1 Einführung

Um eine Vision für die alternde Gesellschaft des 21. Jahrhunderts entwickeln zu können, braucht es zunächst eine Prognose über die Veränderungen der beiden wohl wichtigsten Faktoren in den kommenden 20 Jahren, nämlich „Altersstruktur der Bevölkerung“ und „Technologische Innovation“ (Abb. 1). Die Corona-Pandemie hat seit ihrem Ausbruch im November 2019 in Wuhan den Wandel in beiden Bereichen zusätzlich beschleunigt. Für viele Menschen wurden die Veränderungen damit deutlicher wahrnehmbar. In diesem Beitrag soll basierend Prognosen zur weiteren Entwicklung von Alterung und technischem Fortschritt über die Zukunft von Medizin und Pflege nachgedacht werden. Dabei wird der Einfluss der Corona-Pandemie mit berücksichtigt.

Abb. 1
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Quelle: Autor

Rasante Entwicklungen bei Alterung und Technologien.

2 Schnell alternde Welt – Ostasien als Vorreiter

Die Alterung der Weltbevölkerung schreitet rasant voran. Japan und Deutschland belegen zusammen mit Italien im Hinblick auf den Bevölkerungsanteil an älteren Menschen seit fast 20 Jahren weltweit Spitzenpositionen. Japan gilt seit 1970 als eine – nach Definition der WHO – sogenannte “ageing society“ (alternde Gesellschaft) (7 % der Bevölkerung über 65 Jahre alt), seit 1995 als “aged society“ (alte Gesellschaft) (14 % über 65 Jahre) und seit 2008 dann als “super-aged society“ (superalte Gesellschaft) (21 % über 65 Jahre). Bereits kurze Zeit später, im Jahr 2020, erreichte der Anteil in Japan 28 %. Allerdings wurde dafür bislang kein eigener demographischer Schwellenwert definiert. Japan weist damit die weltweit älteste Bevölkerung auf. Es folgt mit 5,1 Prozentpunkten Abstand Italien auf Platz zwei. Deutschland wurde schon vor 50 Jahren – 1972 – zu einer aged society und überschritt die Grenze zu einer super-aged society im Jahr 2014, ein Jahr nach Italien. Dementsprechend belegten Japan, Deutschland und Italien also von 2002 bis 2016 in Bezug auf die Alterung ihrer Gesellschaften weltweit stets die ersten drei Plätze (United Nations Department of Social and Economic Affairs, 2019).

Zukünftig werden weitere Länder Südeuropas wie Spanien, Portugal oder Griechenland in der Rangfolge nach oben rücken. Gleichzeitig holen einige asiatische Staaten mit beispielloser Geschwindigkeit auf. Die Alterung der Gesellschaft in Südkorea ist außergewöhnlich: Prognosen der koreanischen Regierung aus dem Jahr 2020 zufolge wird das Land 2035 Japan überholen und Platz eins einnehmen. 2067 wird der Anteil der über 65-Jährigen bei 46,7 % liegen, das ist nahezu die Hälfte der Bevölkerung. Zu dieser Zeit werden auf Taiwan (43 %) und in Japan (38 %) ebenfalls ca. 40 % der Bevölkerung über 65 sein. 2045 wird Taiwan Japan überholen. In den 2050er Jahren werden Südkorea, Japan und Taiwan die ersten drei Plätze weltweit einnehmen (siehe Abb. 2). Damit werden nach 2050 diese drei Staaten das heutige Spitzentrio Japan, Italien und Deutschland ablösen.

Abb. 2
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Entwicklung des Anteils der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung

In Ostasien schreitet die Alterung in China, insbesondere in den Küstenregionen sowie im Gebiet des Jangtse-Flusses, ebenfalls dramatisch voran. Nimmt man noch Hongkong mit hinzu, dann entwickeln sich die Staaten rund um das Südchinesische Meer zu einem „Hotspot“ des demografischen Wandels in der Welt. Gerade diese Region war in den vergangenen Jahrzehnten die treibende Kraft für wirtschaftlichen Aufstieg und ein Motor der Weltwirtschaft. Darüber hinaus war diese Region seit Jahrhunderten traditionell auch ein Knotenpunkt für kulturellen Austausch und Handel. Nach der mittleren Variante der Bevölkerungsprognosen der UN wird die Alterung bis etwa 2060 nicht nur in den kritischen Regionen Ostasiens und Südeuropas voranschreiten, sondern weltweit. 95 von 201 Staaten – also etwa die Hälfte – werden dann zu den super-aged societies zählen, weitere 62 zu den aged societies.

