Schlüsselworter

1 Einleitung

Amtssitzpolitik ist das Bestreben eines Staates, internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen zur Niederlassung auf seinem Territorium zu bewegen sowie als Standort für internationale Konferenzen zu dienen. Für die Außenpolitik der Zweiten Republik ist Amtssitzpolitik seit vielen Jahrzehnten eine Priorität. Dies hat dazu geführt, dass sich mehr als 60 internationale Organisationen auf dem Gebiet Österreichs angesiedelt haben, rund 40 davon allein in Wien (Bundesministerium für Europäische und Internationale Angelegenheiten 2020, 123), darunter so prominente wie einer der Hauptsitze der Vereinten Nationen (VN).Footnote 1 Zudem war Österreich der Austragungsort richtungsweisender Konferenzen, die zu den Wiener Konventionen über diplomatische (1961) und konsularische (1962) Beziehungen sowie über das Recht internationaler Verträge (1969) geführt haben.Footnote 2

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Amtssitzpolitik Österreichs in der Zweiten Republik. Er geht dabei der Frage nach, warum und wie sich Amtssitzpolitik als Teil der Außenpolitik entwickelt und verändert hat. Der Beitrag kommt dabei zu dem Befund, dass die Amtssitzpolitik der Zweiten Republik im Wesentlichen von funktionalen und normativen Motivationen geleitet war und ist. Funktionale Motivationen sind das Streben nach internationaler Sichtbarkeit und Relevanz, um damit die Souveränität Österreichs abzusichern, sowie nationale Wertschöpfung und Umwegrentabilität der Ansiedlung internationaler Organisationen. Die normative Motivation ist das Bestreben, die friedliche Koexistenz der Staaten durch gute Dienste zu unterstützen. Zudem lässt sich festhalten, dass sich die Amtssitzpolitik im Laufe der Zweiten Republik von einer (funktionalen und normativen) Notwendigkeit zu einer Tradition entwickelt hat.

Amtssitzpolitik ist unmittelbar mit dem Begriff „internationale Organisationen“ verbunden. Dieser wird hier – wie auch in der Amtssitzpolitik der Republik Österreich – weit gefasst und nicht etwa nur im Sinne des Völkerrechtes verstanden (z. B. als zwischenstaatliche Organisationen).Footnote 3 Ein Großteil der internationalen Organisationen mit einem Amtssitz in Österreich ist staatlicher Natur. Deren Mitglieder sind Staaten die ein Sekretariat / einen Amtssitz unterhalten und deren Vertreter sich regelmäßig treffen. Zu Amtssitzpolitik zählt aber auch das Bemühen um internationale Nicht-Regierungsorganisationen sowie die Abhaltung internationaler Konferenzen.

In diesem Kapitel wird zunächst der theoretisch-analytische Rahmen von Amtssitzpolitik erörtert, das heißt deren Inhalte und Prozesse. Darin wird aufgezeigt, wie sich Amtssitzpolitik seit Beginn der Zweiten Republik zu einem Bestandteil österreichischer Außenpolitik entwickelt hat. Nach dem Aufzeigen historischer Entwicklungslinien österreichischer Amtssitzpolitik werden die Ursachen von deren Notwendigkeit erörtert. Das Kapitel endet mit einem Resümee, welches, vor dem Hintergrund der Inhalte und Prozesse von Außenpolitik, aufzeigt, wie sich Amtssitzpolitik von einer historischen Notwendigkeit zu einer Tradition entwickelt hat.

2 Amtssitzpolitik – integraler Bestandteil von Außenpolitik

Außenpolitik ist die Gesamtheit aller Entscheidungen und Handlungen, die ein Staat gegenüber dem Raum jenseits seiner Grenzen tätigt, also politische Inhalte. Außenpolitik beinhaltet aber auch politische Prozesse die zu Inhalten führen.Footnote 4 Dementsprechend ist der primäre Inhalt, gerichtet auf ein Ziel, von Amtssitzpolitik, Amtssitze von internationalen Organisationen nach Österreich zu bringen sowie internationale Konferenzen in Österreich abzuhalten. Der sekundäre Inhalt von Amtssitzpolitik schließlich ist die Menge von Motivationen und politischen Inhalten, die dazu führen. Der primäre Prozess von Amtssitzpolitik sind die konkreten Tätigkeiten, etwa diplomatische Verhandlungen und Angebote, um Amtssitze nach Österreich zu bringen. Deren Niederlassung ist jedoch nicht in allen Fällen einer aktiven Amtssitzpolitik der Regierung beziehungsweise den inhaltlich zuständigen Ministerien geschuldet.

