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1 Ansatzpunkte für eine integrative Schlussbetrachtung

Die multiperspektivische Erforschung fluchtbedingter Zuwanderung und ihrer Folgen in acht ländlichen Landkreisen Deutschlands hat eine Vielzahl an empirischen Befunden generiert, die für Forschung und Praxis von Interesse sein dürften. Einige zentrale Ergebnisse werden wir im Folgenden noch einmal schlaglichtartig herausgreifen. Wir resümieren, welche ländlichen Spezifika als besonders relevant für die Teilhabe Geflüchteter erscheinen und wie Integrationsarbeit mit Maßnahmen der ländlichen Entwicklung verbunden werden kann. Ein zentrales Thema dabei sind Bleibe- und Halteorientierungen, die darüber mitentscheiden, ob es eine Zukunft für Geflüchtete in ländlichen Regionen gibt – und eine Zukunft für ländliche Regionen mit Geflüchteten.

Jenseits der empirischen Ergebnisse hat uns die vernetzte Arbeit im Verbundprojekt auch in die Lage versetzt, disziplinenübergreifende Theorien und Konzepte der Migrationsforschung kritisch zu diskutieren und methodische Herausforderungen aus verschiedenen Perspektiven zu reflektieren. Wir zeigen stichpunktartig Anschlussstellen zu größeren Theoriedebatten auf und gehen auf einige methodische Herausforderungen ein. Dabei geht es uns stets darum, die weitere Diskussion um raumbezogene Migrations- und Integrationsforschung anzuregen, denn hier scheint uns trotz des gestiegenen Interesses in den letzten Jahren weiterhin großes Potenzial zu stecken.

2 Integration und ländliche Entwicklung: übergreifende Befunde

Die Frage nach dem Status quo der gleichberechtigten Teilhabe von Geflüchteten in den Integrationsdimensionen Wohnen, Bildung, Arbeit und Gesundheit in ländlichen Regionen lässt sich insbesondere durch die Bewertung ihres (Nicht-)Zugangs zu diesen Bereichen beantworten. Vermittelnde Faktoren wie soziale Kontakte, aber auch rechtliche Aspekte sowie Sicherheit und Wohlbefinden spielen dabei eine Rolle (Ager und Strang 2008). Nicht zuletzt ist für ländliche Regionen die Realisierung von alltäglicher Mobilität von entscheidender Bedeutung (Weidinger et al. 2017).

2.1 Wohnen

Im Bereich Wohnen haben wir insbesondere die private Wohnsitznahme fokussiert, die für Geflüchtete ein wichtiges Lebensereignis darstellt, das Ankommen an einem Ort markiert und damit die Zeit nach dem Abschluss des Asylverfahrens umfasst. In den ländlichen Untersuchungslandkreisen sind, im Vergleich zu Ballungszentren, relativ günstige Ausgangsbedingungen in Bezug auf die Verfügbarkeit von Mietwohnungen festzustellen – insbesondere in den sächsischen Untersuchungsregionen. Regional und lokal auf der Ebene der kreisangehörigen Kommunen konnten hinsichtlich des Wohnungsmarktes jedoch auch Herausforderungen festgestellt werden, die an der fehlenden Passgenauigkeit des Wohnungsangebotes mit der Nachfrage seitens der Geflüchteten festzumachen sind. Zu nennen sind die Größe der Wohnungen, fehlende kleine Wohnungen für alleinstehende Personen oder fehlende sehr große Wohnungen für große Familien sowie die Lage. Verfügbarer Wohnraum befindet sich oftmals in Ortsteilen und Landgemeinden, die nicht gut mit dem ÖPNV angebunden sind. Vor dem Hintergrund häufiger Wohnort- und Unterkunftswechsel während des Asylverfahrens wird der ländliche Wohnstandort von Geflüchteten insgesamt relational bewertet, wobei auf Erfahrungen an vorherigen Wohnorten Bezug genommen wird. Etwa. 90 Tage nach der Einreise nach Deutschland stabilisieren sich die Wohnverhältnisse und Umzüge werden deutlich seltener. Geflüchtete entwickeln Bindungen an den Wohnort und die Region. Die Wohnung selbst und die Einrichtung und Gestaltung dieser trägt dazu bei. Der Zugang zu Wohnraum ist für Geflüchtete jedoch trotz häufig guter struktureller Ausgangsbedingungen oftmals schwierig (Vey und Gunsch 2021). Diskriminierungserfahrungen mit Vermieter*innen oder Nachbar*innen sind weit verbreitet und der Zugang zu einer Wohnung ist meist nur durch vermittelnde Akteur*innen aus Haupt- und Ehrenamt möglich. Dies gilt vor allem für den ersten Zugang zu einer eigenen Wohnung. Im Laufe der Zeit erlangen Geflüchtete Handlungsmacht im Bereich Wohnen, indem sie sich zum Beispiel Wissen über die lokal-regionalen Strukturen des Wohnungsmarktes aneignen, entstehende soziale Netzwerke in Wert setzen und die sich verbessernden Sprachkenntnisse nutzen. Darüber hinaus reflektieren Geflüchtete auch über Lage und Qualität der Wohnung und äußern häufig den Wunsch, diese in der Zukunft zu verbessern, zum Beispiel durch den Umzug in besser angebundene Kleinstädte oder durch eine Umgestaltung der Wohnung mit weniger Standortofferten bei gleichzeitiger Verbesserung der Individualmobilität durch Führerscheinerwerb. Lokale Steuerungsprozesse in Bezug auf Wohnraum konnten hinsichtlich des Zugangs zu Wohnungen in ländlichen Regionen identifiziert werden, indem zum Beispiel Wohnberatung angeboten oder Kommunen als Mediator*innen auftraten.

