1 Einleitung

Der vorliegende Beitrag wendet sich dem ambivalenten Zusammenspiel von Privatheit und Digitalität zu, indem er deren Relevanz für Diskurse und Praktiken der Selbstbestimmung ausleuchtet und auf die soziotechnischen Transformationen dieses Zusammenspiels bezieht. Er bedient sich hierfür soziologischer Mittel der theoretischen Perspektivierung ebenso wie der fallbezogenen empirischen Analyse. Das bedeutet zunächst, dass Privatheit und Digitalität nicht als außersoziale Gegenstandsbereiche verstanden werden – etwa als von der Gesellschaft losgelöste Sphäre des Privatlebens bzw. als rein technisch dominierte Interaktivität von Bits and Bytes –, sondern als spezifische Sozialformen, Assemblagen oder Kommunikationsverhältnisse, die gesellschaftlich mitkonstituiert oder konfiguriert, d. h. etwa von historisch sich wandelnden kulturellen Bedeutungsschichten, sozialen, ökonomischen und politischen Machtverhältnissen sowie normativen Regelkomplexen und Konventionen der Gesellschaft durchzogen sind.

In diesem Sinne sollen hier in einem ersten Schritt die umfangreichen Wissensbestände der soziologischen Gesellschaftstheorie konsultiert werden, um nach sozialen Aspekten von Privatheit und Digitalität zu fahnden und diese in die Analyse von Selbstbestimmungspraktiken und -diskursen einzubeziehen. Hierzu wird zunächst im zweiten Abschnitt eine kursorische Darstellung gesellschaftstheoretischer Perspektiven auf Privatheit vorgenommen, die nicht auf Vollständigkeit zielt, sondern darauf, die sozialen Aspekte von Privatheit in ihrer Breite und Relevanz vor Augen zu führen (2.1). Im zweiten Schritt ist der mögliche Bias einer solchen Perspektivierung und Konzeptualisierung von Privatheit zu berücksichtigen: Die fachinternen Diskussionen und Revisionen, die das soziologische Denken durch die Hinwendung zu Phänomenen der Digitalität herausfordern und mit neuen An- und Einsichten konfrontieren, lassen auch die Konzeptualisierung von Privatheit nicht unberührt; vielmehr gilt es zu reflektieren, inwiefern das soziologische Bild von Privatheit in dem Maße korrigiert werden muss, in dem soziotechnische Formen und Muster der Digitalität das Soziale insgesamt in neuem Licht erscheinen lassen und klassische Denkwerkzeuge der Soziologie durch Aspekte des Technischen und Materiellen ergänzen. Der Wandel der technisch-medialen Kommunikationssubstrate von ‚oraler‘ bis ‚digitaler‘ Vergesellschaftungsweise lässt auch die sozial strukturierte Privatheit nicht unbeeinflusst. Doch ist dieser technisch-materielle Aspekt des Privaten in sozialwissenschaftlichen Konzeptualisierungen von Privatheit hinreichend berücksichtigt worden? Die Behandlung dieser Frage rundet die theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Privatheit und Digitalität ab und mündet in dem Vorschlag, beide mit Theoriemitteln zu konzeptualisieren und aufeinander zu beziehen, die sich Impulsen der science and technology studies (STS) verdanken (2.2).

Mit einer solchen theoretischen Voreinstellung der Analyse des Verhältnisses von Privatheit und Digitalität wird eine fundiertere Analyse von Diskursen und Praktiken der Selbstbestimmung unter den veränderten soziodigitalen Verhältnissen der Gegenwartsgesellschaft möglich. Diese soll exemplarisch an vier zentralen Problemfeldern von Privatheit und Digitalität vorgenommen werden: Vor dem Hintergrund soziologischer Zeitdiagnosen zu den Transformationsdynamiken digitaler Vergesellschaftung und deren Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Status und die gesellschaftlichen Strukturbedingungen von Privatheit wird im dritten Abschnitt zunächst herausgearbeitet, wie zeitgenössische Vergesellschaftungsformen Sichtbarkeit prämieren und dadurch ein Verhalten evozieren, das die Möglichkeiten datenverarbeitender Erfassung stark erweitert (3.1). Der nachfolgende Abschnitt diskutiert sodann, welche Konsequenzen für Privatheit sich aus den Potentialen der Verhaltensformung ergeben, die mit der Gestaltung soziodigitaler InfrastrukturenFootnote 1 seitens der Architektinnen komplexer digitaler Dienste, sozialer Netzwerke und Plattformen einhergehen (3.2). Anschließend wird erörtert, inwiefern die gegenwärtigen Erlösmodelle der Datenökonomie von datenintensiven Subjektivierungspraktiken abhängig sind. Die Vermutung ist hier, dass durch ökonomischen Verwertungsdruck die Verknüpfungen zwischen datenbasierter Verhaltensbeeinflussung und digitaler Selbstoffenbarung immer feinmaschiger werden und sich selbstverstärkende Feedbackschleifen etablieren (3.3). Der vierte Abschnitt argumentiert dann, dass diese Transformationsdynamiken die Entscheidungsfreiheiten von Nutzenden unterminieren und damit hergebrachte Selbstbestimmungskonzepte massiv unter Druck setzen. An dieser degenerativen Transformation der demokratischen Grundidee der Selbstbestimmung soll schließlich die ambivalente Entwicklung von Privatheit und Digitalität zusammengefasst werden (3.4).

Im Fazit des Beitrags werden Konsequenzen für eine soziotechnische Gestaltung von Privatheit, die an demokratischen Grundideen der Selbstbestimmung explizit und umfassend orientiert bleiben will, aufgezeigt (4). Die zentrale Frage ist hierbei, ob und gegebenenfalls wie sich eine digitale Form der Privatheit (er)finden lässt, die eine normativ anspruchsvolle soziotechnische Übersetzung und Erneuerung der demokratischen Selbstbestimmungsidee ermöglicht. Dies betrifft etwa die Frage, wie sich am Back-End digitaler Dienste Bedingungen verankern lassen, die trotz datenintensiver Sozialpraktiken Formen der Privatheit garantieren können. Hier lässt sich teilweise auf ältere soziologische Theorien der Privatheit zurückgreifen, die das Wechselspiel von Privatheit, Vertrauen und Zivilität als Gelingensbedingungen stabiler Sozialbeziehungen bereits an früheren Epochen thematisiert oder kreative Praktiken der Aneignung von technischen oder staatlichen Infrastrukturen fokussiert haben, welche deren Kontrollpotentiale zu unterlaufen vermögen. Im Ergebnis zeigt sich ein erheblicher Bedarf an einer Politik der Gestaltung und Regulierung von soziodigitalen Infrastrukturen, die solche Freiräume nicht nur weiterhin erhält, sondern zudem eine andere Datenökonomie ermöglicht und fördert, die sich der demokratischen Kontrolle, Mitbestimmung und vor allem sorgfältiger Kritik konsequent öffnet, anstatt die erkämpften Spielräume der Selbstbestimmung durch neue Finten latenter Verhaltensformung zu unterlaufen.

2 Zur soziologischen Perspektivierung von Privatheit und Digitalität

2.1 Privatheit in der Sozial- und Gesellschaftstheorie

Dass Privatheit keine Privatangelegenheit, sondern durch und durch sozial und gesellschaftsgeschichtlich figuriert ist, ist eine Grundeinsicht soziologischer Perspektivierungen. So sind etwa die Bedeutungszunahme von Individualität als Bezugsgröße für Lebenssinn und -orientierung, die Rätsel und Geheimnisse subjektiver Erlebnis- und Innenwelten, die Abgrenzung von Territorien für verletzliche Körper und ihre intimen Verrichtungen, das Verleihen von liberalen Abwehrrechten gegenüber dem Staat oder das Mischungsverhältnis von Prominenz und Zurückgezogenheit vieler Personen von sozialen Beziehungsgefügen, kulturellem Wandel, geografischer Lage und politisch-rechtlichen Kämpfen abhängig und variieren mit diesen stark. Privatheit bleibt selbst dort noch eine gesellschaftliche Institution, wo sie sich inhaltlich ganz auf das singuläre Individuum bezieht und dessen Unabhängigkeit zu sichern verspricht. Ein solcher radikaler Bezug auf das Individuum ist dabei jedoch weder in normativer Hinsicht noch in geschichtlicher oder kultureller Perspektive notwendig oder plausibel – auch wenn er sowohl in öffentlich-medialen als auch vielen wissenschaftlichen Konzeptualisierungen oft spontan zugrunde gelegt wird (Bennett, 2011, S. 486). Nicht nur finden sich in der Forschungslandschaft wichtige Privatheitskonzepte, die auf die Privatheit von Kollektiven abstellen, etwa Blousteins (Bloustein, 2003) Konzept der „group privacy“; vielmehr erweist sich eine allzu enge definitorische Verknüpfung von Privatheit mit dem Individuum gerade vor dem Hintergrund der seit einigen Jahren beobachtbaren soziotechnischen Vernetzungsprozesse als immer weniger plausibel (Roessler, 2010; Roessler & Mokrosinska, 2013). Ein Verständnis von Privatheit, das Individuen in einem (und sei es auch nur teilweise) „gesellschaftsfreien Raum“ verortet, evoziert folglich grundfalsche Assoziationen (Barth, 2016, S. 484, Nassehi, 2014, S. 33).

Privatheit, bürgerliche Individualität oder subjektive Autonomie sind demnach soziale Konstruktionen – nicht im Sinne bloßer Erfindungen, denen eine soziale Wirklichkeit gegenübersteht, sondern im Sinne realitätsgestaltender sozialer Konzepte und Materialisierungen. Um Aspekte dieser sozialen Konstruktion freizulegen – insbesondere mit Blick auf die durch digitale Technologien herausgeforderte informationelle Privatheit –, werden im Folgenden kursorisch einige wichtige Perspektiven der Sozial- und Gesellschaftstheorie auf Privatheit vorgestellt. Ein Seitenblick gilt dabei der Frage, inwiefern diese Theorien die materiellen und infrastrukturellen Aspekte der Hervorbringung und Institutionalisierung von Privatheit berücksichtigen oder aber theoretische Horizonterweiterungen erforderlich sind, um das soziotechnische Zusammenspiel von Privatheit und Digitalität angemessen untersuchen zu können.

