Ein junger libyscher Asylbewerber, der in einem Camp unweit vom Landesamt wohnt, erlebt Anfang 2016 die Auswirkungen sich verselbstständigender bürokratischer Prozesse, die ins Absurde führen, auf täglicher Basis. Seit Monaten wartet er schon auf eine neue Komponente seines Rollstuhls. Die Institution Asyl ist sich natürlich nicht einig, wer die Kosten übernehmen soll. Ein monatelanger Briefverkehr in einer hochkomplizierten deutschen Sprache vermag ihm das gewünschte Teil nicht zu verschaffen. Er ist redselig, spricht einen Mix aus Englisch, Deutsch und Arabisch und nennt mich liebevoll Chomeini. Ein junger Asylbewerber aus Pakistan, der etwa sieben Sprachen beherrscht, fungiert zwischenzeitlich als mein Dolmetscher, wenn Gaddafi – so spreche ich meinen libyschen Gefährten im Gegenzug an – ins Arabische abdriftet. Abed (24), ein Afghane, ist auch immer dabei und amüsiert sich köstlich. Besonders herzerfrischend ist die Resonanz meiner Kontakte, die mit Humor die absurde Agenda der Institution zu bewältigen versuchen. Manchmal ergibt sich eine Gelegenheit, bei der wir vor einer Feuerschutztreppe am Hinterhaus entspannen. Dabei wird geraucht und wir unterhalten uns. Dieses lockere Zusammensein stellt eine willkommene Abwechslung dar. Denn ansonsten ist die Stimmung eher gedrückt und von Dauerstress geprägt, obwohl oder gerade weil man ständig auf irgendetwas wartet: auf die Anhörung, auf den Asylbescheid, auf den nächsten anwaltlichen Brief, auf den nächsten Gerichtstermin, die neue Unterkunft, das nächste Treffen mit Entscheidungsträger*innen und anderen Akteur*innen im Asylalltag usw. Warten ist wahrlich ein vortreffliches Mittel, um Macht zu demonstrieren. Den feindseligen Missmut, der lavaartig im Inneren des wartenden Menschen rumort und die Stimmung vergiftet, erfahre ich beim Teilnehmenden Beobachten am eigenen Leib, wenngleich mit dem Unterschied, dass es bei mir um nichts Existenzielles geht. Unser Freund aus Pakistan wartet ebenfalls. Er soll im Prinzip lediglich nach Italien transferiert werden, denn dort lebt sein bester Freund, den er sehr vermisst. Sie trafen sich auf dem Fluchtweg in der Türkei und sind seitdem gemeinsam unterwegs gewesen. Er will gar nicht in Deutschland bleiben. Er ist ja bereits in Italien registriert. Der Vorwurf seitens der Institution, er lüge, um die Sozialkasse Deutschlands auszuschlachten, verletzt ihn. Die Kommunikation mit den italienischen Behörden verläuft unfassbar schleppend, genau genommen gar nicht. Die zuständigen Behörden anderer Länder in Europa, insbesondere diejenigen, die vor der „Flüchtlingskrise“ deutlich mehr zu bewältigen hatten als die mitteleuropäischen Staaten im Herzen Europas, „rächen“ sich derzeit an Deutschland. Südeuropäische Staaten demonstrieren ihr Unbehagen angesichts der als unfair empfundenen EU-Flüchtlingspolitik ganz offen und unmissverständlich. Es werden als Retourkutsche ganze Busse voller nicht registrierter Geflüchteter in deutsche Städte geschickt, insbesondere aus Griechenland, Ungarn, Österreich und Italien. Faxe und Briefe bleiben in der Regel wochenlang unbeantwortet, und wenn eine Antwort eintrifft, gleicht sie einer kryptischen Geheimbotschaft, die ohnehin kein Mensch verstehen soll. Die türkische Regierung schickt derweil massenweise schwer kranke und behinderte Geflüchtete nach Deutschland, während geflüchtete Akademiker*innen ohne Wartezeiten eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis in der Türkei erhalten. Abed kann diese Ungeheuerlichkeiten nicht fassen. Sein Freund aus Istanbul berichtet ihm regelmäßig von diesen Entwicklungen, da er selbst darauf wartet, endlich nach Berlin zu kommen. Das seien Zustände wie in Afghanistan, wo Korruption und Willkür an der Tagesordnung seien, erklärt er mir fieberhaft, während er die Bilder seines Freundes aus Istanbul zeigt. Hilflos angesichts der starren Bürokratie im Chaos der Flüchtlingspolitik bleibt tatsächlich nur noch das Warten. Gaddafi wartet auf die lang ersehnte Rollstuhlkomponente, unser Weggefährte aus Pakistan auf ein Fax aus Mailand und Abed auf seine Aufenthaltszusage. Warten bildet einen essenziellen Teil der Lebenswelten aller Asylbewerber*innen im Ankunftskontext. Die sinnlos verschwendete Zeit während des Asylprozesses – besonders für abgelehnte Asylbewerber*innen ohne Arbeitserlaubnis, mehrheitlich aus Gebieten, die weiter unten in der aufenthaltsrechtlichen „Erfolgshierarchie“ der Geflüchteten stehen („ethnische Hierarchisierung“; siehe Fallbeispiel 1) – lädt geradezu ein, in dubiose, teils kriminelle Parallelwelten des Ankunftskontextes einzudringen. Gaddafi etwa wird mehrere Male mit Drogen erwischt und von der Polizei ins Heim gefahren. In der darauffolgenden Zeit wird er sogar beim Dealen festgenommen. Seine Form der sekundären AnpassungFootnote 1 an die Angriffe der Institution laufen auf das Abweichen in die Kriminalität hinaus. Auch Abed kommt mit dem deutschen Gesetz in Konflikt. Etwa ein halbes Jahr später, nach einem zufälligen Wiedersehen am Landesamt, beschließe ich, ihn zu einem meiner Interviewpartner für die mehrphasigen, explorativen Interviews zu machen. Er hat ohnehin nichts zu tun und ist einverstanden, mit der einzigen Bitte, ihn unter keinen Umständen heimlich zu filmen. Ich sehe ihn in dieser Zeit acht Mal innerhalb von sieben Monaten. Nach drei Treffen kann ich ihn für ein halbes Jahr nicht erreichen. Daraufhin meldet er sich unverhofft, so dass die Interviews zu Ende geführt werden können. Oft warten wir am Landesamt oder sitzen in umliegende Cafés der Turmstraße. So kommen ca. acht Stunden Interviewmaterial zusammen.