2.2 Bildung

Im Bereich Bildung sind Strukturen bezüglich des Spracherwerbs vor allem in Form von Sprach- und Integrationskursen vorhanden, wenngleich oftmals nur in Klein- bzw. Kreisstädten und mit einem grundständigen Angebot. Weiterführende Sprachkurse, insbesondere nach B1 oder B2, fehlen aufgrund geringer Teilnehmendenzahlen vor Ort meist und die Vereinbarkeit eines Sprachkursbesuches mit anderen Tätigkeiten, wie der Kinderbetreuung (Tissot 2021) oder einer Arbeit, ist nicht immer gegeben – wenngleich ehrenamtliche Strukturen versuchen, diese Lücken zu schließen. Geflüchtete sind sich dessen bewusst, dass sie durch den Erwerb von Sprachkompetenzen Handlungsmacht erlangen, die sich, wie am Beispiel des Wohnens angedeutet, auf andere Integrationsdimensionen auswirkt. Ein erfolgreicher und nachhaltiger Spracherwerb hängt den Befragten zufolge ab von einem Zugang zu gut angebundenen, qualitativ hochwertigen Kursangeboten (mit Kinderbetreuungsmöglichkeiten), Kontakten zu Ehrenamtlichen, die ergänzend zu bestehenden Strukturen Unterstützung beim Spracherwerb leisten sowie alltäglichen sozialen Kontakten, z. B. zu Nachbar*innen, Arbeitskolleg*innen und Vereinsmitgliedern. Diese ermöglichen Gelegenheiten zur Festigung und Vertiefung der Sprachkenntnisse in Alltagssituationen. Betrachtet man Teilhabe an Bildung aus einer Lebenslaufperspektive, stellen sich Herausforderungen besonders im Hinblick auf frühkindliche Bildung: Lokale Steuerungsansätze unterscheiden sich insbesondere mit Blick auf die Frage, wie stark ein Kita-Besuch unterstützt und beispielsweise durch Mobilitätsangebote ermöglicht wird.

2.3 Arbeit

Hinsichtlich der Teilhabe Geflüchteter auf dem Arbeitsmarkt deuten die Strukturen sowohl auf Landkreis- als auch auf Ebene der kreisangehörigen Kommunen auf heterogene Ausgangsbedingungen in Bezug auf die Arbeitsmärkte hin. Das gilt auch für die teilweise schwierige Erreichbarkeit wichtiger Vermittlungsinstanzen in den Landkreisen wie Jobcenter oder die Bundesagentur für Arbeit. Auch die Sektoren, die potenziell Beschäftigung bieten, sind divers. Für die Beschäftigung von Geflüchteten konnten einige wichtige Branchen identifiziert werden, wie zum Beispiel das produzierende Gewerbe, der Bereich Hotellerie/Gastronomie, die Logistikbranche oder Helfertätigkeiten im Bereich Gesundheit und Pflege. Was ein Arbeitsplatz für Geflüchtete bedeutet, wird unterschiedlich bewertet. Während einige Expert*innen immer wieder eine utilitaristische Sichtweise betonen und die Erwerbstätigkeit von Geflüchteten vor dem Hintergrund eines Arbeits- und Fachkräftemangels beurteilen, sind die Bedeutungen von Arbeit im Lebensalltag von Geflüchteten vielfältiger. Sie umfassen die Realisierung der Unabhängigkeit von Sozialleistungen und staatlichen Institutionen sowie die Möglichkeit, Anschaffungen zu tätigen, die in die Zukunft weisen (Wohnungseinrichtung, Führerschein). Zudem trägt ein Arbeitsplatz zu sozialem Wohlbefinden bei, da eigene Fähigkeiten eingesetzt und wertgeschätzt werden, und alltägliche Kontakte mit Einheimischen zustande kommen. Für einen Zugang zu einem Arbeitsplatz werden Geflüchtete von Akteur*innen aus staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen, allen voran dem Jobcenter, der Berufsschule oder Ausbildungsakquisiteur*innen, der Zivilgesellschaft, z. B. Ehrenamtlichen, sowie migrantischen Communities selbst unterstützt. Geflüchtete erleben Exklusionserfahrungen im Nicht-Zugang zu einem Arbeitsplatz, z. B. durch eine fehlende Anerkennung von Qualifikationen, oder Diskriminierung am Arbeitsplatz oder bei der Jobsuche. Wie im Bereich Wohnen bereits dargestellt, sind auch hinsichtlich der Erwerbstätigkeit vor allem zu Beginn in einigen Fällen eher unstabile Beschäftigungsverhältnisse zu beobachten und Arbeitsplätze werden häufig gewechselt (Jahn 2016). Geflüchtete streben danach, einen besser bezahlten Arbeitsplatz, der gleichzeitig eher den eigenen beruflichen Aspirationen entspricht, zu erhalten (Kosyakova 2020) und setzen dafür wiederum Kenntnisse über den lokal-regionalen Arbeitsmarkt und soziale Netzwerke in Wert. Auch erkennen sie, dass Pendeln zum Arbeitsplatz eine etablierte Praxis in ländlichen Regionen darstellt. Arbeit, also entlohnte Beschäftigung wie auch Care-Arbeit oder ehrenamtliche Tätigkeiten, die meist für andere Geflüchtete ausgeübt werden, wird häufig innerhalb der Familie ausgehandelt. Lokale Politik und Verwaltung in ländlichen Regionen unterstützen die Arbeitsaufnahme Geflüchteter durchaus – auch wenn dies nur sehr eingeschränkt zu ihren pflichtigen Aufgaben gehört. Dies geschieht meist mit projektförmigen Maßnahmen, seltener durch ein strategisches Nutzen ausländerrechtlicher Handlungsspielräume (z. B. Ausbildungsduldung). Überdies stehen für Geflüchtete jene Unterstützungsstrukturen bereit, die sich an alle Migrant*innen richten (z. B. die Beratungsstellen des IQ-Netzwerk zur Anerkennung ausländischer Qualifikationen).

2.4 Gesundheit

Im Bereich Gesundheit sind zunächst damit verbundene Infrastrukturen der Daseinsvorsorge in ländlichen Regionen zu bewerten. Die hausärztliche Versorgung in den Untersuchungsregionen ist auf Ebene der kreisangehörigen Kommunen meist gewährleistet. Besonders hinsichtlich der wohnortnahen Verfügbarkeit von Fachärzt*innen ist die Erreichbarkeit jedoch oft schwierig, und Ärzt*innen sind – ähnlich wie für die Aufnahmegesellschaft – nur mit einem hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand zu erreichen. Geflüchtete beschreiben ihren aktuellen Gesundheitszustand unter Bezugnahme auf verschiedene physische und psychische Krankheitsbilder, wobei vor allem chronische Indikationen oftmals mit der Flucht in Verbindung stehen (Bustamante et al. 2017). Sorgen um den Gesundheitszustand drücken Geflüchtete in Bezug auf eigene Kinder, in geringerem Umfang auch hinsichtlich Verwandter im Herkunftsland aus. Da dies häufig berichtet wird, kann davon ausgegangen werden, dass dies eine bedeutende Rolle im Lebensalltag einnimmt und psychische Belastungen verstärken kann. Zudem steht der Gesundheitszustand von Geflüchteten in Wechselwirkungen zu den Integrationsdimensionen Wohnen und Bildung. In Bezug auf den Zugang zu Gesundheitsinfrastrukturen wird den Hausärzt*innen am Wohnort eine hohe Bedeutung zugeschrieben. Lange Fahrzeiten müssen Geflüchtete insbesondere dann absolvieren, wenn sie Präferenzen für Ärzt*innen haben, die ihre Muttersprache sprechen und sich in der Regel in größeren Städten befinden. Beim Besuch von Arztpraxen berichten Geflüchtete von verschiedenen Hürden, die neben der sprachlichen Barriere auch auf unterschiedliche Gewohnheiten in der medizinischen Intervention hinweisen, wie zum Beispiel den Umgang mit Medikation. Bei der Gesundheitsversorgung für Menschen im Bezug des Asylbewerberleistungsgesetzes sind große Unterschiede in der lokalen Umsetzung feststellbar. Dies betrifft insbesondere die Gewährung von sogenannten sonstigen Leistungen, die beispielsweise im Bereich psychosozialer Begleitung oder der Behandlung chronischer Krankheiten liegen. Trotz dieser großen Spielräume wird das Thema aber von den Spitzen kommunaler Politik kaum als gestaltbar wahrgenommen. Hierin unterscheiden sich ländliche Regionen nur unwesentlich von den meisten urbanen Kontexten (Mangrio und Forss 2017).