Inhalte und Prozesse von Außenpolitik äußern sich durch bewusste Einflussnahme eines Staates auf sein äußeres Umfeld. Demnach ist Amtssitzpolitik ein Paradox. Zwar wird bewusst Einflussnahme auf das äußere Umfeld genommen. Der Prozess etwa, der zu Amtssitzpolitik führt und diese begleitet, liegt größtenteils außerhalb der eigenen staatlichen Grenzen bei der bewussten Einflussnahme auf andere Staaten und nichtstaatliche Akteure. Allerdings sind die Voraussetzungen für die Möglichkeiten dieser Einflussnahme auch bei den Interessen anderer Staaten zu suchen. Auch die Erfolgsphase der „aktiven Neutralitätspolitik“ in den 1970er-Jahren war nicht „ausschließlich auf österreichische Eigeninitiative zurückzuführen“ (Rathkolb 2005, 276). Allerdings liegt die Erfüllung des Inhalts, der mit diesen Prozessen verfolgt wird, primär auf dem eigenen Staatsgebiet. Dies zeigt die in der Einleitung angesprochene Spannung zwischen normativer Programmatik und funktionaler Notwendigkeit.

Die Motivation für eine aktive Amtssitzpolitik als Priorität der Außenpolitik kann mithilfe zweier Thesen erklärt werden. Erstens, Amtssitzpolitik ist einer funktionalen Motivation, basierend auf einer Kosten-Nutzen Abwägung, geschuldet. Für einen Kleinstaat wie Österreich stellt die Ansiedlung internationaler Organisationen eine Möglichkeit dar, trotz begrenzter Ressourcen und Möglichkeiten der Außenpolitik, internationale Sichtbarkeit und Relevanz zu erreichen und damit längerfristig die souveräne Existenz des Landes abzusichern. Zudem bleibt auch die tatsächliche materielle Wertschöpfung im Land. Nicht von ungefähr wird seitens der Republik auf den Wirtschaftsfaktor und die Umwegrentabilität internationaler Organisationen in Österreich hingewiesen (Arbeitsplätze, Wertschöpfung, Kongresswirtschaft etc.).Footnote 5 Der jährliche Wertschöpfungseffekt durch die anwesenden internationalen Organisationen beläuft sich auf rund 1,3 Mrd. € (Kluge et al. 2018). Weiter bedeutet die Anwesenheit von bilateralen Institutionen und multilateralen Organisationen in Österreich direkt und indirekt die Sicherung von Arbeitsplätzen (Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres 2016).Footnote 6 Die nationale politische Rechtfertigung für Amtssitzpolitik im Sinne nationaler Wertschöpfung wie der Umwegrentabilität begann bereits in den 1970er-Jahren im Zuge innenpolitischer Auseinandersetzungen über Amtssitzpolitik (Frey 2011, 152).Footnote 7

Zweitens, Amtssitzpolitik ist normativen Motivationen geschuldet. Kleinstaaten bieten ihr Territorium im Rahmen von sogenannten „guten Diensten“ internationalen Organisationen an, bzw. kümmern sich aktiv darum, um ein gutes Zusammenleben von Staaten sowie friedliche Streitbeilegung zu ermöglich. Dieses Engagement liegt im Eigeninteresse von (neutralen) Kleinstaaten. Diese müssen aus ihrer „völkerrechtlichen und sicherheitspolitischen Position an einer Entwicklung zu mehr Sicherheit und Demokratie in der Weltgesellschaft in besonderem Maße interessiert sein.“ Weiters finden gerade diese Staaten oft auch „in Zeiten und Prozessen der politischen Entspannung im internationalen System erhöhten außenpolitischen Handlungsspielraum“ vor den sie nützen können (Karmer 2006, 808).