Beim zweiten Treffen vertraut er mir an, er habe wegen Gewalttaten Probleme. Ich kann es zunächst gar nicht glauben. Er schaut meistens verträumt, geradezu arglos drein und wirkt von seinem Auftreten her eher wie ein schüchterner, sanftmütiger und gutgläubiger Typ, der kein Wässerchen trüben könnte. Seine dicken Augenbrauen sind etwas zusammengewachsen, seine übergroßen, unförmigen Ohrläppchen sind nicht zu übersehen, und er versucht stets krampfhaft zu lächeln und fröhlich zu wirken, ganz im Geiste des ta’arofFootnote 2, zumindest in der Anfangszeit unserer regelmäßigen Treffen. Im Laufe der Zeit verliert er dann den Drang, seine ta’arof-Maske aufzusetzen. Seine Bewegungen scheinen manchmal schwerfällig, und er wirkt überhaupt nicht aggressiv. Seine großen Hände und Füße tragen maßgeblich dazu bei, dass er etwas ungraziös wirkt. Meistens trägt er dieselbe Kleidung, ein weißes T-Shirt, eine rote Allwetterjacke, Jeans und Sportschuhe. Auf Feierlichkeiten in Diskotheken prügelte er sich wegen Nichtigkeiten mit anderen Asylbewerbern, und dies bereits mehrere Male. Sein Aufenthalt gerät dadurch ins Wanken. Er verkennt die Ausmaße seines riskanten Verhaltens völlig. „Ich will ja niemandem was“ und „die übertreiben ja eh alleFootnote 3“, murmelt er immer wieder zwischendurch, wenn über dieses Thema gesprochen wird.

