„Das hat auch meinen Eltern geholfen, das zu verstehen und auch mir, meine Eltern zu verstehen.“ (Gewaltbetroffener, Interview).

FormalPara Zusammenfassung

Bereits die Vermutung mediatisierter sexualisierter Gewalt führt zu Belastungen im Bezugssystem von Kindern und Jugendlichen. Dies zieht oft Konflikte innerhalb der Familie nach sich, die Interventionen erschweren und junge Menschen zusätzlich belasten. Das Kapitel diskutiert Gründe und Dynamiken von Eltern-Kind-Konflikten infolge des Verdachts auf mediatisierte sexualisierte Gewalt. Es bespricht, wie mit diesen belastungsbedingten Konflikten umgegangen werden kann. Es stellt sozialpädagogische und juristische Möglichkeiten des Schutzes junger Menschen dar, auch für den Fall, dass die Frage nach möglicher Gewalt nicht abschließend geklärt werden kann.

FormalPara Fallvignette Eli – Teil 1

E-Mail an den Schulsozialarbeiter, Herrn Ünel

Sehr geehrter Herr Ünel,

wir sind die Eltern Elis aus Klasse 9b. Wir wenden uns an Sie, weil Eli immer wieder von Ihrem respektvollen Umgang geschwärmt hat. Er hat Vertrauen zu Ihnen, weshalb wir auf Ihre Unterstützung hoffen. Unser Sohn wird offenbar im Internet von einem Pädophilen manipuliert. Wir haben gestern versteckt in einem Nebenordner unseres Familien-Tablets eine Dating-App gefunden. Darin hat Eli unbedarft mit mehreren Personen geschrieben. Die Profilbilder zeigen allesamt junge Erwachsene. Der Schriftverkehr ist schlüpfrig. Eli scheint sich einen Spaß daraus zu machen und unterschätzt die Gefahr dieses Spiels offenbar.

Auffällig ist ein Chat, in dem er eindeutig pornografisch angemacht wird. Der Mann mit dem auffälligen Pseudonym Lollypop fragte auch nach Elis Telefonnummer, die er von Eli erhielt. Weitere Kontakte müssen auf einen anderen Kanal verlagert worden sein. Wir haben Eli gestern darauf angesprochen. Eli hat sich ahnungslos gestellt. Wir haben dann zu verstehen gegeben, dass wir vom Chat wissen und darum gebeten, uns sein Smartphone freizugeben. Zu unserem Erschrecken ist Eli ausgerastet, hat gebrüllt, sich auf die Erde geworfen und um sich geschlagen. Wir sorgen uns sehr. Uns war nicht bewusst, wie stark er verwickelt zu sein scheint.

Eli ist seit drei Jahren in einem gerankten Rollenspiel-Clan und darf nach vorheriger Absprache an nächtlichen Liga-Spielen teilnehmen. Eli besitzt ein Smartphone mit Prepaid Karte, für das Nutzungsregeln festgelegt wurden. Bis vor kurzem war ein Trackingprogramm auf dem Gerät installiert. Wir hoffen, dass Sie uns helfen können, mit unserem Kind über die Widerfahrnisse zu sprechen. Wir wissen nicht, wie wir Strafanzeige erstatten oder Eli anderweitig schützen können, solange wir nicht beweisen können, was noch alles passiert ist.

Herzliche Grüße.

Rainer und Ulrike H.

Reflexionsfragen

  • Was löst die E-Mail in uns aus?

  • Wie stehen wir zu den Personen und ihren Handlungen?

  • Wie kann die Situation fachlich eingeordnet werden?

1 Reflexionen zur fachlichen Einordnung des Fallbeispiels (Teil 1)

Die E-Mail an den Schulsozialarbeiter ist im Namen zweier Kindeseltern verfasst und drückt deren Sorge um eine potenzielle Gefährdung ihres Sohnes Eli durch mediatisierte sexualisierte Gewalt aus. Elis Alter ist nicht genau zu bestimmen. Der Hinweis auf Klassenstufe 9 erlaubt den Schluss, dass Eli zwischen 13 und 15 Jahren alt ist. Konkreter Anlass des Hilfegesuchs der Eltern ist der Fund einer Dating-App auf dem Familien-Tablet. Mit der App sei Eli in „schlüpfrigen Schriftverkehr“ mit verschiedenen jungen Erwachsenen verwickelt. Als auffällig bezeichnen die Eltern einen Chat, in welchem Eli von einem Mann „eindeutig pornografisch angemacht“ werde. Die Besorgnis der Eltern verstärkt sich, da Eli seine Telefonnummer weitergegeben habe. Der Wechsel des Kommunikationsmediums wird von ihnen möglicherweise als weiterer Kontrollverlust erlebt, da sie nicht wissen, was dort passiert. Erschrocken zeigen sich die Eltern über die Reaktion ihres Sohnes, der sich zuerst ahnungslos gegeben habe und dann ausgerastet sei, als die Eltern ihn baten, sein Smartphone freizugeben. Mit Ausführungen zu ihrer erzieherischen Haltung gegenüber digitaler Mediennutzung kontrastieren die Eltern ihr gegenwärtiges Erleben. So dürfe Eli an nächtlichen Rollenspielen teilnehmen. Ihr geschildertes Verhalten (z. B. Installation eines Tracking-Programms) verstärkt den Eindruck ihrer Hilflosigkeit und ihres Erschreckens über die Kontakte mit Lollypop jedoch eher.

Die Fallvignette ist dahingehend charakteristisch für die Dynamik mediatisierter sexualisierter Gewalt. Hinweise auf oder eine Aufdeckung von Gewalt erleben Kindeseltern zumeist als massiv verstörend, verunsichernd und verletzend. Hinzu kommt, dass Chats sowie Foto- und Videoaufnahmen bzw. deren Bedeutungsgehalt mehrdeutig, das heißt diffus sein können. So ähnelt missbräuchliche Kontaktgestaltung teils konsensuellen Online-Beziehungen bzw. Fernbeziehungen junger Menschen (s. Kap. 4). Solche Uneindeutigkeiten befördern Ohnmachtsgefühle bei Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen, weil sich Gewalthandlungen scheinbar direkt vor ihren Augen ereignen, widersprüchlicherweise aber nicht greifbar sind.