Die beiden Erklärungsansätze von funktionalen und normativen Motivationen lassen sich nicht eindeutig trennen. Beide Motivationen wurzeln aber nicht zuletzt in Existenzangst. Österreichische Amtssitzpolitik wurde als Garant dafür gesehen nicht wieder – wie 1938 – ohne nennenswerte Einsprüche seitens der internationalen Gemeinschaft zu „verschwinden.“ Auch bleibt die Frage oftmals unbeantwortet, ob eine normative Motivation nur als rhetorische Grundlage dient oder ob durch die Realität (das Bemühen um Amtssitze in Österreich) Amtssitzpolitik sich zu einem normativen Selbstzweck entwickelt hat. Insgesamt, so zeigt auch dieser Beitrag in seinem beschreibenden Teil, dass die Relevanz österreichischer Außenpolitik erstens jedenfalls auch darin beruht, internationale Organisationen dauerhaft nach Österreich zu holen und zweitens dadurch der internationalen Gemeinschaft „gute Dienste“ zu leisten bzw. erst anzubieten – und sei es auch nur für kurzfristige Selbstinszenierung.

Amtssitzpolitik scheint tatsächlich zu einem Teil des internationalen Selbstverständnisses der Republik geworden zu sein (Bundesministerium für Europäische und Internationale Angelegenheiten 2009). Dies wird auch dadurch deutlich, dass Amtssitzpolitik als Instrument angesehen wird, österreichische Interessen wahrzunehmen und weiter zu entwickeln (Republik Österreich 2013, 12). Ein erklärtes nationales Interesse der Republik ist etwa die „Stärkung der Handlungsfähigkeit Internationaler Organisationen“ (Republik Österreich 2013, 10). Der begleitende politische und insbesondere diplomatische Prozess des Inhalts von Amtssitzpolitik ist das Bemühen um die Rahmenbedingungen für Amtssitze.

Im Interesse seiner aktiven Amtssitzpolitik stärkt Österreich laufend die rechtlichen Rahmenbedingungen, um die Attraktivität für bereits ansässige internationale Einrichtungen aufrecht zu halten und Anreize für Neuansiedlungen zu bieten. (Bundesministerium für Europäische und Internationale Angelegenheiten 2020, 123)

Im Sinne dieser Rahmenbedingungen um die „Attraktivität“ aufrecht zu erhalten, wurden und werden internationalen Organisationen wie etwa den Vereinten Nationen steuerliche Freiheiten und finanzielle Erleichterungen zugestanden (siehe z. B. Republik Österreich 1998, Art. VII–VIII). Darüber hinaus sollten „vergleichbare internationale Organisationen auch den gleichen rechtlichen Status in Österreich genießen“ (Schusterschitz 2015, 194). Für die Prozessabwicklung österreichischer Amtssitzpolitik ist eine eigene Abteilung im Außenministerium zuständig (Abteilung I.4 – Amtssitz und Staatenkonferenzen). Diese Abteilung betreut die „Organisation von Staatenkonferenzen und anderen internationalen Tagungen; Kongresswesen und Kongressförderung; Ansiedlung, Amtssitzfragen und organisatorische Betreuung internationaler Organisationen und sonstiger internationaler Einrichtungen in Österreich; Internationales Zentrum Wien; Internationales Amtssitz- und Konferenzzentrum Wien AG (IAKW-AG), Österreichisches Konferenzzentrum Wien AG (ÖKZ-AG); internationale Schulen.“Footnote 8