„Das ist alles normal für mich, Mord und Totschlag, Leichen und so. Weißt du? Jeder, der Waffen hat oder genügend Geld, kann sich auf den andern stürzen. Das ist alles, was du wissen musst. Afghanistan ist ein Dschungel, in dem WildeFootnote 4 gegen andere Wilde kämpfen. […] Und dann Europa. Das war eine einzige Katastrophe in Ungarn, die haben Schäferhunde auf uns gehetzt. Das werde ich nie vergessen. Mein Bruder und ich wurden von Hunden gejagt und gebissen. Da habe ich begriffen, dass die Wilden nicht nur in Afghanistan sind. Meiner Familie können wir unsere wirkliche Lage nicht erzählen, wie eklig das hier ist und so. Oh je, […] nein, nein, nie und nimmer.“

Viele junge Asylbewerber im Feld berichten von Schwierigkeiten mit dem Gesetz angesichts ihrer impulsiven Art und Weise und der aus ihr folgenden Gewalttaten. Durch meine Arbeit an der Charité Berlin erlebe ich diese Fälle mehrheitlich außerhalb der explorativen Interviews. Junge gewalttätige Männer schildern zumeist Ereignisse, die Abeds Ausrastern ähneln, nachdem sie ebenfalls verhaftet worden sind und eine Nacht auf der Wache bleiben. Sie erhalten daraufhin sedierende Medikamente und werden in ihr jeweiliges Massencamp geschickt. Kurze Zeit später erscheinen dieselben Personen mit denselben Problemen, wobei dieses Mal, so heißt es stets, der Aufenthalt gefährdet sei. Abed muss nun zu psychologischen Sitzungen und hin und wieder zu einer Gruppentherapie für gewalttätige Asylbewerber, die, wie ich höre, als „total lächerlich“ empfunden wird und sowieso immer ausfällt.

„Jetzt bin ich schon mehrere Male verhaftet worden und musste einmal vor Gericht. Dabei wollte ich weg von alledem. Und ich habe niemanden wirklich verletzt, die haben mich immer nur provoziert. Ich werde echt verrückt hier. Wenn die mich zurückschicken, war alles umsonst. […] Hier wirst du schön an der Nase herumgeführt. Die wollen uns nicht hier, das ist klar. Ich habe alles erzählt in der Anhörung, […] ach, einfach alles. Ich erlebte zum Beispiel schon so oft, wie jemand abgestochen oder ermordet wurde. In den Gebirgen zwischen dem Iran und der Türkei habe ich gesehen, wie Menschen einander Berghänge runtergestoßen haben, Hunderte, die sich gegenseitig runtergeschubst haben, wie Verrückte! Auf einer griechischen Insel sind wir auf ein Schlauchboot gestiegen, obwohl wir nicht wollten, weil wir uns fürchteten. Gerade kenterte ein identisches Schlauchboot vor unseren Augen, einige hundert Meter weiter im Meer. Anschließend waren wir mehrere Tage auf dem Schlauchboot, mit einem Beutel gedörrter Früchte und ein paar Wasserflaschen. Mein armer Bruder. […] Immer wenn ich diese Trockenfrüchte sehe. […] Ach, jeder sagt immer, es gebe nicht genügend Wohnungen, Arbeitsplätze, Schulen usw. Warum lassen die uns dann überhaupt rein? Haben die erwartet, dass wir jahrelang wie die Tiere in ihren Käfigen hausen?“

