Die Digitalisierung im Europäischen Hochschulraum ist durch eine enorme Vielfalt an möglichen Schwerpunktthemen und Aktionsfeldern geprägt (siehe Rampelt et al. 2019). Im Bereich Studium und Lehre können die Auseinandersetzung mit Kompetenzen für das digitale Zeitalter, neue Aufgaben der Qualitätssicherung und die Sicherstellung von Mobilität und Austausch als besonders relevante Aktionsfelder identifiziert werden: Mobilität ist nicht nur für das europäische Projekt seit jeher zentral. Sie steht gleichzeitig seit der COVID-19-Pandemie vor einem besonders disruptiven Transformationsprozess, dem nur durch eine Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen digitaler Lösungen begegnet werden kann. Auch digitale Kompetenzen sind sowohl Fokus der Maßnahmen zur digitalen Bildung im europäischen Bereich (Europäische Kommission 2018; BFUG 2020a) als auch wichtiger Gegenstand nationalstaatlicher Auseinandersetzungen (KMK 2016, 2019). Als zentrale Voraussetzung für die qualitätsorientierte Vermittlung von Kompetenzen wiederum gilt die Qualitätssicherung, ein Schlüsselelement des Bologna-Prozesses und der Maßnahmen zur Harmonisierung im Europäischen Hochschulraum. Diese drei Aktionsfelder sollen im Folgenden, exemplarisch für eine Vielzahl weiterer Themen, genauer betrachtet werden.
3.1 Neue Mobilitätsmuster: Internationaler Austausch und virtuelle Mobilität
3.1.1 Mobilität als Kernelement des Europäischen Hochschulraums
Ein zentraler Aspekt der europäischen Hochschulbildung ist die Auslandsmobilität, der grenzübergreifende Austausch mit anderen Studierenden, Lehrenden und Hochschulmitarbeitenden. Der wechselseitige Austausch und das Eintauchen in europäische Nachbarkulturen sind wichtige Mechanismen, um die soziale Kohäsion in Europa zu stärken und die Internationalisierung der Hochschulbildung voranzutreiben. Die ERASMUS-Initiative und aktuell das Erasmus+-Programm stehen beispielhaft für umfassende Maßnahmen zur Stärkung von Mobilität und Austausch innerhalb und außerhalb des Europäischen Hochschulraums. Die akademische Mobilität, insbesondere von Studierenden, stellt dabei eines der wichtigsten Symbole des europäischen Projekts dar und ist ein Kernelement des Bologna-Prozesses (Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister 1999).
Das Erasmus+-Programm sowie diverse nationale Initiativen waren bislang sehr erfolgreich in der Förderung physischer Mobilität von Studierenden und Wissenschaftler*innen (Souto-Otero et al. 2019). Für den Bereich Education and Training gilt als europäische Benchmark, dass durchschnittlich wenigstens 20 % der Hochschulabsolvent*innen bis 2020 für eine Zeit im Ausland studiert haben sollen.Footnote 8 Innerhalb der EU werden aber zum Teil noch höhere Mobilitätsziele gesteckt. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) hat in seiner Strategie 2025 als Ziel formuliert, dass der Hälfte aller Studierenden in Deutschland eine Auslands- oder interkulturelle Erfahrung ermöglicht werden soll. Dabei wird explizit der virtuelle Austausch mitberücksichtigt.Footnote 9
3.1.2 Virtuelle Austauschformate und neue Mobilitätsmuster
Sieht man von den COVID-19-bedingten Ad-hoc-Maßnahmen ab, so fällt auf, dass die Hochschulen sich schwertun, Strategien für neue Mobilitätsmuster zu finden. Unter dem Begriff der „Internationalisierung zu Hause“ gilt es, Digitalisierung und Internationalisierung zu verknüpfen. Das Konzept wird definiert als „the purposeful integration of international and intercultural dimensions into the formal and informal curriculum for all students within domestic learning environments“ (Beelen und Jones 2015). In Bezug auf den gesamten Studienverlauf stellt sich die Frage, wie Curricula gestaltet sein können, die Präsenzphasen im Seminarraum mit Onlineaktivitäten integrieren. Wie kann auch in Bezug auf neue Mobilitätsmuster die Teilhabe an unterschiedlichen Bildungsressourcen sowie europäischer Austausch ermöglicht werden? Präsenz- (offline), digital unterstützte (blended) und rein digitale Angebote (online) spielen hier eine Rolle. Diese Vielfalt führt aber auch klar zu größeren didaktischen Unterschieden und Herausforderungen, wie Erfahrungsberichte zeigen (Planells-Artigot und Moll-Lopez 2020).