2.5 Alltagsmobilität

Eine besondere und für alle bisher genannten Bereiche übergreifende Herausforderung in ländlichen Regionen stellen Strukturen und Praktiken der Alltagsmobilität dar. Infrastrukturen, die gleichermaßen für den Alltag der Geflüchteten und ihre gesellschaftliche Teilhabe von Bedeutung sind, befinden häufig nicht am Wohnort. Dies gilt in den ländlichen Untersuchungsregionen zum Beispiel für bestimmte Versorgungsinfrastrukturen wie spezielle Lebensmittelgeschäfte, weiterführende Bildungsangebote, Facharztpraxen oder Arbeitsstellen. Des Weiteren haben Geflüchtete häufig den Wunsch, Verwandte zu besuchen, die in weiter entfernten Großstädten leben. Dazu müssen Distanzen überwunden und Wegstrecken realisiert werden, die von Geflüchteten häufig als zu lang oder zu teuer wahrgenommen werden. Sie sind dabei meist auf den ÖPNV angewiesen, die Erfahrungen damit lassen jedoch schnell den Wunsch aufkommen, eine Fahrerlaubnis zu erwerben. Die Verbesserung der eigenen Mobilitätssituation steht der Vermeidung von Mobilität gegenüber. Beispiele für die Verbesserung sind die Nutzung von Mitfahrgelegenheiten durch Ehrenamtliche, Unterkunftsbetreiber*innen oder Berater*innen im Außendienst, sowie der Erwerb (gebrauchter) Fahrräder und eigener Pkws. Mobilität lässt sich vermeiden, indem beispielsweise Familienangehörige Lebensmittel aus Städten mitbringen oder Beratungen dezentral im Landkreis angeboten werden. Schließlich sehen Geflüchtete einen Zusammenhang zwischen Alltagsmobilität in Form von Individualmotorisierung und der Bleibeentscheidung, insbesondere dann, wenn sie in Lebensbereichen eingeschränkt sind, die in Gegenwart oder Zukunft besonders relevant sind, z. B. Arbeit oder die Bildung der Kinder.

2.6 Soziale Kontakte

Beim Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen sind soziale Kontakte zur Lokalbevölkerung (social bridges), Personen aus der ethnischen, kulturellen oder religiösen Gemeinschaft, denen sich Personen zugehörig fühlen (social bonds), und hauptamtlichen Akteur*innen (social links) entscheidend. Die Strukturen in ländlichen Regionen muss für die drei genannten Gruppen differenziert betrachtet werden. Insbesondere mit dem Beginn der zahlenmäßig hohen Zuwanderung von Schutzsuchenden ab 2015 entschieden sich viele Menschen dazu, sich in ihrem Wohnumfeld ehrenamtlich für Geflüchtete zu engagieren. Sie organisierten sich in lokalen Helfer- und Unterstützerkreisen, teilweise begleitet von Kirchengemeinden (Karakayali und Kleist 2016). Es wurden somit Begegnungen geschaffen, und Ehrenamtliche trugen in hohem Maße zum Ankommen vor Ort bei, indem sie Grundausstattung an Nahrung und Kleidung bereitstellten oder eine erste Orientierung am Wohnort anboten. Darüber hinaus initiierten sie Sprachkurse in Unterkünften und unterstützten vor allem bei der Wohnungs- und Arbeitsplatzsuche sowie bei rechtlichen Angelegenheiten. Oftmals entwickelten sich informelle Patenschaften, die jedoch nicht selten von paternalistischen Einstellungen geprägt sind und die Entwicklung von Selbständigkeit behindern können. Teils entwickelten sich aus der ursprünglichen Helfer*in-Klient*in-Beziehung mit der Zeit Freundschaften. In diesen Fällen war die Enttäuschung seitens der Einheimischen groß, wenn Geflüchtete, um die sie sich bemüht und mit denen sie sich angefreundet hatten, aus dem ländlichen Wohnort fortzogen. Nicht zuletzt deshalb, aber auch aufgrund komplexer werdender Tätigkeiten oder einer wenig unterstützenden Einstellung durch die Lokalbevölkerung oder Akteur*innen in der Verwaltung, stellten zahlreiche organisierte Helferkreise ihre Arbeit ein oder reduzierten sie. Mit einer längeren Verweildauer am Wohnort etablierten einige Geflüchtete zudem soziale Kontakte zu Nachbar*innen oder Arbeitskolleg*innen. Unterschiedliche Erwartungshaltungen oder offener Rassismus können den Aufbau sozialer Beziehungen zur Lokalbevölkerung (social bridges) jedoch massiv beeinträchtigen. Die eigene Familie und Verwandte haben im Lebensalltag von Geflüchteten in Bezug auf soziale Kontakte (social bonds) vielfältige Funktionen: Sie unterstützen emotional und bezüglich Sprache oder bei der Suche nach einem Arbeitsplatz. Auch ermöglichen Verwandte, die einen Führerschein besitzen, Individualmobilität, werden aber auch mit zeitlichen Verpflichtungen in Verbindung gebracht. Schließlich sind Personen mit Funktionen – vor allem im Hauptamt, also bei Lokalverwaltungen, Behörden oder Beratungsstellen (social links) – im Lebensalltag relevant und haben eine vermittelnde Rolle in unterschiedlichen Bereichen inne. Die zeitlich befristete Verfügbarkeit dieser Personen, beispielsweise aufgrund von Teilzeitarbeit, befristeter Beschäftigung aber auch der häufige Wechsel von Ansprechpartner*innen stellt Geflüchtete oftmals vor Schwierigkeiten.