Sowohl Abed als auch andere straffällige Asylbewerber haben im Heimatkontext regelmäßig Gewalt erfahren. Dass im Herkunftsland eine kriegerische Atmosphäre herrscht, der man sich nicht ohne Weiteres entziehen kann, und dass mit derselben Art von roher Gewalt geantwortet wurde, darf in der eingehenden Darstellung und Diskussion der Lebenswelt Abeds nicht ausgeklammert werden. Abed geht recht offen mit diesem brisanten Thema um. Er versteht sich als Opfer der Umstände, dem nichts anderes übrigblieb, als ebenfalls aggressiv zu sein. Eine Mitarbeiterin im Heim gibt zu bedenken, dass er sich sehr egoistisch und unsozial verhalte. Kurz darauf wird er in eine Massenunterkunft verlegt, weil er mitten in der Nacht betrunken in der Unterkunft erscheint und im Ton danebengreift. An Abeds Stresssituation hat sich faktisch nichts verbessert, im Gegenteil. Im Verlauf unserer Treffen berichtet er mir, wie schwierig es für ihn ist, seiner gesamten Familie etwas vorzuspielen. Dies ist eines unserer Hauptthemen. Die Verwandten seien sich uneins und begännen zu zweifeln, besonders nach den Telefonaten mit seinem jüngeren Bruder. Die Sorgen angesichts der Erwartungen der Familie in Afghanistan und mit Blick auf den jüngeren Bruder in Berlin nehmen mit seiner Krise zu. Manchmal treffen wir uns nur kurz zum Essen und reden kaum etwas von Belang. Er zeigt mir aktuelle Fotos aus Afghanistan, von Verwandten und Freunden. Dabei schüttelt er durchgehend den Kopf und nuschelt unverständliche Dinge. „Großer Gott, die wollen auch noch alle her“, sagt er irgendwann und schmunzelt widerwillig. In seinem Mobiltelefon sind viele weitere Bilder, die ich mir anschauen darf. Sie zeigen Stationen der Flucht, viele Unterkünfte in Berlin, in die er bereits ein- und ausziehen musste, gelinde gesagt unappetitliche Mahlzeiten im Camp, riesige Kakerlaken, die seit Neustem den Seitenflügel seines Heims okkupiert haben und seither dort herumwildern usw. Er gibt zu verstehen, wie „lächerlich“ und ausweglos er seine eigene Situation empfindet, indem er zur Seite guckt, mit der Zunge gegen die Mundoberwölbung drückt, ein charakteristisches Geräusch in der orientalischen Manier macht und daraufhin „مسخره“Footnote 5 flüstert. Beim vierten Treffen berichtet Abed mir, dass er in einer leiseren Unterkunft lebt. Hier kommt er zur Ruhe und kann ab und zu durchschlafen. Dennoch spielen die unaufhörlichen Angriffe auf das Selbst, die Verunreinigungen und der daraus hervorgehende Ekel eine große Rolle in seiner Lebenswelt. Abed schildert ausführlich von seinem Leben und seinen Gefühlen im Ankunftskontext. Prägend sind die Erinnerungen an Gewalttaten aus der Vergangenheit. Manchmal widerspricht er sich, und bisweilen bin ich bei seinen Erzählungen aus der Heimat skeptisch. Er präsentiert mir bei einer Gelegenheit einige unübersehbare Narben auf seinem Oberkörper. Für seine Lebenswelt ist es substanziell, in der Vergangenheit zu verweilen und von ihr affiziert zu werden. Er erlebte ständige Attacken von Banden aus den Nachbardörfern sowie die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Staatsgewalt und den Taliban in Afghanistan aus nächster Nähe, zwischen Kabul und Herat, inmitten des Landes. Die soziale Unordnung Afghanistans lässt jede Bemühung um Rechtsstaatlichkeit – zumindest so, wie der Westen sie versteht – ins Leere laufen (siehe Abschn. 3.1). Die Verhältnisse seines Heimatkontextes umschreibt Abed mehrere Male als „Dschungel, in dem Wilde gegeneinander kämpfen“, und er verwendet das Adjektiv وحشی Footnote 6, um die in seiner damaligen Lebenswelt dominierende Mentalität der gewaltsamen Ausbeutung zum Ausdruck zu bringen. Er schildert mir detailreich, wie sich angesichts einer installierten Scheinregierung und einer gänzlich ungeeigneten Exekutive kriminelle Banden bilden, die sich in einem fortwährenden Krieg befinden. Die Polizei ist tatsächlich nur in einigen Bezirken Kabuls und wenigen anderen Städten intakt, im übrigen Land wird sie zunehmend korrupter und zum idealen Verbündeten und Waffenlieferanten der Taliban. Die im Zuge dieser kriegerischen Auseinandersetzungen ausgeführten todbringenden Gewaltakte beschreibt Abed als „normal“ für seine Lebenswelt in der Heimat. Das wahre Ausmaß an Gewalt und Brutalität kann ich selbst nach vielen intensiven Gesprächen über Monate hinweg nicht einschätzen. Im Zusammenhang mit Abeds Sozialisation in der Heimat ist zudem von Belang, dass die Einverleibung der externen Welt mitsamt ihrer Normen, Strukturen und Bedeutungskomplexen einen Prägungsprozess darstellt, der die Fähigkeit und Qualität zur Emotionsregulierung nachhaltig bestimmt. Nach den schrecklichen Erfahrungen in Ungarn versucht er gemeinsam mit seinem sechzehnjährigen Bruder in Berlin zur Ruhe zu kommen. Vergeblich, denn Stress und eine alles verschlingende Bürokratie hüllen den gesamten Asylprozess ein und verzögern ihn Stück für Stück. Dabei manifestieren sich allmählich die psychischen Auswirkungen der brutalen Flucht. Für das Verständnis seiner Lebenswelt ist weiterhin von Bedeutung, dass er seinen Angehörigen in Afghanistan nicht die Wahrheit über die eigene prekäre Lage berichten kann. Wie zahllose Familien aus seiner Heimat hat auch Abeds Verwandtschaft in die Flucht der beiden Brüder investiert in der Hoffnung, möglichst bald an ihrem neuen Reichtum aus Deutschland teilhaben und letztlich ebenfalls nach Europa auswandern zu können. Zu seinen Schuldgefühlen angesichts der Summe, die für die Flucht aufgebracht wurde – ca. 30.000 US-Dollar, das gesamte Vermögen seiner Verwandtschaft –, kommt das Gefühl des Scheiterns (vgl. Fallbeispiele 2 und 3) hinzu, da er als älterer Bruder seiner Pflicht nicht nachgekommen ist, sich „ordentlich“ um seinen jüngeren Bruder zu kümmern. Damit meint er, dass er als älterer Bruder jetzt arbeiten und Geld verdienen müsste, anstatt den ganzen Tag untätig zu warten. Nachdem bestimmte affektive Bezugnahmen auf seine Umgebung wiederholt auftreten und eine bestimmte Stärke und Dichte erreicht haben, rufen sie das Gefühl des Scheiterns hervor.