Im Jahr 2021 wurden die „verstreuten gesetzlichen Regelungen über die Vorrechte und Befreiungen von internationalen Organisationen, anderen internationalen Einrichtungen, internationalen Konferenzen, Quasi-Internationalen Organisationen und anderen internationalen Nichtregierungsorganisationen“ (Republik Österreich 2021) zusammengeführt bzw. ersetzt. Der Langtitel des „Amtssitzgesetzes“ (ASG) weist bereits auf die Programmatik österreichischer Amtssitzpolitik hin. Es ist ein „Bundesgesetz zur Stärkung Österreichs als internationaler Amtssitz“. Dieses regelt im Besonderen „die Förderung der Ansiedlung und der Tätigkeit Internationaler Einrichtungen und Internationaler Nichtregierungsorganisationen sowie der Abhaltung Internationaler Konferenzen in Österreich“ ASG, § 1 (1)).Footnote 9 Unter die österreichische Amtssitzpolitik fallen also sowohl klassische staatliche internationale Organisationen (z. B. die Organisation Erdölexportierender Länder – OPEC), internationale Nicht-Regierungsorganisationen (z. B. das Internationale Ombudsmann-Institut – IOI), Quasi-Internationale Organisationen (z. B. das Ban Ki-Moon Zentrum für globale Bürger – BKMC)Footnote 10 als auch die Abhaltung internationaler Konferenzen.

3 Phasen der Österreichischen Amtssitzpolitik

Dieses kontinuierlich erweiterte Spektrum österreichischer Amtssitzpolitik wird umso deutlicher, wenn man Amtssitzpolitik in einzelne Phasen unterteilt. Insgesamt lässt sich österreichische Amtssitzpolitik in drei Phasen unterteilen. Die erste Phase österreichischer Amtssitzpolitik, von Beginn der Zweiten Republik bis Mitte der 1960er-Jahre war geprägt von dem Verlangen nach internationaler Sichtbarkeit, nicht zuletzt angesichts der geografischen Lage inmitten des Ost-West-Konfliktes. Erste Initiativen, um internationale Organisationen im Sinne von Amtssitzpolitik in Österreich anzusiedeln, begannen in den 1950er-Jahren und waren vor allem funktional motiviert, das heißt pragmatisch um die Existenzsicherung der Republik bemüht.Footnote 11 Jedenfalls aber waren diese Initiativen vor allem der angestrebten Westintegration geschuldet (Rathkolb 2005, 278).

Bestes Beispiel dafür war eine der ersten Möglichkeiten eine internationale Organisation nach Österreich zu bringen – die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) (Frey 2011, 149). Damit wurde versucht, Österreichs neutralen Status zu untermauern, den Wiedereintritt in die internationale Gemeinschaft zu markieren und gleichzeitig internationale Sichtbarkeit zu gewährleisten um nicht, wie 1938, zu „verschwinden.“Footnote 12 Wien, an der Grenze zwischen der westlichen und östlichen Einflusssphäre war schließlich nicht nur für die Großmächte akzeptabel, sondern auch aktiv von der österreichischen Delegation mit deren Angebot eines neutralen Standorts beworben.

The fact that the IAEA was expected to handle and store large amounts of fissile material also pointed to a neutral site on the East/West frontier. The Austrian delegation carried the day. While the Conference formally left it to the Prepcom to make a final recommendation to the first meetings of the General Conference and Board of Governors, it prejudged the issue by adopting a resolution in favour of Vienna. (Fischer 1997, 49)Footnote 13

Dennoch, erste Versuche die USA davon zu überzeugen, dass Österreich als „Brücke“ zwischen Ost und West – im Sinne der Neutralität – fungieren kann, waren ursprünglich nicht immer von Erfolg gekrönt. Zwar wurde im Falle der IAEA schließlich, auch auf Bemühen der österreichischen Delegation, für Wien als Amtssitz entschieden. Allerdings war Wien „ausschließlich ein Verhandlungskompromiss, da Dulles unbedingt über die Schlüsselbeamten entscheiden wollte und daher dem sowjetischen Vorschlag bezüglich des geographischen Sitzes nachgeben musste“ (Rathkolb 2006, 38–39).Footnote 14

In dieser ersten Phase wird deutlich, dass Amtssitzpolitik „sich mehr auf die real politische Unabhängigkeit denn auf die Steigerung der eigenen Kapazitäten“ (Rathkolb 2006, 44) konzentrierte. Diese Absicht wird schließlich auch deutlich im vorläufigen Höhepunkt österreichischer Amtssitzpolitik, als Österreich ein Amtssitz der Vereinten Nationen wird. Diese stärkere internationale Verankerung wurde nicht zuletzt als „solidere Garantie der österreichischen Souveränität im Ost-West-Konfliktfall denn in einer ausschließlich militärischen Eigenverteidigung“ (Rathkolb 2006, 44) gesehen.

