1 Demografischer Wandel als globale Herausforderung

Der demografische Wandel ist ein globaler Trend, der neben dem Klimawandel und der digitalen Transformation die Entwicklung unserer Gesellschaften auf lange Sicht prägen wird. Die ihn treibenden Faktoren, nämlich eine steigende Lebenswartung und eine deutlich unter dem Reproduktionswert liegende FertilitätsrateFootnote 1, sind grundsätzlich positiv zu bewerten, da ein längeres Leben ebenso wünschenswert ist wie die friedliche Lösung des globalen Problems der Überbevölkerung. Dennoch, und hier liegt das Problem, stellt die demografische Entwicklung für unsere Gesellschaften eine große Herausforderung dar, da sie eine Vielzahl neuer sozialer Problemlagen aufwirft und erhebliche Anpassungen in quasi allen Lebensbereichen erfordert.

Die Herausforderung besteht dabei nicht darin, dass der Wandel schwer prognostizierbar wäre. Im Gegenteil, er lässt sich relativ leicht auf lange Sicht vorausberechnen, da sich demografische Prozesse relativ langsam vollziehen und zudem durch nur wenige Parameter wie Fertilitätsrate, Lebenserwartung und Migration bestimmt sind, wobei sich letztere global betrachtet sogar aufhebt, da negativen Wanderungssalden in der Summe gleichgroße positive Salden gegenüberstehen. Die Herausforderung besteht vielmehr erstens darin, dass die Anpassungen so viele Bereiche betreffen und dass wir es zweitens mit einem gänzlich neuen Phänomen zu tun haben. Es gibt dazu keine historischen Parallelen, schon gar nicht mit Blick auf Bewältigungsstrategien.

Der erste Grund macht den demografischen Wandel zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe. Sie erfordert ganzheitliche Lösungen, die alle tangierten gesellschaftlichen Bereiche berücksichtigen. Der zweite Grund bedeutet, dass wir erst im Zuge des Wandels lernen können, damit umzugehen. Dabei hilft es, dass verschiedene Länder und Regionen unterschiedlich bzw. zeitlich versetzt davon betroffen sind, denn damit besteht prinzipiell die Möglichkeit des voneinander Lernens durch den Austausch von Lösungsansätzen und Erfahrungen. Auch wenn eine direkte Übertragung aufgrund unterschiedlicher Rahmenbedingungen oft nicht möglich sein wird, so kann ein solcher Austausch nützlich sein. Er hilft einerseits, den Einfluss eben dieser Rahmenbedingungen und die sich damit verbindenden eigenen Stärken und Schwächen besser zu verstehen. Andererseits bietet er Hinweise auf neue Ideen und auch Anregungen, diese aufzugreifen und für den eigenen Kontext zu adaptieren. Mehr dazu am Ende dieser Einleitung.

Die Beiträge in diesem Band untersuchen, wie Deutschland und Japan den demografischen Wandel zu bewältigen versuchen. Beide Länder zählen bekanntlich zu den Vorreitern bei der demografischen Entwicklung, die sich insbesondere in einer raschen Alterung ihrer Bevölkerung äußert. Japan befindet sich inzwischen bereits in der Phase eines sich beschleunigenden Bevölkerungsrückgangs. Dagegen konnte in Deutschland die anhaltend niedrige Geburtenrate durch eine hohe Nettozuwanderung bislang kompensiert werden.

2 Inklusion und Pflege als gesamtgesellschaftliche Herausforderungen im demografischen Wandel

Die Gegenüberstellung fokussiert auf zwei wesentliche Demografie bedingte Herausforderungen. Die erste Herausforderung betrifft die gesellschaftliche Integration älterer Menschen nach Eintritt in den sogenannten Ruhestand, wenn die durch die Ausübung einer berufsbezogenen Beschäftigung geförderte gesellschaftliche Teilhabe nicht mehr gegeben ist. Gesellschaftliche Integration wird mit zunehmendem Alter und den damit einhergehenden körperlichen und gesundheitlichen Einschränkungen, die dann oft auch zu einer Pflegebedürftigkeit führen können, zunehmend schwieriger.