Umso wichtiger wird es sein, Auslandsmobilität künftig didaktisch fundiert und gleichzeitig systematisch mit digitalen Lehr-Lern-Szenarien zu verzahnen, ohne den analogen Austausch grundsätzlich infrage zu stellen. Erste Analysen zu COVID-19 machen auch übergreifend deutlich, dass sich Verhalten und Interessen internationaler Studieninteressierter verändern, sodass virtuelle Angebote Schlüssel zur Rekrutierung und Betreuung von internationalen Studierenden werden (BridgeU 2020).
3.1.3 Digitaler Austausch im Europäischen Hochschulraum: Erasmus + und europäische Hochschulnetzwerke
Die COVID-19-Pandemie hat zur grundlegenden Erosion der physischen europäischen Auslandsmobilität geführt. Das Erasmus+-Programm lief zwar auch 2020 weiter, spätestens ab dem Sommer aber oft virtuell oder in Form von Blended Mobility. Finanzielle Unterstützung wurde dabei trotzdem gewährt und die Nachfrage blieb ungebrochen hoch.Footnote 10 Die Digitalisierung des Erasmus+-Programms ist gleichzeitig eines der großen Themen für die Zukunft der europäischen Hochschulzusammenarbeit. Diverse digitale Aktivitäten werden derzeit unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie getestet, um ab 2021 im gesamten Erasmus+-Programm angewandt und dem Label „Erasmus + Digital“ gerecht werden zu können. So werden etwa Erasmus+-Mobilitätsstipendien digitalisiert, sodass Auslandsaufenthalte digital begonnen und später analog fortgesetzt werden können.Footnote 11 Bedeutsam hierfür sind auch Infrastrukturfragen: Die European Student Card InitiativeFootnote 12 bündelt in der neuen Programmgeneration Projekte wie die European Student Card und Erasmus Without Papers, beides zukünftig verpflichtende digitale Infrastrukturvorhaben, welche unter anderem die einheitliche Identifikation von Studierenden, den digitalen Austausch von Mobilitätsdaten und die digitale Administration von Partnerschaftsabkommen zum Ziel haben.
Eine ganz besondere Bedeutung für die europäische Zusammenarbeit im Hochschulbereich haben die sogenannten „Europäischen Hochschulen“. Die seit 2017 diskutierte und seit 2019 umgesetzte Idee stellt eine Leitinitiative der EU zum Aufbau des europäischen Bildungsraums bis 2025 dar. Bis 2020 haben 39 Pilotallianzen die Arbeit aufgenommen. Die Berücksichtigung von Aspekten der Digitalisierung in Studium und Lehre war zu Beginn kein zentrales Kriterium für die Auswahl eines europäischen Hochschulnetzwerks, sondern vielmehr Mittel zum Zweck, das als solches nicht separat herausgehoben wurde. Die Lage änderte sich mit der zweiten Förderkohorte im Jahr 2020, die auch auf die COVID-19-Pandemie reagiert. Im hierfür aktualisierten „European Universities Factsheet“ wird dies bereits unter der Rubrik „Why European Universities?“ sehr deutlich:
„The COVID-19 pandemic has suddenly accelerated the digital transformation of higher education institutions. Yet, much more needs to be done for deep technological and structural changes to the benefit of learning and teaching, allowing for more inclusion and flexible learning approaches“ (European Commission 2020c, S. 1).