Das österreichische Eintreten für eine aktive Amtssitzpolitik wird vor allem den Regierungen mit und unter Bruno Kreisky (SPÖ) zugeschrieben (Kriechbaumer 2006, 264; Dahlke 2011, 177–78).Footnote 15 Tatsächlich ist in den 1970er-Jahren die Frage nach der „optimalen Nutzung des Internationalen Amtssitz – und Konferenzzentrums Wien (IAKW) sowie generell der weitere Ausbau Wiens als internationale Amtssitz- und Konferenzstadt eines der wichtigsten Anliegen der österreichischen Außenpolitik“ (Außenpolitischer Bericht 1975-2009a, 209; siehe auch Außenpolitischer Bericht 1975-2009b, 269). Wie in Abb. 1 ersichtlich, sind in dieser Periode (insbesondere Ende der 1970er-Jahre) in kurzer Zeit viele Amtssitze internationaler Organisationen in Österreich gegründet oder nach Österreich verlegt worden.Footnote 16

Abb. 1
figure 1

(Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Zahlen des Außenministeriums sowie des Appendix)

Errichtungsaktivität von Amtssitzen internationaler Organisationen in Österreich.

Der vorläufige Höhepunkt österreichischer Amtssitzpolitik wurde 1979 durch die Übergabe des Internationalen Zentrums Wien an die Vereinten Nationen erreicht („Vienna International Centre“).Footnote 17 Bereits 1967 wurde beschlossen, den Vereinten Nationen einen Sitz in Wien anzubieten. Diese Art von Amtssitzpolitik sollte sich zu einem wesentlichen Element der österreichischen Sicherheitspolitik entwickeln (Rathkolb 2005, 279). Von dieser politischen Tradition zehrt die Republik bis heute. Inhaltlich begründet wurde dieses Engagement wiederum mit Verweis auf die 1955 erreichte Souveränität. Die Außenpolitik der Republik verfolge seit damals „kontinuierlich das Ziel … die Rolle Österreichs als Ort der Begegnung, des Dialogs und der Verständigung zu festigen“ (Außenpolitischer Bericht 19752009c, 180).

Die verstärkt internationale Orientierung, die über den Kontext des Ost-West-Konfliktes hinausging, leitete die zweite Phase ein. Anders als die erste Phase, im Schatten des Ost-West-Konfliktes und beruhend auf bekannten und anerkannten internationalen Organisationen und Gepflogenheiten, war die zweite Phase österreichischer Amtssitzpolitik geprägt von einer zunehmend globaleren Orientierung. Ein Ausdruck dafür ist die Installation des Amtssitzes der OPEC 1965 in Wien die den Blick auf die Probleme und Interessen der restlichen Welt lenkte und davon motiviert war. Die Republik anerkannte den extraterritorialen Status des OPEC Hauptquartiers in Wien, garantierte die Immunität von Eigentum, Archiven, interner Kommunikation und weitete die Privilegien und Immunitäten wie sie von Diplomat*innen bekannt sind auf die Mitarbeiter*innen der OPEC aus (Garavini 2019, 127). Die Themen dieser zweiten Phase leiten über in die dritte Phase österreichischer Amtssitzpolitik.