Soziale Inklusion fördert nicht nur Wohlbefinden und Zufriedenheit aufseiten der älteren Menschen, sondern trägt auch zur Erhaltung ihrer physischen und psychischen Gesundheit bei, was wiederum hilft, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder zu mindern und somit die nationalen Pflegesysteme zu entlasten. Beide hier untersuchten Länder haben gleichermaßen mit dem Kostendruck stark steigender Prävalenzraten zu kämpfen. Der vorliegende Band belegt für beide Länder, dass die aktive gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen, z. B. im Rahmen von freiwilligem sozialem oder politischem Engagement, die intergenerationale Solidarität stärkt. Die in dieser Form erbrachten Leistungen kommen wiederum der Gesellschaft selbst zugute. Japanische Kolleg:innen sprechen in diesem Zusammenhang von einer dreifachen Gewinnkonstellation (siehe den Beitrag von Matsuda). Dies gilt insbesondere für die kommunale Ebene, da hier die gesellschaftsbezogenen Leistungen vor allem im sozialen Nahraum in besonderem Maße nachgefragt werden. Von einer gelungenen, möglichst langen gesellschaftlichen Integration Älterer profitieren also sowohl die Betroffenen, die Gesellschaft und nicht zuletzt auch die Pflegesysteme.

Vor diesem Hintergrund wird als zweite Herausforderung in dem vorliegenden Band die Pflege thematisiert. Pflegebedürftigkeit kann heute mit als der wichtigste gesellschaftliche Exklusionsfaktor in alternden Gesellschaften gelten. In Deutschland hat die Pandemie das erneut deutlich gemacht. An dieser Einschätzung ändert auch der hierzulande mittlerweile weit verbreitete, eine positive Sicht und Einschätzung der demografischen Entwicklung assoziierende Slogan einer „Gesellschaft des längeren Lebens“ nichts Grundlegendes.

Im Vordergrund steht das Ziel, pflegebedürftigen älteren Menschen möglichst lange ein selbst bestimmtes Leben in ihrer vertrauten Umgebung zu ermöglichen. Für beide Länder gilt gleichermaßen, dass die damit verbundenen Aufgaben im Zuge zunehmender Alterung und Alterspflegebedürftigkeit nicht mehr von Familien und staatlichen Pflegesystemen allein erfüllt werden können; zumal noch, wenn – wie in Japan besonders ausgeprägt – der soziale und wirtschaftliche Wandel die jüngere Generation zu regionaler Mobilität zwingt, was die Bereitstellung unmittelbarer familiärer Hilferessourcen erschwert. Vielmehr sind hier zunehmend nachbarschaftliche Lösungen bzw. lokale Gemeinschaften und zivilgesellschaftliches Engagement gefordert. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, wie entsprechende Initiativen gefördert, sondern auch wie sie koordiniert und nachhaltig gestaltet werden können. Dazu liefert dieser Band aus beiden Ländern gute Beispiele.

3 Themenfelder und Gestaltungsbereiche dieses Bandes

Die Ansätze, die Deutschland und Japan bei der Bewältigung der gesellschaftlichen Integration älterer Bürger:innen und der diese gefährdende Sicherstellung von pflegerischer Versorgung verfolgen, und die Erfahrungen, die sie damit gemacht haben, werden im Hinblick auf vier eng miteinander verbundene Themenfelder und Gestaltungsbereiche untersuchtFootnote 2: Kommunalpolitik, zivilgesellschaftliches Engagement, Pflegepersonalpolitik und digitale Technologien. Aus gegebenem Anlass wird in einer gesonderten fünften Sektion auch auf die Auswirkungen der aktuellen Pandemie auf die Lage älterer Menschen eingegangen.

Auch in global vernetzten und zunehmend virtuell agierenden Gesellschaften spielt sich ein essentieller Teil des Lebens letztlich auf lokaler Ebene ab. Hier treten die gesellschaftlichen Auswirkungen des demografischen Wandels unmittelbar zutage, und hier müssen die Herausforderungen der Integration und Versorgung bewältigt werden. Dies wird letztlich von den Bürger:innen auch so erwartet. Die wichtigsten Akteure sind dabei die kommunale Politik und ihre Verwaltungen (vgl. Naegele, 2013). Die von ihnen zu leistenden Aufgaben und die ihnen verfügbaren Ressourcen und Gestaltungsmöglichkeiten leiten sich aus ihren durch die staatliche Verfassung zugewiesenen Zuständigkeiten im öffentlichen Sozial-, Verwaltungs- und Steuersystem ab. In Japan verfügen die Kommunen als Träger der staatlichen Langzeitpflegeversorgung über deutlich mehr Kompetenzen und Pflichten als in Deutschland, wo die Pflegekassen letztendlich „das Sagen“ über die eigentliche Versorgungssituation haben. Die Beiträge in Teil 1 stellen dies im Detail dar und erörtern dabei auch kritisch die Implikationen für die konkrete Ausgestaltung vor Ort. Es gibt in Deutschland nicht wenige Expert:innen, die in diesem Zusammenhang eine „Funktionssperre der Kommunen“ beklagen.