„In Afghanistan hast du halt nicht so viele Möglichkeiten, wie hier. Es gibt da so einen populären Spruch, den man bei uns aufsagt, seitdem Deutschland alle Flüchtlinge aufnimmt, als Running Gag […]: ‚Wenn’s klappt, klappt’s; und falls nicht, geh ich nach Deutschland‘ (شد شد نشد میرم آلمان). Solche Sprüche klebt man sich aufs Auto oder Motorrad. In Kabul wimmelt es davon.“

Die Trümmer eines von Gewalt und Krieg zerfressenen Landes lassen keine Emanzipation in der afghanischen Gesellschaft zu. Man macht sich selbstständig oder versucht in einer Nische unterzukommen, die die verschachtelten soziopolitischen Bedingungen zulassen („Wenn’s klappt, klappt’s“), oder aber man entflieht dem Druck, wird zum „Flüchtling“ und entgeht der Anarchie („und falls nicht, geh ich nach Deutschland“). Die meisten Menschen, die tatsächlich flüchten wollen, können sich die kostspielige Flucht nach Europa nicht leisten, allenfalls geht es in den Nachbarstaat Iran, der seit 1979 afghanische Geflüchtete aufnimmt. Mittlerweile lebt die größte Anzahl afghanischer Geflüchteter weltweit in der Islamischen Republik (UNHCR 2016e). Die Bedingungen dort sind heikel (vgl. Fallbeispiele 1 und 2), zumal afghanische Kämpfer für den Syrienkrieg benötigt werden. Umso mehr wird Deutschland sozusagen als „ultimativer Joker“ betrachtet, besonders für Jugendliche und Kinder, da ihnen in der Bundesrepublik keine Abschiebung droht, haben sie die Fluchtroute – auf der Angriffe durch Militär, Folter, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, Lager-, Geisel- und Isolationshaft sowie Ereignisse und Situationen drohen, in denen sie gewaltsame Handlungen und Tötungen mitzuerleben gezwungen sind – überlebt. Bei erwachsenen Geflüchteten ist die Handhabe im Falle einer Ablehnung anders. Abgelehnten Asylbewerber*innen wirft das BAMF meist standardmäßig vor, sie hätten sogenannte „Flucht- oder Schutzalternativen“Footnote 7 aufsuchen können, etwa die Hauptstadt Kabul, die als „sicher“ gilt. Dort wären sie nicht von den Taliban belästigt worden, so das BAMF (vgl. Abschn. 3.1). Diese Einschätzung wertet Abed als lachhaft und gleichzeitig als Ausrede, nicht noch mehr Afghan*innen nach Deutschland hineinzulassen (Abbildung 11.1).

