Schlüsselwörter

1 Einleitung

Ohne Zweifel hat die Coronakrise eine enorme Schubkraft für die digitale Lehre entwickelt. Welchen Stellenwert digitale Lehre langfristig und flächendeckend erhält, wird sich erst zeigen, wenn sie nicht mehr „systemrelevant“ ist. Lehrende sind im Sommersemester 2020 nicht wegen der möglichen Vorteile auf digitale Lehre umgeschwenkt, sondern aufgrund der fehlenden Alternative zur Präsenzlehre. Wenn Lehrende jedoch mit digitalen Werkzeugen versuchen die analoge Lehre abzubilden, gibt es viele Einschränkungen. Daher werden viele in dieser Krise weniger den Mehrwert des Digitalen als vielmehr den Wert der Präsenzlehre erkennen.

Vor diesem Hintergrund stellen wir grundlegendere Überlegungen zum Lernen und Lehren in den Mittelpunkt. Die Digitalisierung der hochschulischen Bildung darf nicht von der technischen Ebene angetrieben sein. Sie darf nicht eine Kopie von Präsenzlehre sein, sondern muss im Sinne einer grundlegenden Systemänderung weitergedacht werden. Bislang fehlt für diese Transformation jedoch ein zielgerichtetes Vorgehen.

Ausgehend von Überlegungen zum Lehr- und Lernverständnis skizzieren wir grundlegende Ideen für die Entwicklung und Gestaltung des hochschulischen Lehrens und Lernens (Kap. 2). Um sich für solche Veränderungen zu öffnen, benötigt es aus unserer Sicht eine Loslösung von festgefahrenen Denkstrukturen. Dafür werfen wir einen Blick auf die Gestaltung von Spielwelten. Wir zeigen, wie es den Entwickler*innen von Spielen gelungen ist, das Spielen erfolgreich von Brettspielen hin zu virtuellen Spielumgebungen für große Gruppen zu digitalisieren und zu skalieren (Kap. 3). Abschließend stellen wir Ihnen mit „Gaming the System“ eine Herangehensweise vor, um mithilfe empirisch ermittelter Spielelemente die motivationalen Defizite von Lernumgebungen zu erkennen und kreative Lösungsansätze zu entwickeln (Kap. 4).

2 Das Lehr- und Lernverständnis als Ausgangspunkt für digitale Lehr- und Lernwelten

Die Coronakrise hat die bisher zögerliche Integration digitaler Medien in Studium und Lehre massiv beschleunigt. Gleichzeitig gewinnt mit dieser Beschleunigung die Frage an Bedeutung, unter welcher Perspektive der Einsatz digitaler Medien erfolgt. Mit einer vorschnellen Fokussierung auf Möglichkeiten des Medieneinsatzes ging immer schon die Gefahr einher, veraltete Lern- und Lehransätze wiederzubeleben (vgl. Arnold 2006, S. 15 f.). Die antreibende Kraft für die Gestaltung von Hochschullehre sollte nicht der Medieneinsatz, sondern vielmehr ein persönlich reflektiertes Lehr- und Lernverständnis sein.