Das zweite, für die Sicherstellung der sozialen Teilhabe zunehmend wichtiger werdende Handlungsfeld, das im Besonderen, wenn auch nicht ausschließlich, auf der kommunalen Ebene zum Tragen kommt, betrifft das zivilgesellschaftliche Engagement. Es ist in zweifacher Hinsicht für die Bewältigung der beiden in diesem Band thematisierten zentralen Herausforderungen von Bedeutung. Zum einen beschreibt zivilgesellschaftliches Engagement ein Tätigkeitsfeld, in dem sich älterer Menschen für die Gesellschaft einbringen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Zum anderen wird älteren Menschen gesellschaftliche Teilhabe durch den unentgeltlichen Einsatz anderer oft erst ermöglicht. Die jeweiligen Bereiche und Ausgestaltungsformen unterscheiden sich teilweise, da sie stark durch das historisch gewachsene soziale, ökonomische und kulturelle Umfeld geprägt sind. Die Gegenüberstellung der Beiträge in Teil 2 macht dies deutlich. Während in Deutschland Kirchengemeinden, Vereine, Verbände und politische Parteien, also bereits etablierte Institutionen, eine wichtige Rolle spielen, sind es in Japan meist zweckgerichtete Freiwilligenvereinigungen und Einzelinitiativen, die oft eng mit kommunalen Einrichtungen zusammenarbeiten.

Die Deckung des konkreten Pflegebedarfs erfordert vor allem personelle Ressourcen. Gemeint sind damit zunächst Personen, die beruflich häusliche, ambulante oder stationäre Pflegeleistungen erbringen. Aufgrund ihrer Qualifikation und der Planbarkeit ihres zeitlichen Einsatzes stellt diese Gruppe der professionellen Fachkräfte das Fundament einer jeden pflegerischen Versorgung dar. Wie die Beiträge in Teil 3 verdeutlichen, stellt der Personalmangel in den Pflegeberufen die Pflegesysteme in Deutschland und Japan schon heute vor große Herausforderungen. Während Deutschland zumindest zurzeit noch von dem Angebot ausländischer Arbeitskräfte vor allem aus dem osteuropäischen EU-Ausland profitiert,Footnote 3 macht Japan von der Möglichkeit einer Beschäftigung ausländischer Pflegekräfte bislang nur sehr begrenzt Gebrauch.

Neben der professionellen Pflege sind beide Länder auch auf den Einsatz von Personen aus dem familiären Umfeld angewiesen. Im Ergebnis sind dies meist Frauen. Dabei stellt sich die grundsätzliche Frage, in welcher Form und in welchem Umfang eine Gesellschaft die in der Pflege von Familienangehörigen erbrachten Leistungen anerkennt. Zunehmende Beachtung findet in beiden Ländern außerdem das Problem der Vereinbarkeit von Pflege und eigener Erwerbstätigkeit. Allerdings sehen die Unternehmen in beiden Ländern hier erst sehr zögerlich ein eigenes Handlungsfeld. Aufgrund des Fachkräftemangels und zunehmend fehlender professioneller wie familiärer Unterstützung vor Ort muss zur Absicherung pflegerischer Versorgungsbedarfe mehr und mehr die lokale Gemeinschaft eingebunden werden. Gemeint ist damit auch zivilgesellschaftliches Engagement, wobei dieses gezielt durch kommunalpolitische Maßnahmen ergänzt und koordiniert bzw. gesteuert werden muss.

Die Verbreitung digitaler Technologien wirft im Hinblick auf die soziale Integration älterer Menschen zunächst ein neues Problem auf, nämlich die Gefahr einer digitalen Abkoppelung bzw. eines „digital divide“ zwischen denen, die mit den neuen Technologien umgehen können, und denen, die dies ablehnen oder nicht können (Merkel et al., 2019). Je mehr sich das gesellschaftliche Leben in virtuelle Räume verlagert, umso mehr wird die letztere Gruppe ausgeschlossen. Es geht hier nicht nur um die Partizipation in sozialen Medien, sondern auch um die Erledigung digitaler Prozesse im Bereich der öffentlichen Verwaltung und die digitale Nutzung privater Dienstleistungen. Digitale Technologien bieten allerdings auch große Chancen für die Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe und pflegerischer Versorgung älterer Menschen. Die digitale Vernetzung erleichtert die Kontaktpflege und den persönlichen Austausch über Distanzen hinweg. Für digitale Technologien gibt es zudem zahlreiche Einsatzfelder in der Pflege, um Arbeitsprozesse zu verbessern und Pflegepersonal zu entlasten, aber auch im Gesundheitsmanagement und bei der Vermeidung bzw. Minderung von Pflegebedürftigkeit. Teil 4 setzt sich mit den im Zuge der Digitalisierung in Bezug auf Alterung und Pflege auftretenden Risiken und Chancen aus deutscher und japanischer Sicht auseinander, zeigt aber auch, dass viele Potenziale zwar inzwischen erkannt, aber bei weitem noch nicht erschlossen sind.