3 Weltweite Trends und die Auswirkungen der Corona-Pandemie

In den letzten Jahren wurden zwei Bestseller und eine wissenschaftliche Abhandlung veröffentlicht, die unsere bisherigen Annahmen zur globalen Bevölkerungsentwicklung infrage stellten. Alle drei Publikationen stellen übereinstimmend fest, dass die Verfolgung nachhaltiger Entwicklungsziele (sustainable development goals, SDG) dazu beigetragen hat, die Verbesserungen in der Bildung und den Lebensbedingungen von Frauen zu beschleunigen, was zu einer niedrigeren Kindersterblichkeit, aber auch zu einem drastischen Rückgang der Geburtenrate geführt hat. Dadurch kommt es, so die Behauptung der neuen Analysen, zu einer Verlangsamung des Bevölkerungswachstums (Rosling, 2018). Dieses Phänomen erstreckt sich von Ost- über Südasien bis nach Afrika und macht das bisher prognostizierte Szenario einer Bevölkerungsexplosion unwahrscheinlich. Die UN-Bevölkerungsprognosen der mittleren Variante von 2017 geht von einem Maximum der Weltbevölkerung im 22. Jahrhundert aus. Schätzungen des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der Universität Washington hingegen rechnen schon für das Jahr 2064 mit 9,7 Mrd. Menschen als Höchstwert für die Weltbevölkerung. Vorhersagen zufolge wird sich in 27 Staaten weltweit, u. a. in Ostasien und Osteuropa, die Bevölkerung bis Ende des 21. Jahrhunderts gegenüber 2017 mindestens halbiert haben (Vollset et al., 2020). Etwa um 2050 wird die Weltbevölkerung beginnen zu schrumpfen, ein Trend, der sich nicht mehr umkehren wird. All dies hat zur Folge, dass sich der demografische Wandel weiter beschleunigen wird (Bricker & Ibbitson, 2019).

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wird in den beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Erde, China und Indien, die Zahl der über 75-Jährigen auf 200 Mio., respektive 120 Mio. ansteigen, dann folgen die USA mit 50 Mio., Brasilien mit 28 Mio. und Japan mit 25 Mio. 1980 belief sich die Zahl der Menschen ab 75 in den Entwicklungsländern insgesamt auf 40 Mio. und damit auf 10 Mio. weniger als in den industrialisierten Regionen. 2020 war diese Zahl bereits auf das Vierfache, nämlich auf 160 Mio., angestiegen und lag damit über den 140 Mio. in den Industriestaaten lebenden 75-Jährigen. 2060 werden in den Entwicklungsländern mit 660 Mio. mehr als drei Mal so viele über 75-Jährige leben wie in den Industriestaaten (210 Mio.). Das Problem der Überalterung wird sich also auf die Entwicklungsländer verlagern.

Durch die Corona-Pandemie sanken 2019 und 2020 die Geburtenraten in Südkorea, Taiwan und China dramatisch. Berichten zufolge gingen die Zahlen auf Taiwan im Vergleich zum Vorjahr um 9.300 Geburten bzw. 7,2 %, in Südkorea um 27.000 Geburten bzw. 10,6 % und in China sogar um 2,6 Mio. Geburten bzw. 18 % zurück. In Japan dagegen löste die neue Zeitrechnung „Reiwa“Footnote 1 einen kleinen Boom an Hochzeiten und Geburten aus, daher sanken die Geburtenzahlen 2020 nur geringfügig. Allerdings werden für 2021, ausgehend von den registrierten Schwangerschaften, 11 % bzw. 96.000 weniger Geburten erwartet. Die magische Grenze von 800.000 Geburten pro Jahr wird damit 13 Jahre früher unterschritten, als von der Regierung veranschlagt (Hoshino, 2020).