2.7 Soziales Wohlbefinden

Strukturelle Merkmale von Wohlbefinden an ländlichen Wohnstandorten lassen sich nur indirekt aus den empirischen Ergebnissen ableiten. Einstellungen der Lokalbevölkerung gegenüber „dem Anderen“ im Allgemeinen und Geflüchteten im Speziellen weisen jedoch im Vergleich zu Ergebnissen großer Bevölkerungsumfragen wie dem ALLBUS, in denen urbane Räume überrepräsentiert sind, auf einen höheren Grad an Ablehnung und geringere Toleranzmaße in ländlichen Regionen hin. Die interregionale Differenzierung der Untersuchungslandkreise lässt sich unter anderem auf unterschiedliche Erfahrungen mit Diversität zurückführen. Dort, wo durch längerfristige Migrationserfahrungen das Zusammenleben in einer diversen Gesellschaft bereits etabliert ist, sind ablehnende Einstellungen signifikant geringer als in anderen ländlichen Regionen. Dieser Befund steht im Einklang mit maßgeblichen Ansätzen der Integrationsforschung, vor allem der Kontakthypothese (s. Kap. 5 und 8). Neben der in der Regel geringeren Diversität lässt sich ein weiteres Spezifikum in ländlichen Regionen identifizieren: Als Resultat von altersselektiven Abwanderungen lässt sich ein hohes Durchschnittsalter der Bevölkerung ausmachen. Ältere Menschen, das zeigt unsere Bevölkerungsbefragung, tendieren in einem etwas höheren Ausmaß zu ablehnenden und intoleranten Haltungen gegenüber Zugewanderten und Geflüchteten als Jüngere.

Diese Ergebnisse wirken sich auf das soziale Wohlbefinden von Geflüchteten aus, das unter anderem aus dem Gefühl des Akzeptiert-Werdens seitens der Aufnahmegesellschaft resultiert. Ablehnende Einstellungen hingegen wirken nicht nur negativ auf das Wohlbefinden, sondern haben auch exkludierende Effekte in wichtigen Institutionen der sozialen Teilhabe, wie etwa Kita, Schule oder Arbeitsmarkt. Diversität in ländlichen Regionen, die sich nicht nur auf kollektive Haltungen, sondern auch auf die Repräsentation in maßgeblichen Institutionen auswirkt (z. B. in Form von Behördenmitarbeiter*innen mit eigenem Migrationshintergrund), kann dazu beitragen, dass Teilhabe-Hemmnisse schneller identifiziert und abgebaut werden und sich Geflüchtete und andere Migrant*innen besser verstanden fühlen.

Auch das selbständige Wohnen und die (soziale) Wohnumgebung sind relevante Faktoren für das soziale Wohlbefinden. Geflüchtete bewerten ihre ländlichen Wohnorte relational zum Leben in Städten und in Sammelunterkünften und betonen die allgemein ruhige und friedliche Atmosphäre. Sie heben insbesondere die Sicherheit für Kinder hervor. Andererseits erfahren Geflüchtete Diskriminierung und Rassismus in unterschiedlichen Lebenssituationen und Orten, beispielsweise in Sammelunterkünften oder im öffentlichen Raum – bis hin zu körperlichen Übergriffen. Aber auch innerhalb der diversen Gruppe der Geflüchteten entstehen Herabwürdigungen, die mit der sozialen Stellung, der Lebensweise (z. B. dem Tragen eines Kopftuches oder von der/dem Partner*in getrennt lebend) oder der Herkunft verbunden werden. Materielle Benachteiligungen werden schließlich insbesondere beim Zugang zu Wohnraum und zum Arbeitsplatz sowie in Behörden offensichtlich.

Es ist auffällig, dass die Wahrnehmung solcher Diskriminierungserfahrungen bei den verschiedenen Stakeholdern sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Die engagierte Zivilgesellschaft benennt recht deutlich Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen als Hürde für Geflüchtete. Etwas weniger stark, aber immer noch ausgeprägt ist diese Wahrnehmung bei der Verwaltung. In der lokalen Politik dagegen spielt Rassismus kaum eine Rolle, wenn es um das Wohlbefinden Geflüchteter geht. Daher unterbleiben überwiegend entsprechende Gegenmaßnahmen (s. Kap. 8).

2.8 Bleibe- und Halteorientierung

Die Frage nach dem Bleiben, also ob und unter welchen Umständen Geflüchtete in ländlichen Wohnorten (wohnen) bleiben, ist u. a. für die strategische Ausrichtung von Integrations-/Migrationspolitik aus der Perspektive der ländlichen Entwicklung hochrelevant (Weidinger et al. 2017). Da wir Synergien zwischen den beiden Handlungsfeldern Integration und ländliche Entwicklung insbesondere im Bereich „Abwanderung und demographischer Wandel“ sehen, haben wir unsere Analyse entsprechend fokussiert. Integrationspolitik, die sich als Beitrag zur ländlichen Entwicklung versteht, ist u. a. auf die Schaffung attraktiver Lebens- und Arbeitsbedingungen auch und spezifisch für die Zielgruppe der Geflüchteten ausgerichtet und wird in diesem Verständnis zur Haltepolitik. Wo und wie entwickeln sich solche Haltepolitiken, wie sind deren Auswirkungen einzuschätzen, welche anderen Faktoren waren für das Bleiben der Geflüchteten in ländlichen Regionen maßgeblich? In einigen der untersuchten Landkreise wurde eine solche Bleibeorientierung durch Akteur*innen vor Ort angestrebt und durch migrationspolitische Aktivitäten gefördert, andere Landkreise waren deutlich passiver. „Halten“ als explizites politisches Ziel lokaler Politik, das konkrete Maßnahmen oder deren strategische Bündelung zur Folge hat, konnten wir in drei Untersuchungslandkreisen registrieren. In diesen Landkreisen wird Halten explizit als Aufgabe lokaler Politik beschrieben und entsprechend mit klar benennbaren aktiven Haltepolitiken verbunden. Diese Landkreise versuchen, Anreize für das Bleiben zu setzen, u. a. durch eine aktive Förderung der Familienzusammenführung oder Programme zur Förderung der lokalen Arbeitsmarktintegration Geflüchteter. Zur Haltepolitik gehört auch die Wohnsitzauflage, die von zwei der untersuchten Landkreise in diesem Zusammenhang als entwicklungspolitisches Instrument und als Absicherung von lokalen Investitionen in Integrationsprozesse gerahmt wird. Die meisten Gesprächspartner*innen in den anderen untersuchten Landkreisen zeichnen sich dagegen eher durch implizite Halteorientierungen aus. Sie sehen eine dezidierte Haltepolitik außerhalb ihrer Möglichkeiten und hoffen stattdessen, dass die individuelle Teilhabe in wichtigen Integrationsdimensionen die Chancen auf Bleiben erhöht. Zahlreiche Gesprächspartner*innen bewerten aber auch das Halten als nicht gestaltbar. Sie verweisen darauf, dass Geflüchtete individuell entscheiden müssen, ob sie die lokalen Gegebenheiten hin- und annehmen möchten. Eine derartige politische Grundhaltung geht meist mit einem eher assimilativen Integrationsverständnis einher (s. Kap. 5). Nicht der Landkreis müsse sich um das Bleiben Geflüchteter bemühen, sondern die Geflüchteten selbst müssten ihre Chancen vor Ort nutzen – oder eben weiterwandern. Retrospektiv erklären dies viele der befragten Expert*innen mit den Strukturbedingungen ländlicher Regionen. Menschen würden eben einfach in „die Stadt“ ziehen – das sei auch bei Deutschen nicht anders.