Die Ideen zu diesem Publikationsprojekt entstanden 2019. Für 2020 war ein Symposium geplant, auf dem sich die Autor:innen zu den einzelnen Themenfeldern vor der schriftlichen Ausarbeitung ihrer Beiträge austauschen sollten. Leider fiel die Planung dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie zum Opfer. Alle Beteiligten erklärten sich jedoch bereit, ihre Vorträge für das Publikationsprojekt zu verschriftlichen. Dafür danken wir ihnen an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich. Aber die Pandemie hatte auch inhaltlich Auswirkungen auf die hier behandelte Thematik. Ältere Menschen sind im Falle einer Ansteckung besonders gefährdet, da bei ihnen die Krankheit mit höherer Wahrscheinlichkeit einen schweren oder gar tödlichen Verlauf nehmen kann. Die gesundheitspolitisch motivierten Distanzregeln treffen Seniorenhaushalte in besonderem Maße. Sie sind von Bewegungseinschränkungen und Isolation physisch und mental besonders stark betroffen. Schließlich beeinträchtigt die Pandemie auch die pflegerische Versorgung, da besondere Vorsichtsmaßnahmen erforderlich werden, Pflegepersonal im Fall einer Infektion ausfällt und von Infektionen befallene Pflegeeinrichtungen möglicherweise den Betrieb ganz einstellen müssen. In Teil 5 werden die Auswirkungen der Pandemie auf die Lage älterer Menschen und die pflegerische Versorgung in Japan und Deutschland sowie diesbezügliche Maßnahmen und Erfahrungen erörtert. Angesichts der Tatsache, dass die Pandemie Mitte 2021 bei Weitem noch nicht überstanden war und inzwischen zu teilweise neuen Herausforderungen und Belastungen geführt hat, können die Beiträge natürlich keine abschließende Darstellung und Bewertung liefern.

4 Ländervergleich als Dialog

Erkenntnisprozesse basieren auf der einen oder anderen Weise immer auf Vergleichen.Footnote 4 Neue Informationen verarbeiten wir, indem wir sie mit dem, was wir schon wissen, vergleichen. Dabei können drei Ergebnisse auftreten: Die neue Information bestätigt, was wir schon wissen, sie erweitert unser vorhandenes Wissen auf konsistente Art und Weise, oder sie steht dazu in Widerspruch und fordert zu weiteren Fragen und Untersuchungen heraus, die gegebenenfalls zur Revision von Wissen führen können.

Der in dem vorliegenden Band vorgenommene Ländervergleich beschreibt in diesem Zusammenhang ein recht komplexes Vorhaben, das aber typisch für die komparative sozialwissenschaftliche Forschung ist. Vergleichende Analysen haben in der mit Japan befassten deutschen sozialwissenschaftlichen Forschung Tradition. Die dabei tangierten, grundlegenden methodisch-theoretischen Fragen und die damit verbundenen Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs sind hinreichend bekannt.

Dies gilt in besonderer Weise für die häusliche Pflege. Shimada und Tagshold (2006) nehmen hierzu eine relativierende, aber im Kern optimistische Position ein, indem sie betonen „… the task that remains for researchers designing (interkulturell vergleichende) projects is to strike the right balance between nation-centered thinking and other approaches“. Dagegen verweisen Rieger und Leibfried (2004) explizit auf die „grundlegende Andersartigkeit“ der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung in deutschen und ostasiatischen Wohlfahrtssystemen, die sie insbesondere auf den Einfluss der Religion zurückführen. Während das bundesdeutsche Sozialregime stark von der christlichen Sozialethik und dabei insbesondere vom Subsidiaritätsprinzip geprägt ist, das eine Vorrangstellung für die jeweils „stärkere Einheit“ betont und dabei eine „öffentliche Vorleistungsverpflichtung“ postuliert (Nell-Breuning, 1976), die aber auch einen Wohlfahrts- und Versorgungsmix zwischen öffentlichen und informellen Akteuren zulässt (Heinze, 1986), kann die Entwicklung ostasiatischer Wohlfahrtssysteme nicht ohne die Rolle des Konfuzianismus erklärt werden. Dieser postuliert insbesondere innerfamiliale Verpflichtungen bei der Unterstützung hilfe- und pflegebedürftiger Angehöriger (Rieger & Leibfried, 2004). Shimada und Tagshold (2006) argumentieren dagegen, dass es sich kulturvergleichende Arbeiten, die in der Analyse der pflegerischen Versorgung primär auf den Einfluss der Religion fokussieren, zu einfach machen, weil sie andere kulturspezifische, nicht-religiöse Kontexte zu wenig einbeziehen.