2.1 Ausgangspunkt Lernverständnis

Mit Blick auf lernpsychologische Erkenntnisse kann festgestellt werden, dass sich das Verständnis von Lernprozessen von der Annahme einer Außendetermination hin zu einer Determination durch innere Strukturiertheit entwickelt hat. Um dies zu verdeutlichen, kann ein Wechsel von einer Erzeugungs- zu einer Ermöglichungsdidaktik beschrieben werden (vgl. Schüßler und Kilian 2017, S. 87 f.): Bis in die Siebzigerjahre ging man bei den damals dominierenden behavioristischen Lerntheorien davon aus, dass der Mensch durch Reize gelenkt werden kann und Lernen damit durchaus von außen erzeugt wird. Unter der Perspektive der Kognitionspsychologie, die sich auf das Modell der menschlichen Informationsverarbeitung stützt, gewinnen die inneren Vorgänge des Lernens einen zentralen Stellenwert. Die mechanistische Vorstellung „Gelernt wird, was gelehrt wurde“ verliert unter subjektwissenschaftlicher Perspektive weiter an Einfluss: Klaus Holzkamp prägt in diesem Zusammenhang den Begriff des Lehrlernens und beschreibt damit die Annahme, dass man mit einem bestimmten Lehraufwand zwangsläufig einen bestimmten Lerneffekt erzeugen kann. Lernprozesse sind allerdings nicht in dieser Form steuerbar, was Holzkamp mit dem Begriff des Lehrlernkurzschlusses verdeutlicht (vgl. Holzkamp 1993, S. 395 ff.). Lernen ist unter der subjektwissenschaftlichen Perspektive nicht von außen bedingt, sondern vielmehr von der Person begründet. Das heißt, gelernt werden kann erst vor dem Hintergrund und im Kontext subjektiver Handlungsgründe (vgl. ebenda, S. 25 ff.). Entscheidend für die Entstehung expansiver Lernhandlungen in institutionellen Bildungskontexten ist, dass die gestellten Anforderungen als Lernproblematik übernommen werden (vgl. ebenda, S. 191 ff.). Auch unter dem erkenntnistheoretischen Blickwinkel des Konstruktivismus, der durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse und subjektwissenschaftliche Zugänge bestärkt wird, kann der Wechsel von einer Interventions- hin zur Aneignungslogik nachvollzogen werden (vgl. Zinger 2012, S. 96 ff.). Diese Loslösung von der Vorstellung einer kausalen Abhängigkeit des Lernens vom Lehren wird als Ermöglichungsdidaktik beschrieben (vgl. Arnold und Schüßler 2003; Arnold 1996).

2.2 Schlussfolgerungen für die Ausrichtung der Lehre

Mit griffigen Aussagen wie etwa „Von der Belehrungs- zur Lernkultur“ oder dem viel zitierten „Shift from Teaching to Learning“ kann die Auswirkung eines subjektwissenschaftlich und konstruktivistisch geprägten Lernbegriffs auf die Lehre betitelt werden. Etwas differenzierter beschrieben geht es um eine andere und vielschichtigere Haltung in der Lehre: Lehrende verstehen sich nicht mehr nur als Übermittler*innen des Wissens, was in die Köpfe der Lernenden soll, sondern sehen ihre Aufgabe darin, Prozesse der Wissenserschließung und -aneignung zu ermöglichen und anzuregen. Die wissensvermittelnde Aufgabe von Lehrenden verliert dadurch nicht an Relevanz, doch rücken die beratende Funktion sowie die Gestaltung und Begleitung kooperativer und eigenständiger Selbstlernphasen stärker in den Vordergrund des didaktischen Settings (vgl. Siebert 2008, S. 124). Insbesondere in hochschulischen Lernkontexten, in denen zumeist komplexe und authentische Aufgabenstellungen kooperativ bearbeitet werden müssen, stehen Ansätze wie forschendes, situiertes oder projektorientiertes Lernen auch deshalb hoch im Kurs. Solche Ansätze und der beschriebene Haltungswechsel seitens der Lehrenden bedingen ein anderes Rollenverständnis der Lernenden und eine verstärkte Übernahme an Verantwortung für den eigenen Lernprozess. Viele der etablierten Strukturen an Schulen und Hochschulen sind hinderlich für einen solchen Haltungs- und Rollenwechsel.

2.3 Der digitale Wandel schafft neue Möglichkeitsräume für die Hochschullehre

Um diese Probleme zu lösen muss nicht nur das richtige digitale Werkzeuge gefunden werden. Die Ausgestaltung von Bildungsräumen ist vielmehr durch das eigene Handeln geprägt. Digitale Technologien eröffnen hierfür neue (Handlungs-)Räume – vor allem auch Räume der Kommunikation und der Vernetzung (vgl. Schiefner-Rohs und Hofhues 2018, S. 250). Das Coronasemester 2020 hat viele Lehrende dazu genötigt, diese neuen Räume zu betreten. Aus unserer Sicht zeichnen sich drei Bereiche ab, die in ihrem Zusammenspiel sowie unter Berücksichtigung der Potenziale der digitalen Technologien geeignet sind, um die Hochschullehre weiterzuentwickeln und grundlegend zu verändern:

Geballte Ressourcen: Die Entwicklung und Betreuung von Lerngelegenheiten ist nicht mehr zwingend ortsgebunden – und damit auch (auf)teilbar. Digitale Technologien ermöglichen es, Ressourcen zu bündeln, indem Lehrende hochschulübergreifende Lernangebote schaffen und gemeinsam betreuen.