„Es ging um unseren Sohn, der eine Fernbeziehung hatte, mit einem jungen Mann, den wir überhaupt nicht kannten. Es war gar nichts klar.“

Vater eines Gewaltbetroffenen, Interview

Erschwerend kommen Ängste davor hinzu, dass mögliche Gewalt trotz erster Hinweise fortgesetzt werden könnte. Schließlich haben die Eltern Elis bereits die Erfahrung gemacht, dass ihr Sohn jenseits ihres Wissens Kontakte zu einem für sie fremden Mann unterhält. Gleichzeitig weist die internationale Forschung darauf hin, dass Erwachsene jugendliche Online-Beziehungsgestaltung und Sexting ungeachtet ihrer möglichen Einvernehmlichkeit eher als problematisch bewerten (McGovern & Lee, 2018; Vanwesenbeek et al., 2018). Dabei überlagern sich zumeist Sorgen vor Risiken digitaler Medien im Allgemeinen, eine latent medienskeptische Haltung und die Tabuisierung von Sexualität. Aus tiefenpsychologischer Perspektive wirken sich derartige Annahmen und Muster als Wiedererkennungsprozess der befürchteten Gefahren aus (Bettighofer, 2016; Suler, 2004). Solche Projektionen übertragen sich auf die Situation. Sie sind maßgeblich von Angst und Ohnmachtserleben geprägt. Sie wirken sich konflikthaft auf Aufdeckungsprozesse aus. Folgende Konflikte, wir sprechen auch von Disparitäten, zwischen erwachsenen Bezugspersonen und Kindern/Jugendlichen wurden im HUMAN-Projekt identifiziert:

  1. 1.

    Eltern und Fachkräfte machen Kindern und Jugendlichen Vorwürfe hinsichtlich ihres Medienhandelns, beispielsweise aufgrund wahrgenommener Unvorsicht. Sie suchen eine Mitverantwortung bei den Gewaltbetroffenen und reagieren mit Medienverboten oder Sanktionen. Teilweise setzen sie betroffene Kinder oder Jugendliche unter Druck, mobile Endgeräte (Smartphones, Tablets, Computer) herauszugeben, Chatverläufe zugänglich zu machen, Gewalthandlungen ausführlich zu schildern oder die befürchtete Gewalttätigkeit eines Inhalts zu bestätigen.

„Wir haben ja angedroht, dass sie dann ausziehen muss, wenn sie nicht offen ist. Das hat uns geholfen, einen Plan zu haben und nicht alleine zu sein.“

Mutter einer Gewaltbetroffenen, Interview

„Die Mutter habe sie dann auf die Mails angesprochen, die Tochter habe alles abgestritten. [...] Beim Vater warf [die Tochter] sich auf den Boden, stritt Mails und alles andere ab, während die Eltern nochmals die Mails lasen.“

Falldokumentation 5.1

  1. 2.

    Eltern und Fachkräfte bewerten digitale Kommunikation als problematisch oder als sexualisierte Gewalt, die Kinder und Jugendliche nicht als Gewalt anerkennen. Dazu kann führen, dass betroffene Kinder und Jugendliche gewaltausübende Personen aufgrund der angewandten Groomingstrategien idealisieren. Umgekehrt fällt es Erwachsenen schwer, zu differenzieren, dass sogar im Fall von sexualisierter Gewalt mittels digitaler Medien täter*innenstrategisch an natürliche Bedürfnisse junger Menschen nach (sexueller) Selbstbestimmung und Autonomie angedockt wird. Das bedeutet nicht, dass Kinder und Jugendliche eine Mitverantwortung für die Gewalt tragen. Trotzdem werden Bedürfnisse nach Anerkennung und (sexueller) Autonomie auch in Beziehungsauffassungen junger Menschen sichtbar, die Dritte als ausbeuterisch bewerten. Vereinfachende Einschätzungen beispielsweise von Eltern zur Gewalt sowie Opfermythen (s. Kap. 2) dürfen zwar als wiederbeanspruchte Kontrolle verstanden werden. Sie erfüllen schließlich den Zweck, das Unfassbare und Ängstigende der Gewalt zu ordnen. Anders ausgedrückt kann es erträglicher sein, eine irrtümliche Alltagstheorie über die Gründe vermuteter Gewalt zu entwickeln, als auszuhalten, dass Gewalt sinnlos ist. Dasselbe gilt, wenn nicht abgeklärt werden kann, ob Gewalt vorliegt (Goh et al., 2021). Vereinfachende Einordnungen reduzieren aber immer die Komplexität der Bedürfnisse Gewaltbetroffener, indem deren Vielfalt übersehen oder fehlgedeutet wird. Belastungsbedingte Projektionen und Fehldeutungen sind insofern ein wichtiger Aspekt lebensweltlicher Wahrnehmungskonflikte zwischen Betroffenen und ihrem Umfeld.

    Im Falle Elis geben die Überzeugungen der Eltern, dass Eli verschiedene Chats mit der Dating-App als „Spiel“ fehleinschätze und sich einen „Spaß“ daraus mache, Hinweise auf solche Vereinfachungen. Ernstzunehmende Bedürfnisse nach sexueller Beziehungsgestaltung erwägen die elterlichen Schilderungen nicht.

A: „Aber ich glaube, es ist auch eher nur eine Unsicherheit, weil sie irgendwie nicht wissen, an was sie sich halten können [...]. Und die, also die Erlebenswelt, die er so hat und wie er das wahrnimmt, das interessiert die Eltern ja in dem Moment erst einmal gar nicht. Sie sehen nur die Gefahr.“

B: „Weil sie das nicht kennen, weil es für sie fremd ist, Homosexualität, halt, ne, vorher gab es dann noch dieses Stichwort, die Pädophilen manipulieren Eli, und irgendwie junge Erwachsene [...].“

Sozialpädagogin, spezialisierte Fachberatung im Gespräch mit Sozialarbeiter, Sexualpädagogik und -beratung, FGI

2 Handlungsempfehlungen (Teil 1)

Im Zusammenhang von Hilfen ist daher Folgendes gleichermaßen zu berücksichtigen:

  1. a)

    die Möglichkeit mediatisierter sexualisierter Gewalt gegen Eli, beispielsweise aufgrund eines Macht- und Reifeunterschieds zu Lollypop, zugleich aber auch die Möglichkeit, dass keine Gewalt vorliegt bzw. Eli die Einschätzung der Gewalt nicht teilt,

  2. b)

    die aus der Vermutung von Gewalt resultierenden Sorgen und Belastungen seiner Eltern,

  3. c)

    Hinweise auf einen lebensweltlichen Wahrnehmungskonflikt mediatisierter Beziehungsgestaltung sowie Übertragungen,

  4. d)

    das Risiko von Übersprungshandlungen (z. B. Druck aufbauen durch Ärger und Wut, Freigabe des Smartphones einfordern, private und/oder intime Chatverläufe (vor)lesen.