Ein erstes Beispiel für die Verankerung des Privaten in einer gesellschaftlichen Ordnungsstruktur liefert bereits der Blick auf die griechische Antike. So führt Hannah Arendt (2010) die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem auf den Unterschied zwischen oikos und polis zurück: Ersteres bezeichnet den unveräußerlichen Stammsitz des patriarchal beherrschten Familienklans einschließlich der Sklaven und damit eine gleichzeitig räumlich, eigentumsmäßig und familiär zu verstehende Privatsphäre, die als Reich des Notwendigen sowohl der wirtschaftlichen als auch biologischen Reproduktion dient. Wirtschaftlicher Wohlstand wird gleichwohl nicht um seiner selbst willen angestrebt, sondern weil die Befreiung von der Notwendigkeit als Voraussetzung für Freiheit schlechthin gilt, die die Möglichkeit voraussetzt, in der polis, der politischen Öffentlichkeit des Stadtstaats, zu agieren. Während Arendt somit die öffentliche Sphäre als maßgeblichen Handlungsbereich der griechischen Stadtkultur der Antike in Anschlag bringt, charakterisiert sie die beiden Sphären doch als sich wechselseitig bedingend (Arendt, 2010, S. 77). Ein solches, auf dichotome Sphärenunterscheidung abstellendes Verständnis von öffentlich und privat hat bereits in der römischen Antike eine weitergehende, rechtliche Verankerung erfahren und sich dann durch die europäische Kulturgeschichte hindurch verstetigt, auch wenn der „römisch-rechtliche Gegensatz von publicus und privatus“ im europäischen Mittelalter zwischenzeitlich „obschon gebräuchlich, ohne Verbindlichkeit“ ist. (Habermas, 1990, S. 58, vgl. auch Weintraub, 1997, S. 1) Wichtig ist hierbei, dass die mit dieser Unterscheidung verbundenen Freiheiten zur Selbstbestimmung, auch wenn sie historisch von der öffentlichen in die private Sphäre wandern und dort zunehmend mit der Individualität der Person in Abgrenzung von Staat und Gemeinschaft verknüpft werden, konzeptionell immer eng mit einer sozialen, infrastrukturellen und materiellen Unterlage verknüpft bleiben. Diese beinhaltet soziale und ökonomische Interdependenzen (etwa der Entlastung durch Sklaven oder später dann privates Dienstpersonal) ebenso wie Rechte und deren mediale und infrastrukturelle Verankerung (etwa in einer Schriftkultur und weiteren Infrastrukturen der rechtlich-prozeduralen Streitaustragung).

Im Vergleich hierzu setzen sich dann mehr und mehr Perspektiven durch, die Selbstbestimmung mit normativen Idealen des aufkommenden liberalen Denkens und der Menschenrechte verknüpfen und diese zunehmend in der Sphäre des Privaten verorten. Dabei wird die ontologische Verankerung in materialen Praktiken und Strukturen nicht immer konsequent weiterverfolgt, sondern gerät diese bisweilen gegenüber geistesgeschichtlichen Erzählungen zur Durchsetzung von Vernunft, Freiheit und Zivilität ins Hintertreffen. Davon kaum betroffen ist jedoch die soziologische Rekonstruktion der Zivilisationsgeschichte durch Norbert Elias, insofern diese das psychogenetische „Vorrücken der Schamgrenze“ (Elias, 1997, S. 318) eng mit der schrittweisen Soziogenese von bürgerlichen Lebensformen ausgehend vom Mittelalter, den Entwicklungen der höfischen Aristokratie und der großen Staatsapparate im Absolutismus verknüpft. Elias liefert zahlreiche Belege dafür, dass insbesondere körperliche Verrichtungen – Essen, Schlafen, Körperreinigung, natürliche Funktionen – jeweils abgegrenzten und spezialisierten Sozialbereichen zugewiesen wurden. Die „immer stärkere Intimisierung aller körperlichen Funktionen, (…) ihre Einklammerung in bestimmten Enklaven, ihre Verlegung ‚hinter verschlossene Türen‘ hat Konsequenzen verschiedener Art“ (Elias, 1997, S. 354). So wird deren praktische und materiale Abgrenzung vom öffentlich einsehbaren Alltagsleben nach und nach auch auf dessen diskursive Thematisierung übertragen, sodass schließlich auch das öffentliche Erwähnen der fraglichen Inhalte verschwindet. Folge dieser Entwicklung ist eine den „Kult des Individuums“ (Durkheim, 1992, S. 478) hervorbringende und stützende Differenzierung des Sozialen, die nicht nur, aber auch als Vervielfältigung der öffentlich/privat-Unterscheidung auftritt: „Es scheiden sich mit anderen Worten im Leben der Menschen selbst mit der fortschreitenden Zivilisation immer stärker eine intime oder heimliche Sphäre und eine öffentliche Sphäre, ein heimliches Verhalten und ein öffentliches Verhalten voneinander.“ (Elias, 1997, S. 355)

Die Zivilisationstheorie von Elias zeigt, wie in der Sphäre des Privaten allmählich neue Innenwelten des modernen Subjekts emergieren und Vorstellungen individueller Selbstbestimmung hervortreten lassen, die gleichwohl sozial figuriert sind und auf geteilten kulturellen Praktiken basieren. Das gilt auch für die bürgerlichen Ausprägungen von Privatheit, die das kritische Räsonnement als neue Qualität einer „Öffentlichkeit von Privatleuten“ (Habermas, 1990, S. 90) aus einer Figuration kultureller Praktiken entstehen lassen und zunehmend auf die politische Sphäre der öffentlichen Gewalt des Staates ausdehnen. Literarisch trainiert (d. h. in der Rezeption und Diskussion von Romanen genauso wie in der Produktion extensiven Briefverkehrs geschult) und oftmals kaufmännisch orientiert, ziehen sich die Bürger regelmäßig in die kleinfamiliale Einsamkeit ihrer Schreibstuben zurück, um von dort aus in die Öffentlichkeit der Salons hervorzutreten und kritischen Diskurs zu üben. Dieses viel diskutierte und „weltweit prominenteste“ Öffentlichkeitskonzept (Hahn & Langenohl, 2017, S. 19) von Jürgen Habermas lässt nun Privatheit als Quelle der Selbstverwirklichung in neuem Licht erscheinen, insofern die Reiche der Freiheit (Öffentlichkeit) und der Notwendigkeit (Freiheit) nicht nur äußerlich, d. h. ökonomisch und materiell, aneinander hängen, sondern einen inneren Konstitutionszusammenhang moderner Vernunfttätigkeit bilden, für die Aspekte von Privatheit und Öffentlichkeit stets zusammenkommen müssen. Entsprechend heißt es in Faktizität und Geltung, dass „sich eine vitale Bürgergesellschaft nur im Kontext einer freiheitlichen politischen Kultur und entsprechender Sozialisationsmuster sowie auf der Basis einer unversehrten Privatsphäre herausbilden [kann] (…). Sonst entstehen populistische Bewegungen, die die verhärteten Traditionsbestände einer von kapitalistischer Modernisierung gefährdeten Lebenswelt blind verteidigen. Diese sind in den Formen ihrer Mobilisierung ebenso modern wie in ihren Zielsetzungen antidemokratisch.“ (Habermas, 1992, S. 449)

Die mit der bürgerlichen Privatheit verknüpften individualistischen Selbstverwirklichungsideen können die Erfahrungswelten der Innerlichkeit allerdings auch in einer Weise präferieren, dass diese die gesamte Kommunikation mit Erwartungen an die Authentizität von Personen überfrachten. Dominieren die besonderen Erfahrungsbereiche des Privaten auch die Erwartungen in der öffentlichen Sphäre, so kommt es zur „Tyrannei der Intimität“ (Sennett, 2008), die jede Regung von der Alltagsinteraktion bis zum politischen Statement auf ihren psychologischen Gehalt hin befragt. Eine solche pathologische Entwicklung, in der die Umgangsformen zunehmend narzisstisch ausgerichtet sind, sieht der Soziologe Richard Sennett – ein Schüler Hannah Arendts – im Übergang von der spätabsolutistischen zur bürgerlichen Strukturierung des öffentlichen und privaten Lebens am Werk. Daran zeigt sich gleichsam ex negativo die Relevanz sozialer Differenzierungen und Begrenzungen von Erfahrungsbereichen, die in dem Maße durch kulturelle Kompetenzen einer auf das unabhängige Individuum zugeschnittenen Kommunikation aufrecht erhalten werden müssen, wie äußere Erwartungssicherheiten versiegen, etwa durch die soziale Maskerade und klare Statussignale der ständischen Ordnung (z. B. Kleiderordnungen, Verkehrsmittel, Verhaltensstereotype und Ausdrucksformen).Footnote 2 Sennett zufolge braucht es Mittel und Fähigkeiten zur Abgrenzung von Erfahrungsfeldern und -qualitäten (Sennett, 2008, S. 35, 41), da ansonsten die Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit implodiert. Die im Anschluss an Habermas und Sennett brisante Frage lautet dann, unter welchen Bedingungen entsprechende Fähigkeiten in der Sozialisation ausgebildet werden.