Wir stimmen Shimada und Tagshold grundsätzlich zu, haben für dieses Publikationsprojekt jedoch bewusst einen eher pragmatischen Vergleichsansatz gewählt. Der Erkenntnisprozess einer vergleichenden Forschung, die beiden Kulturkreisen gleichermaßen Rechnung zu tragen versucht, entspricht im Grunde dem eines Dialogs. Im Dialog präsentiert jede Seite die Sachverhalte vor dem Hintergrund des eigenen Erfahrungskontextes und der eigenen Interessenlage. Es gibt keine neutrale Position, auf deren Basis eine objektive oder für beide Seiten gleichermaßen maßgebliche Deutung möglich wäre. Stattdessen wird die ausgetauschte Information im jeweils eigenen Kontext gedeutet und mit dem dort verorteten Wissen konfrontiert. Dann wird entschieden, ob man sich entsprechende Einsichten und Erfahrungen zu eigen macht. Dazu muss man gegebenenfalls frühere Einsichten und Erfahrungen revidieren.

Der deutsch-japanische Vergleich zu Alterung und Pflege wird in diesem Band auch dialogisch geführt. Bei der Auswahl der Autor:innen haben wir nicht nur auf Länderparität und themenspezifische Kompetenzen geachtet, uns war es auch wichtig, in der multidisziplinären Zusammenstellung der Verfasser:innen die Mehrdimensionalität des Themas abzubilden. Die Autor:innen wurden gebeten, zu einem Themenfeld bzw. Gestaltungsbereich vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Erfahrungen und Interessen einen Beitrag zu verfassen. Wir haben es ihnen dabei bewusst überlassen, die aus ihrer Sicht für ihr Land relevanten Aspekte zu thematisieren. Dies können durchaus Punkte sein, die im anderen Land weniger relevant erscheinen. Aber genau diese unterschiedlichen Gewichtungen sind bei einem Vergleich wichtig. Sie wären bei einer zu engen Vorredaktion unter den Tisch gefallen.

Mit Ausnahme der letzten, gibt es am Ende der ersten vier Sektionen eine zusammenführende Kommentierung der Beiträge. Sie dient dazu, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, zu kommentieren und gegebenenfalls um weitere Aspekte zu ergänzen. Diese Aufgabe wurde von jeweils einem der vier Herausgeber:innen übernommen. Insofern fließt auch hier der jeweilige Länderkontext mit ein. Aus diesem Grund scheint es uns sinnvoll, den in den jeweiligen Sektionen geführten Dialog in dem letzten Abschnitt dieses einleitenden Kapitels noch einmal sektionenübergreifend aufzunehmen. Da sich dieser Band primär an ein deutsches Publikum wendetFootnote 5, soll hier speziell auf die aus den Gegenüberstellungen für Deutschland relevanten Erkenntnisse eingegangen werden.

5 Was können wir von Japan lernen?

Japan ist bekannt dafür, dass es sich oftmals „unter Wert verkauft“. Eigenwerbung wird kulturell nicht hochgeschätzt. Im Gegenteil, man betont eher die Fehler oder Mängel und das noch nicht Erreichte. Diese Bescheidenheit trägt mit dazu bei, dass man sich nie zu schade ist, vom Ausland zu lernen. Dabei hat man in der Vergangenheit wie heute immer auch nach Deutschland geschaut. In diesem Band fragen wir umgekehrt: Was kann Deutschland von Japan, als dem weltweiten Vorreiter der Bewältigung des demografischen Wandels, lernen? Die vier Herausgeber beantworten diese Frage wie folgt.

Technologiepolitik im Dienst der Demografiepolitik

Japans Vision der „Society 5.0“ gilt allgemein als Antwort auf Deutschlands „Industrie 4.0“ (Waldenberger, 2018). Sie geht allerdings, wie der Name nahelegt, über den industriellen Bereich hinaus, indem sie auf die Lösung gesellschaftlicher Probleme und die Gestaltung wirtschaftlicher Entwicklung durch die Integration von Cyber- und physischer Welt abzielt. Ihr Leitbild ist dabei eine auf den Menschen zentrierte Gesellschaft. Da die zunehmende Alterung eine der drängendsten gesellschaftlichen Herausforderungen für Japan darstellt, sucht die japanische Regierung naheliegender Weise auch hier nach technologiepolitischen Lösungen. „Society 5.0“ stellt Technologiepolitik sozusagen in den Dienst der Demografiepolitik.