Lerngemeinschaften entwickeln: Gelingt es Hochschulen, die physischen und digitalen Rahmenbedingungen für Lern- und Arbeitsumgebungen in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen, können sie stärker als bisher die Bildung von niveau- und fächerübergreifend agierenden Lerngemeinschaften fördern. Nicht die Wissensvermittlung, sondern die Auseinandersetzung mit diesem Wissen könnte dann das Geschehen innerhalb der Hochschule bestimmen.

Grenzen überwinden: Die Potenziale von heterogen zusammengesetzten Gruppen wie auch von Inter- und Transdisziplinarität sind erkannt, können aber vielerorts aufgrund der strukturellen Gegebenheit noch zu wenig genutzt werden. Auch die Grenze zwischen Arbeits- und Lernwelt kann mit digitalen Räumen leichter überwunden werden.

Alle drei Bereiche zielen darauf ab, Lerngemeinschaften von Lehrpersonen, Berufstätigen und Studierenden zu entwickeln. Doch wie können solche neuen Formen von vernetzten Lern- und Arbeitsgemeinschaften – die dem Anspruch einer Transformation im Bildungsbereich gerecht werden könnten – ausgestaltet werden? Ideen dazu leiten wir im nächsten Kapitel aus dem Kontext digitaler Spielwelten ab.

3 Spiele als Vorbild erfolgreicher digitaler Transformation

Die Computer- und Videospielbranche ist im Bereich der Digitalisierung äußerst erfolgreich. Sie setzt digitale Technologien zielgerichtet ein und treibt sie in ihrem Sinne voran. Ihre Spielumgebungen weisen Parallelen zu Lernumgebungen auf. Beide verbindet das Ziel, Umgebungen zu entwerfen, die das Verhalten der Handelnden beeinflussen und auf ein Ziel hinleiten (vgl. Bröker 2016, S. 53).

Schon bei den ersten Computer- und Videospielen haben gute Spielentwickler*innen dabei nicht einfach Brettspiele digital nachgebildet. Eine digitale 1:1-Umsetzung ist nur schwacher Ersatz eines analogen Originals. Das Klicken am Bildschirm kann das soziale und haptische Erlebnis des gemeinsamen Spiels am Tisch nicht transportieren. Brettspiele und ihre stark vereinfachten, aber manuell handhabbaren Regeln wirken mit der Rechenleistung eines Computers unangebracht. Spielspaß und Motivation gehen dabei verloren. Um das Spielen erfolgreich digital umzusetzen, haben sich Entwickler*innen daher auf deren wesentliches Erfolgskriterium konzentriert: sie so motivierend zu gestalten, dass Spieler*innen davon gefesselt werden. Motivation ist das bestimmende Kriterium, wenn Spiele entwickelt werden, da von ihr auch der wirtschaftliche Erfolg abhängt.

3.1 Massively Multiplayer Online Games: Das Skalieren sozialer Interaktion

Die ersten Video- und Computerspiele waren Single-Player-Spiele. Die Rechen- und Grafikleistung ermöglichte es, Spielwelten und Simulationen komplexer und damit authentischer zu gestalten. Die Bedeutung des gemeinsamen Spielens für die Motivation entwickelte sich bei ihnen nur allmählich weiter. Erst mit dem Einzug von Netzwerktechnik im Heimbereich entstanden Computer- und Videospiele, die es mehreren Spieler*innen erlaubten, innerhalb einer gemeinsamen Spielwelt zu agieren. Die neue Technologie ermöglicht es, ein wesentliches Element der Motivation von Brettspielen in die digitale Welt zu übertragen: das gemeinsame Spielen.

