚Diktat des billigsten Preises‘ zu entfernen, sowie auf den Schwierigkeiten und Gelingensbedingungen für diese Lernprozesse. Eine zentrale Herausforderung ist dabei der Umgang mit der Ressource Recht. Die untersuchten Kommunen haben ihre Vergabeprozesse zwar in der jüngeren Zeit mit dem Ziel der Professionalisierung reorganisiert. Die weiterhin dynamische Gesetzesentwicklung und Rechtsprechung und der damit verbundene chronisch unvollständige Charakter vergaberechtlicher Expertise tragen aber dazu bei, dass das Handeln unter (v. a. Rechts-)Unsicherheit dennoch ein zentrales Merkmal von Entscheidungsprozessen in der Vergabepraxis bleibt. Zugleich setzen, auch gestützt durch die neuen Verfahren des Bieterschutzes, die institutionellen Strukturen für das Verwaltungspersonal starke Anreize, sich am alten Prinzip der Rechtskonformität zu orientieren. In diesem Spannungsfeld aus Rechtskonformität und Rechtsunsicherheit entwickeln die Akteure unterschiedliche grundsätzliche Herangehensweisen, wie sie sich neue Entscheidungsspielräume zugunsten einer Vergabe nach Qualitätsgesichtspunkten erschließen. Neben einem vergaberechtlichen ‚Perfektionismus‘ dokumentieren die Fallstudien auch verschiedene Varianten einer ‚pragmatischen‘ Herangehensweise, bei der Handlungsblockaden durch fehlertolerantes Experimentieren auch an der Grenze des vergaberechtlich Zulässigen überwunden werden. Insgesamt veranschaulichen die Fallstudien so eine relativ große Bandbreite an Verfahrensinnovationen, mit denen der Preiswettbewerb eingeschränkt wird. Die Kommunen nehmen dabei nicht selten vergaberechtliche Risiken in Kauf und wenden erhebliche Ressourcen und Kreativität auf, um Dilemmata und Herausforderungen zu lösen, die die ‚neoliberale Bürokratisierung‘ in Gestalt wettbewerbsschützender Detailregeln ihnen stellt. Zum Teil wird dies auch durch eine Politisierung von vergabepraktischen Entscheidungen begleitet und begünstigt, also eine Öffnung für die Mitwirkung verwaltungsexterner Akteure, die bislang typischerweise nicht in die Detailsteuerung der Auftragsvergabe involviert waren. Im Unterschied zu den in Deutschland traditionell viel genutzten korporatistischen Beteiligungsformen spielen die Sozialpartner in diesen neuen teilöffentlichen Entscheidungsarenen aber eine untergeordnete Rolle; in erster Linie erhält hier die Stimme der Klient*innen der Dienstleistung stärkeres Gewicht, weniger die der Produzenten (Unternehmen, Sozialpartner).