2.1 Auftragsklärung

Das Hilfegesuch der Eltern, ihre Belastungen und eventuelle Übersprungshandlungen als zusätzliches Belastungspotenzial der Familie, genauer Elis, begründen eine Auftragsklärung durch den Schulsozialarbeiter. Hilfen für Erziehungsberechtigte, darunter Beratung, gehören grundsätzlich zu seinem Tätigkeitsbereich (Kunkel, 2016). Zugleich erfordert die Eskalation (auf den Boden werfen, um sich schlagen) eine besondere Sensibilität. Herr Ünel riskiert, das ihm durch Eli entgegengebrachte Vertrauen zu gefährden, falls der Eindruck entsteht, er verbünde sich mit den Eltern gegen Eli. In den Focus Group Interviews wird daher kontrovers diskutiert, ob und unter welchen Umständen Herr Ünel ein Erstgespräch mit den Eltern wahrnehmen soll. Die Expert*innen gelangen mehrheitlich zu der Auffassung, dass Herr Ünel die Eltern nicht zurückweisen kann. Er werde seinem professionellen Auftrag sonst nicht gerecht. Hilfen für Eli seien ungleich schwerer zu implementieren. Zu berücksichtigen ist dabei, dass eine Unterstützung der Kindeseltern eine weitgehende Allparteilichkeit mit ihnen wie auch Eli voraussetzt. Eine allparteiliche Haltung schließt die Sichtweisen und Bedürfnisse des Jungen von vorneherein als gleichberechtigt mit ein. Dysfunktional wäre eine allparteiliche Haltung dagegen, wenn der Schulsozialarbeiter nachhaltig schädliche, machtasymmetrische Familienverhältnisse unterstützte (Maschke, 2016). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt überwiegt der Eindruck, dass die Eltern ein Interesse daran haben, mit ihrem Sohn zu kommunizieren.

Das Elterngespräch ist als Teil einer Gefährdungseinschätzung nach § 8a Abs. 4 SGB VIII zu verstehen, da die Vermutung mediatisierter sexualisierter Gewalt im Raum steht. Die Einschätzung kann jedoch auch damit begründet werden, dass unklar ist, welchen Belastungen der Junge durch die Betroffenheit der Eltern im Familiensystem ausgesetzt ist. Für die Gefährdungseinschätzung ist eine insoweit erfahrene Fachkraft (InSoFa) beratend hinzuzuziehen. Das kann eine einrichtungsinterne Fachkraft sein oder eine Fachkraft aus einer spezialisierten Beratungsstelle. Die InSoFa kann auch bei der Vorbereitung des Elterngespräches beraten. Das Hinzuziehen ist aber nur unter Einwilligung der Eltern möglich.

Eli ist frühzeitig zu beteiligen. Es sei denn, seine Beteiligung würde seinen wirksamen Schutz infrage stellen (z. B. Anhaltspunkte für Flucht zu potenziellen Täter*innen). Anlass dazu geben die Äußerungen der Eltern nicht. Damit setzt ein Gespräch mit den Eltern die zeitnahe Information Elis über das Gespräch und ein eigenes Gesprächsangebot an Eli voraus. Bereits im Rahmen dieses Angebots sollte Eli der Anlass (Besorgnis der Eltern aufgrund der Kontakte zu Lollypop) transparent dargelegt und ihm erklärt werden, dass ein Gespräch mit ihm den Zweck erfüllt, seine Sicht berücksichtigen zu können und Unterstützung entlang von ihm definierter Belange anzubieten.

Falls Eli direkt am Erstgespräch mit den Eltern teilnehmen möchte oder darauf besteht, ist zu klären, ob ein*e weitere*r professionell Helfende*r an dem Gespräch teilnehmen kann, damit Herr Ünel im Zweifel dem Vertrauen Elis im Sinne einer Anwaltschaft für den Jungen gerecht werden und spontan eine Trennung der Gesprächspartner*innen vornehmen kann. Ein entsprechender Wechsel der Zuständigkeit würde Machtasymmetrien vorgreifen, die sich in der Gesprächssituation äußern (etwa gemeinschaftliches Einreden auf Eli). Es bedeutete zudem einen Wechsel der Haltung von der Allparteilichkeit hin zur Parteilichkeit mit Eli (Kavemann, 1997; Helfferich & Kavemann, 2004). Letztere Entscheidung kann nur fallabhängig getroffen werden.

2.2 Erziehungsberatung inklusive Stabilisierung der Eltern

Das Gespräch mit den Eltern erfüllt einen doppelten Zweck. Es ist als Krisenintervention zu verstehen, die zugleich erziehungsberaterische Anteile integriert. Der doppelte Zweck erklärt sich aus der Einsicht, dass die Eltern selbst als Betroffene betrachtet werden müssen. Nicht weniger hängt das Wohlbefinden ihres Sohnes in der krisenhaften Situation von ihnen ab. Der Zusammenhang verdeutlicht die Gegenseitigkeit von Intervention sowie (Sekundär- und Tertiär-)Prävention. Eltern, die von sexualisierter Gewalt gegen ihre Kinder erfahren oder diese vermuten, erleben eine Verunsicherung, die mit Schuldgefühlen und dem Eindruck einhergehen, die befürchtete oder tatsächliche Gewalt durch erzieherisches Fehlverhalten nicht verhindert zu haben (Bange, 2011).

„Also, ich habe mir absolut Vorwürfe gemacht, dass ich dieses Ende vom Chat, was ich von meiner Tochter gefordert hatte, nicht kontrolliert habe. Das hängt mir bis heute nach [...].“

Mutter einer Gewaltbetroffenen, Interview

Eine Stabilisierung betroffener Eltern bedarf daher auch einer Auseinandersetzung mit Erziehungsfragen. Letztere beinhaltet Potenziale für die Verarbeitung von Gewalt. Freilich werden die Schwerpunkte der Stabilisierungsarbeit individuell entlang der Bedürfnisse der Eltern priorisiert. Nach Bange (2011) ist dabei Folgendes zu berücksichtigen:

  1. 1.

    Die Eltern bekommen die Möglichkeit, ihre Ängste und Sorgen zu äußern. Sie werden lösungsorientiert angeleitet, um zu reflektieren, was sie sich für ihr Kind und sich selbst wünschen und wodurch diese Vorstellungen verstört werden. Dazu gehört darauf hinzuwirken, dass die Eltern die mediatisierte (Homo-)Sexualität ihres Sohnes verstehen und annehmen. Davon zu unterscheiden sind Belastungen, durch die die Eltern überflutet werden, weil sie mediatisierte sexualisierte Gewalt befürchten.

  2. 2.

    Es wird eine Auseinandersetzung mit Hinweisen auf mögliche Täter*innenstrategien angestoßen (s. Kap. 4). Diese zielt neben der Gefährdungseinschätzung auch auf ein Reframing von Schuldgefühlen ab, die mit Glaubenssätzen (z. B. „Wir haben die Gewalt begünstigt, weil unsere Pädagogik mangelhaft ist.“) zu tun haben. Die Beschäftigung dient der Anerkennung eigener Ohnmacht und erzieherischer Übertragungen, die sich in Form von Selbstzweifeln, Pseudo-Macht – zum Beispiel der Androhung, Lollypop zu ermorden oder Eli nie wieder unbeobachtet das Internet nutzen zu lassen – oder Überkontrolle konflikthaft auswirken. Eine Beschäftigung mit Täter*innenstrategien setzt aufseiten Professioneller Grundkompetenzen des Erkennens von und Arbeitens an Belastungsreaktionen voraus, weil die Beschäftigung mit dem systematischen Vertrauensmissbrauch gegen das eigene Kind für Eltern sehr schmerzhaft ist.