Hierfür ist die Konsultation weiterer Klassiker der Soziologie wie Georg Simmel und Erving Goffman wichtig, die sich grundlegend den sozialen Interaktionsprozessen moderner Individuen zugewandt haben. Insbesondere Simmel hat die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit der Beschränkung von Transparenz als eine Grundbedingung interpersonaler Kommunikation in der Moderne identifiziert. Er geht davon aus, dass die sozialen Akteure zwar ein gewisses Wissen vom anderen haben müssten, gleichzeitig jedoch auch bestimmte „Nichtwissensquanta“ (Simmel, 1992, S. 394) diese Interaktionsgefüge strukturierten. Wer was über wen (legitimerweise) wisse oder nicht wisse, präge die sozialen Verhältnisse, so wie diese umgekehrt auch die wechselseitigen Wissensbestände bestimmten. In diesem Sinne sei das Geheimnis – „eine der größten Errungenschaften der Menschheit“ (Simmel, 1992, S. 406) – ein maßgebliches Strukturelement jeden sozialen Gefüges. Mit der modernen im Unterschied zur vormodernen Vergesellschaftungslogik wird diese Beschränkung wechselseitigen Wissens – die informationelle Privatheit avant la lettre – allerdings zunehmend anspruchs- und voraussetzungsvoller, da die zunehmende Differenzierung der sozialen Kreise und die damit einhergehenden Individualisierungsschübe die Anforderungen vervielfältigen. So werde selbst die auf Vertrautheit fußende Einrichtung der Freundschaft hiervon in Mitleidenschaft gezogen, insofern moderne Freundschaft im Unterschied zu antiken nicht mehr die Gesamtperson involviere, sondern lediglich einen bestimmten Persönlichkeitsaspekt. Moderne Individuen müssen folglich stets darauf achten, den Informationsfluss über differenzierte Freundschaftsverhältnisse hinweg einzuschränken, denn differenzierte Freundschaften „fordern, daß die Freunde gegenseitig nicht in die Interessen und Gefühlsgebiete hineinsehen, die nun einmal nicht in die Beziehung eingeschlossen sind und deren Berührung die Grenze des gegenseitigen Sich-Verstehens schmerzlich fühlbar machen würde.“ (Roessler & Mokrosinska, 2013, S. 401 f.)

An diesem Beispiel wird schon deutlich, dass informationelle Privatheit unter modernen Bedingungen schnell zur Überforderung der individuellen Akteure werden kann. Diese benötigen hohe Kompetenzen darin, ihre verschiedenen Interaktionsbeziehungen aktiv zu managen. Wie dies konkret geschieht und welche Mittel ihnen hierfür zur Verfügung stehen, lässt sich mit Erving Goffman weiter vertiefen, der hierzu ein halbes Jahrhundert nach Simmel einflussreiche Forschungen unternommen hat. Auch Goffman geht davon aus, dass Akteursrollen und soziale Situationen unter nach-ständischen Bedingungen nur undeutlich bestimmt sind, insofern Interaktionserwartungen nicht länger umstandslos an soziomateriellen Zeichensystemen (Trachten, Wappen, Material und Farbgebung von Kleidung etc.) abgelesen werden können, sondern im Zuge der Interaktion selbst performativ hergestellt werden müssen. Hierzu müssen die Interaktionspartner im Vollzug der Interaktion zugleich Informationen über die Situation gewinnen und diese gemeinsam aushandeln: „When an individual enters the presence of others, they commonly seek to acquire information about him or to bring into play information about him already possessed. (…) Information about the individual helps to define the situation, enabling others to know in advance what he will expect of them and what they may expect of him. Informed in these ways, the others will know how best to act in order to call forth a desired response for him.“ (Goffman, 1973, S. 1) Sobald solche Informationen aber nicht länger situationsübergreifend verwendet werden können, droht ein Clash normativer Anforderungen, sofern die Kontexte und Rollen keine angemessene Abgrenzung voneinander mehr erfahren: „Behavior may be inconsistent, as in the case of the proverbial office tyrant who is meek before his wife, but it is not noticed if the transactions occur in dissociated contexts. Most people live more or less compartmentalized lives, shifting from one social world to another as they participate in a succession of transactions. In each world their roles are different, their relations to other participants are different, and they reveal a different facet of their personalities.“ (Shibutani, 1955, S. 567) Um die Wahrscheinlichkeit normativer Dissonanzen herabzusetzen, betreiben die Akteure folglich „audience segregation“ (Goffman, 1973, S. 137): Publika werden als Informationsempfänger kontextspezifisch voneinander abgetrennt. Informationelle Privatheit setzt also unter modernen Bedingungen voraus, dass entweder solche interaktiven Techniken der Publikumstrennung und Informationskanalisierung beherrscht werden und greifen können – oder aber funktionale Äquivalente hierfür gefunden werden.

2.2 Zur Verhältnisbestimmung von Privatheit und Digitalität

Aktuelle, auf Herausforderungen der Digitalisierung reflektierende Debatten um informationelle Privatheit (vgl. etwa Nissenbaum, 2010; Roessler, 2010) sind stark von einem solchen Verständnis der Aufrechterhaltung einer in Kontexte differenzierten sozialen und informationellen Ordnung geprägt. Unklar ist dabei allerdings, inwiefern die normativen Bezugspunkte, auf die das Konzept der Privatheit abstellt, weiterhin solche der Ermöglichung von individueller Freiheit und Selbstbestimmung der Person sind oder aber solche der Fortsetzung gesellschaftlicher Ordnungsmuster und damit verknüpfter Erwartungssicherheiten angesichts neuer technologischer Verknüpfungs- und Entdifferenzierungsmöglichkeiten.Footnote 3 Was vor der Digitalisierung einen konstitutiven Zusammenhang gebildet hat – die Ausformung der individuellen Persönlichkeit mit einer als authentisch erlebten Innerlichkeit durch das selektive Management pluraler Kommunikationsbeziehungen einerseits und die Kompensation fehlender äußerer Sicherheiten im sozialen Erwartungsgefüge durch die sozialisatorische Herausbildung von Takt, Kontextsensibilität, impression management und Rollenkompetenz andererseits – könnte sich unter Bedingungen der Digitalität als trügerisch erweisen, in Konflikt geraten oder sogar Züge eines Nullsummenspiels annehmen.

Beispielsweise geht Helen Nissenbaums (2010) Theorie der kontextuellen Integrität nicht davon aus, dass das Spezifikum von Privatheit in irgendwelchen individuellen Kontrollvorstellungen zu finden sei, sondern in der normativen Angemessenheit von Informationsflüssen: „a right to privacy is neither a right to secrecy nor a right to control but a right to appropriate flow of personal information.“ (Nissenbaum, 2010, S. 127) Privatheitsverletzungen stellten Verletzungen der informationellen Integrität eines Kontextes dar und würden gerade deshalb als solche beklagt. Wenn etwa eine im Sportkontext verortete Fitness-App Gesundheitsdaten sammelt und an Krankenkassen weitergibt, die dann auf Basis dieser Daten individuelle Beitragssätze kalkuliert, erscheint dies aufgrund der „violation of contextual integrity“ (Nissenbaum, 2010, S. 150) als illegitimer Informationsfluss. Privatheit wird also von vornherein nicht an das Individuum, sondern an kollektiv gültige „context-relative informational norms“ (Nissenbaum, 2010, S. 140) gebunden, die festlegen sollen, welche Akteure in welchen Kontexten welche Informationen über welche Personen und Gegenstände auf welche Art und Weise versenden und empfangen dürfen.

Damit stellt sich allerdings die Frage, wie die nun getrennten Aspekte informationeller Privatheit – also die Begrenzung von Kommunikations- und Informationsflüssen zwischen disparaten gesellschaftlichen Teilbereichen einerseits und die Sozialisation eines differenzierungsfähigen, situationssensiblen und ich-starken bürgerschaftlichen Subjekts andererseits – unter Bedingungen der Digitalität verfolgt und sichergestellt werden können. Denn anders als bei Simmel oder Goffman scheint es nicht länger eine Interaktionsleistung wechselseitiger Situationsdeutung zu sein, einen kontextangemessenen Grad an Privatheit zu gewährleisten, sondern eher eine kollektive Organisations- oder Regulierungsleistung: Die Identifizierung des Kontextes, in dem ein soziotechnisches Informationssystem verortet ist, sowie der kontext-spezifischen informationellen Normen soll es erlauben, die Informationsflüsse einer Gesellschaft kollektiv bindend zu regulieren (Nissenbaum, 2010, S. 140 ff.). Nun war allerdings informationelle Privatheit auch in vordigitalen Gesellschaften keine rein performative Angelegenheit interagierender Subjekte, sondern immer schon mit weiteren gesellschaftlichen Instanzen verbunden, die Beschränkungen und Machtdifferentiale in die Kommunikationsverhältnisse und Informationsflüsse eingezogen haben, man denke etwa an das Briefgeheimnis, Indifferenzen durch binäre Kommunikationscodes (etwa im Zahlungsverkehr) oder Abschreckung durch das Sanktionspotenzial des Staates. Umgekehrt sind technische Vorkehrungen zur Kanalisierung und Begrenzung von Informationsflüssen aber nie ganz von den Instanziierungen durch handelnde Individuen – etwa den Gestaltungsakteuren von IT-Systemen, aber auch kreativ Nutzenden – losgelöst, die demnach wissen und zu beurteilen vermögen müssen, welche Information wann warum verschlüsselt oder gesperrt gehört.