Die dritte und anhaltende Phase österreichischer Amtssitzpolitik ist geprägt von einer zunehmenden Globalisierung der Themen, die bereits vorher begonnen hatte.Footnote 18 Waren traditionelle staatliche Themen (z. B. Souveränität) und Instrumente (z. B. völkerrechtliche Verträge; internationale Organisationen) in den vorherigen Phasen dominierend, wird Amtssitzpolitik heute von einer Vielzahl an Themen und Instrumenten beherrscht, die international auch in organisatorischer Form bedient werden. Dies drückt sich auch in Abb. 1 durch die Vielzahl der Amtssitzgründungen in Österreich aus. Zu diesen Themen zählt unter anderem oft eine Selbstverpflichtung Rechtsstaatlichkeit international zu fördern (Lupel und Mälksoo 2019), nicht zuletzt und bereits seit Langem im Bereich der Menschenrechte (Egeland 1984). Bester Ausdruck dieser dritten Phase war die Niederlassung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 1995 in Wien.Footnote 19

Die Extension dieser Phase gleicht dem Übergang von der ersten zur zweiten Phase, aber beschleunigt und motiviert durch das Ende des Kalten Krieges und der damit verbundenen weltoffenen Erwartungen. Ausgedrückt wird das zum Beispiel durch die von Beginn an umstrittene Niederlassung des König-Abdullah-Zentrum für interreligiösen und interkulturellen Dialog (KAICCID) 2011 in Wien. Dieses, inzwischen wieder abgewanderte Zentrum, sollte versuchen den „interreligiösen und interkulturellen [Dialog] als Instrument, die religiöse und spirituelle Dimension der Menschen anzusprechen und inter alia Konfliktprävention und -lösung, nachhaltigen Frieden und sozialen Zusammenhalt“ (Republik Österreich 2012) zu fördern. Die dritte Phase ist keineswegs abgeschlossen. So wird in der österreichischen Sicherheitsstrategie (2013, 10) explizit festgehalten, dass Amtssitzpolitik der „Stärkung der Handlungsfähigkeit internationaler Organisationen“ dient.

Amtssitzpolitik heute ist aber nicht nur von einer Globalisierung der Themen, sondern auch von einer Zunahme an unterschiedlichen Interessen sowie internationaler Konkurrenz bestimmt. Amtssitzpolitik im engeren Sinne wie hier geschildert obliegt zwar dem Außenministerium aber auch andere Ministerien und Akteure (wie etwa die Stadt Wien) verfolgen ihre eigene Amtssitzpolitik. Auch ist die internationale Konkurrenz um Amtssitze größer geworden. So steht die Republik Österreich etwa in Konkurrenz mit der Bundesrepublik Deutschland oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die sich in Bonn und Genf um Amtssitze internationaler Organisationen bemühen. Auch der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (EU) hat sich auf die Amtssitzpolitik ausgewirkt. Durch die EU-Mitgliedschaft rückte der internationale Horizont ein Stück weit in den Hintergrund was teilweise durch die besondere Pflege bilateraler Beziehungen sowie das Lobbying spezifischer Themenbereiche wie zum Beispiel der Abrüstung kompensiert wurde.

Amtssitzpolitik ist, gerade in der programmatischen Ausrichtung des Inhaltes von Außenpolitik, dem Bekenntnis zu einem aktiven Engagement der Republik in der internationalen Gemeinschaft geschuldet, zusammengefasst als ein „Bekenntnis zu Multilateralismus und Dialog“ (Österreichischer Nationalrat 2020). Gewiss, Kleinstaaten müssen sich, angesichts ihrer begrenzten Macht, zwischen Verletzlichkeit und Resilienz (Cooper und Shaw 2009), Nischen in der Außenpolitikgestaltung suchen (Hey 2003). Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, ist die Außenpolitik von Kleinstaaten oft eine sehr aktive. Manche argumentieren, dass gerade deshalb die Außenpolitik von Kleinstaaten die internationale Ordnung vielleicht nicht stabilisiert aber durch das Ansprechen von moralischen und humanitären Problemen dennoch verbessert (Chong und Maass 2010, 381).