Damit rücken der durch die Digitalisierung vorangetriebene strukturelle Wandel und insbesondere die Flexibilisierung von Lernpfaden prominent in den Fokus. Um das zu erreichen, sollen die involvierten Hochschulen „digitale und physische Ressourcen in Lehre, Wissen, Daten und Infrastruktur“ (Forschung & Lehre 2020) teilen. Der Aufbau von digitalen, innovativen und standortübergreifenden Infrastrukturen stellt in den meisten Fällen den ersten Schritt hin zur Entwicklung eines gemeinsamen Campus(-Angebots) dar. Ein Beispiel hierfür ist der Virtual Campus des Europäischen Hochschulnetzwerks YUFE (Young Universities for the Future of Europe) an dem aus Deutschland die Universität Bremen und Kiron beteiligt sind.Footnote 13
Insgesamt zeigen sich erste Ansätze einer proaktiven Auseinandersetzung mit digital gestützten und auch rein virtuellen Mobilitäts- und Austauschszenarien auf europäischer Ebene. Sie weisen gleichzeitig auch auf die Notwendigkeit weiterer Impulse und vor allem einer konkreten Umsetzung hin, damit die Digitalisierung sich auch in angepassten Curricula, Programmrichtlinien und Kooperationsvereinbarungen niederschlägt.
3.2 Kompetenzen für das digitale Zeitalter
3.2.1 Digitale Kompetenzen in einem Europa des Wissens
Bereits in der Bologna-Erklärung hieß es, dass ein „Europa des Wissens“ in der Lage sein sollte, „seinen Bürgern die notwendigen Kompetenzen für die Herausforderungen des neuen Jahrtausends […] [zu] vermitteln“ (Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister 1999). Und auch „in der Lissabon-Strategie […] adressierte die Kommission die ,Förderung neuer Grundfertigkeiten, insbesondere im Bereich der Informationstechnologien‘ als eines der zentralen Aufgabenfelder des Hochschulsektors“ (Lübcke und Wannemacher 2019). Zwanzig Jahre später gilt dieser Anspruch umso mehr für ein Europa im digitalen Zeitalter. Ein Europa, das fit für das digitale Zeitalter sein will, benötigt eine Gesellschaft, die informiert, reflektiert und kompetent mit digitalen Technologien und deren Anwendung agiert.
„Digitale Kompetenz bedeutet, dass man digitale Technologien souverän und kritisch Nutzen [sic!] kann, und umfasst die Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen, die alle Bürgerinnen und Bürger in einer sich rasant verändernden digitalen Gesellschaft brauchen“ (Europäische Kommission 2018, S. 8).
Die Fähigkeiten, die Lernende im digitalen Zeitalter benötigen, sind dabei nicht ausschließlich auf Themen der Digitalisierung beschränkt und umfassen neben den digitalen auch nichtdigitale Kompetenzen sowie (fach)spezifische und allgemeinere Fähigkeiten (vgl. Rampelt et al. 2019; Ehlers 2020). Der Kanon all dieser Kompetenzen wird oft unter dem Konzept der „Future Skills“ zusammengefasst (vgl. Ehlers 2020). Diese Kompetenzen lassen sich als Fähigkeiten und Fertigkeiten beschreiben, die ein erfolgreiches Handeln unter den Bedingungen zukünftiger Gesellschaften ermöglichen. Im Kern geht es darum, Lernende von heute auf eine in vielen Bereichen noch ungewisse Zukunft von morgen vorzubereiten.
3.2.2 Europäische Pionierarbeit im Bereich digitaler Kompetenzen
Ein Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit Zukunftskompetenzen im Europäischen Hochschulraum liegt auf dem Umgang mit digitalen Technologien – gleichermaßen bezogen auf Studierende und auf Lehrende. Die Europäische Kommission hat hier maßgebliche Pionierarbeit geleistet. Das sogenannte „Digital Competence Framework for Citizens“ (DigiComp)Footnote 14 und weitere Qualifikationsrahmen für digitale Kompetenzen dienten als zentraler Referenzrahmen in unterschiedlichen Bildungsbereichen in europäischen Ländern. Auch für die Strategie der deutschen Kultusministerkonferenz (KMK) zur „Bildung in einer digitalen Welt“ (KMK 2016) haben solche europäischen Maßnahmen wichtige Impulse gesetzt. Zur Umsetzung dieser Strategie wurde für den Hochschulbereich die Bedeutung digitaler Kompetenzen klar unterstrichen: Im Rahmen eines jeden Studiums sollten sowohl fachspezifische als auch grundlegende digitale Kompetenzen vermittelt und dies unter anderem im Rahmen von Akkreditierungsverfahren geprüft werden. Hier gilt es, auch die grundlegenden Errungenschaften des Bologna-Prozesses wieder aufzugreifen: die Einigung auf gemeinsame, länderübergreifende Rahmenbedingungen und Standards, die auch in Bezug auf digitale Kompetenzen in Hochschulcurricula erreicht werden könnten.