Eine derart breite gesellschaftliche Anerkennung findet der demografische Wandel in der deutschen Politik nicht, schon gar nicht als Aufgabe einer eigenständigen Demografiepolitik (Hüther & Naegele, 2013). Dies ist auch im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung vom November 2021 nicht anders. Obwohl immer noch zweifelsfrei einer der wichtigsten Treiber der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland, hat das Thema demografischer Wandel hierzulande nur noch wenig Konjunktur. Daher muss die Frage erlaubt sein: Sollte sich Deutschland bei der Gestaltung der digitalen Transformation nicht eher am Leitbild der japanischen „Society 5.0“ orientieren als an dem industriezentrierten Konzept „Industrie 4.0“?

Die nicht nur positiven Erfahrungen Japans zeigen, dass Entwicklung und Einsatz von Technologien kein Selbstzweck sein können. Die Förderung von Forschung und Entwicklung zur Lösung der Probleme einer alternden Gesellschaft muss von Anfang an die Anwenderseite mit einbeziehen. Man darf speziell die staatlich geförderte und daher nicht direkt am Markt orientierte Forschung nicht den Forscher:innen allein überlassen, sonst besteht die Gefahr, dass sie am Bedarf vorbeiläuft. Das gilt erst recht für die Anwendungsebene. Die Bewertung neuer Technologien darf nicht auf angebotsseitige Vorteile, wie Kostenersparnis oder Personalentlastung, reduziert werden, sondern muss die spezifische Situation der zu Pflegenden und deren Selbstbestimmung und Würde berücksichtigen.

Kommunen als zentrale Akteure im Rahmen ganzheitlicher Lösungsansätze

In Japan ist man sich der Bedeutung der lokalen Gebietskörperschaften in Bezug auf die Bereitstellung grundlegender öffentlicher Dienstleistungen bewusst. Dieser Rolle Rechnung tragend wurden die japanischen Kommunen seit der Meiji-Restauration 1868, die den Aufbau eines modernen Nationalstaats einleitete, mehrfach umfassend reformiert. Die letzten und wahrscheinlich wichtigsten Gebietsreformen waren die Gemeindefusionen der Heisei-Periode, die zwischen 1999 und 2006 durchgeführt wurden und wodurch sich die Zahl der Gemeinden halbierte. Ziel war es, finanziell und personell ausreichend ausgestattete Kommunalverwaltungen zu schaffen. Viele kleine Gemeinden, vor allem in ländlichen Gebieten, litten unter Bevölkerungsrückgang und einer sich beschleunigenden Alterung, wodurch einerseits die öffentlichen Einnahmen sanken, andererseits aber der Bedarf an öffentlichen Dienstleistungen vor allem im Sozialbereich stieg. Mit den Fusionen sollte dieser Entwicklung entgegengewirkt werden. Die positiven Auswirkungen waren jedoch begrenzt, und weitere Maßnahmen müssen auch künftig ergriffen werden. Es gibt Vorhersagen, dass etwa die Hälfte der Gemeinden im Zuge des Bevölkerungsrückgangs aussterben werden (Masuda, 2014). Auch wenn in Deutschland die Bevölkerungsentwicklung bislang insgesamt relativ stabil verläuft, gibt es auch hierzulande Regionen, die von ähnlichen Entwicklungen wie in Japan betroffen sind. Entsprechend dürften auch hier weitere Gebietsreformen unvermeidlich sein.

Die Stärkung der Rolle der Kommunen in der Gestaltung und Bewältigung des demografischen Wandels ist ein zweites wichtiges „take away“ aus dem Vergleich mit Japan. In der japanischen Pflegeversicherung sind die Kommunen Träger und damit zentrale Akteure und Gestalter der Pflegepolitik vor Ort, was auch von der Wissenschaft in Japan als konsequent richtig konzediert wird. Zwar war die deutsche Pflegeversicherung „Vorbild“ für das japanische Modell, in diesem wichtigen Punkt ist Japan aber Deutschland nicht gefolgt. Die aus der Praxis der japanischen Pflegepolitik vor Ort gewonnen Einsichten machen die nachteiligen Konsequenzen der in Deutschland in diesem Bereich gesetzlich verhängten „Funktionssperre der Kommunen“ deutlich. Sie stützen die von vielen mittlerweile geteilte Forderung, die Rolle der Kommunen in wichtigen sozialen „Anliegen der örtlichen Gemeinschaft“ auf gesetzlicher Grundlage mehr zu stärken.