Anfang der 90er-Jahre wurden die ersten Multiplayer Online Games entwickelt. Sie machten sich die zunehmende Verbreitung des Internets zunutze, um das gemeinsame Spielen orts- und zeitunabhängig zu machen. Mit den heutigen Massively Multiplayer Online Games (MMOG) haben sie die Interaktion und Kommunikation des gemeinsamen Spielens nicht einfach kopiert, sondern so weiterentwickelt, dass es auf Gruppen von Zehntausenden von Spieler*innen skaliert. Schon seit Anfang der 2000er-Jahre sind Spiele wie World of Warcraft oder EVE Online damit sehr erfolgreich. Auch wenn ihre thematischen Hintergründe fiktiv sind, sind dabei vielfältige Lernprozesse und wissenschaftliche Verhaltensweisen zu beobachten (vgl. Steinkuehler und Duncan 2008, S. 536). Die Spieler*innen lösen gemeinschaftlich komplexe Probleme, analysieren die Spielsysteme, entwerfen Algorithmen, diskutieren und dokumentieren ihre Ergebnisse und Erkenntnisse und unterstützen und trainieren andere Spieler*innen. Das alles läuft selbst organisiert ab und fördert sowohl die individuellen Fähigkeiten und Spezialisierungen aller Beteiligten als auch den Erfolg von Gruppen (vgl. Bröker 2016, S. 48).

3.2 Designprinzipien für die digitale Interaktion großer Gruppen

Eine einfache Übersetzung des gemeinsamen Spielens in die digitale Welt ist es, die Spielumgebung zu vergrößern. Ein Brettspiel wie Monopoly könnte theoretisch mehr Spieler*innen einbinden, indem zusätzliche Straßen eingefügt werden. Dass dieses Erweiterungsprinzip nur begrenzt funktioniert, wird deutlich, wenn man sich die damit einhergehenden zunehmenden Wartezeiten der einzelnen Spieler*innen vor Augen führt. Allein die Spielwelt zu vergrößern, skaliert auch mit digitalen Möglichkeiten nicht die motivierenden Aspekte gemeinsamen Spielens.

Die Entwickler*innen von MMOGs haben das gemeinsame Spielen in die digitale Spielwelt transformiert. Zentrale und vom Spielkontext unabhängige Designprinzipien schaffen für die Spieler*innen einen Möglichkeitsraum, der die Prinzipien situierten Lernens widerspiegelt und gleichzeitig örtlich und zeitlich verteiltes motivierendes Spielen ermöglicht (vgl. Bröker 2016, S. 56). Dafür wurden klassische Spielelemente und Eigenschaften von Brettspielen und digitalen Spielen übernommen. Aufgrund der örtlich und zeitlich verteilten Spieler*innen wurden diese Elemente adaptiert und weiterentwickelt. Ein Beispiel ist, „komplizierte“ Situationen mithilfe eines Computers zu berechnen und zu visualisieren. Mit den Möglichkeiten digitaler Netze läuft die Spielwelt nicht mehr lokal ab, sondern steht als persistente Umgebung einer großen Zahl von Spieler*innen zur Verfügung. Jederzeit und von überall erreichbare Server berechnen die Auswirkungen aller Einzelaktionen in der Spielwelt und geben sie als Feedback an die Spieler*innen zurück. Andere Designprinzipien sorgen für eine dynamische Weiterentwicklung der simulierten Spielwelt oder machen die Interaktion der Spieler*innen untereinander unabdingbar (vgl. Bröker 2016, S. 60 ff.). Aufgrund der Ähnlichkeit von Spiel- und Lernumgebungen bieten diese Designprinzipien gemeinsamen Spielens Anhaltspunkte, wie auf der Basis digitaler Technologien motivierende Lerngemeinschaften und skalierbare Lernumgebungen aufgebaut werden können.

4 Spiele als Vorbild für die Gestaltung motivierender Lernumgebungen

Die Prinzipien von Multiplayer-Spielen veranschaulichen, wie mit digitaler Technologie Lerngemeinschaften und geeignete Lernumgebungen aufgebaut werden können. Gute Spiele zeigen jedoch auch, dass sie vorbildlich darin sind, motivierende Umgebungen für Spieler*innen und Spielgemeinschaften zu schaffen.