Der digitale Kompetenzrahmen lässt sich aber auch weiterdenken: Ein spezieller Kompetenzrahmen für Lehrende (DigiCompEdu) vereint nationale und regionale Anstrengungen, um die auf die pädagogisch tätigen Personen oder Lehrenden bezogenen digitalen Kompetenzen zu erfassen (Redecker 2017). In den Mitgliedsländern wird er jedoch sehr unterschiedlich umgesetzt und öfter auf den Schul-, aber noch selten auf den Hochschulbereich angewandt. Eine Schnittstellenfunktion könnte hier die Lehrkräftebildung haben.
3.2.3 Kompetenzen offen und zugänglich vermitteln: von digitalen Lernplattformen zu Open Educational Resources im Hochschulbereich
Neue Ansätze des Kompetenzerwerbs erfordern sowohl Inhalte und Formate, die dynamisch und kontextbezogen weiterentwickelt werden können, als auch neue Lernprozesse, die unterschiedlichen Kontextbedingungen und den Bedarfen Lernender gerecht werden. Offene Bildungsressourcen (Open Educational Resources; OER) können dabei sowohl als Instrument als auch als Treiber des Prozesses dienen (Orr et al. 2015; Deimann 2020) und zur Förderung von Wissensgesellschaften und Zugang zu Bildung beitragen (UNESCO 2020).
OER sind Bildungsressourcen, die offen lizenziert zur Nachnutzung und Weiterentwicklung (idealerweise im Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden) zur Verfügung stehen (Miao et al. 2019; dos Santos et al. 2016). Offene Bildungsangebote lassen sich dabei im übergreifenden Diskurs zur Öffnung von (Hochschul-)Bildung verorten. Offene Bildungsressourcen sind nur ein Teil von „unterschiedliche[n] Ideen, Konzepte[n] und Ansätze[n], die als Spielarten von Open Education gelten“ (Deimann 2016, S. 17). Deimann (2016) zählt hierzu Open Access, Open Educational Resources, Open Educational Practices, historische Formen von Open Education und Massive Open Online Courses (MOOCs). Auch wenn es vielfach politische Absichtserklärungen dazu gab, scheint das Thema Open Education im Allgemeinen sowie OER im Speziellen nach wie vor nicht die zentrale Rolle zu spielen, die möglich wäre. „The contribution of OERs and MOOCs to increase access and improve quality in learning cannot be underestimated“ (UNESCO 2020).
Gerade die Entwicklung von MOOCs zeigt dabei aber auch durchaus Gefahren einer „Instrumentalisierung von Open Education“ (ebd., S. 17), die teils geprägt ist durch zunehmend kommerzielle Modelle im (Hochschul-)Bildungsbereich. Plattformen, die den Markt dominieren und vereinzelt auch bereits in deutschen und europäischen Hochschulkontexten eingesetzt werden, stammen oft aus den USA (Coursera, edX, Udacity, vgl. Rampelt et al. 2018) und nicht aus Europa. Es stellt sich dabei die Frage, welche europäischen Lösungen es geben kann, um eigene Daten(sicherheits)standards und übergreifend „sichere digitale Bildungsräume“ (BMBF 2019) zu gewährleisten. Auf europäischer Ebene wurde mit dem ersten Aktionsplan für digitale Bildung die „Einrichtung einer europaweiten Plattform für die digitale Hochschulbildung“ (Europäische Kommission 2018) als zentrale Perspektive formuliert. Bisher hat sich aber keine einzelne Plattform als eine Art europäische Hochschulcloud herauskristallisiert und Varianten einer Förderung der Interoperabilität, Kooperation und Vernetzung bestehender Initiativen scheinen deutlich wahrscheinlicher.Footnote 15
In themenspezifischen Bereichen, wie insbesondere Datenkompetenzen, digitalen Kompetenzen und Kompetenzen im Bereich Künstlicher Intelligenz gibt es, auch aufgrund der Prioritäten der Europäischen Kommission, große Potenziale einer europäischen Zusammenarbeit. So wird seit 2019 vom BMBF mit dem KI-Campus eine Lernplattform für Künstliche Intelligenz gefördert, die im Sommer 2020 als Betaversion deutsch- und englischsprachig online gegangen ist.Footnote 16 Diese Plattform, die auf europäischer Ebene früh auch mit dem Land Luxemburg kooperierte, könnte ein Pilotmodell für durch Open-Source- und OER-Prinzipien geprägte Lösungen mit europäischem Profil darstellen.