Zusammenfassend deutet sowohl die Rhetorik als auch die Praxis der Außenpolitik von Kleinstaaten darauf hin, dass diese sich als Dienstleister der internationalen Gemeinschaft sehen. Dies ist auch im Fall von Österreich so wie etwa das Engagement in und für die Vereinten Nationen illustriert (Troy 2013), wenn auch oft nur rhetorisch. Dabei wurde längst die Sorge um absolute Gewinne wie dem Souveränitätserhalt, in dem Fall durch die internationale Sichtbarkeit der Republik, durch das Bemühen um relative Gewinne wie nationale Wertschöpfung und den internationalen Beitrag zu Multilateralität und Dialog abgelöst.Footnote 20 Auch die thematische Orientierung der internationalen Organisationen, auf die die österreichische Amtssitzpolitik u. U. wenig Einfluss hat, ist vielfältig geworden (vgl. Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Zahlen der entsprechenden internationalen Organisationen und des Appendix)

Amtssitze internationaler Organisationen in Österreich nach Themenbereich.

4 Resümee: Amtssitzpolitik von der Notwendigkeit zur Tradition

Ungeachtet der politischen Rhetorik sich für die internationale Gemeinschaft einzusetzen oder „aktiver“ Außen- oder Neutralitätspolitik, bleibt Amtssitzpolitik ein notwendiges Instrument der Außenpolitik eines Kleinstaates wie Österreich. Gleichzeitig zeigt die historische Entwicklung österreichischer Amtssitzpolitik auch, wenn nicht eine vorauseilende aber dennoch eine gleichzeitige normative Komponente, die Amtssitzpolitik als normativen Zweck ansieht. Angesichts etablierter Strukturen (wie die langjährige Existenz von Amtssitzen internationaler Organisationen in Österreich) und Prozessen (wie Policy-Prozesse die auf internationaler Ebene den normativen Wert dieser Amtssitzpolitik betonen) bleibt zu erwarten, dass sich an der aktuellen Amtssitzpolitik nicht viel ändern wird.Footnote 21

Auch die Österreichische Sicherheitsstrategie (2013, 12) betont, dass die Republik auch in Zukunft „das Wirken der in Wien angesiedelten Organisationen und Rüstungskontrollinstrumente weiterhin nach Kräften unterstützen und ihre Ziele fördern“ wird. Mehr noch, die Republik bekennt sich explizit zur „Ansiedlung weiterer einschlägiger Organisationen und Agenturen sowie die Ausrichtung von Konferenzen“ damit die „bereits bestehende Rolle Wiens als internationaler Amtssitz und als Drehscheibe für die internationale Sicherheitspolitik“ weiter ausgebaut wird. Diese wird unterstrichen durch die Konsolidierung der rechtlichen Voraussetzungen dieser Politik durch das Amtssitzgesetz von 2021.

Dies trifft zumindest auf die rhetorische Selbstdarstellung und das Selbstverständnis der Republik zu. Allerdings ist die gegenwärtige Amtssitzpolitik oft nur ein blasser Abglanz von deren Hochzeit. Internationaler Wettbewerb um Amtssitze, knappe Budgets, öffentliches und mediales Desinteresse und die Medialisierung der Politik, die oft zu Selbstinszenierung führt, erschweren langfristige Strategien und Visionen heimischer Amtssitzpolitik. Nicht zuletzt deswegen ist die Profilbildung österreichischer Amtssitzpolitik, etwa zu den Themen Abrüstung, Energie oder Nachhaltigkeit oft von einzelnen engagierten Beamt*innen abhängig.

Jedenfalls aber hat sich österreichische Amtssitzpolitik von einer historischen Notwendigkeit zu einer Tradition entwickelt. Vergessen sind heute die Angst um die österreichische Souveränität wie einst mit Blick auf die Erfahrung von 1938 oder Österreichs Lage im Kalten Krieg. Diese Erfahrungen hatten letztlich auch dazu geführt, dass Amtssitzpolitik ein Garant für Sicherheit sein kann. „Je mehr diese Aktivitäten bejaht wurden, desto eher eignete sich auch die Neutralität als Katalysator für ein positives und aktives Kleinstaatenbewußtsein“ (Rathkolb 2005, 423). Gerade die Neutralität als Faktor für eine aktive Amtssitzpolitik hat oft nicht das dazu beigetragen, was von ihr in der Wahrnehmung der anderen Staaten erwartet wurde – eine Brückenfunktion bei Konflikten und Einflusssphären.Footnote 22 Der nationale und internationale Mehrwert von Amtssitzpolitik ist heute jedoch ein anderer als der den die Inhalte von Amtssitzpolitik ursprünglich vorgegeben haben (Frey 2011, 158) – nicht zuletzt bedingt durch das Fehlen langfristiger strategischer Visionen.