Die Tatsache, dass das Bevölkerungswachstum weltweit zum Stillstand kommt, macht wichtige Anpassungen in der Politik erforderlich. Die Industriestaaten und die ostasiatischen Länder können angesichts ihres Bevölkerungsrückgangs nicht auf Arbeitskräfte, insbesondere Pflegepersonal, aus dem Ausland hoffen (siehe den Beitrag von Masanobu Masuda in diesem Buch). Hier bleibt keine andere Wahl, als diese Lücke durch Roboter und Künstliche Intelligenz (KI) zu schließen. Die zunehmende Alterung bedingt einen grundlegenden Lebens- und Einstellungswandel. So verändert sich die Bedeutung der einzelnen Lebensabschnitte und damit auch der menschlichen Existenz insgesamt. Betroffen sind davon auch der Sinn und Zweck medizinischer Versorgung.

4 Demografischer Übergang und die Zukunft der medizinischen Versorgung und Pflege

4.1 Neuausrichtung von Medizin und Pflege

Das Altern verändert nicht nur die Bedeutung des Lebens, sondern löst auch einen qualitativen und strukturellen Wandel in der medizinischen Versorgung aus. Eine Erkrankung bei Menschen jüngeren oder mittleren Alters ist in der Regel ein einmaliges Ereignis, das einen einmaligen Eingriff erforderlich macht und dann eine Genesung, Lebensrettung, Behinderung o. ä. zur Folge hat. Bei älteren Menschen jedoch, insbesondere bei über 75-Jährigen, ist eine vollständige Heilung schwierig: Der Krankheitsverlauf besteht aus einer Wiederholung von zeitweiligen Verschlechterungen und Verbesserungen und endet schließlich mit dem Tod. Dieser Ablauf entspricht dem sogenannten „Care Cycle“, dem Kreislauf des Pflegens (Hasegawa, 2016). Das herkömmliche Ziel aus medizinischer Sicht, nämlich die Genesung und Lebensrettung jüngerer Menschen, ist hier kaum erreichbar. Stattdessen wird bei den Älteren die Verbesserung der QOL (Lebensqualität) und der QOD (Sterbensqualität) während des Verlaufs an sich zum Ziel.

Die moderne westliche Medizin wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland begründet, zu einer Zeit, als die Bedürfnisse der jüngeren Menschen im Mittelpunkt standen. Bis dahin beherrschte in der Medizin die Lehre von den Körpersäften des Griechen Hippokrates die Pathologie, und Therapien erfolgten durch Eingriffe in das Ungleichgewicht der Körpersäfte. Der Deutsche Rudolf Ludwig Karl Virchow dagegen entwickelte die Zellularpathologie, nach der bestimmte Krankheiten auf bestimmte Störungen der Körperzellen zurückzuführen sind. Diese Theorie bildet das Fundament der heutigen Medizin. Ältere Menschen leiden jedoch häufig an mehreren Erkrankungen (Multimorbidität), deren Heilung oder Lebensrettung schwierig ist. Die im 19. Jahrhundert etablierte moderne Medizin ist darauf nicht eingerichtet. Eine neue Pathologie ist gefragt, die darauf abzielt, die QOL und QOD sowie die ADL- und IADL-FähigkeitenFootnote 2 zu verbessern. Dazu müssen allerdings auch die entsprechenden technischen Systeme entwickelt werden (Hasegawa, 2018).

Die deutsche Medizin als Grundlage der westlichen Medizin von heute beruhte auf den damals neuesten technischen Errungenschaften, allen voran auf der Weiterentwicklung des Mikroskops und auf der Erfindung von chemischen Farbstoffen für histologische Färbungen. Heute, im 21. Jahrhundert, wird in Japan damit gerechnet, dass sich ein neues System der medizinischen Versorgung herauskristallisieren wird: Mit großen Datenmengen (Big Data) aus dem neuen Zielbereich ADL und IADL und unter Zuhilfenahme der sich rasch entwickelnden Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) wird es möglich, pathologische Klassifikationen durch künstliche Intelligenz (KI) vornehmen zu lassen.