Abbildung 11.1
figure 1

(Quelle: BBC Farsi 2016)

Foto eines Autos in Kabul.

„Jedes Mal, wenn ich daran denke, beginne ich zu grübeln, bis abends. Kleinigkeiten erinnern mich an Geschehnisse der Flucht, und dann […] dann fahre ich stundenlang mit der S-Bahn durch die Stadt, bis ich die Wälder Berlins erreiche. Im Wald kann ich schreien und weinen, ohne dass mich jemand nervt. Die wollen mich nicht hier, ich weiß es einfach. Du weißt das doch auch. […] Ehrlich gesagt ist mir das alles so egal geworden, ich mach das alles nur noch für meinen kleinen Bruder.“

Als er seinen Bruder erwähnt, muss er weinen. Er spricht bei gleichbleibender Mimik weiter, bis sich sein Blick verfinstert. Seine Aufenthaltssituation – und damit seine Zukunft – ist vollkommen unklar. Dabei hatte er vor der Ankunft in Deutschland keine Sekunde daran gezweifelt, Asyl zu erhalten. Diese Möglichkeit stand gar nicht zur Debatte. Gegenwärtig befindet er sich also in einem bizarren Kampf, in dem es einerseits gilt, die schrecklichen Erlebnisse seiner Vergangenheit und seiner Flucht zu verarbeiten, und andererseits darum geht, aufenthaltsrechtliche Schritte zu unternehmen, um nicht abgeschoben zu werden, auch wenn dies mit dem Stigma verbunden ist, psychisch krank zu sein. Abed spielt zudem auf die im Feld – und in weiten Teilen der Gesellschaft – existierende Unterteilung in „gute“ und „schlechte Flüchtlinge“ an, das heißt in „echte Kriegsflüchtlinge“ und „falsche Wirtschaftsflüchtlinge“. In der Anhörung erzählte er von all den schrecklichen Erlebnissen seiner Vergangenheit in der Annahme, dies seien eindeutige, unabweisbare Fluchtgründe, nun wird er doch als „Wirtschaftsflüchtling“ gesehen. Zur selben Zeit ist er gezwungen in Massenunterkünften zu verweilen, jetzt schon seit über einem Jahr. Der Vergleich mit Tieren in Käfigen wird häufig angestellt. Hier spielen die enormen „Verunreinigungen“ (Goffman 1973: 35) der Institution eine Rolle, aber auch die Nahrungsversorgung. Das Anstehen in Schlangen und das ständige Warten, um physiologische Grundbedürfnisse stillen zu können, ist Bestandteil der Lebenswelten von Asylbewerber*innen und eine typische Facette totaler Institutionen. Durch solche totalitären Dynamiken sieht Abed sein „Menschsein“Footnote 8, wie er zu sagen pflegt, durchweg in Gefahr. Abed teilt mir auffällig oft mit, dass er im Grunde keine Angst davor habe, abgeschoben zu werden, da er sich einzig das Glück seines Bruders wünsche. Abed ist willens zu arbeiten und Deutsch zu lernen. Der Erfolg in den Sprachkursen blieb zwar bislang aus, doch einer täglichen Arbeit nachzugehen würde ihn von all seinen Problemen fernhalten und aufbauen. Einige Male konnte er dank einer sozialen Initiative einer Nichtregierungsorganisation als Hilfskoch arbeiten. Er widerspricht sich in seinen Ausführungen, insbesondere was das Gefühl der Angst vor einer Abschiebung betrifft, doch wird klar, dass er sich anfangs trotz emotionalen Drucks noch für konstruktive Aktivitäten motivieren kann.