Aus diesem Grund bleibt der Konstitutionszusammenhang von kritikfähigen Subjekten und privatheitssichernden Kontextstrukturen der Kommunikation, der auch als eine Grundbedingung lebendiger Demokratie gesehen wird (Habermas, 1992, S. 429, 449), unter Bedingungen der Digitalität weiter eine Gestaltungsherausforderung, wenngleich sich deren Verbindungslinien nicht mehr so einfach ziehen lassen. Die Verkomplizierungen von Privatheit durch Digitalität sollten nicht durch sozial- oder gesellschaftstheoretische Engführungen weggedeutet werden, indem etwa die Begrenzung von Informationsflüssen als Sache unpersönlicher Kommunikationssysteme oder Technologien dargestellt oder aber naiv an die Verantwortung und Sensibilität handelnder Individuen appelliert wird. Vielmehr muss auch unter Bedingungen der Digitalität Verschiedenes zusammenkommen, um die Integrität von Kontexten und Personen zu schützen. Dies zu modellieren, bieten Theorien im Anschluss an die science and technology studies bessere Ansatzpunkte als etwa die Luhmannsche Systemtheorie oder ein struktur- und technikblinder symbolischer Interaktionismus.Footnote 4 Die Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour, 2010) nimmt das Digitale als eigenständige Einflussgröße ernst, die in die Kommunikationsgeflechte der Gesellschaft sowie deren Privatheitsverhältnisse sowohl auf der Seite der Subjekte als auch auf der Seite der etablierten institutionellen Ordnungen mit ihren systemisch, technisch oder organisational stabilisierten Informationsschranken interveniert. Dabei trägt sie der Performativität solcher Machtdifferentiale Rechnung, die folglich aktiv hergestellt und gepflegt werden müssen und sich darum nur durch das Nachzeichnen der praktischen Verknüpfungsprozesse erforschen lassen (Latour, 2006, S. 203).

Digitalität kann ebenso Chancen wie Risiken für Privatheit in sich bergen. Um dieses Verhältnis zu durchdringen, sind genauere Kenntnisse darüber erforderlich, wie sie sich konkret situativ auf die Handlungsprogramme jener soziotechnischen Assoziationen auswirkt, in denen informationelle Privatheit als komplexes soziales Arrangement von Schranken und Freiheiten für die unterschiedlichen Beteiligten realisiert werden soll (vgl. Ochs, 2019). Dabei gilt es, digitale Technologien als maßgebliche Elemente in die Analyse einzubeziehen, die aber niemals für sich stehen, sondern ihrerseits nur durch die Verknüpfung mit weiteren Einflussgrößen –ökonomische, politische, wissenschaftliche ebenso wie alltagspraktische und spezifische Kulturen der Wertschätzung von Individualität und Einzigartigkeit – zur Wirkung gebracht werden. Im nachfolgenden dritten Abschnitt werden solche Verknüpfungsprozesse und Wirkungsketten nachzuzeichnen versucht, indem sowohl die soziodigitalen Praktiken, in denen sich heutzutage personale Subjekte formen (3.1 und zusammenführend 3.4), in Augenschein genommen werden als auch die Verbindungen des Digitalen zu Handlungsprogrammen der Ökonomie und Verhaltenswissenschaften sowie zur Genese neuer komplexer Kommunikationsinfrastrukturen (3.2 und 3.3). Hierfür – das mag irritierend wirken, ist aber nur konsequent – wird unter Selbstbestimmung oder selbstbestimmtem Leben ein normatives Handlungsprogramm verstanden, das sich im Zuge des soziotechnischen Wandels gesellschaftlicher Kommunikationsverhältnisse transformiert. Solche Transformationen hat dieses Programm in der Vergangenheit erfahren und wird es auch unter Bedingungen der Digitalität vollziehen – das ist unvermeidlich. Es bedeutet aber nicht, dass diese Evolution von Privatheit und Selbstbestimmung unkommentiert und unbeeinflusst bleiben muss. Vielmehr ist Privatheit in der hier zugrunde gelegten soziologischen Perspektive immer ein Gegenstand – oder issue (Marres, 2007) – politischer, d. h. umstrittener und vielstimmiger Gestaltung und Konstruktion. Hierbei ist kontingent, welche Problemdeutung sich durchsetzt und ob diese für sich beanspruchen kann, demokratisch inklusive Lösungswege zu forcieren und den normativen Sinn von Selbstbestimmung nicht zu verraten. Solchen politischen Aushandlungsprozessen kann und sollte sich die soziologische Privatheitsforschung nicht entziehen (s. Kapitel von Lamla u. a. in diesem Band), auch wenn ihre Aufgabe vorrangig in der sorgfältigen Beobachtung und Beschreibung dieser soziotechnischen Transformation liegt.

3 Problemfelder des selbstbestimmten Lebens in einer digitalen Datenökonomie

3.1 Sichtbarkeit – datafizierte Subjektivierungspraktiken

Zeitgenössische Praktiken der digitalen Vernetzung, für die insbesondere digitale Medien wie Facebook oder Instagram reichhaltiges Anschauungsmaterial liefern, unterscheiden sich von historisch früheren Ausrichtungen des Privatlebens sehr weitreichend dadurch, dass ein vergleichsweise breites Aussenden von Informationen über sich selbst zu einer wichtigen Grundlage der Bestimmung des eigenen Selbst wird. Dies ist keineswegs einfach ein disruptiver Effekt digitaler Technologien auf Privatheit, sondern beruht auf der Verstärkung älterer gesellschaftlicher Entwicklungen im Bereich privater Lebensführung, die unter Bedingungen der Digitalität erweiterte Ausdrucksmöglichkeiten finden. Zu solchen Entwicklungen gehört die aus der Romantik hervorgegangene Wertschätzung von Einzigartigkeit, Authentizität, Individualität oder auch Singularität (Luhmann, 1993; Reckwitz, 2017, S. 215; Simmel, 1995) ebenso wie das Bedürfnis nach bzw. eine gewisse Abhängigkeit von sozialer Bestätigung durch Peer Groups (Riesman, 1958). Zwar sind Darstellungen des sozialen Status kein neues gesellschaftliches Phänomen (vgl. etwa Bourdieu, 1987; Veblen, 1958); vergleichsweise jung ist aber die Verbreitung starker Verunsicherungen des Selbstwertgefühls, die zur Suche nach Halt in sozialen Bezugsgruppen antreiben und den dort geltenden Meinungen hohen Orientierungswert verleihen.

Für dieses kulturelle Handlungsprogramm einer Selbstbestimmung, die durch die Suche nach der eigenen Besonderheit und deren soziale Bestätigung und Wertschätzung geprägt ist, bieten die digitalen Plattformen und Netzwerke geeignete Hilfs- und Ausdrucksmittel, deren Nutzung unter Rekurs auf Foucault damit auch als Selbst-Technologie bezeichnet werden kann (Foucault, 2013). Während Tagebücher, Briefe und dergleichen als Selbst-Technologien früherer Epochen gelten, sind Social Network Sites (SNS) paradigmatische Beispiele für deren zeitgenössische Ausformung (Paulitz & Carstensen, 2014). Eine zentrale Rolle spielt hierbei das Anlegen digitaler Profile im Rahmen solcher Sites. Sie ermöglichen zum einen die Demonstration der Vielfältigkeit von Interessen und Formen des Welterlebens und zum anderen eine kuratierende Zusammensetzung der verschiedenen Facetten des Selbst zu einem identifizierbaren Ganzen (Reckwitz, 2017, S. 248; Pittroff, 2017, S. 108 f.). Mit dieser Arbeit am digitalen Abbild oder Spiegel des Selbst einher geht allerdings zwangsläufig dessen Materialisierung in umfangreichen Datenspuren, deren Informationsgehalte und -wirkungen sich nicht mehr ohne Weiteres kontrollieren lassen.

Neben diesem Aspekt einer datenintensiven Subjektivierungspraxis ist für die Gegenwartsgesellschaft zugleich eine zunehmende Datenabhängigkeit der Selbstbestimmung zu konstatieren. Denn in zunehmendem Maße werden die umfangreichen digitalen Sammlungen und Auswertungen solcher Daten zum eigenen Selbst für dessen Ausformung und Orientierung wichtig. Nicht mehr nur die soziale Peer Group bietet dann den gewünschten Außenhalt des verunsicherten Selbst, sondern maßgeblich auch deren digitale Repräsentationen in Daten und Zahlen. Praktiken des Self-Tracking oder Quantified-Self, welche die Wertschätzung der eigenen Person mittels algorithmisierter Feedbackmechanismen objektivieren und pflegen, sind hierfür exemplarisch (Lupton, 2016; Mau, 2017). Das Sicherheitsproblem der Kontrolle und Verbreitung personenbezogener Daten, so ließe sich zuspitzen, wird zunehmend vom Problem der Orientierungsunsicherheiten und -bedarfe datenbezogener Personen verdrängt oder doch zumindest überlagert (Lamla & Ochs, 2019, S. 30).

Digitalität setzt damit die herkömmliche Sichtweise auf den Zusammenhang von Privatheit und Selbstbestimmung unter Druck. In dieser Sichtweise war die Herstellung von individueller Autonomie an die Verfügung über Möglichkeiten der individuellen Informationskontrolle sowie an Phasen des Rückzugs in die Kontemplation gebunden (Roessler, 2001, S. 139; Westin, 1967, S. 31 ff.). Wenn nun aber unter zeitgenössischen Bedingungen dieser Zusammenhang aufgegeben wird, weil Autonomie nicht länger in datensparsamen Praktiken der bürgerlichen Privatheit gewonnen und geschult wird, sondern das breite Aussenden personenbezogener Informationen zum Zwecke der öffentlichen Selbstexploration und der Nutzung digitaler Feedbacktechnologien zwingend erfordert, verändert dies auch den normativen Sinn von Privatheit (Stalder, 2011). Denn ein Festhalten an klassischen Kontroll- und Rückzugstechniken der Privatheit droht nun, die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung durch digitale Unsichtbarkeit und das Kappen potenziell wichtiger Verbindungen und Teilhabemöglichkeiten zu behindern (Stalder, 2019, S. 104). Ein moralischer Appell an datensparsames Verhalten der individuellen Nutzerinnen digitaler Technologien, wie er bis heute von den Institutionen des Datenschutzes wie selbstverständlich vorgebracht wird, findet mithin in den Subjektivierungspraktiken des digitalen Zeitalters keine robuste Verankerung mehr, sondern verweist im Grunde nur noch auf – durchaus erhebliche – Übergangsprobleme einer soziotechnischen Transformation des selbstbestimmten Lebens (Ladeur, 2015; Lamla & Ochs, 2019).Footnote 5