Die Pflegeversicherung wurde im Jahr 2000 nach deutschem Vorbild in Japan eingeführt. ADL und IADL sind hier von zentraler Bedeutung bei der Ermittlung des Pflegebedarfs. Bei der Feststellung der Pflegestufe müssen die ADL- und IADL-Fähigkeiten der Pflegebedürftigen anhand von 62 Fragen beurteilt werden.

4.2 „Society 5.0“

Ein interessantes Zukunftskonzept für Gesellschaft und Technologie stellt die vom Kabinettsbüro, 2016 verabschiedete Vision der „Society 5.0“ dar (Kabinettsbüro, 2016). Society 5.0 wurde sozusagen als Gegenstück zu Deutschlands „Industrie 4.0“ entworfen. Mit Industrie 4.0 im Sinne einer neuen Stufe der industriellen Revolution wurde in Deutschland eine Plattform für Industrie, Politik und Wissenschaft geschaffen, die mithilfe der sich rasch entwickelnden Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) eine Qualitäts- und Effizienzsteigerung in der gesamten Industrie ermöglichen soll. Parallel dazu gab es um 2012 auch in den USA mit dem „Industrial Internet“ etwas Vergleichbares, hier jedoch initiiert von General Electric (GE), einem privaten Unternehmen. 2015 kam “Made in China 2025” hinzu, die industriepolitische Strategie der chinesischen Regierung, die IKT als zentrale treibende Kraft für den Fortschritt in der Industrie betont.

Als Reaktion auf diese internationalen Trends und angesichts einer überfälligen nationalen Antwort wurde 2016 mit dem „Fünften Masterplan Wissenschaft und Technologie“ der Begriff Society 5.0 vom japanischen Kabinettsbüro eingeführt. Mit den technischen Möglichkeiten der IKT will Japan nicht nur wirtschaftliche Herausforderungen bewältigen, wie Deutschland mit Industrie 4.0, sondern auch gesellschaftliche Probleme lösen (Abb. 3).

Abb. 3
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Quelle: Autor

Japans Reaktion auf ausländische Strategien zur digitalen Transformation.

Im Gegensatz zu Industrie 4.0, einem technologischen Konzept für die Industrie, skizziert Society 5.0 eine Vision für die gesamte Gesellschaft. Nach der Agrargesellschaft (Society 2.0), der Industriegesellschaft (Society 3.0) und der Informationsgesellschaft (Society 4.0) bezeichnet Society 5.0 eine super-smart bzw. creative Society, in der die Cyber-Welt (der virtuelle Raum) und die reale Welt (der physische Raum) eng verschmolzen sind (Abb. 4).

Abb. 4
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Quelle: Autor

Verschmelzung von Cyber-Raum und physischem Raum.

Neben den diversen Vorstellungen zur digitalen Transformation wurde in Japan in den 2010er Jahren auch das Konzept einer „Smart City“ entwickelt, eine Zukunftsvision für Stadtgestaltung unter Einsatz digitaler Technologien. Schon früher gab es Vorstellungen von einer Gesellschaft, die davon ausgingen, dass IKT ubiquitär verfügbar sein würde. Das „Smart City“ Konzept hat diese weiterentwickelt und konkretisiert. IKT umfasst hier weite Bereiche des Alltagslebens wie Mobilität, Energieversorgung oder Ressourcennutzung. Society 5.0 kann im Grunde als Kombination von Industrie 4.0 und „Smart City“ verstanden werden.

Bei der nationalen Implementierung von Society 5.0 wird von den Ministerien erwartet, dass sie im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten dazu nützliche Maßnahmenkataloge entwickeln. Society 5.0 fungiert dabei sozusagen als Plattform, auf der alle Ideen zusammengeführt werden sollen, um so eine ressortübergreifende Zusammenarbeit zu ermöglichen. Society 5.0 bietet den Ministerien gewissermaßen die Grundlage zur Erstellung ihrer Zukunftsprognosen und bei der strategischen Planung. Im Folgenden soll dies am Beispiel des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales (MHLW) und hier speziell für den Bereich der Pflege veranschaulicht werden.