Aufgabe der europäischen Stakeholder, der EHEA-Mitgliedsländer und ganz besonders auch der Europäischen Kommission muss es sein, die skizzierten Ansätze zur Stärkung von Kompetenzen für das digitale Zeitalter noch stärker strategisch zu unterstützen und dabei insbesondere Möglichkeiten der Interoperabilität und der Zusammenarbeit zu fördern. Die Offenheit von Bildungsressourcen und Technologien sollte dabei eine zentrale Rolle spielen.
3.3 Qualitätssicherung und Zertifizierung
3.3.1 Qualitätssicherung digitaler Lehr- und Lernszenarien
Die Etablierung der Qualitätssicherung als Schlüsselelement des Hochschulwesens ist eine der Erfolgsgeschichten des Bologna-Prozesses. Im Jahr 1999, als die Bologna-Erklärung unterzeichnet wurde, gab es nur vereinzelt Qualitätssicherungssysteme, mittlerweile gelten sie als Schlüsselelement, um Harmonisierung und qualitätsorientierte Verbesserung von Curricula und Qualifikationen zu ermöglichen und das gegenseitige Vertrauen in Bezug auf Hochschulbildung und Anerkennungsfragen zwischen den EHEA-Mitgliedsstaaten zu stärken (Szabó und Tück 2018). Seit Beginn des Bologna-Prozesses haben 30 Länder ein voll funktionsfähiges Qualitätssicherungssystem für alle Hochschuleinrichtungen eingerichtet, das von im European Quality Assurance Register for Higher Education (EQAR) registrierten Agenturen umgesetzt wird (European Commission, EACEA und Eurydice 2020).
Digitale Lehr- und Lernszenarien sind bisher jedoch oft nicht systemisch hinterlegt und unterliegen hinsichtlich der formalen Anforderungen noch großer Unsicherheit. Einerseits ermöglichen neue Formen von Lernangeboten potenziell flexiblere und stärker personalisierte Lehr- und Lernszenarien und die Transparenz der didaktischen Gestaltung könnte erhöht werden. Andererseits sind grundlegende Fragen zu rechtlichen Aspekten wie Urheberrecht und Datenschutz oft noch offen. Große Herausforderungen ergeben sich etwa im Kontext der Identitätsfeststellung bei digitalen Abschlussprüfungen (vgl. Rampelt et al. 2018). Zusätzlich bringen digitale Lehr- und Lernszenarien auch neue didaktische Anforderungen mit sich. Die COVID-19-Pandemie hat all diese offenen Fragen in Bezug auf die Qualitätssicherung digitaler Lehr- und Lernszenarien dringender denn je gemacht: „A sharp shift to distance and blended education modes also necessitates revisiting […] quality assurance mechanisms, transparency tools, and recognition procedures“ (BFUG 2020b, S. 4).