  3. 3.

    Eine Beschäftigung mit medienpädagogischen Bemühungen kann hieran anschließen. Dazu sei zwischen pädagogischen Absichten und konkreten erzieherischen Maßnahmen der Eltern unterschieden. Ein autoritativ-partizipatorischer Zugang – das heißt regelgebend, aber verhandlungsorientiert – wird in der Erlaubnis nächtlicher Ligaspiele erkennbar (Ecarius et al., 2017). Nutzungsregeln festzulegen oder ein Trackingprogramm auf dem Smartphone des Sohnes zu installieren, spiegeln das Bedürfnis nach Kontrolle und Schutz wider, gehen aber über die grundsätzliche Aushandlungsorientierung im Kontakt mit Eli hinaus. Das Bedürfnis nach Kontrolle spitzt sich in der Aufforderung zu, das Smartphone freizugeben. Restriktionen und eine vorwiegend autoritäre Erziehungshaltung werden aber als Risikofaktor betrachtet (Bartels, 2011). Hinzu kommt, dass Hinweise auf Elis Wunsch nach sexueller Beziehungsgestaltung in den medienpädagogischen Ausführungen der Eltern fehlen. Die Anerkennung sexueller Selbstbestimmung ist eine weitere Voraussetzung von Prävention (Lamour et al., 2019). Der elterliche Wunsch nach nachhaltigem Schutz kann nur schwer erreicht werden, wenn Elis sexuelle Selbstbestimmung tabuisiert wird. Dazu müssen die Eltern nicht entgegen ihren Gewohnheiten ausführliche Gespräche über sexuelle Praxen mit Eli führen. Eine Thematisierung der Leerstelle in den medienpädagogischen Bemühungen und eine Integration des Wissens um die sexuelle Entwicklung des Jungen sind lediglich Voraussetzungen, um a) sexualisierte Grenzverletzungen zu unterscheiden und b) ein (externes) Angebot zu initiieren, in dem Eli sexuelle Entwicklungsmöglichkeiten – wer bin ich, was will ich – erfährt.

2.3 Gefährdungseinschätzung unter Achtung der Selbstbestimmung von Adressat*innen

Die Erstberatung der Eltern beinhaltet eine Gefährdungseinschätzung. In den Focus Group Interviews kommen die Expert*innen zu dem Schluss, dass mediatisierte sexualisierte Gewalt gegen Eli durchaus in Erwägung gezogen werden muss. Folgende Hinweise in der E-Mail geben Anlass zur Abklärung:

  • Die Kindeseltern schreiben, dass die Profilbilder der Kontakte Elis allesamt junge Erwachsene zeigen. Elis genaues Alter kennen wir nicht. Inwieweit lassen sich aus den Verhältnissen ein reifebedingtes Machtungleichgewicht und ein Risiko für den Jungen ableiten?

  • Die Eltern schreiben, Eli werde pornografisch angemacht. Was verstehen die Eltern hierunter?

  • In der Mail heißt es weiter, die Kommunikation sei auf einen „anderen Kanal“ verlagert worden.Footnote 1 Erhärten weitere Hinweise die Vermutung von Groomingstrategien oder einer Desensibilisierung des Jungen?

  • Eli sei, als ihn seine Eltern konfrontierten, ausgerastet. Inwieweit kann es sich um eine Reaktion handeln, die Gewaltbetroffenheit markiert? „Aber ich denke auch an Übererregung, ein Symptom von Traumatisierung oder was auch immer. Also auf jeden Fall gab es – allein diese Ansprache hat dazu geführt, dass so eine emotionale, heftige Reaktion kam. Das finde ich schon sehr bedenklich.“ (Sozialpädagogin, spezialisierte Fachberatung, FGI)

  • Lassen sich in der Wahrnehmung der Eltern ergänzende Hinweise auf Belastungsreaktionen des Jungen identifizieren, z. B. Verhaltens- oder Persönlichkeitsänderungen – wie plötzliche Zurückgezogenheit – die nicht mit für Jugend kennzeichnenden Umbrüchen zu erklären sind?

Die Maxime der Gefährdungseinschätzung bleibt Elis (sexuelle) Selbstbestimmung. Diese gilt es nicht nur vor potenziellen äußeren Gefahren zu schützen, sondern ebenso im Prozess der Gefährdungseinschätzung und Familienarbeit. Ungeachtet des Anlasses hat Eli Grenzverletzungen durch die Eltern erlebt, indem diese intime Chats gelesen haben und ihn damit konfrontierten. Mit der Freigabe des Smartphones forderten die Eltern ihn auf, noch tiefere Einsichten in seine mediale Beziehungsgestaltung zuzulassen. Kontrolle durch ein Trackingprogramm und verniedlichende Zuschreibungen („unbedarft“, „Spiel“, „Spaß“) laden die Atmosphäre auf. Dabei müssen homosexuelle Präferenzen Elis und die Herausforderungen Jugendlicher mit dem Coming-out berücksichtigt werden, in deren Zusammenhang a) digitale Medien sexuelle Teilhabe besonders während des inneren Coming-out erleichtern, b) das äußere Coming-out aufgrund erlebter und befürchteter Ablehnung zugleich als belastend erlebt werden kann (Krell, 2013; Krell & Oldemeier, 2015).

Daraus folgt:

  1. 1.

    Während der Risikoeinschätzung mit den Eltern arbeitet Herr Ünel entlang von Belastungen und Wahrnehmungen der Eltern. Er beteiligt sich aber nicht an Intimitätsverletzungen, wie etwa einer Bewertung von Chatverläufen oder Foto- und Videoaufnahmen Elis.Footnote 2

  2. 2.

    Der Schulsozialarbeiter berücksichtigt, dass mediatisierte sexualisierte Übergriffe an die individuellen Bedürfnisse Gewaltbetroffener andocken können; im vorliegenden Fall sexuelle Präferenzen und diesen entgegenstehende Marginalisierungserfahrungen. Die berechtigten Bedürfnisse Elis sind der Maßstab der Interventionen. Die Elternarbeit zielt auf Toleranz für die sexuelle Selbstbestimmung des Jungen in einem riskanten mediatisierten Kontext. Das ist sehr anspruchsvoll, weil Herr Ünel einen komplexen Verstehensprozess begleitet.

„Auch belastend war – und das war eine neue Information für uns – dass unser Sohn eine homosexuelle Freundschaft pflegt. Aber dass dieser Freund so viel älter war als er und für uns komplett unbekannt. Weil er weit weg war und er ihn übers Internet kennengelernt hat.“

Vater eines Gewaltbetroffenen, Interview

  1. 3.