In den unter die Zuständigkeit des MHLW fallenden Bereichen Gesundheit, medizinische Versorgung und Wohlfahrt eröffnet die digitale Transformation erhebliche Entwicklungspotenziale. Das MHLW ist primär nicht zuständig für die Förderung von Technologien und deren Anwendung, es legt seinen Schwerpunkt vielmehr auf die Systeme, die den Einsatz von Technologien unterstützen. Dementsprechend ist der Fokus der Maßnahmen in erster Linie darauf gerichtet, Zukunftsbedarfe zu ermitteln und eine ausreichende Versorgung zu sichern. Ab 2025, wenn die japanischen Babyboomer zu den Hochbetagten gehören werden, wird mit einem rapide steigenden Bedarf in den Bereichen Medizin, Pflege und Prävention gerechnet. Bis dahin will die Politik die Qualität und Effizienz des Gesundheits- und Pflegesystems optimieren, um dessen Funktionsfähigkeit zu gewährleisten.

Im Bereich der Pflege wurden in den vergangenen zwei Jahren von der „Konferenz zur Innovation der Pflegearbeit (kaigo-gemba kakushin kaigi)“ und von der Fachgruppe Pflegeversicherung unter dem Gremium für Soziale Sicherung (Social Security Council) im MHLW in rascher Folge drei große Maßnahmenbündel vorgeschlagen. Sie betreffen die „Pflegeprävention“ zur Reduzierung der Zahl der pflege- oder unterstützungsbedürftigen alten Menschen, die Evaluierung des Managements von Senioreneinrichtungen und Tagespflegestätten zur Verbesserung der Effizienz sowie den Auf- bzw. Ausbau eines umfassenden gemeindebasierten PflegesystemsFootnote 3 (MHLW, 2021).

Bei der Umsetzung der verschiedenen Maßnahmen spielen Big Data eine wichtige Rolle. So sollen auf Basis der Pflegepläne Daten über Pflegebedürftige, insbesondere Daten zu ADL, gesammelt und analysiert werden, um die Effizienz in der Pflege zu steigern. Für Einrichtungen wurde des Weiteren vorgeschlagen, mit Hilfe von IKT das Wohlbefinden der alten Menschen zu überwachen, Effizienzpotenziale auszuschöpfen und bei bestimmten Tätigkeiten Roboter einzusetzen.

Bei all diesen Plänen richtet sich das Augenmerk auf die Aufrechterhaltung des Gesundheits- und Pflegesystems, und nicht auf Innovation oder die Anwendung neuer Technologien. Die enorme Lücke zwischen dem geschätzten Bedarf und dem Angebot in der medizinischen und pflegerischen Versorgung bringt neben den rein quantitativen Problemen auch strukturelle Herausforderungen mit sich: Wie können die Kinder der Babyboomer die Last der Pflege stemmen? Wie gehen die Gesellschaften in ländlichen Regionen damit um, wenn schätzungsweise etwa die Hälfte der Städte und Gemeinden verschwinden werden? Und wie löst man angesichts der Alterung in Japan und der ganzen Welt diese Herausforderung, wenn man aus anderen Regionen oder Staaten nicht auf Hilfe bei der Pflege hoffen kann?