Für die Lösung dieser Übergangsprobleme kann aber die individuelle Informationskontrolle und -zurückhaltung kaum das probate Mittel sein, da der strukturelle Widerspruch zum Erfordernis der digitalen Sichtbarkeit alltagspraktisch kaum auszubalancieren ist (Lamla & Ochs, 2019). Gleichwohl setzen sich klassische Praktiken und soziotechnische Muster der Gewährleistung von Privatheit auch unter Bedingungen der Digitalvernetzung zunächst fort. Dies beginnt etwa bei regulativen Maßnahmen zur besseren Informierung über Datenspuren und Sichtbarkeiten und setzt sich fort in Privatsphäreneinstellungen und Verschlüsselungsoptionen, die den Nutzerinnen in Kontexten sozialer Digitalvernetzung erweiterte Möglichkeiten der Informationskontrolle geben sollen (Ochs & Büttner, 2018). Aber auch kreative und subversive Informationspraktiken der Nutzerinnen selbst versuchen den Widerspruch zu überbrücken, indem sie trotz öffentlicher Sichtbarkeit durch Einflussnahme auf die Datenproduktion Grenzen der Teilhabe für unterschiedliche Publika zu installieren versuchen (Barth, 2016; Ochs & Büttner, 2018; Stalder, 2019). Viele wollen in öffentlichen digitalen Räumen sichtbar sein, ohne für ein unbestimmtes Publikum gleichermaßen öffentlich zugänglich zu sein (Marwick & boyd, 2014, S. 1052). Sie nutzen dazu weniger technisch-administrativ bereitgestellte Nischen digitaler Plattformen (wie etwa private Chaträume), sondern entwickeln (oder reaktivieren in digitaler Form) Kulturtechniken der Verschleierung von Personenbezügen oder der gezielten Verunreinigung von Daten. Neben der Verfälschung von Profilbildern oder der Vermeidung von Klarnamenangaben sind dies insbesondere Praktiken sozialer Steganographie, d. h. einer kryptischen Kommunikation, deren Botschaften trotz öffentlicher Sichtbarkeit nur von einem begrenzten Adressatenkreis entdeckt und entschlüsselt werden können (boyd, 2014, S. 65). Systematisch erweitert werden solche Verschleierungstaktiken durch digitale Techniken der Obfuscation. Damit sind Praktiken bezeichnet, die unter Zuhilfenahme von Anwendungen wie TrackMeNot oder durch bewusste Eingabe von Falschinformationen auf eine Produktion irreführender und mehrdeutiger Daten setzen. Diese technisch orientierte und primär gegen die organisierte Sammlung und Auswertung verhaltens- und personenbezogener Daten gerichtete Obfuscation sei „generally useful in relation to a specific type of threat, shaped by necessary visibility“ (Brunton & Nissenbaum, 2015, S. 85, Hervorh. i. Orig.).

Diese verschiedenen Praktiken und Techniken der Herstellung von Privatheit unter Bedingungen digitalvernetzer Subjektivierung und Selbstbestimmung stellen Kompromisse dar, die den Widerspruch zwischen Zurückhaltung und Entäußerung nicht auflösen können. Sie weisen allesamt Probleme im Umgang mit den konträren Imperativen auf, die auf das Handlungsprogramm der Selbstbestimmung im Zuge seiner soziotechnischen Transformation einwirken. So bürden sie die Kompromissfindung weiterhin isolierten Individuen auf, die ihre digitalen Erfahrungsmöglichkeiten selbst limitieren müssen und nicht länger ohne Reue den Versprechen digitaler Sichtbarkeit nachgehen dürfen. Damit überlasten sie die digitale Alltagspraxis aber nicht nur mit widersprüchlichen Selbstbestimmungszumutungen. Vielmehr überfordern sie diese auch, weil die datenökonomischen Interventions- und Überwachungsmöglichkeiten, die großen Organisationen durch Big Data und Künstliche Intelligenz zur Verfügung stehen, von einzelnen nicht überblickt und damit kaum durch kulturelle Verschleierungstechniken oder technische Obfuscation adressiert werden können. Letztere könne der Rechenmacht der Datenökonomie nicht annähernd beikommen (Richards & Hartzog, 2017, S. 1204). Womöglich wird mit dem Festhalten an bestimmten Idealen und Praktiken der Privatheit digitale Informationskontrollmacht nur noch simuliert, wo diese gegenüber den Infrastrukturanbietern längst verloren ist. Daher stellt sich die Frage, ob und ggf. wie die mit Privatheit assoziierte Selbstbestimmungsidee auch unabhängig von individueller Informationskontrolle und trotz prämierter Sichtbarkeit gewährleistet werden kann.

3.2 Digitalität als Treiber des Wandels in sozialen Infrastrukturen der Privatheit

Neue Medien verändern die gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse, in denen Privatheit einerseits technisch-materiell durch Beschränkung und Ermöglichung von Informationsflüssen und -teilhabe figuriert, andererseits aber auch durch medial vollzogene, kulturelle Praktiken performativ ausgeformt wird (z. B. durch Praktizierung von Kontextsensibilität, Dramaturgie von Selbstdarstellungen oder erworbene Taktiken und Erfahrungen). Es ist kaum zu leugnen, dass die Erfindung der Schrift und private Briefwechsel, neue Aufzeichnungsapparaturen, die räumliche Interaktionsdichte bei Hofe oder Architekturen asymmetrischer Verhaltensüberwachung (Benthams Panopticon) mit den Bedingungen der Herstellung von Privatheit auch das jeweilige Handlungsprogramm der Selbstbestimmung affizieren und verändern. Es ist daher wenig überraschend, dass solche Transformationseffekte auch mit der Digitalität als neuem soziotechnischem Element der Infrastrukturen gesellschaftlicher Kommunikation einhergehen. Unklar ist hingegen zunächst, welcher Art und welchen Ausmaßes diese Effekte genau sind.

Dazu muss näher in den Blick genommen werden, wie sich Digitalität in den technisch-materiellen und sozial-kommunikativen Infrastrukturen der Privatheit einnistet und ausbreitet. So ist das Neue dieser medialen Infrastruktur schon deshalb nicht leicht zu sehen, weil sich viele ältere Kommunikationstechniken darin fortsetzen: Briefverkehr und Freundschaftspflege, aber auch mündliche Kommunikation und Telefonie, Nachrichtenticker und Werbung sowie Radio, Fernsehen und Fotografie etwa. Das spezifisch Neue der Digitalität liegt demgegenüber zunächst in der Fähigkeit zur Vernetzung und Übersetzung unterschiedlichster Elemente gesellschaftlicher Kommunikation in ein einziges und höchst einfaches Medium maschinenlesbaren Codes. Das ist nur auf der Grundlage enormer infrastruktureller Rechenkapazitäten und -leistungen von Computern und Computernetzwerken möglich, in denen Techniken algorithmischer Datenverarbeitung zum Einsatz kommen. Mit der umfassenden Transformation von Informationen in Daten, die dann in ein einziges, scheinbar grenzenloses soziotechnisches Kommunikationsnetz integriert werden können, geht eine enorme Sogwirkung seitens der Digitalität auf sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einher: Latent versprechen digitale Infrastrukturen die Verschmelzung der gesamten Gesellschaft mit einer allumfassenden kybernetischen Kommunikationsapparatur (Lanier, 2014, S. 42).

Nicht nur die gewohnten Praktiken der Privatheit geraten damit unter Transformationsdruck, vielmehr muss Privatheit mit der massiven gesellschaftlichen Expansion digitaler Infrastrukturen als Element von Digitalität neu hergestellt, d. h. aktiv und kreativ re-konstruiert werden. Das ist aber unter den besonderen technisch-medialen Bedingungen der Digitalität etwas gänzlich anderes als das analoge Zurückhalten von Geheimnissen oder physische Zurückziehen hinter Schutzmauern und geschlossene Türen. Denn die Form digitaler Daten und deren Speicherung und Zirkulation in umfangreichen Computernetzen schaffen gänzlich neue Voraussetzungen für das Etablieren und Kontrollieren von Beschränkungen des Informationsflusses – und damit auch für eine Kultur des Takts, für Vergessen, audience segregation oder andere privatheitsrelevante Kommunikationsmuster. Hier stellen sich nicht nur Fragen nach den technischen Möglichkeiten von privatheitsfreundlichen Infrastrukturen im Medium des Digitalen; vielmehr ist auch ganz entscheidend, wer über die mit der Einrichtung soziodigitaler Infrastrukturen verbundene Definitions- und Gestaltungsmacht hinsichtlich des Verhältnisses von Privatheit, Selbstbestimmung und Digitalität verfügt. Wie lässt sich das Handlungsprogramm eines selbstbestimmten Lebens unter Bedingungen erneuern, unter denen vom gesamten Leben eine digitale Spur oder digitale Repräsentation existiert? Was folgt daraus für die soziale Aushandlung, Beteiligung und Gestaltung im Zuge der Entwicklung von Kommunikationsinfrastrukturen? Und kann der Sinn von Privatheit und Selbstbestimmung überhaupt verlustfrei im Rahmen einer allumfassenden kybernetischen Informationsinfrastruktur eingeholt werden?