    Die Gefährdungseinschätzung bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Gewaltprävention und Sexualpädagogik. Damit ist nicht gemeint, dass Herr Ünel mit Eli in der gegenwärtigen Situation über Sex reden sollte. Vielmehr muss der Schulsozialarbeiter abwägen, in welcher Form Eli eine sexualpädagogische Unterstützung helfen würde, sie ihm zu vermitteln. Bereits die Einschätzung erfordert Kompetenzen der Gewaltprävention und Sexualpädagogik (Lamour et al., 2019).

Fallvignette Eli – Teil 2

Eli nimmt ein persönliches Gesprächsangebot Herrn Ünels in den Räumlichkeiten der Friedrich-Fröbel-Förderschule an. Herr Ünel Eli schildert Eli die Sorge der Eltern und fragt ihn, wie er das alles sehe. Eli wird rot und stottert aufgeregt:

„Meine Eltern übertreiben. Ich hab’ nix Schlimmes gemacht. Ich hab’ nur geschrieben, Fotos hin und her geschickt und mich einmal verabredet. Meine Eltern behandeln mich wie ein Baby. Lollypop nimmt mich ernst. Er ist total verständnisvoll. Hat Tipps zum Coming-out. Mit ihm kannst du über schwulen Sex reden. Dafür wollen die ihn anzeigen? Die verstehen gar nichts. Ich habe gesagt, dass ich nicht drüber reden will. Da lesen sie mir immer wieder vor, was er und ich über Sex geschrieben haben. ‚Das ist Belästigung‘, sagen die. Und, ‚was ist noch alles gewesen‘. Das war so peinlich. Ich habe so geheult. Privatsphäre? Vergiss es!“

Reflexionsfragen

  • Was löst die Situation in uns aus?

  • Wie stehen wir zu den neuen Informationen und Elis Äußerungen?

  • Wie kann die Situation fachlich eingeordnet werden?

3 Reflexionen zur fachlichen Einordnung des Fallbeispiels (Teil 2)

Der zweite Fallausschnitt bekräftigt den Eindruck, dass zwischen Eli und den Eltern ein Konflikt besteht. Der Junge beschreibt eine Entmündigung und erlebte Grenzverletzungen. Er bestätigt, mit Lollypop sexualisiert oder sexuell kommuniziert zu haben. Eli nimmt dies jedoch als einvernehmlich und bedürfnisorientiert wahr. Ferner wurden Fotos getauscht, deren Motiv unklar bleibt. Lollypop und Eli haben sich offenbar jenseits digitaler Medien verabredet. Beides erscheint in der Wahrnehmung des Jungen nicht als problematisch.

Weiterhin geht Eli auf eine Förderschule, deren Schwerpunkt zwar nicht benannt wird. Die Information gibt aber Hinweis auf mögliche Behinderungserfahrungen des Jungen. Inwieweit sich Behinderungserfahrungen auch in der erlebten sexuellen Entmündigung durch die Eltern spiegeln, kann nur vermutet werden. Specht (2017) bemerkt, dass die Tabuisierung behinderter Sexualität sich auch in berechtigten Bemühungen um den Schutz junger Menschen vor sexualisierter Gewalt ausdrücken kann, wenn ergriffene Maßnahmen von der Angst vor Viktimisierung geprägt sind, jedoch ohne positive Definitionen und Gestaltungsräume sexueller Selbstbestimmung auskommen. Das dreifach erhöhte Risiko junger Menschen mit Behinderung, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, könne deswegen als selbsterfüllende Prophezeiung einer weitrechenden Entmündigung verstanden werden, wie der nachfolgende Ausschnitt aus einer Falldokumentation zeigt.

„[Sebastian] entwickelt Interesse, schwule Männer kennenzulernen. Seine Eltern verbieten ihm, sich mit ‚solchen‘ Männern zu treffen. [...] Sebastian nimmt selbstbestimmt, jedoch gegenüber seinen Eltern heimlich, Kontakt mit schwulen Männern in digitalen Räumen auf und will diese über Dates kennenlernen. Positive Erfahrungen stehen neben frustrierenden Erfahrungen. [...] Sebastian [macht] erneut schlechte Erfahrungen durch Internet-Dating und [erlebt] erneut sexualisierte Gewalt (gezwungen zum Analverkehr). [...] Die Besonderheiten im digitalen Kontext bestehen zum einen darin, dass die Personen, die sexualisierte Gewalt ausgeübt haben, in digitalen Räumen (Schwule/bisexuelle/Trans Community – Planetromeo) kennengelernt [wurden]. Zugleich sind diese Räume die damaligen einzigen Kontaktmöglichkeiten des Adressaten mit schwulen Lebenswelten. Eine weitere Besonderheit ist das ausgesetzte ‚Surf-Verbot‘ seitens der Eltern.“

Falldokumentation 5.2

Sowohl nationale wie internationale Expert*innen drängen auf sexuelles Empowerment (Sandfort, 2017; Wissink et al., 2015). Dabei ist im Falle Elis das Zusammenwirken sich überschneidender Benachteiligungserfahrungen zu beachten, das sowohl auf Marginalisierung von Nichtheterosexualität als auch von Behinderung zurückzuführen ist. Für queere und junge Menschen mit Behinderung stellen digitale Medien einen wichtigen Erfahrungsraum dar, als die Auswahl von Inhalten, einer Community oder die Kontrolle medialer Selbstdarstellung sexuelle Teilhabe ermöglichen und weniger vorurteilsbehaftet erlebt werden (Hall, 2018; Krell & Oldemeier, 2015; Owens, 2017). In den Focus Group Interviews wird zudem diskutiert, ob im Fall von Eli die Installation der Dating-App auf dem Familientablet als eine Form von Stigma-Aktivismus – also die indirekte Konfrontation der Eltern mit der eigenen Sexualität – oder im Gegenteil als Ausweichen auf ein Endgerät zu verstehen ist, das weniger kontrolliert wird. Beides wären Formen der Selbstermächtigung mittels digitaler Medien.

Den Wahrnehmungen Elis stehen weiterhin Ängste der Eltern vor sexualisierter Gewalt entgegen, die nicht ausgeräumt werden können. Es ist nicht auszuschließen, dass Eli eine ausbeuterische Absicht Lollypops nicht (an-)erkennt. Dahingehend wird in den Focus Groups auch diskutiert, inwieweit Eli vor dem Hintergrund einer möglichen Lernschwierigkeit zur informierten Einwilligung in sexuelle Handlungen mit Lollypop befähigt ist.