2019 veröffentlichte die Future Innovations Working Group, eine gemeinsame Arbeitsgruppe des MHLW und des Ministeriums für Wirtschaft und Industrie (METI), einen Bericht mit der Botschaft Towards the realization of next-generation care supporting the lifestyle of each individual through the symbiosis of humans and advanced technologies (Pflege der nächsten Generation als Symbiose von Mensch und Spitzentechnologien zur Unterstützung der Autonomie jedes Individuums). Dieser Bericht behandelt zwar nicht alle Problembereiche, gilt aber als umfassendes Konzept, das die Society 5.0 des Kabinettsbüros in den Bereichen Medizin, Pflege und Prävention komplementieren soll. Darin werden erneut drei große Ziele vorgegeben: eine Vielfalt an Teilnahmemöglichkeiten für ältere Menschen am Arbeits- und sozialen Leben, die Verlängerung der gesunden Lebensjahre sowie Reformen bei Diensten in der Medizin und Wohlfahrt. Dazu wird ein konkreter Aktionsplan vorgeschlagen, der auf Prognosen zu den technologischen Fortschritten beim autonomen Fahren, Robotern, Telekommunikation, Künstlicher Intelligenz und Quantencomputern bis 2040 basiert.

Gemäß dem ersten Ziel soll es „jedem jederzeit und überall möglich sein, das Leben nach seiner Vorstellung zu gestalten“. Dazu werden konkrete Maßnahmen wie Unterstützung im Alltag der Betroffenen, aber auch Arbeitsentlastung und Kompetenzerweiterung der Fachkräfte sowie Unterstützung durch die Gemeinschaft gefordert. Zugleich wird die Entwicklung und Einführung der dazu benötigten Technologien unterteilt nach kurz-, mittel- und langfristigen Zeiträumen skizziert. Gemäß dem zweiten Ziel „soll jeder auf der Suche nach seinem eigenen Glück über seine Lebensweise selbst bestimmen können.“ Die Technologie soll es hierbei Menschen ermöglichen, mehr selbst für die eigene Gesundheit zu tun. Auch hierzu werden relevante Forschungs- und Monitoring-Methoden sowie die notwendigen Voraussetzungen in einem kurz-, mittel- und langfristigen Ablaufplan aufgeführt. Mit dem dritten Ziel wird die Inklusion mithilfe von Technologien angestrebt. Auch hier werden konkrete Angaben beispielsweise zu gegenseitiger Akzeptanz, wechselseitiger Anerkennung sowie Aufmerksamkeit oder gegenseitiger Hilfe in einem Plan erfasst mit Hinweisen zu ihrer kurz-, mittel- und langfristigen Umsetzung.

Der Bericht der Arbeitsgruppe stellt auch konkrete Technologieanwendungen, vor allem aus dem Ausland, als vorbildliche, innovative Beispiele vor. Allerdings wird nur sehr kurz auf die für deren Umsetzung notwendigen Ressourcen und das spezifische Umfeld eingegangen. Insbesondere die Vereinbarkeit dieser Innovationen mit der oben beschriebenen Realität einer rasant alternden Gesellschaft wird nicht deutlich genug herausgearbeitet.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch der Verband der japanischen Wirtschaftsorganisationen Keidanren 2018 ein Konzept zu „Healthcare in Zeiten von Society 5.0“ erstellt hat. Es konzentriert sich auf die Nutzung von IKT und macht konkrete Vorschläge zur Sammlung, Analyse und Nutzung von Daten in allen Lebensphasen (Keidanren, 2020).

4.3 Pflege im Kontext von „Society 5.0“

Society 5.0 zielt auf die Fusion der realen mit der virtuellen Welt ab, bei der in großem Maße vernetzte, digitale Informationen akkumuliert werden. Die durch die Aktivitäten Einzelner generierten Big Data erlauben es, kontinuierlich die Bedürfnisse auf individueller Ebene zu erfassen. Damit können umso effizienter Dienstleistungen auf gesellschaftlicher Ebene angeboten werden. Im Hinblick auf die Pflege älterer Menschen bedeutet dies z. B., dass einzelne Krankheitsepisoden nicht getrennt betrachtet werden, um dafür dann auch nur teilweise optimierte Ergebnisse zu erhalten, sondern dass mithilfe einer Daten gestützten Verlaufskontrolle während des gesamten Pflegezyklus eine insgesamt bessere Versorgung erreicht werden kann.