„Das war fantastisch, wirklich! Ich habe den ganzen Tag gearbeitet und bin um zehn Uhr abends ins Camp zurück. Nachdem ich mit meinem Bruder zu Abend gegessen und etwas gequatscht habe, bin ich sofort eingeschlafen. Und morgens gleich wieder raus auf die Arbeit. Aber nach den wenigen Malen nicht mehr. Es ist eigentlich unmöglich, eine Arbeitsbescheinigung zu bekommen. Die wollen immer so komische Dokumente, die ich ohnehin nicht besorgen kann; das wissen die auch, deshalb fordern sie sie. VeräppelungFootnote 9 halt […].“

Die Arbeit im Restaurant war eine Ausnahme. Ohne Aufenthalt ist eine Arbeitserlaubnis nicht oder sehr nur schwer zu erlangen. Die Ausländerbehörde – „Die wollen immer so komische Dokumente“ – verlangt teilweise sehr schwer oder unmöglich zu organisierende Papiere, etwa Originale aus der Heimat, aktualisierte Urkunden usw. Etliche Anträge und Formalien kommen hinzu, wenn eine geflüchtete Person tatsächlich an der Gesellschaft teilhaben möchte. Die viel gelobten positiven Änderungen, die das Asylpaket II aus dem Jahr 2016 mit sich gebracht haben soll, bleiben faktisch ergebnislos und verschärfen die Situation in vielen Fällen. Residenzpflicht und Arbeitsverbot stehen Abeds Bedürfnissen nach freier Bewegung und Arbeit – und damit seiner Auffassung von „Menschsein“ – deutlich entgegen. Wenn er nicht gerade in allen Details seine künftige Abschiebung schildert, indem er auf Berichte eines Bekannten zurückgreift, der jemanden kennt, der abgeschoben wurde, und die finstere Atmosphäre im Abschiebeflugzeug umfangreich beschreibt, teilt er mir mit, dass er ein produktives Element der Gesellschaft sein und ebenfalls „normal arbeiten, feiern und leben“ möchte. Doch passt dies nicht zu der neuen Rolle und Identität, die ihm zugewiesen wird. Er changiert zwischen beiden Rollen. Kaum redet er sich die Abschiebung süß, fragt er mich fünf Minuten später, ob ich ihm beim Ausfüllen eines hochkomplizierten Formulars für die Ausländerbehörde helfen könne, bei dem es abermals indirekt um die Arbeitserlaubnis geht. Das Ausfüllen von Formularen gehört zu meinen üblichen Hilfstätigkeiten, teils auch für völlig fremde Personen, die mich aufs Geratewohl fragen.

Abed wirkte zu Beginn vitaler, hatte wenigstens Humor, konnte bis zu einem gewissen Grad seine Fehler eingestehen und hatte vor allem Zukunftspläne; doch nach einigen Monaten erlebe ich einen gebrochenen Mann, der in seinem Groll zu ersticken scheint. Er hat seine ihm von der Institution affektpolitisch zugewiesene Identität als Verlierer in der untersten sozialen Kategorie Deutschlands hingenommen und fühlt sich entsprechend hoffnungslos. Er ist blass, hat etliche Kilo abgenommen und wirkt zehn Jahre älter. Seine kraftlosen Augen sind von Ringen unterlaufen. Wenn er spricht, scheint es ihm Schmerzen zu bereiten, so dass er nach zwei oder drei Sätzen innehält und schwer atmet. Er wirkt niedergeschlagen, müde und doch voll aufgestauter Racheenergien. Bei einem unserer letzten Treffen Ende 2017 kauert er in der Ecke eines Restaurants und dreht sich eine Zigarette nach der anderen, um sie gleich draußen zu rauchen. Dabei scheint er dauernd zu frieren. Seine anwaltliche Fachkraft rät ihm zur erneuten psychiatrischen Untersuchung, um dem Verwaltungsgericht, an dem der Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid verhandelt wird, eine weitere Stellungnahme zukommen zu lassen. Er soll mehr oder minder als psychisch krank – oder, wie es im Feld heißt, als „Psycho“Footnote 10 – und damit als nicht abschiebefähig vorgeführt werden.

„Eigentlich bin ich nicht gläubig, aber so viel Alkohol immer und so (…). Oh Mann, wenn das meine Familie wüsste. Wenn ich zurückdenke, wie es damals war, ich war ganz anders. Ich hätte nie gedacht, […] ach, ich weiß auch nicht. Ich vermisse meine Heimat, meine Familie und bereue es, sie für dieses Leben verlassen zu haben. […] Und alle schauen mich hier immer so an, ich weiß eh’, dass ich nicht dazugehöre. Was sollen dieFootnote 11 denn machen außer kriminell zu sein? […] So viel Leid für das Leben hier? Das ist alles Veräppelung.“