Diese Fragen stellen sich in allen Bereichen fortschreitender Digitalität, sei es bei der Transformation der Ökonomie durch digitale Plattformen, Digitalisierung der Arbeit und Industrie 4.0, bei der Pflege von Sozialbeziehungen und öffentlichen Kommunikation mittels Social Media Anwendungen wie Facebook, Instagram, WhatsApp oder Twitter oder bei der Durchdringung des Alltags mit Sprachassistenten, Robotik und smarten Endgeräten aller Art. Die emergierenden soziodigitalen Infrastrukturen verändern die gesellschaftliche Kommunikation und die individuelle Lebensführung so massiv, dass Privatheit und Selbstbestimmung davon grundlegend beeinflusst werden.Footnote 6 Dies zeigt sich exemplarisch an den infrastrukturellen Möglichkeiten kontinuierlicher Verhaltensüberwachung und intelligenter Feedback-Schleifen, die Mensch und Maschine in Echtzeit verkoppeln. In immer mehr Verhaltensbereichen, vom Schlafen und Musikhören über das Suchverhalten und Einkaufen bis hin zum Autofahren und der körperlichen Bewegung erhält eine adaptive digitale Zwischenschicht in die Strukturen des Alltagslebens Einzug. Diese künstlich intelligenten Infrastrukturen zielen darauf ab, aufgezeichnete Verhaltensäußerungen und -muster als Trainingsdaten zu nutzen, um darüber die eigenen Algorithmen effizienter und lernfähiger zu machen (Engemann, 2018, S. 253 ff.; Mühlhoff, 2019b, S. 579). Zugleich werden aber auch die Erkenntnisse über die Verhaltenslenkungseffekte von infrastrukturellen Situationsrahmungen und Entscheidungsarchitekturen immer feiner, wodurch bestimmte Verhaltensäußerungen und -muster gezielter angeregt oder genudged (Mühlhoff, 2019a; Richard, 2011, S. 84) werden können, etwa um ausgeruhter aufzuwachen, musikalisch ermuntert zu arbeiten, ausgewählte kommerzielle Lösungen für individuelle Probleme zu erwägen, mehr Schritte zu Fuß zu laufen oder vorsichtiger und energiesparender Autozufahren. Beide Anpassungspotentiale digitaler Infrastrukturen – die des machine learnings ebenso wie die der gezielten Verhaltensbeeinflussung – erhöhen die Trefferquote und Vorhersagekraft algorithmisch verarbeiteter Verhaltensdaten, sodass es nicht schwerfällt, sich vorzustellen, dass beides zugleich stattfindet und sich wechselseitig stützt, antreibt, verstärkt und verselbstständigt (Yeung, 2017).

Mit einer solchen Verschmelzung oder Hybridisierung von Mensch und kybernetischer Informationsmaschine durch die Allgegenwart digitaler Infrastrukturen wird Privatheit potentiell selbst zu einem Muster algorithmisch modellierbarer Verhaltensdaten. Informationelle Privatheit erschöpft sich dann nicht mehr in praktischen Entscheidungen darüber, wie sehr das eigene Leben und die eigenen Erfahrungsräume den digitalen Verarbeitungsprozessen überhaupt zugänglich gemacht oder aber verborgen werden. Denn auch das ist etwas, das als Verhaltensmuster sensorisch erfasst, digital verdatet, algorithmisch verarbeitet und probabilistisch vorhergesagt werden kann. Privatheit wird dann eingelesen in die digitale Maschine und darin algorithmisch re-konstruiert und verdoppelt, teilweise aktiv von den Nutzenden unterstützt durch Festlegung von Privatsphäreeinstellungen oder Cookie-Präferenzen, teilweise aber auch durch die Übersetzung rechtlich-normativer Anforderungen in digitalen Code oder die Verwendung künstlich intelligenter Assistenten und Privacy-Nudges. Daraus folgt aber, dass die digitalen Technologien maßgeblich mitgestalten, was Privatheit eigentlich ist und wie diese erlebt wird. Digitalität erzeugt eine neue, zweite Version von Privatheit, deren Parameter in durchaus nicht feststehenden, sondern designten, programmierten, adaptiven und maschinell lernenden IT-Infrastrukturen bestimmt werden, und die faktische Präsenz und empirische Akzeptanz dieser digitalen Muster der Privatheit entfalten normierende Wirkungen auf die Privatheitspraxis der Nutzenden, deren digitale „Repräsentation“ sie sein wollen und sollen.

Einmal angenommen, die Feedback-Schleifen zwischen den praktischen – sei es individuellen, kollektiven oder auch rechtlich-normativen – Privatheitsdispositionen der Handelnden und deren digitaler Repräsentation in den Infrastrukturen führten durch maschinelles Lernen und Verhaltensanpassungen tatsächlich zu einer sehr weitgehenden Konvergenz: Ließe die Hybridisierung das Programm der Selbstbestimmung damit unberührt, weil die infrastrukturelle Stütze doch lediglich eine digitale Kopie dessen wäre, was die Menschen als Privatheit wollen, sollen oder gewohnt sind? Die Antwort lautet nein, weil es in einer solchen hybriden Welt den Verweis auf ein außerdigitales Subjekt der Selbstbestimmung gar nicht mehr geben kann und fortan das, was als Selbstbestimmung gelebt wird, immer ununterscheidbar auch auf jene Handlungsnormierungen zurückgeht, die in die digitalen Infrastrukturen algorithmisch einprogrammiert sind.Footnote 7 Der Unterschied ist dabei nicht, dass es nun ein soziotechnisch materialisiertes Privatheitsdispositiv gebe, wohingegen Privatheit vorher völlig frei von solchen infrastrukturellen Rahmungen gewesen sei. Denn wie eingangs betont wurde, sieht die Soziologie in der gesamten Geschichte der Privatheit solche Dispositive und soziomateriellen Figurationen am Werk. Entscheidend für das Neue des digitalen Wandels von Privatheit ist vielmehr, dass diese Infrastrukturen nun zum Objekt der IT-Gestaltung werden und somit die Frage aufwerfen, wer auf die Verschmelzung von Digitalität und Privatheit mit welchen Mitteln und Verfügungsmöglichkeiten Zugriff hat und Einfluss nimmt. Die Frage der Selbstbestimmung ist mithin untrennbar mit der Frage verbunden, wer die Pfade auszurichten und vorzuprägen vermag, auf denen die Verhaltensparameter der Praxis mit ihren Re-Präsentationen in den digitalen Kommunikationsnetzen bis zur Ununterscheidbarkeit konvergieren. Denn diese Pfade und Richtungen sind kontingent und können von einseitigen Interessen und Dienstbarmachungen der Technik dominiert sein.Footnote 8 Aus diesem Grunde steht auch die digitalisierte Version von Privatheit unvermeidlich vor der Herausforderung, die mit ihr verbundene Idee der Selbstbestimmung auf der Ebene ihrer soziotechnischen Parameter einzig durch demokratische Prozeduren und Beteiligung an der digitalen Infrastrukturgestaltung sicherstellen zu können. Anders ist sie gegenüber der kybernetischen Maschinerie und ihren Programmierern kaum zu retten.

3.3 Verhaltensmodellierung in Geschäftsmodellen der Datenökonomie

Die wichtigsten und treibenden Gestalter und Verwalter soziodigitaler Infrastrukturen sind heute große Privatunternehmen, deren Geschäftsmodelle maßgeblich mitbestimmen, wie Daten über das private Verhalten (einschließlich Privatheits-Verhalten) digital erhoben und verarbeitet werden sowie auf deren Träger über diverse Schnittstellen modifizierend oder stabilisierend zurückwirken.Footnote 9 Um zu verstehen, wie genau diese Geschäftsmodelle ihren normierenden Einfluss auf das hybride Handlungsprogramm der Selbstbestimmung entfalten und ausüben, müssen die Strukturprinzipien oder Funktionsweisen der Datenökonomie genauer erfasst werden: Nach welcher Logik erfolgt die ökonomische Verwertung der digital anfallenden Datenmassen, und was folgt daraus für die Praktiken der digitalen Subjektivierung und deren spezifische Ausrichtung?

Der Digitalität ist eine Expansionsdynamik grundlegend eingeschrieben, da die Transformation und Einverleibung von content aller Art in das kybernetische Universum binärer Rechenprozesse ihr vielleicht grundlegendstes Strukturprinzip ist. Aber insbesondere zu Beginn, als die Computer noch sehr geringe Kapazitäten hatten, brauchte es sehr selektive Zugriffe auf die Vielfalt möglicher Informationseinheiten, die zunächst über die berühmten Lochkarten oder über Tastaturen händisch einzugeben waren. An das automatisierte Erfassen und die Vorhersage komplexer Verhaltensmuster in Echtzeit war bei den hierfür auszuwählenden Datenarten und Berechnungsvorgängen nicht zu denken (Beniger, 1986). Die Entwicklung hin zur heutigen Datenökonomie, in der die massenhafte Verwertung solcher Verhaltensdaten ins Zentrum einer riesigen Industrie gerückt ist, erklärt sich daher nicht von selbst, sondern stellt eine kontingente Verlaufskurve dieser Expansionsdynamik dar, in der mehrere Faktoren zusammenkamen (Kitchin, 2014). Ab einem bestimmten Punkt übernimmt die Kapitalverwertung in diesem Prozess die Führung und drückt der Ausrichtung des Pfadverlaufs ihren Stempel auf. Zunächst aber mussten die dafür geeigneten datenökonomischen Geschäftsmodelle gefunden werden.