„Man kann nur Konsens sagen und nicht ausgebeutet werden, wenn man informiert ist. Und diese Information sollten wir den Jugendlichen zur Verfügung stellen. [...] Wir vertrauen dir, dass du weißt, was für dich gut ist. Wenn sich irgendwas komisch anfühlt oder wenn was schiefläuft, sind wir für dich da. Ansonsten kannst du darüber bestimmen, wie viel wir darüber wissen, ne. [...] Aber das würde ich nicht machen, wenn Eli 11 ist oder wenn Eli 18 ist, aber aufgrund seiner geistigen Beeinträchtigungen auf der Ebene eines Elf-, Zwölfjährigen wäre.“

Sozialpädagoge, Täter*innentherapie, FGI

Eine Befähigung Elis zur informierten Einwilligung (Finkelhor, 1979) kann anhand der wenigen Fallfakten nicht eindeutig bestimmt werden. Die informierte Einwilligung setzt voraus, dass Eli prinzipiell versteht, was während und als Folge der Teilnahme an sexualisierten Handlungen mit ihm passiert. Er müsste außerdem die Freiheit haben, die Handlungen abzulehnen. Letzteres träfe schon dann nicht zu, wenn er zum Beispiel Nachteile durch eine Ablehnung sexualisierter Handlungen befürchtete. Diese könnten darin bestehen, dass Lollypop nach einmal aufgebautem Vertrauen mit einem Kontaktabbruch droht, falls Eli seinen Erwartungen nicht Folge leistet (s. Kap. 4).

Elis Fähigkeit, äußern zu können, welchen Nutzen er aus den Kontakten mit Lollypop zieht, sich zu den Absichten seiner Eltern zu positionieren, Bedürfnisse sowie Verletzungen zu benennen („Privatsphäre? Vergiss es!“), lassen ihn zumindest prinzipiell selbstbestimmt erscheinen. Es ist also denkbar, dass er einschätzen kann, mit wem er Sex erleben möchte. Er scheint eine differenzierte Meinung zur gegenwärtigen Situation zu haben, wenngleich diese täter*innenstrategisch beeinflusst sein mag. Die von den Eltern avisierte Strafanzeige greift als Mittel nachhaltigen Schutzes trotzdem zu kurz, da sie im Gegensatz zu Elis momentaner Wahrnehmung steht. Sie bedeutete eine weitere Intervention ohne Elis Partizipation und somit zunächst einen weiteren Kontrollverlust Elis.

4 Handlungsempfehlungen (Teil 2)

4.1 Vermittlung und Mediation

Für den Erfolg von Hilfen erachten wir die Bearbeitung des Konflikts zwischen Eli und seinen Eltern als zentral. Das heißt nicht, dass beide Parteien sofort alle Aspekte des Konflikts gleichzeitig verhandeln müssen oder können. Dem könnten Scham, eine akute Gefährdungssituation und andere Belastungen, die mit Kontrollverlusten einhergehen, entgegenstehen. Eine Entspannung der Situation durch kurz- und mittelfristige Vermittlung erscheint jedoch wichtig. Der Konflikt ist in Anlehnung an Glasl (2020) soweit fortgeschritten, dass die Konfliktparteien bereits Taten statt Worte sprechen lassen. Die Kindeseltern legen ihre Erlaubnisse und Mediennutzungsregeln so aus, dass Eli sein Smartphone freigeben muss. Eli erlebt das als Verletzung seiner Privatsphäre. Umgekehrt werten die Kindeseltern die heimliche Nutzung der Dating-App als Regelüberschreitung. Glasl konstatiert, dass auf dieser Konfliktstufe trotzdem noch eine Win-win-Lösung für die Konfliktparteien möglich sei. Mediation mit Jugendlichen eignet sich als praxiserprobter Zugang. Sie zielt darauf, dass die Parteien ihren Konflikt selbstbestimmt lösen (Freitag & Richter, 2015).

„Bei Gesprächen, bei denen ich nur mit meinen Eltern geredet habe, war es ein bisschen schwierig, meine eigene Meinung so darzustellen, wie ich sie darstellen wollte und dabei irgendwie nicht ernst genommen wurde [...]. Die vierte Person, also Mama, Papa, Sie und ich, das war sinnvoll, dass man mit dieser Person geredet hat. Weil, das hat auch meinen Eltern geholfen, das zu verstehen, und auch mir, meine Eltern zu verstehen.“

Gewaltbetroffener, Interview

Sofern der Schulsozialarbeiter keinen Anlass sieht, von einer starken Machtasymmetrie in der Familie auszugehen, bemüht er sich um eine allparteiliche Unterstützung Elis und der Eltern. Er fördert die Beteiligten, ihre Wahrnehmungen des Konflikts, Gefühle und Wünsche offenzulegen, Lösungsvorstellungen zu entwickeln und zu bewerten. Die Arbeit mit jungen Menschen setzt eine altersgerechte Sprache voraus und kann von den Mediator*innen eine engere Gesprächsführung erfordern sowie mehr Angebote zu machen, Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Dabei gelten Regelüberschreitungen und die Neuverhandlung von Regeln als häufiger Konfliktauslöser in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (Marx, 2016). Zu unterscheiden ist zwischen verhandelbaren Konfliktaspekten und Aspekten akuter Gewaltabhängigkeit, die einer selbstbestimmten Verhandlungsposition des Jungen entgegenstehen (etwa Groomingstrategien).

Verhandelbar sind demgegenüber:

  • Grenzen dessen, was Eli mit seinen Eltern besprechen möchte und was er als privat empfindet,

  • ein vertrauensvoller Rahmen für digitale Mediennutzung und mediatisierte Beziehungsgestaltung (wann, mit wem, in welcher Form),

  • Elis Anspruch auf sexuelle Selbstbestimmung und eine Anerkennung derselben (grundsätzlich, nicht konkrete sexuelle Praxen),

  • Möglichkeitsräume der Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität (Vertrauenspersonen, emanzipatorische Sexualpädagogik, -beratung, queere Jugendgruppe),

  • die Besorgnis der Eltern, ihr Anlass, eine Unterscheidung von Gewalt gegenüber einvernehmlicher Beziehungsgestaltung, Täter*innenstrategien, gesetzliche Schutzgrenzen.

Die Liste ist unabgeschlossen und muss konkret mit den Teilnehmenden verhandelt werden. Elis Schutz vor erzieherischen Grenzverletzungen ist dabei gleichermaßen wie die berechtigte Erziehungsverantwortung der Eltern zu berücksichtigen. Eine Mediation ist vereinbar mit dem Konzept autoritativ-beratender Erziehung, nach welchem Eltern mit Kindern im Übergang ins Jugendalter vornehmlich in Verhandlungsprozesse eintreten (Ecarius et al., 2017). Dabei erachten wir die gemeinschaftliche Neuverhandlung von Regeln und Bemühungen um deren Einhaltung als Prävention gegen eine täter*innenstrategische Entgrenzung mediatisierter sexualisierter Gewalt. Eine Voraussetzung hierfür ist allerdings die Arbeit an verlässlichen Kontakten zwischen Eli und nahen Bezugspersonen wie beispielsweise Herrn Ünel oder auch den Eltern. Regeln sind an Elis Lebenssituation anzupassen. Gleichzeitig sollte eine Auseinandersetzung mit der Sinnhaftigkeit von Normen stattfinden. Die dazu notwendige Transparenz stärkt auch den Schutz Elis vor einer Desensibilisierung gegenüber sexualisierten Normverschiebungen.