4.1 Gamification: Motivation spielerisch erzeugen

Ein bereits seit 2010 verfolgter Ansatz ist Gamification. Damit ist der Einsatz von spieltypischen Elementen in spielfremden Kontexten gemeint (vgl. Deterding et al. 2011). Einige Elemente werden in der Literatur sehr häufig genannt und haben das Verständnis von Gamification geprägt: Punkte, Abzeichen, Bestenlisten, Leistungsgraphen, Narrativ und Avatar (vgl. Fleisch 2018, S. 32 ff.). Ziel ist es, Menschen bei der Erledigung ihrer Aufgaben spieltypische Erfahrungen zu ermöglichen, um sie beispielsweise zur Erledigung monotoner oder kreativ fordernder Aufgaben zu motivieren. Gamifizierte Apps, Webseiten und Serviceangebote sind auch im Bildungsbereich die Folge, da sich spieltypische Elemente gut in bereits vorhandene digitale Plattformen integrieren lassen (vgl. Roderus 2015; Reiners et al. 2015).

Gleichwohl zeigt sich, dass der Übertrag von Spielelementen in einen spielfremden Kontext alles andere als einfach ist. Daher haben sich viele Versprechungen und Hoffnungen, mit denen das Thema Gamification zu Beginn der 2010er-Jahre aufgeladen wurde, in der Praxis nicht erfüllt (vgl. Bogost 2015, S. 69). Jedes Gamification-Projekt läuft beispielweise Gefahr, zu einem motivationalen Nullsummenspiel zu werden, indem die Motivation der einen durch die Demotivation der anderen erkauft wird, etwa bei einer öffentlichen Rangliste (vgl. Werbach und Hunter 2012, S. 76). Und selbst dann, wenn es gelingt, die Zielgruppe mit spielerischen Mitteln zu motivieren, ist der motivationale Effekt oft nicht nachhaltig (vgl. Nicholson 2015, S. 3). Man entfacht ein motivationales Strohfeuer, das schnell wieder abgebrannt ist, sobald der Neuigkeitswert des spielerischen Ansatzes erschöpft ist. Allerdings stellt sich angesichts des hohen Anteils von 43 % der Deutschen, die regelmäßig ihre Freizeit mit Computerspielen verbringen (vgl. May 2019, S. 2), nicht mehr prinzipiell die Frage, ob uns Spiele motivieren. Die Frage ist nur: Wie und womit gelingt ihnen dies?

4.2 Projekt EMPAMOS: Die motivationale DNA von Spielen entschlüsseln

Diese Frage bildet den Ausgangspunkt für das Forschungsprojekt EMPAMOS (Empirische Analyse motivierender Spielelemente), das die Technische Hochschule Nürnberg seit Ende 2016 gemeinsam mit dem Deutschen Spielearchiv durchführt (EMPAMOS 2020). Das Deutsche Spielearchiv verfügt mit aktuell mehr als 30.000 Brett- und GesellschaftsspielenFootnote 1 über die weltweit größte Sammlung dieser Art. Ziel des Projekts ist es herauszufinden, welche Elemente die Spielentwickler*innen in ihren Spielen wie kombinieren, um daraus menschliches Handeln und soziale Interaktion zu motivieren.

In der ersten Projektphase wurden die Spiele qualitativ beforscht, indem eine Vielzahl davon gespielt und die wiederkehrenden Spielelemente als Muster dokumentiert wurden. Dies geschieht in Anschluss an die aus der Architektur entlehnte Methodik der Architekturmuster (vgl. Alexander et al. 1977). Danach ist ein Spielelement eine in der Praxis bewährte Problemlösung für ein wiederkehrendes Entwurfsproblem (vgl. Björk und Holopainen 2005, S. 33). Um herauszufinden, welches motivationale Problem ein Spielelement löst, stellen wir uns für ein Spiel dieselbe Frage, wie sie sich eine Architektin für ein Haus stellt, dessen Statik sie beurteilt, bevor sie eine Wand entfernen möchte. Auch wir fragen uns: Trägt das Spielkonzept noch, wenn man das Element aus dem Spiel entfernt? Macht das Spiel dann noch Spaß?

Durch das gedankliche Entfernen der Spielelemente zeigen sich die Motivationsprobleme, die die Spielelemente im Spielkontext lösen. Mit Rückgriff auf die Motivationspsychologie, insbesondere auf die Selbstbestimmungstheorie nach Deci und Ryan (1985), lässt sich die motivationale Wirkung von Spielelementen in vier Kategorien einteilen (vgl. Sailer 2017, S. 113 ff.). Richtig eingesetzt, fördern Spielelemente unser Erleben von:

  • Autonomie: Wir fühlen uns bei unserer Tätigkeit als selbst- und nicht fremdbestimmt.