Der kulturelle Trend zur Herstellung von Sichtbarkeit und zur steigenden Abhängigkeit der Persönlichkeitsentfaltung von sozialem Peer-Feedback (s. Abschn. 3.1) kommt einer digitalen Infrastrukturentwicklung, die eine mimetische Verdopplung der Welt verspricht und mit dieser zu einem neuen soziotechnischen Hybrid verschmilzt (s. Abschn. 3.2) ohne Frage entgegen. Die enormen Überschüsse an Verhaltensdaten, die damit generiert und digital verarbeitet werden können, sind aber erst nach und nach zum primären Rohstoff einer ausgreifenden Datenökonomie geworden, die mit dieser Entdeckung auch ein Programm zur systematischen Erschließung dieser neuen Wertquelle aufzulegen beginnt (und so den strukturellen Widerspruch zwischen Sichtbarkeit und Privatheit weiter anheizt). Ein Momentum dieses Programms ist die kapitalistische Landnahme von unerschlossenen Gebieten potenzieller digitaler Verhaltensüberwachung, -vorhersage und -steuerung mittels smarter Technologien und Künstlicher Intelligenz. Diesen Landnahmeprozess hat Shoshana Zuboff vgl. insbesondere Zuboff, 2019, S. 85–121) in ihrem monumentalen Werk zur Datenökonomie nachgezeichnet: Am prototypischen Beispiel von Google zeigt sie auf, dass es sich bei den lukrativen Verhaltensdaten zunächst um Nebenprodukte und Metadaten handelt, die bei der Nutzung des digitalen Suchdienstes angefallen sind. Zu Beginn der Unternehmensgeschichte wurden diese noch zur Verbesserung der Trefferquoten des Suchalgorithmus verwendet. Als profitabel erwiesen sie sich jedoch erst, als die Möglichkeit erkannt wurde, mithilfe dieser Daten präzise Vorhersagen über zukünftiges Verhalten abzuleiten, die sich an Dritte, d. h. an die eigentlichen „Kunden“ datenökonomischer Unternehmen, verkaufen ließen (Zuboff, 2019, S. 70 f.,  94). So besteht ein Versprechen ökonomischer Verhaltensvorhersagen darin, personalisierte Werbung genau dann präsentieren zu können, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass Personen tatsächlich aufgrund von Werbeanzeigen ihr Verhalten ändern (Zuboff, 2019, S. 77 f.). So erreicht „kaum ein anderes Marketinginstrument als die von Google bzw. Facebook gesteuerte Werbung (...) nahezu die gesamte Weltbevölkerung und kann den (per Datenanalyse vermuteten) individuellen Wünschen und Bedürfnissen angepasst werden.“ (Mühlhäuser, 2019, S. 76, Hervorh. i. Orig.)

Mit der ökonomischen Profitabilität solcher Vorhersageprodukte rückt die Produktion von datenförmig verwertbaren Verhaltensüberschüssen zunehmend ins Zentrum digitaler Geschäftsmodelle und -praktiken, wobei das Verhalten damit selbst zweitrangig und zunehmend für andere Zwecke instrumentalisiert wird. So können das Akquirieren von Freundschaften, das Auswählen von Produkten, das Streamen von Musik, körperliche Erregungszustände oder die alltäglichen Bewegungen durch die smarte Stadt, letztlich alles, was statistisch signifikante Verhaltensmuster offenbaren kann, durch Schaffung geeigneter digitaler Plattformen gezielt evoziert und für datenökonomische Unternehmungen erschlossen werden. Dabei greifen dann bestimmte Strukturbedingungen und Mechanismen, die in das Privatleben eingreifen, dieses nicht unerheblich umformen und dabei auch Privatheitsvorstellungen und -erwartungen tangieren. Neben einer hohen Zahl von Nutzerinnen und den sich daraus ergebenden Netzwerk- und Lock-in Effekten, die einen Wechsel zu anderen Anbietern schwierig machen und zu Monopolbildungen auf den Märkten beitragen, benötigen Unternehmen mit der Durchsetzung dieser Geschäftslogik nämlich die möglichst umfassende datenförmige Erfass- und Verarbeitbarkeit von privaten und sozialen Lebensvollzügen, um ökonomisch gegenüber den dominanten Playern mithalten zu können (Schneider, 2019, S. 144 f.; Parker & Marshall, 2017, S. 33). Die resultierenden Privatheitsrisiken betreffen hierbei keineswegs nur die missbräuchliche Verwendung personenbezogener Daten. Denn sobald Verhaltensvorhersagen die wesentliche Grundlage des Geschäftsmodellerfolgs darstellen, kann auch das Potential zur Beeinflussung von Verhalten durch Nudging und andere soziodigitale Feedbackstrukturen zur zentralen wertschöpfenden Technologie werden, die auf eine zunehmende Hybridisierung von menschlichen und digital-algorithmischen Verhaltensparametern hinauslaufen. In diesem Sinne sind Unternehmen, die sich dem datenökonomischen Extraktionsimperativ verschreiben, auf eine Verankerung und Ausweitung datenbasierter Subjektivierung zunehmend angewiesen (Günter Voß, 2020). Offen bleibt damit nur noch die Frage, welche Konsequenzen die infrastrukturelle Verankerung dieser ökonomischen Imperative durch Unternehmen der Datenindustrie für das moderne Handlungsprogramm der Selbstbestimmung zeitigt.

3.4 Resultierende Paradoxien digitaler Selbstbestimmung

Datenintensive Subjektivierung wird im Rahmen der beschriebenen Konstellationen mit dem Ziel angereizt, einen „Verhaltensüberschuss“ zu generieren und so möglichst gut steuerbares Userverhalten zu erzielen. Die daraus gewonnenen Daten werden in erster Linie nicht zur Verbesserung von Produkten oder Dienstleistungen genutzt, sondern sind Bestandteil eines Vermarktungsapparats. Sie werden somit als mehrwertgenerierende Ressource betrachtet, was schließlich in einen Imperativ des Datensammelns umschlägt (Christl, 2017; Zuboff, 2019). Um Verhaltensdaten erzeugen zu können, muss es Datenökonomien allerdings zunächst gelingen, soziale und kulturelle Prozesse in die eigenen digitalen Infrastrukturen hineinzuziehen und entsprechende Anreizsysteme zu schaffen. Datenökonomische Strukturen docken hierfür an jene soziokulturellen Dispositionen an, die für die Datenproduktion förderlich sind und locken so Nutzerinnen in ihre Netzwerke (Ochs & Büttner, 2019; Ochs et al., 2020).

Ein paradigmatisches Beispiel hierfür liefern Self-Tracking-Apps aus dem Bereich der Health- und Fitnessplattformen. Sie stellen den Nutzerinnen der Plattformen in erster Linie eine Infrastruktur zur Formung datenbasierter Subjektivität bereit. Die mobilen Anwendungen auf dem Smartphone spiegeln das eigene Gesundheitsverhalten in Form aggregierter und modifizierter Daten an die Nutzerinnen zurück und wollen diesen so ermöglichen, auf ihr eigenes Gesundheitsverhalten gezielt einzuwirken, etwa durch Änderung des Lebensstils oder die Nutzung passgenauer Trainingspläne (Lanzing, 2016, S. 10, Mau, 2017, S. 167 ff.). Sie nehmen damit auf das moderne Handlungsprogramm der Selbstbestimmung direkt Bezug, dass allerdings die Nutzung digitaler Datendienste und die Bereitschaft zur Ko-Produktion erforderlicher Datensätze und -schätze nunmehr voraussetzt. Hierbei stellt sich allerdings das Problem ein, dass somit auch das moderne Selbstbestimmungsideal instrumentalisiert und zu einem Mittel wird, Targeting-Objekte für die Werbeindustrie zu erzeugen. Wenn sich in das Handlungsprogramm der Selbstbestimmung über die Verhaltensrelevanz digitaler Daten ökonomische Konzerninteressen mischen, wird „die vordergründig versprochene selbstbestimmte Selbst-Bestimmung (...) zur fremdbestimmten Bestimmung des Selbst“ (Ochs & Büttner, 2019, S. 210). Die resultierenden Kapazitäten zur Verhaltenssteuerung werden gezielt dafür eingesetzt, die Profitabilität am Markt zu erhöhen. Datenbasierte Selbstbestimmung wird zum bevorzugten und vielversprechenden Zielobjekt all jener Geschäftsmodelle, die unter dem ökonomischen Regime des Überwachungskapitalismus das Potenzial digitaler Infrastrukturen zur Verhaltensformung zu erschließen und einzusetzen trachten.

Damit wird die diagnostizierte Verschmelzung von Privatheit und Digitalität vermittelt über die Gestaltungsmacht datenökonomischer Konzerne an kommerziellen Zwecken ausgerichtet und geraten hergebrachte Vorstellungen von Selbstbestimmung in einem doppelten Sinne unter Druck: Nicht nur wird das Festhalten an einem Konzept von Privatheit fraglich, das die Verantwortung für das Ausbalancieren der ökonomisch induzierten oder gesteigerten Paradoxien datenbasierter Selbstbestimmung in erheblichem Maße beim individuellen Rechtssubjekt verankert sieht; vielmehr wird zugleich die politische Frage aufgeworfen, wie lange diese ökonomische Rahmung und Übersetzung eines mit Privatheit verbundenen Selbstbestimmungsprogramms mit den Normen und Konventionen kollektiver Selbstgesetzgebung in einem demokratischen Gemeinwesen noch vereinbar sind. Denn während aktuell noch an regulatorischen Konzepten informationeller Selbstbestimmung festgehalten wird, die die einzelne Nutzerin adressieren, obgleich beispielsweise ein Informed Consent weitere Mitsprache jenseits einer – häufig binären – Eingangswahl weitgehend auszuschalten gestattet, zeigt sich die erheblich folgenreichere Entscheidungsgewalt auf der Ebene jener Gestaltungsakteure, die über das Potenzial digitaler Infrastrukturen zur Verhaltensbeeinflussung und Handlungsnormierung verfügen. Folglich bleibt das Recht auf individuelle Selbstbestimmung halt- und kraftlos, wenn es nicht durch ein Recht auf kollektive Selbstbestimmung abgesichert und gestützt wird, wie es sich in der Idee demokratisch verfasster Gemeinwesen ausdrückt, die wiederum auf kritisch kompetente Bürgerinnen angewiesen bleiben (Habermas, 1992, S. 491).Footnote 10 Um diesem Konstitutionszusammenhang auch in Zeiten Geltungskraft zu erhalten oder zu verleihen, in denen digitale Infrastrukturen das selbstbestimmte Leben prägen und formen, wird die Verfügung über datenökonomische Gestaltungsmacht, deren rechtsstaatliche Kontrolle und zivilgesellschaftliche Verankerung, zu einer demokratischen Schlüsselfrage.