Auch wenn Haltepolitiken nicht explizit formuliert werden, können die Erfolgsaussichten, Geflüchtete am Wohnort zu halten, danach bewertet werden, ob es gelingt, Bleibefaktoren zu stützen und günstige Rahmenbedingungen in den aus Sicht der Geflüchteten relevanten Integrationsdimensionen zu schaffen. Dazu müssen diese Dimensionen durch Politik und Verwaltung erkannt werden. Eine solche Übereinstimmung gibt es in Bezug auf den Arbeitsmarkt und günstigen Wohnraum sowie auf social bridges und social links. Zu den Bleibefaktoren, die von Geflüchteten als besonders wichtig eingeschätzt werden, jedoch auf politischer Ebene weniger stark sichtbar sind, gehört die Bedeutung von familiengerechten Rahmenbedingungen, die sich günstig auf die Bleibewahrscheinlichkeit auswirken. Darauf deuten unsere qualitativen Befragungsergebnisse sowie die über alle Landkreise hinweg recht einheitliche Altersstruktur der Gebliebenen hin, die sich bei der Analyse der AZR-Daten gezeigt hat. Die offenbar besseren Haltechancen für Familien münden aber bislang kaum in entsprechend ausgerichtete aktive Haltepolitiken auf lokaler oder regionaler Ebene.

Die Analyse der AZR-Daten hat gezeigt, dass sich das Bleibeverhalten Geflüchteter mit befristetem Aufenthaltsstatus zwischen den Landkreisen erheblich unterscheidet. Diese Variationen korrelieren nur teilweise mit Unterschieden in der sozioökonomischen Ausgangssituation, passen aber durchweg gut zu den o. g. aktiven bzw. eher passiven Handlungsorientierungen der Landkreise und auch zu den unterschiedlichen Ausprägungen der Einstellung von Bevölkerung und Schlüsselpersonen in den Untersuchungslandkreisen.

2.9 Rolle der Aufnahmegesellschaft

Die Rolle der Aufnahmegesellschaft für Teilhabe und Zusammenhalt haben wir unter der theoretischen Rahmung der „lokalen Rezeptivität“ betrachtet. Obwohl ehrenamtliches Engagement und vielfältige Formen der Unterstützung durch die Zivilgesellschaft in allen Untersuchungslandkreisen anzutreffen waren, war die jeweilige lokale Rezeptivität durchaus unterschiedlich ausgeprägt und überwiegend von einer geringen Vielfaltstoleranz gekennzeichnet. Im Rahmen der Bevölkerungsbefragung zeigt sich, dass die eigene Gemeinde nur von einer Minderheit als „guter Ort“ (14 %) für Geflüchtete eingeschätzt wird. Mit einer vergleichsweise positiven Bewertung des eigenen Ortes als „guter Ort“ für Geflüchtete korrelieren Kontakterfahrungen mit Geflüchteten in der Gegenwart, ein eher teilhabeorientiertes Verständnis von Integration bei Bevölkerung und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen sowie Erfahrungen mit lokaler Migration. In Landkreisen, in denen diese Merkmale kumuliert auftraten, waren auch die höchsten Gebliebenenquoten bei der AZR-Daten-Auswertung zu verzeichnen. Wir sehen dadurch unsere Vermutung unterstützt, dass Einstellungen der Lokalbevölkerung gegenüber Geflüchteten, die ein Klima des Willkommenseins ausdrücken, für Haltestrategien in Wert gesetzt werden können. Umgekehrt dürften alle Formen der Ausgrenzung und des Rassismus eine gegenteilige Wirkung entfalten.

3 Integration in ländlichen Regionen erforschen: Theorien, Konzepte und Methoden

Die Ergebnisse des Projektes tragen zu einigen theoretischen und konzeptionellen Debatten in der Forschungsliteratur bei. Da es an dieser Stelle nicht möglich ist, alle Anschlussstellen in allen beteiligten Disziplinen aufzuzeigen, beschränken wir uns auf diejenigen Beiträge, die für Migrationsforscher*innen aller disziplinären Prägungen interessant sein dürften. Auch methodisch ist die Erforschung von Integrationsvoraussetzungen, -maßnahmen und -erfolgen in ländlichen Regionen anspruchsvoll. Dies betrifft beispielsweise den Umgang mit der Heterogenität ländlicher Räume, aber auch mit Machtasymmetrien zwischen Forschenden und Beforschten (insbesondere Geflüchteten).

3.1 Agency Geflüchteter: Spezifika in ländlichen Regionen

Ein erster Themenkomplex dreht sich um die Handlungsmacht (Agency) Geflüchteter in ländlichen Regionen. In der Migrationsforschung werden seit einiger Zeit die Viktimisierung von Geflüchteten als passive Akteur*innen und paternalistisches Verhalten in der humanitären Praxis kritisch diskutiert (u. a. Barnett 2016; Fleischmann und Steinhilper 2017; Kukovetz und Sprung 2019). Die Frage, wie Handlungsmacht Geflüchteter entsteht, wer dazu wie beiträgt und wie sie beschränkt wird, stellt daher einen wichtigen Aspekt der Migrationsforschung dar (u. a. Bakewell et al. 2012; Carling und Schewel 2017; Phillimore 2021; Spenger und Kordel i. E.; Weidinger und Kordel 2020). Unsere Ergebnisse unterstreichen zwei bislang vergleichsweise wenig beachtete Dimensionen bei der Konstitution von Agency. Erstens besitzt Agency eine räumliche Dimension (dazu auch Kordel und Weidinger 2019). Sowohl konkrete Orte als auch relational konstituierte Räume rund um bestimmte Lebensbereiche sind prägend für die Herausbildung der Handlungsmacht Geflüchteter. Die überschaubaren lokalen Konfigurationen, die sich an ländlichen Wohnstandorten finden lassen, fördern diesen Prozess. Zweitens ist Agency durch das Zusammenspiel konstanter und veränderlicher Faktoren geprägt. Die biographische Perspektive zeigt, dass die Handlungsmacht in einigen Aspekten langfristig vorgeprägt ist (auch durch Erfahrungen aus dem Herkunftsland und der Flucht), andererseits aber vor diesem Hintergrund auch permanent neu verhandelt wird. Können etablierte und bekannte Alltagspraktiken in der aktuellen Situation am Wohnort nicht in Wert gesetzt werden, müssen Praktiken neu eingeübt werden und Agency wird stimuliert (Innes 2016).