Das japanische Modell des „Comprehensive Community Based Care Systems“ zeigt die zentrale Rolle, die Kommunen bei der Konzeption und Koordination lokaler Versorgungsleistungen über alle Generationen und Bedürfnislagen hinweg leisten können, wenn ihnen die dazu erforderlichen gesetzlichen Kompetenzen zugestanden werden. Das Modell verdient unbedingt einer Evaluierung hinsichtlich seiner Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse. Die aktuellen Bemühungen in Deutschland um die Implementierung der im Kern vagen, da im Unkonkreten gebliebenen Idee der „sorgenden Gemeinschaften“ könnten zweifellos sehr davon profitieren.

Bedeutung der Zivilgesellschaft

Die japanischen Beiträge belegen immer wieder, welche Rolle die Zivilgesellschaft bei der Bewältigung der Herausforderungen des demografischen Wandels, speziell auch im Kontext der pflegerischen Versorgung, spielen kann. Ob bei der Gesundheitsförderung und Prävention, ob in intergenerationellen Projekten, als ehrenamtliche Mithelfer:innen in der häuslichen Versorgung Demenzkranker, als Bestandteil eines ganzheitlichen Versorgungskonzepts oder ergänzend zur professionellen wie ambulanten häuslichen Pflege – immer sind es zivilbürgerschaftlich Engagierte, sehr häufig auch Ältere, welche bestehende Versorgungslücken schließen.

Es lohnt sich, die Übertragbarkeit japanischer Initiativen mit Blick auf kommunalpolitische Gestaltungsmöglichkeiten und im Rahmen ganzheitlicher Lösungsansätze zu prüfen, auch wenn sich kulturspezifische und sozio-ökonomische Unterschiede nicht übersehen lassen. Japans Zivilgesellschaft konnte sich einerseits über Jahrhunderte in einem sehr stabilen politischen Umfeld entwickeln. Der Zusammenhalt wurde durch Naturkatastrophen immer wieder aufs Neue herausgefordert. Die dadurch gewonnene Resilienz zeigt sich aktuell auch in der bislang sehr guten Bewältigung der Pandemie. In anderen Ländern, die ähnlich erfolgreich waren, wird dies mit dem starken Vertrauen der Bevölkerung in die politische Führung begründet, was dazu beitrug, dass die von der Politik zur Bekämpfung erlassenen Auflagen im Allgemeinen befolgt wurden. In Japan genießt die Politik kein derart großes Vertrauen. Tatsächlich waren die Maßnahmen der japanischen Regierung zur Bekämpfung der Pandemie viel weniger stringent als in anderen Ländern. Für den Erfolg zeichnet hier eher die Zivilgesellschaft verantwortlich, die mehr oder weniger freiwillig Vorsichtsmaßnahmen befolgte.

Arbeiten im Alter

Auch wenn Arbeiten im Alter kein eigenes Themenfeld ist, wird es doch in mehreren Beiträgen in diesem Band angesprochen. Generell wird Arbeiten im Alter in Japan positiv gesehen. Im Jahr 2019 waren 46,6 % der Japaner zwischen 65 und 69 Jahren erwerbstätig. Dieser Anteil ist seit 2011 stetig gestiegen.Footnote 6 Japan zeichnet sich allgemein durch eine hohe Arbeitsbereitschaft älterer Menschen aus. In Deutschland scheint eine solche Einstellung weniger verbreitet. Hier steht man der Arbeit im Alter viel kritischer gegenüber, obwohl bekannt ist, dass Erwerbstätigkeit eine wichtige Form der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist und mit zu einem erfüllten und gesunden Leben beitragen kann.

Dies gilt natürlich nicht generell, vor allem dann nicht, wenn die Arbeit aufgrund unzureichender finanzieller Absicherung aufgenommen werden muss und mit physischen oder psychischen Belastungen einhergeht (Naegele & Hess, 2020). Wie schon beim Einsatz von Technologien gilt auch im Fall der Erwerbstätigkeit im Alter, dass sie kein Selbstzweck sein kann, und bei einer Bewertung nicht nur der wirtschaftliche Mehrwert, sondern auch die Selbstbestimmung und Würde der Arbeitenden zu berücksichtigen ist.

Der in Japan praktizierte Einsatz von pflegeerfahrenen Senior:innen in der professionellen ambulanten wie stationären Altenpflege verdient im Hinblick auf einen möglichen Beitrag zur Lösung des Pflegepersonalnotstandes in Deutschland eine unvoreingenommene Evaluierung. Auch in anderen Arbeitsmarktsegmenten lohnt es sich, stärker über eine Integration älterer, arbeitswilliger und arbeitsfähiger Senior:innen nachzudenken. Hierbei geht es nicht allein um den Abbau von Altersdiskriminierung und die Schaffung altersgerechter Arbeitsbedingungen. Angesprochen sind damit auch Angebote lebenslangen Lernens und damit verbunden bis ins Alter offene Karrierewege. Japan kann hier in positiver wie in negativer Hinsicht viel Anschauungsmaterial bieten.