4.2 Sexuelles Empowerment

In Elis Äußerungen („Hat Tipps zum Coming-out. Mit ihm [Lollypop] kannst du über schwulen Sex reden“) drückt sich der Wunsch nach einem Austausch zu Sexualitäten aus. Dabei ist die Situation queerer Jugendlicher, in Elis Fall homosexueller Jungen, zu berücksichtigen. Die jugendliche Akzeptanz von Queerness hat sich in den letzten Jahrzehnten positiv weiterentwickelt. Trotzdem wirken Heteronormen weiterhin. Darauf weist allein die Notwendigkeit des Coming-out selbst hin. Auch Queerfeindlichkeit ist keine völlige Ausnahme (Gaup, 2018). Digitale Medien sind daher ein wichtiges Instrument jugendlichen Empowerments. Umgekehrt garantiert die Mediatisierung von Sexualitäten kein Empowerment per se (Berliner, 2018). Sie folgt weder einem pädagogischen noch einem demokratischen Auftrag. Forscher*innen beobachten beispielsweise eine kommerziell begünstigte Pornografisierung innerhalb der digitalen Cis-Gay-Community, deren Entsprechung durch Jugendliche ein Vulnerabilitätsfaktor für Täter*innenstrategien sein kann (Tziallas, 2015). Laut einer nicht repräsentativen englischen Studie berichten 33 % der 14–17-jährigen homosexuellen Befragten – und damit doppelt so viele wie Jugendliche, die sich als heterosexuell identifizieren – Nacktfotos an Personen geschickt zu haben, die sie nicht gut kennen (Needham, 2020).

Die Aufgabe dieses Empowerments können Elis Eltern nur bis zu einem gewissen Grad übernehmen, da (mediatisierte) Sexualität in der Familie tabuisiert gewesen zu sein scheint. Auch Herrn Ünels Möglichkeiten sind begrenzt, da sein Auftrag als Schulsozialarbeiter und die damit verbundene Nähe-Distanz-Regulation weiter gefasst ist, als eine intensive sexualpädagogische Begleitung eines Jugendlichen beim Coming-out vorsieht. Sinnvoll ist demgegenüber, grenzachtende Gesprächsbereitschaft zu signalisieren und Eli darüber hinaus bei der Suche nach einem geeigneten Resonanzraum für sexuelles Empowerment zu unterstützen. Das kann das sexualpädagogische Angebot einer Fachstelle (etwa pro familia oder einer Beratungsstelle für queere Jugendliche) oder aber auch eine selbstorganisierte queere Jugendgruppe sein. Zentral für die Auseinandersetzung mit Eli sollte die Frage sein, was Eli will, was er als lust- und vertrauensvolle Sexual- und Beziehungsgestaltung empfindet, was seinen Vorstellungen von Sexualität jedoch auch widerspricht. Diese Unterscheidung ist auch ein Schutzfaktor gegen mögliche Grenzverletzungen durch Lollypop. Die Interviews zeigen, dass Betroffene zuvor verschleierte Gewaltabsichten zumeist erst dann zu erkennen beginnen, wenn es zum Kontaktabbruch und offensichtlichen Vertrauensbruch durch gewaltausübende Personen kommt. Teil der Auseinandersetzung mit eigenen Grenzen sollte die Vermittlung mit ausbeuterischen Verhaltensweisen und Täter*innenstrategien sein.

4.3 Reicht das in puncto Gewaltschutz?

Der Schwerpunkt der Handlungsempfehlungen liegt bislang auf pädagogisch unterstützenden Maßnahmen für Eli und die Kindeseltern. Reicht das mit Blick auf den Gewaltschutz Elis? Schließlich ist mediatisierte sexualisierte Gewalt durch Lollypop bis zuletzt nicht ausgeschlossen. Für die Einschätzung fehlen Eindrücke, die sich aus Gesprächen mit Eli und den Kindeseltern verdichten können. Ergänzende Perspektiven ergeben sich, wenn die Eltern Eli etwa signalisieren, dass er Lollypop nicht heimlich treffen muss. Freilich ist eine Ablehnung Elis oder Lollypops kein Beleg für Gewalt. Kommt ein Kontakt jedoch zustande, könnte sich herausstellen, dass es sich um einen anderen Jugendlichen handelt, der eine einvernehmliche Beziehung zu Eli pflegt.

Zwecks Auseinandersetzung mit Kriterien der Gewalteinschätzung empfehlen wir Kap. 4. Im Zusammenhang der Fallvignette um Eli heben wir lediglich hervor, dass Fotos ausgetauscht wurden. Zwar bleibt unklar, um welche Art Fotos es sich handelt. Ist ein Kontext jedoch gewalttätig und sind ausgetauschte Fotos sexualisiert bzw. sexuell explizit, so muss davon ausgegangen werden, dass sie sich zu einem zusätzlichen Belastungsfaktor für Eli entwickeln können, z. B. aufgrund der Unklarheit des Verbleibs oder aus Angst vor der Verbreitung der Aufnahmen. Eli sollte daher im Rahmen einer Beratung vorsichtig auf die Fotos angesprochen und vertrauensvoll gefragt werden, um welche Art Fotos es sich handelt. Ob Eli bestätigt, dass es sich um sexualisierte Aufnahmen handelt, hängt nicht ausschließlich davon ab, dass die Fotos sexualisiert sind, sondern genauso, welche Konsequenzen er für seine Antwort erwartet. Die Existenz von sexualisierten Aufnahmen könnte er auch deswegen leugnen, weil er Sanktionen befürchtet. Das Ansprechen der Fotos erfüllt insofern vor allem den Zweck, Eli ein Problembewusstsein zu vermitteln. Dem Jungen kann ungeachtet seiner Antwort erklärt werden, dass die Frage mit seinem Recht am eigenen Bild begründet ist, welches nicht minder, sondern besonders gilt, wenn er Lollypop sexualisierte Fotos zugesendet hat. Das Recht am eigenen Bild gehört zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht und ist in besonderer Weise bei Fotos aus der absoluten Intimsphäre geschützt. Auch wenn Eli selbst die Fotos versendet hat, kann deren Löschung und gegebenenfalls die Löschung vorhandener digitaler Vervielfältigungsstücke verlangt werden, wenn Eli beim Verschicken davon ausging, dass sie nur innerhalb der Beziehung verwendet werden sollten und die Beziehung nun zu Ende ist oder er die Verwendung der Fotos durch Lollypop nicht mehr will. Hier kommt noch hinzu, dass die Eltern aufgrund der Minderjährigkeit Elis eventuell der Weitergabe der Aufnahmen hätten zustimmen müssen, wenn Eli die Tragweite dieser Entscheidung nicht bewusst war. Wenn dem so ist, wäre schon die Weitergabe durch Eli rechtlich unwirksam und begründete allein deshalb einen Löschungsanspruch. Wichtig ist auch, Eli zu vermitteln, dass er als Kind oder Jugendlicher unter einem Schutz steht, der es jederzeit erlaubt, andere Personen zur Löschung und Herausgabe von sexualisierten Fotos aufzufordern. Der Besitz und die Verbreitung sexuell expliziter Aufnahmen, auf denen Kinder zu sehen sind, oder die Verbreitung sexuell expliziter Aufnahmen, auf denen Jugendliche abgebildet sind, ist darüber hinaus strafbar und kann deshalb zur Anzeige gebracht werden, auch wenn Erwachsene durch die Zusendung durch Kinder und Jugendliche selbst in diesen Besitz gelangt sind. Es ist auch möglich, Eli durch ein Kontaktverbot nach dem Gewaltschutzgesetz zu schützen, falls sich Lollypop übergriffig verhält. Falls jedoch Eli gegen ein eventuell erwirktes Kontaktverbot verstößt, macht dies eine Sanktion gegen Lollypop mangels Schwere der Schuld nach § 153 StPO schwieriger.