Mit den neuen Technologien sollen insbesondere die Lebens- bzw. Sterbensqualität (QOL, QOD), und die damit zusammenhängenden ADL/IADL-Fähigkeiten gemessen und verbessert werden. Die Umsetzung hat gerade erst begonnen. Spitzentechnologien aus völlig unterschiedlichen Bereichen wie Nanomaterialien und neuartige Geräte, Stammzellen und Genmodifikationen, Biosensoren und KI-gestützte Diagnosen werden mit Hochgeschwindigkeits-Kommunikationstechnik für große Datenmengen wie beispielsweise 5G miteinander vernetzt, um die dabei generierten Daten zu aggregieren. So kann mit Hilfe von KI eine Analyse und Diagnose erstellt und online und in Echtzeit eine ärztliche Untersuchung angeboten werden. Im Bereich der Pflege werden Roboter, selbstfahrende Fahrzeuge sowie diverse Maschinen und Geräte zum Fortbewegen oder Umsteigen über das Internet gesteuert – typische Anwendungen des IoT. Solche Entwicklungen werden sich wahrscheinlich auch in der Medizin schnell durchsetzen, beschleunigt durch die Corona-bedingte Digitalisierung aller Bereiche der Gesellschaft. In der Praxis gibt es dazu bereits vielfältige Anwendungsbeispiele. Zwei Publikationen listen hierzu 70 Systeme und 100 Unternehmen sowie entsprechende Förderprogramme der Regierung auf (Nikkei Healthcare, 2020; Katô, 2021).

Ungeachtet der Tatsache, dass die Idee einer vernetzten Gesellschaft darauf abzielt, die Autonomie des Einzelnen, insbesondere von Senioren, zu fördern, besteht aber auch die Sorge, dass die individuelle Selbstbestimmung durch den Einsatz digitaler Technologien eingeschränkt werden könnte (Kawashima, 2019). Außerdem müssen noch eine Reihe praktischer Aufgaben gelöst werden. Das betrifft u. a. die Revision der Aufgabenverteilung unter den Fachkräften wie Ärzten, Krankenpflegern und Pflegekräften sowie die Reform des Ausbildungssystems oder der Qualitätssicherung, aber auch die Frage, „Wem gehören Daten und wie wird für ihre Sicherheit garantiert?“. Gleichzeitig werden durch die neuen technologischen Möglichkeiten grundlegende philosophisch-ethische Fragen neu aufgeworfen, wie: „Was bedeutet eigentlich Leben?“, „Was bedeutet Sterben für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen?“, „Was bedeutet es, Menschen zu pflegen?“ (Ueda & Watanabe, 2008).

5 Abschließende Bemerkung

Einhergehend mit dem globalen demografischen Übergang zwischen 2040 und 2060 wird sich die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts insgesamt wandeln. Ein Schlüsselfaktor zum Gelingen des Wandels ist der Innovationsschub durch neue Technologien. Inhaltlich sind die technologischen Innovationen breit gefächert, in drei Bereichen jedoch wird ganz besonders mit weiterhin exponentiellem Fortschritt gerechnet: in der Entwicklung neuartiger Materialien auf Basis der Nanotechnologie, in der Weiterentwicklung der Biotechnologie repräsentiert durch die Genmodifikation, und in der Informations- und Kommunikationstechnologie, wie am Beispiel von Big Data und KI.

Allein schon KI kann das Leben in der alternden Gesellschaft und die Pflege entscheidend verändern. Von nun an werden ältere Menschen – ob sie es mögen oder nicht – in dieses Netz von Technologien eingebunden sein, die sie bis zum Ende ihres Lebens begleiten und unterstützen werden. Genau aus diesem Grund müssen die künftigen IK-Technologien den Bedürfnissen der alternden Gesellschaft gezielt entsprechen. Im Alltag des 21. Jahrhunderts wird man von einer Kombination aus mehreren dieser neuen Technologien umgeben sein, und das Ergebnis der Kombination kann möglicherweise von den ursprünglichen Absichten der Entwickler abweichen. Technologien, die ursprünglich dazu gedacht waren, die Autonomie von Senioren zu unterstützen, können diese möglicherweise behindern. Aus diesem Grund darf auch die Technikfolgeabschätzung, die es schon seit den 1970er Jahren gibt, nicht vernachlässigt werden.