4 Fazit: Soziodigitale Privatheit demokratisch gestalten!

In Deutschland und Europa gibt es das breite Bekenntnis, verhindern zu wollen, dass demokratische Selbstbestimmung, demokratische Grundrechte und demokratische Werte und Ordnungsprinzipien durch digitale Überwachung ausgehöhlt werden. Zur Rhetorik dieses Bekenntnisses gehört auf der einen Seite die Abgrenzung gegenüber dem Digitalisierungspfad der USA, wo die Gestaltungsmacht über soziodigitale Infrastrukturen in den Händen weniger privater IT-Konzerne konzentriert ist, die das Geschäftsmodell digitaler Verhaltensbeobachtung und -führung zur Blüte gebracht haben. Auf der anderen Seite wird ebenso kritisch auf autoritäre Regime verwiesen, die diese Gestaltungsmacht unter staatliche Kontrolle bringen und die behavioralen Lenkungseffekte soziodigitaler Infrastrukturen und Überwachungstechniken wie beim chinesischen Social-Credit-System an eigenen normativen Standards ausrichten und top down diktieren. Beide Entwicklungspfade der Digitalität – verstanden als neue, transformierende Schicht, die in die gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse Einzug erhält und mit diesen zur ununterscheidbaren Soziodigitalität verschmilzt – gelten hierzulande als privatheitsfeindlich und widersprechen den normativen Prinzipien der Selbstbestimmung, wie sie in der europäischen Tradition angelegt und verstanden werden und die Entfaltung des demokratischen Gedankens maßgeblich geprägt haben (Dijck et al., 2018).

Doch bei all diesem Bekenntnis bleibt unklar, wie eine alternative demokratische Ausgestaltung der soziodigitalen Privatheit eigentlich aussehen müsste und ob der eingeschlagene Pfad europäischer Datenschutzpolitik hierfür geeignete Antworten parat hält. Denn die demokratische Rhetorik kann sich in eine problematische Legitimationsfassade verwandeln, wenn der dritte Weg digitaler Verhaltens- und Privatheitsnormierung seinerseits bloß rechtsgültige Auslegungen der informationellen Selbstbestimmung top down als Parameter einer Infrastrukturgestaltung zu implementieren trachtet, die ansonsten ganz in der Hand privatökonomischer Initiative verbleibt. Denn die eingezogenen Schranken der Verbreitung und Nutzung personenbezogener Daten durch Prinzipien der Datensparsamkeit oder des Privacy by Designs könnten sich als – durchaus nicht unwichtige, aber – schwache Elemente einer Infrastruktur erweisen, deren Ausrichtung im Ganzen darauf hinausläuft, der gesellschaftlichen Kommunikation und individuellen Lebensführung ein digitales Skelett einzuziehen, das nach Eingewöhnung als neue, dritteFootnote 11 Natur erscheint. Eine digital ausgerichtete Privatheit kann immer noch Teil einseitig kontrollierter datenökonomischer Verhaltensprogramme sein und verhindert solche Machtasymmetrien nicht zwingend. Es gilt etwa in Rechnung zu stellen, dass das digital konfigurierte Privatheitsverhalten, welches sich in der sorgsamen Limitierung von Browser-Cookies, der Einschränkung von Sichtbarkeit oder der Verschlüsselung von Mitteilungen manifestiert, irgendwann nur noch der „Simulation“ (Blühdorn, 2013) eines selbstbestimmten Lebens dienen könnte, wodurch die gesellschaftliche Transformation in ein postdemokratisches Regime asymmetrischer Verhaltensüberwachung zwar milder erschiene, dessen Akzeptanz aber gesteigert würde.Footnote 12 Privatheitsfreundliche Digitalität könnte sich somit als perfides Mittel erweisen, den Kontrollprogrammen neuer und alter Ordnungsmächte die erforderliche Massenloyalität zu verschaffen und Verhaltenskonformität abzusichern.

Soll ein solcher postdemokratischer Transformationspfad in die neue, soziodigitale Lebenswirklichkeit verhindert oder im Namen der Selbstbestimmung zumindest ernsthaft bekämpft werden, sind weitere demokratische Selbstbestimmungsprinzipien in der soziodigitalen Infrastrukturgestaltung zu verankern. Anstelle einer restriktiven Privatheitskultur wäre – auch vor dem Hintergrund des langen Zivilisationsprozesses, der mit der Geschichte von Privatheit verbunden ist – an die Schaffung und Absicherung einer Vertrauenskultur zu denken, die maßgeblich all jene adressiert, die mit sensiblen Daten hantieren und daraus digitale Verhaltensrepräsentationen und -feedbacks formen (Ari Ezra Waldman, 2018; Richards & Hartzog, 2017; Uhlmann, 2020). Angesichts der Wirkmacht datenökonomischer Imperative ist allerdings nicht anzunehmen, dass sich eine Beschränkung der mit massenhaften Verhaltensdaten verfügbaren Gestaltungsmacht von selbst etabliert. Es braucht dafür schon Gegenkontrollmacht und -mechanismenFootnote 13 sowie insbesondere auch einen ehrlichen öffentlichen Streit über das gesamte normative Gerüst der neuen soziodigitalen Kommunikationsverhältnisse. Eine Konzentration allein auf Privatheit droht den Gehalt von Selbstbestimmungsnormen nicht mehr wirklich ernst zu nehmen und stattdessen allein auf Sicherheit, Stabilität und liberale Ordnung zu setzen. Demokratische Selbstbestimmung ermöglichen die verschiedenen rechtlich-institutionellen Elemente und intermediären Stützen einer soziodigitalen Vertrauenskultur sowie öffentlichen Problematisierungen soziodigitaler Normativität erst dann, wenn sie eine zentrale Kompetenz individueller ebenso wie kollektiver Selbstbestimmung nicht unterminieren, sondern stärken, nämlich die Fähigkeit zur Kritik der normierenden Gehalte und Effekte soziodigitaler Infrastrukturen. Denn auch Kritik ist nicht unabhängig von soziotechnischen Verhaltenskonfigurationen. Sie kann aber – verglichen mit formal-rechtlicher Privatheit – einen robusteren Widerstand gegen die Tendenzen und ökonomischen Imperative verankern, die auf eine digitale Fremdprogrammierung des Lebens hinauslaufen. Sie ist daher auch unter soziodigitalen Bedingungen der entscheidende Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben.

Die oft angemahnte Transparenz von verhaltensnormierenden Algorithmen (Kilovaty, 2019, S. 492), ohne die sich ihre diskriminierenden Effekte gewiss kaum identifizieren ließen, kann hierfür allerdings nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung liefern. Denn sie setzt die Kompetenz zur Kritik bereits voraus, deren Reproduktion unter soziodigitalen Lebensbedingungen jedoch nicht mehr unabhängig von den algorithmischen Rahmungen des Verhaltens gegeben und gesichert ist. Folglich ist es erforderlich, Kritikabilität und Kritikfähigkeit nicht in einem imaginativen Außen der Digitalität zu verorten, etwa in der reinen Innerlichkeit des Privatsubjekts oder der Unparteilichkeit einer technikneutralen Rechtsordnung, sondern als Element der ganz und gar unreinen soziodigitalen Hybridität selbst zu verankern, etwa durch ein „design of our supposedly smart architectures […] based on agonistic debate, built-in falsifiability and a robust constructive distrust. This should result in testable and contestable decision systems“ (Hildebrandt, 2019, S. 107, Hervorh. i. Orig.; vgl. ebenso Lamla, 2019, S. 54). Wohl hat der öffentliche Diskurs ein gewisses Problembewusstsein für mögliche manipulative Praktiken auf und mittels Plattformen erzeugt und die betreibenden Unternehmen zu korrigierenden Eingriffen gezwungen (Dolata, 2020). Mit der Einrichtung von Kontrollgremien (z. B. Facebooks Oversight Board) und freiwilligen Transparenzmaßnahmen wehren diese die Herausforderungen jedoch nur oberflächlich ab (Burkell & Regan, 2019). Um Kritikfähigkeit in soziodigitalen Umgebungen zu erhalten und systematisch zu fördern, braucht es ein genaueres Verständnis für die Reproduktionsbedingungen dieser Kompetenzen: Diese sind auf das Einüben von Urteilsfähigkeit in praktischen Situationen angewiesen, in denen eindeutige Urteilsalgorithmen nicht zur Verfügung stehen, wie es die ubiquitäre Digitalität fälschlich suggeriert, sondern aus einer Pluralität von Konventionen und Rechtfertigungsordnungen heraus praktisch entschieden und begründet werden muss, was richtig ist und was falsch, was gut ist und was schlecht (Boltanski & Thévenot, 2007). Dazu braucht es aber nicht nur den Zugang zu den Konventionen, d. h. die Sichtbarkeit jener impliziten normativen Ordnungen, mit denen Informationen in soziodigitalen Kommunikationsnetzen erzeugt, prozessiert und bewertet werden (Diaz-Bone, 2019), sondern auch ein öffentliches Bewusstsein von deren Kontingenz, die reflektierende Exploration von Alternativen sowie einen demokratischen Zugriff auf ihre infrastrukturelle Ausgestaltung. Nur wenn die Kommunikationsinfrastrukturen effektiv gewährleisten, dass der Faden zur kritischen Praxis nicht reißt, die die (algorithmischen) Urteilsroutinen immer wieder mit den Unbestimmtheiten und Konflikten des sozialen Lebens konfrontiert und mit einer Pluralität an normativen Registern der Rechtfertigung begründend zu vermitteln sucht, kann Privatheit unter soziodigitalen Bedingungen ein Ort der Selbstbestimmung bleiben.