Kap. 9 untersucht schließlich vor dem Hintergrund dieser normativen und praktischen Neuausrichtung der Auftragsvergabe am Leitbild des ‚Guten Dienstleisters‘ die Aushandlungs- und Lernprozesse zur sozialverantwortlichen Auftragsvergabe. Dazu erweitert das Kapitel den Blickwinkel: Während bislang vor allem die kommunale Politik und Verwaltung im Fokus standen, werden nun auch die nichtstaatlichen Akteure stärker einbezogen, die in Deutschland traditionell eine wichtige Rolle bei der Aushandlung und Durchsetzung von Löhnen und weiteren Arbeitsstandards spielen, nämlich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sowie Einzelunternehmen. Hier stehen nun also die Interaktionen und Wechselwirkungen zwischen den alten Arenen industrieller Beziehungen und dem neuem ‚Experimentierraum‘ im Zentrum. Als zentrale Stellschrauben in diesem ‚Experimentierraum‘ analysiert das Kapitel die Lern –und Aushandlungsprozesse zu geeigneten Maßnahmen der Durchsetzung und Kontrolle der extern gesetzten Lohnstandards (Tariflöhne, Vergabe-Mindestlöhne) sowie zur Ermittlung angemessener Preise (als eine Form der indirekten Lohnsetzung), und zu weiteren Auflagen zu Arbeitsbedingungen bei den beauftragten Firmen. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die qualitative Wende in der Auftragsvergabe auch die sozialverantwortliche Auftragsvergabe partiell begünstigt – nicht im Sinne eines Automatismus, sondern in Verbindung mit weiteren Dynamiken. Die grundsätzliche Öffnung für verwaltungsexterne Akteure können auch die Sozialpartner sowie andere staatliche und nicht-staatliche Akteure zum Teil nutzen, um arbeitsbezogene Standards in konkreten Vergabeverfahren zu verankern. Zudem erscheint die unterschiedlich stark ausgeprägte Überzeugung in Fachämtern und Vergabestellen, dass die Berücksichtigung arbeitsbezogener Kriterien letztlich der Qualität der Dienstleistung nützt, ein wichtiger Faktor, um Unterschiede zwischen einzelnen Fallstudien und zwischen den beiden Branchen zu verstehen. Das Primat der Qualität kann bisweilen aber auch als Bremse für ambitioniertere Bemühungen um angemessene Arbeitsbedingungen wirken; Spannungsverhältnissen zwischen den Interessen von Nutzer*innen und Beschäftigten – etwa, wenn es um den Preis des Schulessens geht – gehen eher zu Lasten der Beschäftigten aus. In vergleichender Perspektive kontrastieren die zum Teil sehr innovativen und aufwendigen Herangehensweisen bei der qualitätsorientierten Reorganisation der Auftragsvergabe zudem insgesamt mit deutlich schwächer ausgeprägten Aktivitäten der Verwaltung in Bezug auf arbeitsbezogene Standards.

Dies spiegelt aber nicht nur eher schwache Anreize für eine sozialverantwortliche Auftragsvergabe aus dem politisch-administrativen System wider, sondern auch schwache Anreize und Verstärkungseffekte aus der Systemumwelt, in diesem Fall aus dem System der industriellen Beziehungen. Unsere Analyse der detaillierten kommunalen Praktiken und Strategien der sozialverantwortlichen Auftragsvergabe in diesem Kapitel bestätigt tendenziell die Annahme eines komplementären Verhältnisses von Auftragsvergabe und kollektiver Selbstregulierung. Neigungen und Fähigkeiten kommunaler Akteure zur sozialverantwortlichen Auftragsvergabe hängen also wenigstens auch von den Impulsen und Handlungskapazitäten auf Seiten der Akteure der industriellen Beziehungen ab. Die in beiden Branchen fragmentierten und antagonistischen Beziehungen werfen hier auch ihre Schatten für die vergabespezifischen Strategien der verbandlichen Akteure. Dies gilt etwa im Hinblick auf die geringen infrastrukturellen Ressourcen (Zeit und Personal), die insbesondere den Gewerkschaften enge Grenzen setzen, sich in die Ausgestaltung von Vergabeprozessen einzubringen. Es gilt zudem auch im Hinblick auf die Tarifnormen: Wo diese existieren, wie in der Sicherheitsbranche, können sie auch einen Bezugspunkt für die Bemühungen der Akteure um deren Anwendung und Kontrolle bilden. Schließlich gilt dies auch im Hinblick auf die schwach ausgeprägten (Schulverpflegung) bzw. von Konflikten geprägten Kulturen der Kooperation zwischen den Parteien. Trotz faktischer Interessenüberschneidungen verfolgen die Akteure daher weitgehend getrennte und nicht-koordinierte Strategien. Insgesamt legt ein Grundgerüst an kollektiver Selbstregulierung in der Sicherheitsbranche im Vergleich zum Schulcatering auch eine bessere Basis für kommunale Strategien der vergabespezifischen Arbeitsregulierung. Im Schulcatering hingegen fehlt diese Basis. Hier drohen solche kommunalen Strategien, wo sie existieren, in ihrer Wirkung zu verpuffen oder jedenfalls abgeschwächt zu werden.

Kap. 10 schließlich fasst die Befunde zusammen und diskutiert Potenziale und Grenzen der sozialverantwortlichen Auftragsvergabe sowie Gestaltungsoptionen und Alternativen. Zudem zieht es Schlussfolgerungen aus diesem Lehrstück für die übergreifende Debatte zur Vermarktlichung und greift dabei insbesondere die Frage nach dem Stellenwert, den Erscheinungsformen und Entwicklungsdynamiken real existierender, nicht-neoliberaler Politik und Praxis auf.