  • Sozialer Eingebundenheit: Wir fühlen uns von anderen akzeptiert und anerkannt.

  • Kompetenz: Wir erleben uns als fähig, die gewünschten Ergebnisse zu erzielen.

  • Bedeutung: Wir betrachten unser Tun als sinnvoll, da wir damit einem Ziel näher kommen.

In der zweiten Projektphase beforschen wir die Spiele quantitativ. Hierzu bereiten wir die Textanleitungen digital so auf, dass Machine-Learning-Algorithmen die Spielelemente in allen 30.000 Spielen des Archivs finden können. Aktuell arbeiten wir mit einer Datenbasis von 8.300 Spielen, die wir kontinuierlich ausweiten. Aus dieser Datenbasis wurden bislang über 40.000 Einzelevidenzen für den Einsatz von Spielelementen gewonnen. Die Suche und Dokumentation dieser empirischen Evidenzen erfolgt mithilfe einer eigens hierfür entwickelten Volltextsuchmaschine. Damit kann schnell und gezielt nach Spielanleitungen gesucht werden, die Textstellen enthalten, die die Verwendung eines Spielelements belegen. Auf diese Weise generieren wir einen manuell vollständig validierten Trainings- und Testdatensatz, den wir in Kombination mit einem history-basierten Active-Learning-Verfahren (vgl. Hu 2011, S. 41) für die Entwicklung der Machine-Learning-Modelle nutzen. Diese Modelle entscheiden automatisch anhand der Textanleitung, ob ein Spiel ein Spielelement nutzt. Die Erkennungsrate liegt bislang abhängig vom Spielelement zwischen 78 und 92 %.Footnote 2 Dies ist die Voraussetzung dafür, die häufigsten Elementkombinationen zu ermitteln. Hierfür nutzen wir mit der Assoziationsanalyse ein Verfahren, das auch für Warenkorbdaten und die Erstellung von Produktempfehlungen verwendet wird (Kunden, die Produkt X gekauft haben, kaufen auch Produkt Y). Statt zu untersuchen, welche Produkte gemeinsam gekauft werden, analysieren wir, welche Spielelemente die Spieleentwickler*innen häufig gemeinsam verwenden. Bislang wurden auf diese Weise 104 Spielelemente identifiziert und über 1800 Verbindungsmöglichkeiten in einer Datenbank dokumentiert. Dieser Katalog empirisch belegter Verbindungen (Verbindungskatalog) zeigt, wie die Spielelemente in Spielen miteinander kombiniert werden, um Motivationsprobleme zu lösen. Abb. 1 zeigt am Beispiel der Spielelemente Zeitlimit, Sammeln und Fortschrittsanzeige, wie diese drei Elemente in Spielen zu motivationsfördernden Molekülen zusammengefügt werden.

Abb. 1
figure 1

(Eigene Darstellung, Icons abgeändert verwendet von Vectors Market und Freepik nach CC 3.0 BY-Lizenz, www.flaticon.com. Zugegriffen: 16.03.2017)

Beispiel für ein motivationsförderndes Molekül aus drei Spielelementen.

4.3 Perspektivwechsel: Lernen und Lehren als „kaputtes Spiel“

Da die motivationale Wirkung der Spielelemente stark von den Bedürfnissen der Zielgruppe, dem Einsatzzweck und den Rahmenbedingungen abhängt (vgl. Codish und Ravid 2014; Voit 2015; Raab und Voit 2019), sollte idealerweise die Zielgruppe selbst dazu befähigt werden, ihre eigenen Motivationslösungen zu entwickeln. Hierzu führen wir an der TH Nürnberg Workshops mit Lehrenden und Studierenden durch, in denen die Teilnehmenden einüben, ihre Lern- oder Lehrsituation so zu betrachten, wie es Spielentwickler*innen tun würden: als ein „kaputtes Spiel“, das nur schlecht designt ist und keinen Spaß macht. Dieser Perspektivwechsel ermöglicht die Erkenntnis, dass im spielfremden Kontext bereits zahlreiche spieltypische Elemente vorhanden sind, die sich nicht motivational oder sogar demotivierend auswirken. Ziel dieser Analyse ist es, dass die Spieler*innen des kaputten Spiels erkennen, was ihnen in motivationaler Hinsicht fehlt: soziale Eingebundenheit, Bedeutung oder Autonomie- und Kompetenzerleben?