Im Rahmen des Bologna-Prozesses wurden bereits klare Standards und Richtlinien (u. a. HRK 2015) festgelegt, die grundsätzlich auf digital gestütztes Lernen und Lehren angewendet werden können. Die Qualitätssicherungssysteme und -prozesse müssen jedoch bis zu einem gewissen Grad an neue Lernprozesse und -formate angepasst werden (vgl. Huertas et al. 2018; Rampelt et al. 2018). Dabei sollten bestehende Kriterien und Maßnahmen nicht ersetzt, sondern erneuert und ergänzt werden, um der Digitalisierung in Studium und Lehre angemessen Rechnung zu tragen und Sicherheit und Transparenz für alle Beteiligten zu gewährleisten. Darüber hinaus sollten Qualitätsstandards für digitale Technologien und Daten, die von Hochschulen eingesetzt werden, diskutiert werden, da sie zur De-facto-Lernumgebung der Lernenden beitragen. Die COVID-19-Pandemie hat hier, insbesondere durch zahlreiche Ad-hoc-Maßnahmen, oft zu Rechtsunsicherheit, zum Beispiel in Bezug auf den Einsatz kommerzieller Software im Kontext akademischer Lehre und Prüfungen, geführt. Diesen neuen Anforderungen muss mit einer Ausweitung von Standards und Leitlinien begegnet werden.
An der Schnittstelle zwischen dem qualitätsgesicherten Kompetenzerwerb und digitalen Transformationsprozessen kann auch eine Verbindung zwischen der Qualitätssicherung sowie der Anerkennung oder Anrechnung von Kompetenzen (Rampelt et al. 2018) hergestellt werden, die im Rahmen des Bologna-Prozesses traditionell als zwei getrennte (aber miteinander verbundene) Themenbereiche betrachtet wurden, unter einer lernendenzentrierten Perspektive jedoch stärker miteinander verschmelzen. In diesem Zusammenhang wurden in den letzten Jahren neue Methoden und Qualitätsstandards für Qualifizierung, Zertifizierung und Zeugniserteilung diskutiert (Camilleri und Rampelt 2018; Rampelt et al. 2019). Ein besonders aktuelles Konzept stellen dabei sogenannte Micro-Credentials dar.
3.3.2 Micro-Credentials als Zertifizierungsform zur Förderung neuer Lernwege
„Another beneficial discovery of the crisis relates to the concept of Micro-Credentials“ (BFUG 2020b).
Bei Hochschulbildung geht es um die Erarbeitung und Vermittlung von Wissen und Kompetenzen, aber auch um die Ausstellung von Zertifikaten für Lernleistungen an Personen, die von Dritten, die nicht Teil des Lernprozesses waren, anerkannt werden. Dies ermöglicht Einzelnen den Übergang von einem Abschnitt des Bildungssystems zum nächsten, von der Hochschulbildung in den Arbeitsmarkt, sowie die Sichtbarmachung erworbener Kompetenzen über die gesamte Bildungs- und Erwerbsbiografie. In der ersten Phase der Bologna-Reformen führten alle Hochschulsysteme eine Struktur von vier Bologna-Zyklen ein, die mit Zertifikaten auf verschiedenen akademischen Niveaus enden. Es handelte sich dabei um eine Harmonisierung der Niveaus und der Nomenklatur, die darauf abzielte, die Anerkennung von Qualifikationsnachweisen system- und länderübergreifend zu erhöhen (Hackl 2001).
Aber ist diese vergleichsweise starre Struktur für die Zukunft der Hochschulbildung zeitgemäß und effektiv? Eine der wesentlichen Einschränkungen der Hochschulbildung in einer sich stetig verändernden Welt besteht darin, dass hohe administrative Hürden für den Zugang zu Lernprogrammen bestehen und diese Programme in der Regel lange dauern (Orr et al. 2020a). Darüber hinaus wird bisher als Regelfall angenommen, dass Lernpfade linear und sequenziell verlaufen. Die EUROSTUDENT-Daten für Studierende an europäischen Hochschulen zeigen jedoch, dass viele Studierende ihren Bildungsweg auf dem Weg zum Abschluss unterbrechen (Hauschildt et al. 2018). Und während in Politik und Praxis vom lebenslangen Lernen die Rede ist, erhöhen additive kleinere Lernblöcke während des Lebensweges bisher den Wert des formalen Bildungsprofils einer Person tendenziell nicht. Dies hat zur Konsequenz, dass die Hochschulbildung Personen vorbehalten bleibt, die in der Lage sind, diesen umfassenden Programmen zu folgen, und für die Zeit finanzielle Unterstützung erhalten. Auch wenn die Diskussionen über flexiblere Hochschulbildung bereits seit Langem geführt werden, so ist erst mit der COVID-19-Pandemie, mit unmittelbar unterbrochenen Bildungsverläufen, ein verstärkter Fokus darauf zu beobachten (BFUG 2020b).