Die Frage bleibt allerdings, inwieweit österreichische Amtssitzpolitik ein abgeschlossener Inhalt und damit auch Prozess von Außenpolitik ist, das heißt welche Amtssitze in Zukunft noch versucht werden in Österreich anzusiedeln. Zwar wird versucht thematische Nischen zu finden und weiterhin Amtssitze in Österreich anzusiedeln. Allerdings sind die Rahmenbedingungen und der politische Wille nicht mehr mit der Zeit der Anfänge der Zweiten Republik zu vergleichen. Der Terroranschlag auf die OPEC 1975 sowie die Auseinandersetzung über das KAICIID in jüngster Vergangenheit haben darüber hinaus gezeigt, dass sowohl normativer Zweck wie auch funktionale Notwendigkeit weder absolute Sicherheit garantieren noch Garant für relative außenpolitische Erfolge oder Langlebigkeit sind. Ebenso haben die Erfolge und Misserfolge österreichischer Amtssitzpolitik gezeigt, dass diese sowohl von innenpolitischen Konstellationen (Rathkolb 2005, 280) und Interessen aber immer auch von äußeren Faktoren wie zum Beispiel der geopolitischen Situation und internationalem Wettbewerb abhängig sind.

Weiterführende Quellen

Bundesministerium für Europäische und Internationale Angelegenheiten. Außen- und Europapolitischer Bericht: Bericht des Bundesministers für Europäische und Internationale Angelegenheiten. Wien: Bundesministerium für Europäische und Internationale Angelegenheiten. https://www.bmeia.gv.at/das-ministerium/aussen-und-europapolitischer-bericht/.

Jährlich erscheinender Bericht des Ministeriums für Europäische und internationale Angelegenheiten der u. a. Auskunft über die Arbeit der Republik Österreich in internationalen Organisationen gibt. Die Ausgaben des Berichts in den späten 1970er-Jahren gehen t.w. in eigenen Kapiteln explizit auf Prozesse von Amtssitzpolitik (und Wien als Konferenzstadt) ein.

Bundesministerium für Europäische und Internationale Angelegenheiten. „Internationale Organisationen mit Sitz in Wien Und Umgebung“. Wien als Sitz internationaler Organisationen. https://www.bmeia.gv.at/europa-aussenpolitik/wien-als-sitz-internationaler-organisationen/internationale-organisationen-mit-sitz-in-wien-und-umgebung/.

Übersicht über internationale Organisationen mit Sitz in Wien und Umgebung. Weites bieten die auf der Website verfügbaren Downloaddokumente eine Auflistung internationaler Organisationen mit Amtssitz in Österreich (verstanden in einem breiten „funktionalen Sinn“ und „nicht im strikten Sinne des Völkerrechts“ ebd.).

Kluge, Jan, Sarah Lappöhn, Alexandra Schnabl, und Hannes Zenz. 2018. „Die Ökonomischen Effekte Internationaler Organisationen in Österreich.” Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres. Unveröffentlichtes Manuskript, letzte Änderung am 21. April 2021. https://www.bmeia.gv.at/fileadmin/user_upload/Zentrale/Publikationen/Die_oekonomischen_Effekte_internationaler_Organisationen_in_OEsterreich.pdf.

Diese Studie gibt Auskunft über die ökonomischen Effekte internationaler Organisationen in Österreich, d. h. Wertschöpfungseffekt, Arbeitsplätze, Steuereinnahmen und öffentliche Aufwendungen.

Bundesgesetz zur Stärkung Österreichs als internationaler Amtssitz- und Konferenzstandort: Amtssitzgesetz (ASG). BGBl. I Nr. 54/2021. https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20011502.

Dieses Gesetz bildet seit 2021 den rechtlichen Rahmen für die österreichische Amtssitzpolitik.