Wir treten mit diesem Vorgehen bewusst einen Schritt zurück und lösen uns von aktuellen Ansätzen des gamifizierten Lernens. Oft wirken deren Mechaniken übergestülpt. Es gelingt nicht, das vorhandene System motivierender zu gestalten, sondern nur eine zusätzliche Schicht darüberzulegen. Fällt diese wieder weg, bleibt die alte Lernsituation zurück (vgl. Roderus 2015). Deshalb verfolgen wir einen umgekehrten Ansatz: Statt eine zusätzliche Schicht von Spielprinzipien über einen Lernprozess zu legen, abstrahieren wir den Prozess des Lehrens und Lernens zu einem System von Spielelementen. Dadurch entsteht eine neue Sicht auf das Lernen in institutionellen Kontexten. Erst wenn klar ist, woran es mangelt, lassen sich im zweiten Schritt kreative Ideen entwickeln, um das „kaputte Spiel“ zu reparieren. Bei dieser Reparatur geht es nicht darum, den spielfremden Kontext in ein Spiel zu verwandeln. Ausgehend von den bereits vorhandenen Elementen können mithilfe des EMPAMOS-Baukasten passgenau die Spielelemente gefunden werden, die die motivationalen Defizite ausgleichen.

Jede Spielkarte dieses Baukastens steht für ein typisches Spielelement. Auf der Vorderseite der Karte sind zwei geschlossene Fragen abgedruckt. Wird die erste Frage von den Teilnehmenden mit Ja beantwortet, bedeutet dies, dass das Problem, welches das Element lösen kann, im spielfremden Kontext existiert. Ist dies nicht der Fall, wird die zweite Frage beantwortet, die darauf abzielt, ob dieses Element im spielfremden Kontext bereits als mögliche Lösung vorhanden ist (vgl. Abb. 2). So sind im Hochschulkontext beispielsweise sowohl ein Zeitlimit als auch eine Siegbedingung als Abgabefrist oder Bestehen von Prüfungen bereits vorhanden.

Abb. 2
figure 2

(Eigene Darstellung, Icons abgeändert verwendet von Vectors Market und Freepik nach CC 3.0 BY-Lizenz, www.flaticon.com. Zugegriffen: 16.03.2017)

Abbildung der motivationsfördernden Elementverbindungen im Kartenset.

Ausgehend von den Elementen, die im Kontext bereits vorhanden sind, werden diese Elemente mit solchen Elementen kombiniert, die die motivationalen Defizite der Zielgruppe lösen können. Jede Karte zeigt daher auf der Rückseite, mit welchen anderen Elementen es sich zu einem motivationsfördernden Molekül verbinden lässt. Die Elemente werden mithilfe von Holzverbindungen zu einem Netzwerk gelegt, dessen Bedeutung sich die Teilnehmenden anschließend mithilfe des Verbindungskatalogs erschließen können. Entscheidend ist hierbei, ob die Teilnehmenden die motivationsfördernden Moleküle als nützlich erachten. Dies klären sie in einem diskursiven Prozess. Abb. 2 zeigt beispielhaft, wie sich die Verbindung zwischen den Spielelementen Siegbedingung und Zeitlimit legen und mithilfe des Verbindungskatalogs interpretieren lassen.

Im März 2020 fand der erste Workshop mit Studierenden statt. Ziel des Workshops war, eine Lehrveranstaltung auszuwählen und darauf aufbauend Lösungen zu entwickeln, die das Lernen motivierender machen. Da die Studierenden keinen direkten Einfluss auf die Gestaltung der eigentlichen Lehrveranstaltung haben, sollten die Lösungen unabhängig von der Mitwirkung des Lehrenden umsetzbar sein. Damit der Umgang mit den Spielelementen überschaubar blieb, war das Kartenset auf die 25 am häufigsten vorkommenden Spielelemente beschränkt. In Gruppen von vier bis fünf Personen einigten sich die Studierenden zuerst auf eine typische Lehrveranstaltung. Mithilfe der Spielelementkarten identifizierten sie in einer gemeinsamen Diskussion mögliche vorhandene Spielelemente in ihrer gewählten Lehrveranstaltung und ihre Verbindungen. Mithilfe des Verbindungskatalogs überprüften sie die Verbindungen anschließend auf ihre Tragfähigkeit, das heißt, ob die Verbindung der beiden Karten vergleichbar ist mit den Verbindungen von Spielelementen von Spielen. Nach dieser ersten Analysephase zeigten sich in den verschiedenen Gruppen unverbundene Karten und Kartennetze – ein Indiz dafür, dass die Lehrveranstaltung mit ihren Elementen nicht als motivationsförderndes Gesamtsystem funktioniert.