Konzeptionell verbunden mit der Agency-Diskussion, aber auch deutlich von ihr zu trennen ist die Rede von der „Autonomie der Migration“. Sie verweist auf eine Ko-Konstitution migrationspolitischer Realitäten durch Geflüchtete, Institutionen und weitere Akteur*innen und ihre sozialen Praktiken (u. a. Moulier Boutang 1993; Bojadžijev und Karakayali 2007; Scheel 2015; Schwenken 2018). Hier geht es weniger um die Handlungsmacht einzelner als vielmehr um eine übergreifende Strukturierung des Feldes der Migration. Diesbezüglich wird in den Ergebnissen des Projektes deutlich, dass neben Institutionen und Praxen auch strukturelle Bedingungen – eben beispielsweise Ländlichkeit – zur Herausbildung von Migrationsrealitäten beitragen. Mit Blick auf die Autonomie der Migration bedeutet dies, dass auch die Interaktion von Geflüchteten mit räumlichen Gegebenheiten in die Analyse (lokaler) Migrationsregime einbezogen werden muss. Dies ist bislang durchaus im Bereich der Grenzforschung der Fall (u. a. mit Blick auf das Mittelmeer: De Genova 2017), ließe sich aber stärker auf Integrationsaspekte anwenden. Mobilitätspolitiken in ländlichen Regionen werden beispielsweise nicht nur durch lokale Politik hergestellt, sondern reagieren auch auf (wahrgenommene) Mobilitätsmuster von Geflüchteten. Grenzen der Annahme einer Ko-Konstitution migrationspolitischer Realität unter Beteiligung von Geflüchteten sehen wir vor allem in den Bereichen, die von der (lokalen) Politik und Gesellschaft überhaupt nicht wahrgenommen oder einfach hingenommen werden – wie beispielsweise beim Thema des Alltagsrassismus (s. Kap. 8). Zwar erfolgt auch in diesen „invisible local arenas“ (Caponio 2010) die Produktion von Migrationsrealitäten durch eine spezifische Reaktion von Geflüchteten auf existente Gegebenheiten. Doch wenn diese Reaktion nur individuelle coping strategies (u. a. Solberg et al. 2021) betrifft und keine Veränderung der politischen oder gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zur Folge hat, lässt sich kaum von einer Ko-Konstitution übergreifender Strukturen sprechen. Bewegt sich migrantische Praxis daher unterhalb einer gewissen Wahrnehmungsschwelle, bleibt sie als subalterne Praxis politisch ungehört (De La Rosa und Frank 2017).

3.2 „Whole of community“-Ansatz: Raumbezug als Potenzial

Unsere Forschung bestätigt zudem die Annahme, dass Integrationsprozesse die gesamte Gesellschaft involvieren – ob sie dies will oder nicht. Dies ist bereits konzeptionell in den meisten wissenschaftlichen Integrationsbegriffen so angelegt und führt zu dem Postulat, dass in Integrationspolitik eben auch die gesamte Gesellschaft einzubeziehen sei (u. a. Papademetriou und Benton 2016). Unsere Befunde werfen aber auch die Frage auf, ob der Blick auf whole of society oder whole of community konzeptionell ergänzt werden muss. Es zeigt sich an vielen Stellen, dass Integrationsprozesse auch durch lokale Bedingungen – also beispielsweise Mobilitätserfordernisse in ländlichen Regionen oder eine bestimmte topografische Lage – mitgeprägt werden. Es wäre daher zu überlegen, ob der akteurszentrierte whole of community-Ansatz um eine strukturelle Komponente erweitert werden müsste. Dies könnte, ähnlich wie in Arbeiten zur Stadtentwicklung (u. a. Roberts 2009), in einen whole-of-place-Ansatz münden, bei dem nicht nur alle integrationsrelevanten Akteur*innen mitgedacht werden (wie bei whole of society), sondern auch alle Gegebenheiten (u. a. geografische Lage, rechtlicher Rahmen), die an einem spezifischen Ort Wirkung entfalten. Einige der in diesem Buch verwendeten konzeptionellen Modelle – das „ISDA framework of local migration policymaking“ (Schammann et al. 2021a; s. Kap. 4), das Modell lokaler Rezeptivität (Glorius et al. 2021; s. Kap. 5) sowie der methodische Ansatz, Bedeutungen von Orten in der Lebenswelt von Geflüchteten zu verstehen (s. Kap. 3) – können als Schritte auf diesem Weg gesehen werden.

3.3 Demigrantisierung: ex ante oder ex post?

Schließlich lassen sich einige Beobachtungen zur Diskussion um eine Demigrantisierung von Migrationsforschung treffen. Die viel diskutierte Frage ist, ob die Betrachtung durch die Brille der Migration dazu führt, dass bestimmte Herausforderungen überhaupt erst als migrantisch erscheinen (Dahinden 2016; Drotbohm und Nieswand 2014). Schinkel (2017) geht sogar so weit, die Abschaffung des Konzeptes der Integration von Zugewanderten zu fordern. Allerdings stellen wir empirisch fest, dass eine Migrantisierung von eigentlich allgemeinen ländlichen Herausforderungen (beispielsweise im Bereich von Mobilität, Gesundheit oder Wohnen) auch dazu führen kann, dass diese Herausforderungen als neu und politisch bedeutsam wahrgenommen werden. Über eine spätere Demigrantisierung dieser Debatte („Mobilität muss für alle besser werden“) können dann auch vermeintlich migrantische Besonderheiten dekonstruiert werden. Eine solche „Katalysator“-Funktion könnte keineswegs nur für politische, sondern auch für akademische Debatten gelten. Anstatt bereits im Forschungsdesign ex ante eine Demigrantisierung anzustreben (wie häufig gefordert), kann es daher auch zielführend sein, eine mögliche Demigrantisierung bei Vorliegen der Befunde durch Kontextualisierung mit der entsprechenden Literatur (z. B. zu Mobilität oder Wohnen) zu prüfen. Dies ist im vorliegenden Band in Ansätzen bereits geschehen, könnte aber in künftigen Forschungen sicher noch intensiver betrieben werden.