4.4 Implikationen einer Strafanzeige

Die Zweckhaftigkeit einer Strafanzeige gegen Lollypop hängt überdies von vielen Faktoren ab. Sie setzt den begründeten Verdacht einer Strafbarkeit seines Handelns voraus und sollte im Einvernehmen mit Eli geschehen. Dies gilt umso mehr, je älter Eli ist. Freilich kann Elis Einsicht nicht das einzige Kriterium sein, beispielsweise wenn er ein Kind wäre und massive Gewalthandlungen gegen ihn bekannt würden. Trotzdem ist zu berücksichtigen, dass sich ein Strafverfahren belastend auf den Jungen auswirken kann. Es sollte daher thematisiert werden, wem eine Strafanzeige nützt (Elis Schutz, dem Schutz weiterer Kinder und Jugendlicher oder unserer Vorstellung einer Wiederherstellung von Gerechtigkeit durch Strafe oder Rache).

Die Reaktionen Elis auf Herrn Ünels Ansprache lassen nicht vermuten, dass Eli an einer Strafanzeige gelegen ist. Zur Fortsetzung des Szenarios gehen wir davon aus, dass Eli ein Jugendlicher von 15 Jahren, Lollypop ein 21-Jähriger ist, im Chat Nacktfotos ausgetauscht wurden und es bei Verabredungen zu sexuellen Handlungen kam. Wäre Eli ein Kind, wäre jede an oder vor ihm vorgenommene sexuelle Handlung strafbar. So ist es wegen sexuellen Missbrauchs Jugendlicher gemäß § 182 StGB mit einem Strafantrag der Erziehungsberechtigen möglich, ein Strafverfahren gegen Lollypop einzuleiten. Der Antrag muss innerhalb von drei Monaten nach Aufdeckung erfolgen oder aber die Staatsanwaltschaft muss ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung begründen. Soweit Eli jedoch bei der Position bleibt, dass die Handlungen einvernehmlich waren und auch sonst kein Zwang oder Abhängigkeitsverhältnis besteht (z. B. Lollypop wäre Elis Lehrer) und sofern Eli kein Geld angeboten wurde, wird ein „sexueller Missbrauch von Jugendlichen“ nur dann bestraft, wenn Eli nicht als fähig zur sexuellen Selbstbestimmung eingeschätzt wird und Lollypop dies erkannt und ausgenutzt hat (§ 182 Abs. 3 StGB). Wenn die Staatsanwaltschaft nicht selbst zu einer validen Einschätzung der sexuellen Selbstbestimmungsfähigkeit Elis kommen kann, könnte hierzu ein*e Gutachter*in, beauftragt werden. Dabei könnte, muss aber nicht der Diagnose einer geistigen Behinderung eine Bedeutung beigemessen werden.

Darüber hinaus kann geprüft werden, ob es sich bei den ausgetauschten Fotos um jugendpornografische Abbildungen handelt, deren Besitz nach § 184c strafbar ist oder die von Lollypop zugesandten Fotos pornografisch waren und daher Jugendlichen nicht zugänglich gemacht werden durften (§ 184 StGB). Dazu müssten jedoch die unter § 184 Abs. 1(1) bzw. § 184c StGB genannten Tatbestandsmerkmale zutreffen. Nacktfotos sind nur als pornografisch zu betrachten, wenn eine sexuell aufreizende Körperhaltung eingenommen wird oder die Genitalien in sexuell aufreizender Weise dargestellt sind. Ist dies der Fall, kann aber bei den Fotos von Eli nicht nachgewiesen werden, dass die Aufnahmen ohne Elis Einwilligung, zur Weitergabe oder kommerziell hergestellt oder verbreitet wurden. Wenn sie ausschließlich dem eigenen „Gebrauch“ Lollypops dienen, entfällt die Strafbarkeit. Im Zusammenhang mit einer Strafanzeige gegen den Willen von Jugendlichen sollte die Ambivalenz Betroffener berücksichtigt werden, wie das folgende Interviewzitat von einem gewaltbetroffenen Jungen verdeutlicht.

„Dass man so zwischen meinem Freund und meinen Eltern, dass man dazwischen halt so den besten Weg so finden will und dass ich von beiden Seiten so meistens mehr von der Seite von F. [Anm.: dem Freund] eine Abfuhr erlebt habe [...]. Entscheiden kann man sich da ja auch nicht für eine Seite und will ja dann das Beste für alle und den Lösungsweg finden, der auch richtig ist, und dann war es schon sehr schwer, so das alles aufrechtzuerhalten.“

Gewaltbetroffener, Interview

Unseres Erachtens untermauern vergleichbare Ambivalenzen eher den Ansatz eines Empowerments Elis. Idealerweise wird er hierdurch darin bestärkt, zwischen Konsensualität und Nichtkonsensualität zu differenzieren und über Einvernehmlichkeit und Formen seines Schutzes mitzuentscheiden. Nach Ansicht von Expert*innen ist ein sexuelles Empowerment junger Menschen nicht von möglichen Lernschwierigkeiten, also der Diagnose einer geistigen Behinderung abhängig zu machen. Sandfort (2017) bringt die Annahmen folgendermaßen auf den Punkt: „Bei einer wohlwollenden agogischen Einstellung ist für einen Prozess des Empowerments jedoch nicht einmal die geringste Reflexionsfähigkeit des behinderten Menschen notwendig. Es reicht, dass er lebt, denn dann verhält er sich […]. Er kann nicht nichts tun. Jedes Verhalten hat ein Vorher und Nachher und damit eine Geschichte. Und jede Geschichte hat einen Sinn: Letztlich das Bemühen, sich selbst so weit wie möglich in Wohlergeben zu erhalten. Jeder Mensch, der wahrgenommen wird, hat schon durch seine bloße Existenz eine Beziehung miterschaffen.“ (ebd., S. 14). Im Sinne der Partizipation unserer Adressat*innen möchten wir diese radikale Perspektive zumindest zu bedenken geben.