Im abschließenden Teil des Workshops erweiterten die Studierenden das vorhandene System mithilfe weiterer Spielelementkarten und -verbindungen. Ziel war es, mit den Spielelementen Lösungen zu entwickeln, die die Studierenden im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten umsetzen konnten. Die Ergebnisse der Gruppen zeigten, dass die Studierenden dafür vor allem auf kooperative Lösungen setzten, um ihre Motivation bei den Lehrveranstaltungen zu verbessern. Abb. 3 veranschaulicht das Ergebnis einer Gruppe von Studierenden, die eine Vorlesung mit schriftlicher Prüfung bearbeitet und weiterentwickelt hat. Die (gestrichelt umrandeten) Systemerweiterungen zielen darauf ab, sich gegenseitig zu fordern und Fortschritte untereinander darzustellen und zu belohnen.

Abb. 3
figure 3

(Eigene Darstellung, Icons abgeändert verwendet von Roundicons und Freepik nach CC 3.0 BY-Lizenz, www.flaticon.com. Zugegriffen: 16.03.2017)

Vorlesung mit anschließender Prüfung: Erweitertes Ergebnisnetz einer Studierendengruppe (Erweiterung: mit pinkfarbenen Haftnotizen markiert).

5 Fazit

Digitalisierung ist ein offener Begriff, der keine Auskunft darüber gibt, wohin die digitale Reise uns führt. Das hochschulische Lehren und Lernen ist noch stark in analogen Strukturen verortet und versucht sich oft an digitalen 1:1-Kopien des Status quo. Auf dem Weg in die digitale Zukunft orientiert man sich noch zu stark am technisch Möglichen. Digitale Zukunftsvisionen sind so nur schwerlich zu erkennen.

Die Digitalisierung der Hochschulbildung braucht als Orientierung eine Vorstellung davon, in welcher Form man das, was man analog begonnen hat, digital weiterentwickeln kann. Überlegungen zum Lehr- und Lernverständnis helfen die Zielvorstellungen der Digitalisierung im Bildungsbereich zu leiten. Unser Ansatz beruht darauf, sich an Vorbildern zu orientieren, die den Wandel vom Analogen zum Digitalen erfolgreich bestritten haben. Hierfür haben wir digitale und analoge Spiele als Vorbild gewählt. Digitale Spiele haben gezeigt, dass man sich davon lösen muss, die analoge Vorlage zu kopieren, um die Potenziale des Digitalen zu erkennen und auszuschöpfen. Spiele bieten die Gelegenheit, unsere Perspektive zu wechseln und neben den technischen Möglichkeiten auch die motivationalen Aspekte des Lernens in den Blick zu nehmen. Entwickeln wir die Fähigkeit, Lernumgebungen als „kaputtes Spiel“ zu betrachten, entwickeln wir eine Reflexionskompetenz, mit der wir die neuen digitalen Möglichkeiten spielerisch ausprobieren können.

Wir glauben, dass sich diese Reflexionskompetenz mithilfe der vorgestellten Methode entwickeln lässt. Wir wollen damit einerseits diejenigen erreichen, die digitale Bildungsprojekte initiieren und umsetzen. Andererseits geben wir damit auch Lehrenden, Studierenden und Mitarbeiter*innen ein Werkzeug an die Hand, um die motivationalen Defizite digitaler Transformationsprojekte zu erkennen und spielerische Lösungsansätze zu finden. Wir haben mit der Methode „Gaming the System“ einen Ansatz entwickelt, um Systeme oder Teilsysteme – wie zum Beispiel das hochschulische Lehren und Lernen – zu analysieren und Impulse zu geben, motivationsfördernde Rahmenbedingungen zu gestalten.