3.4 Komplexität der Fallauswahl: Reichweite der Befunde

Unser Projekt war mit seinen multiplen Zugriffen auf strukturelle Charakteristika, Perspektiven der Geflüchteten und der lokalen Bevölkerung sowie Fragen lokaler und regionaler Governance darauf ausgerichtet, einerseits die Vielfalt ländlicher Lebensbedingungen und Integrationsmöglichkeiten aufzuzeigen, andererseits auch generalisierbare Erkenntnisse abzuleiten. Bereits in der Fallauswahl haben wir daher darauf geachtet, einerseits eine große regionale Streuung zu erzielen, zugleich aber auch „unabhängige Variablen“ zu definieren, die sich als Hintergrund für die Analysen eignen und Verzerrungen der Ergebnisse abmildern könnten (Schammann 2021). Dies waren vor allem die Gemeindegröße und der Grad an „Ländlichkeit“ sowie die sozioökonomische Lage. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Befunde sich ohne Weiteres auf alle ländlichen Regionen Deutschlands, oder Regionen mit ähnlichen strukturellen Merkmalen, übertragen lassen. Denn in der Aufschichtung der qualitativen Datensätze auf die regionale Stichprobenauswahl zeigt sich die ganze Komplexität lokaler Situationen. Deren Eigenlogik und die Unterschiede bei der sozioökonomischen Lage, bei Lebensstilen, der Ausstattung mit Infrastruktur oder in der Intensität der Flächennutzung, sind neben den gemeinsamen siedlungsstrukturellen Merkmalen kennzeichnend für die Komplexität und Vielfalt ländlicher Regionen in Deutschland – und vielleicht auch darüber hinaus (Küpper 2016; Küpper und Milbert 2020; Steinführer 2020).

Bei der Beurteilung der Befunde und ihrer Übertragbarkeit auf andere Regionen steht daher nicht die Repräsentativität, sondern die Validität der Ergebnisse im Vordergrund. Validität dient in der qualitativen empirischen Sozialforschung als Maß dafür, „inwieweit die wissenschaftliche, begrifflich-theoretische Konstruktion (…) dem Phänomen, auf welches sich die Forschungsbemühungen richten, angemessen ist“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 22). Im Mittelpunkt unserer empirischen Arbeit stand die Rekonstruktion subjektiver und sozial geteilter Sinngehalte, einerseits von Geflüchteten, andererseits von Akteur*innen der Verwaltung, Politik, Zivilgesellschaft und Integrationspraxis. Während die Prävalenz der von uns identifizierten Phänomene sich nicht auf alle ländlichen Regionen übertragen lässt, so sind es die Sinngehalte, also z. B. das Verständnis von Integration im ländlichen Kontext, die wir durch Interpretation der individuellen Aussagen auf ein abstraktes Niveau gehoben und miteinander verknüpft haben, durchaus.

Zu der geschilderten regionalen Komplexität kommen Heterogenität und Spezifik von Fluchtmigrant*innen. Neben Aspekten wie Alter, Geschlecht und Bildungsstand, die grundsätzlich als soziodemographisch relevante Differenzierungskriterien gelten, gilt es bei Geflüchteten, zusätzlich ihre Diversität in Bezug auf den Herkunftskontext, die Fluchtbiographie und den Aufenthaltsstatus zu berücksichtigen, da diese wesentlichen Einfluss auf die zukünftige Lebensgestaltung haben. Um an dieser Stelle die Superdiversität (Vertovec 2007) handhabbar zu machen und Komplexität etwas zu reduzieren, haben wir uns auf Personen mit relativ sicherem Aufenthaltsstatus konzentriert. Zudem war das Ziel, in den einzelnen Untersuchungsregionen möglichst eine Gleichverteilung in Bezug auf Geschlecht, Familiensituation und Herkunftsland zu erreichen, nicht vollständig einlösbar, da einerseits die faktische Zusammensetzung der Interviewpersonen und andererseits die Zugangswege der Forschenden in den einzelnen Fallstudienregionen unterschiedlich waren.

3.5 Umgang mit Herausforderungen in der Feldphase

In der Feldphase stießen wir auf unterschiedlichste Herausforderungen: angefangen bei einer großen Zurückhaltung vor allem in jenen Regionen, in denen Fluchtmigration stark politisiert wurde, über teils schwierige Erreichbarkeit von Interviewpartner*innen oder den Umstand, dass im Kontext der Corona-Pandemie Interviews ganz abgesagt wurden oder die Methode geändert werden musste (vom persönlichen zum telefonischen Interview). Die Interviews mit den Geflüchteten, obgleich sorgfältig und sensibel vorbereitet, zeigten ebenfalls Grenzen der Durchführbarkeit auf, etwa wenn Fragen von Vulnerabilität und Traumatisierung so stark in den Vordergrund rückten, dass Interviewvereinbarungen kurzfristig abgesagt wurden. An dieser Stelle wurden auch forschungsethische Erwägungen für die Forschenden relevant; diese hatten stets Vorrang vor der Datengenerierung. Dies zeigt aber auch, dass sich ein Art resilience bias in die Stichprobenauswahl und damit in die generierten Daten einschleichen kann, indem z. B. vor allem jene Geflüchteten für ein Interview zur Verfügung stehen, die ihre Flucht- und Ankunftserfahrung gut bewältigt haben und für die das Interview eine überschaubare Belastung darstellt. Da stärker belastete Geflüchtete ein Interview eher verweigern, könnten Perspektiven, die von ungünstigeren Integrationsverläufen, von fehlendem sozialen Wohlbefinden sowie von erlebter und traumatisierender Diskriminierung und rassistischer Ausgrenzung berichten könnten, unterrepräsentiert sein. Im Versuch, diese Verzerrung abzumildern, legten wir großen Wert auf den Beziehungsaufbau zu den Interviewpartner*innen mit Fluchterfahrung mittels Eisbrecher-Treffen im Vorfeld des eigentlichen Interviews. Im Ergebnis hatten wir daher auch viele intensive und emotionale Interviews, in denen über Unwohlsein, einschneidende Negativ-Erlebnisse oder einfach die eigene Lebensgeschichte gesprochen wurde.