Ausländische Pflegekräfte

Dass Japan bei der Bewältigung der demographischen Herausforderung stärker noch als Deutschland technische Lösungen favorisiert, mag daran liegen, dass andere Politikansätze, insbesondere die Einwanderung, nie als reale Option wahrgenommen oder ernsthaft in Betracht gezogen wurden. Die fehlende Unterstützung durch Fachkräfte aus dem Ausland ist ebenfalls mit ein Grund dafür, warum die Pflege von Alten durch Alte in Japan eine so wichtige Rolle im Versorgungssystem spielt. Meist beruht sie nicht auf freiwilligem Engagement, sondern ist den Umständen geschuldet. Wenn beispielsweise ältere Paare allein leben, keine Kinder haben oder von ihren Kindern weit entfernt leben, muss sich der/die gesündere Partner:in um den/die Pflegebedürftige:n kümmern. Auch in Japan pflegen viele über 65-jährige Kinder ihre Eltern. Dies ist oft mit schweren physischen und psychischen Belastungen verbunden.

Deutschland konnte bislang von der Zuwanderung ausländischer Pflegekräfte profitieren. Wesentlich erleichtert wurde dies durch die Osterweiterung der EU und die damit verbundene Freizügigkeit von Arbeitskräften. Wichtig ist außerdem das Einkommensgefälle gegenüber den osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, das quasi eine Sogwirkung erzeugt. Eine dauerhafte Lösung ist damit allerdings nicht gefunden, denn einerseits verringern sich die Einkommensunterschiede, andererseits altert die Bevölkerung in den Herkunftsländern. Der damit dort ansteigende Bedarf an Pflegepersonal wird das Angebot ebenfalls verknappen. Deutschland sollte sich hierauf frühzeitig vorbereiten.

Eine positive Grundeinstellung fördern

Ein längeres gesundes Leben und ein natürlicher Rückgang der Bevölkerung sind wie eingangs betont positive Begleiterscheinungen des demografischen Wandels. In Japan werden seitens der Politik und der Forschung schon seit langem und mit einer sehr viel längeren Tradition als in Deutschland die positiven Aspekte einer alternden Gesellschaft fokussiert. So fand der von Japan geprägte, an die Haarfarbe der Senior:innen angelehnte Begriff der „silbernen Gesellschaft“ schon sehr früh Eingang in die Marktforschung und Produktentwicklung. Die Konzepte „Silver Market“ und „Universal Design“ unterstreichen die Marktchancen, die sich in einer alternden Gesellschaft bieten (Kohlbacher, 2011).Footnote 7 Auch Japans starkes zivilgesellschaftliche Engagement und die Vision der „Society 5.0“ werden von der Grundeinstellung getragen, dass demografischer Wandel zum Vorteil der Gesellschaft gestaltet werden kann. Die von dem Mitherausgeber und Autor dieses Bandes, Tomoo Matsuda, propagierte Idee von der „Platin Gesellschaft“ wird ebenfalls von dieser Einsicht getragen. Sie betont die Innovationspotenziale und vielfältigen Entwicklungschancen, die eine stark alternde Gesellschaft bietet. Die Verwirklichung der „Platin Gesellschaft“ erfordert neben einer angemessen Wohn-, Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur einen stärkeren intergenerationalen Zusammenhalt, lebenslanges Lernen und vielfältige Optionen zur gesellschaftlichen Teilhabe älterer Bürger:innen.

Auch in Deutschland können Gesellschaft, Wirtschaft und Politik von einer positiveren Sicht auf das Altern der Bevölkerung profitieren. Mit dem fünften und sechsten Altenbericht der Bundesregierung (BMFSFJ, 2006, 2010) wurden solche Perspektiven zwar entwickelt. Leider sind diese Initiativen – von einzelnen Nischen abgesehen – flächendeckend aber schnell wieder ins Stocken geraten. Der in Deutschland boomende Pflegemarkt ist kein in diesem Sinne wirkliches Vorzeigemodell. Das Beispiel Japans zeigt, dass eine stärkere Fokussierung auf die Chancen und Potenziale des individuellen wie kollektiven Alterns notwendig ist, um auch die zu deren Realisierung notwendigen wirtschaftliche Innovationen und Investitionen besser und zielgenauer adressieren zu können.