Wie kann also europäische Hochschulbildung organisiert werden, sodass sie mehr Inklusivität, Individualisierung und Flexibilität unter den zuvor skizzierten Rahmenbedingungen ermöglicht, zeitgemäßen Kompetenzerwerb sicherstellt und gleichzeitig die zuvor skizzierten Qualitätsanforderungen weiterhin bedeutsam bleiben? Micro-Credentials werden als ein möglicher Weg gesehen, um Flexibilität von Bildungswegen zu ermöglichen, die Anerkennung und Anrechnung verschiedener Lehr- und Lernszenarien zu verbessern, Lernangebote bedarfsorientierter zu gestalten und Kohärenz, Transparenz und Wert für nichtlineare Lernpfade zu schaffen (Chakroun und Keevy 2018; ICDE 2019; Kato et al. 2020). Zwar gibt es bisher keine einheitlichen Definitionen, was genau Micro-Credentials sind, aber die verwendeten Definitionen enthalten oft als gemeinsame Merkmale die begrenzte Dauer der Lernaktivitäten, die zu einem Micro-Credential führen, und die Arbeitsmarktrelevanz der Kompetenzen (Resei et al. 2019).
Hochschulen und insbesondere Anbieter von nichttraditionellen und digitalen Lernangeboten bieten solche Micro-Credentials bereits in unterschiedlichen Ausprägungen für Lernende an. Um jedoch wirklich nutzbar zu werden, müssen Micro-Credentials mindestens die vier folgenden Voraussetzungen erfüllen, die im Rahmen von übergeordneten Rahmenbedingungen sichergestellt werden sollten (vgl. Orr et al. 2020a):
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Transparenz: Micro-Credentials sollten transparent dokumentieren, was Zertifikatsinhabende getan haben, um das Credential zu erlangen, wie dies überprüft wurde und wer den Kompetenzerwerb bestätigt hat.
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Vertrauen: Micro-Credentials sind Teil einer Gruppe von Reformen, die kollektiv als alternative Credentials bezeichnet werden. Entscheidend für deren Nutzen ist das Vertrauen in den Prozess zur Verleihung der Zertifikate, da Lernende sonst Dritte von den Kompetenzen weiterhin im Einzelfall überzeugen müssen.
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Flexibilität: Micro-Credentials sollen flexiblere Lernwege erleichtern. Diese sollten sowohl im formalen als auch im nichtformalen Bereich stattfinden.
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Innovation: Insgesamt ergibt sich das Interesse an Micro-Credentials aus ihrem Potenzial, Innovationen bei der Anerkennung und Zertifizierung von Lernprozessen zu erleichtern.
Natürlich können innovative Einzelakteur*innen, Plattformen oder Institutionen jederzeit digitale Zertifikate ausstellen, aber um einen breiten Mehrwert für Empfänger*innen zu sichern, sind kollektive politische Anstrengungen erforderlich. Positiv zu vermerken sind daher aktuelle Entwicklungen auf EHEA-Ebene. Das Projekt MICROBOL (Micro-credentials linked to the Bologna key commitments)Footnote 17 arbeitet mit Akteur*innen des Europäischen Hochschulraums zusammen, um im Rahmen des Bologna-Prozesses zu untersuchen, ob und wie die bestehenden Bologna-Instrumente für Micro-Credentials genutzt werden können (MICROBOL 2020). Dies sind gute Voraussetzungen für eine zielführende Auseinandersetzung mit der Digitalisierung als strategischer Aufgabe im Europäischen Hochschulraum, nämlich über die Erleichterung und Förderung von neuen Lernwegen durch digitale Technologien und innovative Zertifikate unter Berücksichtigung der bisherigen Bologna-Ziele und -Instrumente.