Schließlich musste auch die Frage der Anonymisierung mehrfach neu diskutiert werden, insbesondere die Frage der „regionalen Anonymisierung“, da natürlich trotz Anonymisierung von Interviewpartner*innen diese gerade in kleineren Kommunen über ihre Funktionsrolle in Verbindung mit dem Gemeindenamen identifiziert werden können. Aus diesem Grund kam manches Interview schlussendlich nicht zustande.

Gerade im Kontext qualitativer Forschung ist Non-Response ein Befund, der bereits als Ergebnis von Forschung betrachtet und dementsprechend bei der Analyse berücksichtigt werden kann, ebenso wie es bei der Sammlung und Analyse von Strukturdaten oder bei der Durchführung von Repräsentativbefragungen Lücken oder Inkonsistenzen im Datensatz gibt, die durch angemessene Techniken (etwa Gewichtungsverfahren) überbrückt werden können. Zudem lassen sich Fälle von Non-Response durch eine Anpassung des Erhebungsverhaltens teils reduzieren, indem alternative Zugangsmethoden genutzt werden. Hierzu gehören die Signalisierung einer größtmöglichen Flexibilität gegenüber potenziellen Interviewpartner*innen, das hanging around vor Ort (Rodgers 2004), wodurch sich kurzfristig ergebende Zeitfenster spontan für ein Interview nutzen lassen, aber auch die Identifizierung von Gatekeepern, die beim Zugang zu schwer zugänglichen Personen hilfreich sein könnten.

Erforderlich ist jedoch eine Reflexion über dieses Rauschen im Datensatz ebenso wie das Akzeptieren, dass an einigen Stellen die Feldphase nicht die gewünschten Daten generieren kann.

4 Schlussbemerkungen: Wie lassen sich die Befunde nutzbar machen?

Die Tatsache, dass Migrations- und Integrationsforschung bislang überwiegend auf großstädtische Räume ausgerichtet war, war ein wichtiger Impuls für die Fokussierung auf ländliche Regionen in diesem Projekt. Dennoch möchten wir den Eindruck vermeiden, mit Hilfe unserer Befunde einen Stadt-Land-Vergleich durchführen zu wollen, und auf dieser Basis ländliche Kausalitäten festzuhalten und damit zu essentialisieren. Obgleich es einige grundsätzliche und überwiegend zutreffende Allgemeinplätze gibt, wie etwa die Mobilitätshindernisse und die größere ethnische Homogenität in ländlichen Regionen, so sind diese weder exklusiv für ländliche Regionen, noch treffen sie auf jeden ländlichen Standort zu. Ebenso wenig kann in großstädtischen urbanen Räumen grundsätzlich von Diversität, einer gut aufgestellten Integrationsinfrastruktur oder von urbaner Anonymität ausgegangen werden. Wir erhoffen uns, mit unserer Forschung und dieser Publikation die Vielfalt von Integrationssituationen – aber auch die Vielfalt des Lebens in ländlichen Regionen – begreifbar zu machen, um damit auch die wissenschaftliche Debatte über eine angemessene Binnendifferenzierung von Fallstudienergebnissen zu bereichern.

Eine weitere Überlegung ist der zeitlichen Perspektive unserer Forschung gewidmet. Häufig erhielten wir schon bei der Vereinbarung der Interviewtermine, die in den Jahren 2018/19 durchgeführt wurden, die spontane Reaktion, wir würden zu spät kommen. Das Thema sei eigentlich bereits keines mehr. Jedoch war uns bereits bei der Entwicklung unseres Forschungsdesigns wichtig, dass sich unsere Forschung nicht auf einen singulären zeitlichen Referenzpunkt bezieht, sondern dass den Interviewten entsprechende Anregungen gegeben werden, in die Vergangenheit zu blicken, um die Gegenwart besser zu verstehen und um einen informierteren Blick in die Zukunft werfen zu können. So zeigte sich in der Regel während der Interviews, wie intensiv die Interviewpartner*innen auch gegenwärtig mit Fragen der Integrationspolitik befasst waren. Auf der (lokal-)politischen Agenda hatte das Thema Flucht und Flüchtlingsaufnahme allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht mehr den zentralen Stellenwert, den es noch im Jahr 2016 eingenommen hatte – und ab 2022 nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine wieder einnehmen sollte. Ein starker Aufmerksamkeitsverlust war vielfach an ein enges Verständnis von Integration gebunden, das zwar die Unterbringung und Versorgung sowie die kurzfristige Würdigung ehrenamtlicher Arbeit beinhaltet, jedoch nicht die langfristige Organisation von Teilhabe, z. B. die Heranführung von Geflüchteten an den Arbeitsmarkt und die entsprechende Lobby-Arbeit bei lokalen Firmen, oder der langfristige Aufbau von Diversitätsmanagement-Strukturen in den lokalen Verwaltungen.

Hieran schließt sich die Frage an, wie Forschungsergebnisse, die sich gerade im Wellental der öffentlichen Aufmerksamkeit befinden, so kommuniziert werden können, dass sie angemessen rezipiert worden sind, wenn das Thema dann wieder an Bedeutung gewinnt, um Handlungsoptionen für die Zukunft zu entwickeln. Wir denken, dass die bislang noch vergleichsweise seltene Verkoppelung der Themen Migration und ländliche Entwicklung genutzt werden kann, um nachhaltige kommunale und regionale Strategien voranzutreiben. Denn ebenso wie ländliche Entwicklung ist die Teilhabe von Migrant*innen als gesellschaftlich-sozialer Prozess örtlich und zeitlich situiert. Es wird auch künftig eine Herausforderung bleiben, dieser Situiertheit gerecht zu werden und gleichzeitig übergreifende, generalisierbare Ergebnisse zu generieren. Unser Projekt hat in beide Richtungen Möglichkeiten aufgezeigt, wie ein solcher Ansatz gelingen kann – und an welchen Stellschrauben politisch Verantwortliche und Engagierte drehen können.

Aus den umfassenden empirischen Daten und aufgezeigten Befunden wurden zu 15 Themenfeldern Handlungsempfehlungen zur Integrationsarbeit für Geflüchtete in ländlichen Regionen entwickelt (Schammann et al. 2021b). Sie richten sich überwiegend an die lokale Politik, zeigen aber auch auf, wie die Rahmenbedingungen für Integrationsarbeit in ländlichen Regionen auf Landes- und Bundesebene verbessert werden können. Sie sind online verfügbar und verstehen sich als Anstoß zum Weiterdenken sowie als Impuls für die Diskussion mit und zwischen allen potenziellen Stakeholdern – inklusive der Geflüchteten selbst (s. Anhang).