Abed sagt oft „Ich war ganz anders“. Bei unserem letzten Treffen trinkt er durchgehend Bier und berichtet, dies sei nicht im Sinne des Islam, weshalb er Schamgefühle habe. Im Augenblick der Transformation des Selbst wird ihm bewusst, wie „anders“ er einst war. Gleichsam entdeckt er neue Eigenschaften an sich, die er während des Asylprozesses entwickelt hat, die ihm jedoch zuwider sind. Ich spüre dabei allerdings weniger Scham als vielmehr Groll, der in ungewisser Weise gegen „Deutschland“ gerichtet ist. Wenn er von Deutschland spricht, macht er ein verachtendes, angeekeltes Gesicht. Zorn blitzt auf, seine Züge verhärten sich und seine Stimme klingt schroff. Die offensive Dynamik in Form von Missachtungen lässt bei Abed Gefühle entstehen, die er nur noch mit Alkohol und Tabletten zu bändigen weiß.

Die soziale Ausgrenzung schmerzt ihn nach meiner Interpretation sehr. Das „normale Leben und Feiern“ ist nun mal nicht für Asylbewerber*innen gedacht. Für sie gibt es Schwarzarbeit, Ausbeutung und Kriminalität – Dinge, die durch eine solche Flüchtlingspolitik en passant begünstigt werden (vgl. Albrecht 2001). Dass Geflüchtete, insbesondere abgelehnte, im globalen Norden illegal arbeiten müssen, erscheint beinah zu trivial, um heutzutage darauf hinzuweisen, zumal die Schwarzarbeit von immigrierten und geflüchteten Menschen immer mehr zu einer selbstverständlichen Säule westlicher Gesellschaften geworden ist. Während die Integration von anerkannten und subsidiär schutzberechtigten Asylbewerber*innen gefördert wird (siehe Abschn. 3.2), haben abgelehnte und geduldete Personen als ausreisepflichtige Asylbewerber*innen keinen Anspruch auf eine solche Förderung und leben unter äußerst prekären Bedingungen. Hieraus ergeben sich immigrationsspezifische Kriminalisierungsrisiken für die Gruppe abgelehnter Asylbewerber*innen (Haverkamp 2016: 90). Einige neu ankommende junge Geflüchtete registrieren sich, wie man täglich im Feld hört, gar nicht mehr beim BAMF, sondern gelangen gleich in die Strukturen des organisierten Verbrechens. Bei den berüchtigten „arabischen Clans“Footnote 12 Berlins erhalten sie einen Schlafplatz, verkaufen tagsüber Drogen in Parks und/oder werden teils in die Prostitution getrieben. Asylbewerber*innen in Abeds Position, die seit Jahren auf behördliche und gerichtliche Entscheidungen warten, werden angesichts der fehlenden Arbeitserlaubnis nicht selten für ca. ein Euro pro Stunde ausgebeutet. Aus einem existenziellen und im Grunde auch therapeutischen Bedürfnis heraus rutschen scharenweise junge, höchst verletzliche Menschen in eine hyperprekäre Lebenslage. Abed beabsichtigt, sich von seiner Vergangenheit zu lösen und die in der Heimat erlebte grobschlächtige Art und Weise des Lebens hinter sich zu lassen. Sie soll nicht mehr Teil seines neuen „Menschseins“ sein, wie er oft betont. Wie schwierig dies in seiner Situation – die er mit unzähligen Asylbewerber*innen teilt – ist, machen all die systematischen Ausgrenzungen deutlich, die in unseren Gesprächen spürbar werden. In unseren Interaktionen verblasst in diesen Momenten die Asymmetrie zwischen Forscher und Asylbewerber. Affekte der Verlorenheit, Befremdlichkeit, Gewissensbisse und Enttäuschung bilden ein Ensemble, das häufig im Vordergrund steht. Ich spüre die „emotionale Übertragung“ (siehe Fallbeispiel 3) anhand einzelner Episoden von aufblitzender Verunsicherung in mir, die ich während und vor allem nach den Treffen mit Abed wahrnehme. Diese verstehe ich als „epistemologische Fenster“ (Breuer 2009: 116; vgl. Abschn. 2.5). Sie helfen mir zu verstehen, wie an der „ontologischen Sicherheit“ (Giddens 1996) Abeds gerüttelt wird, der bemüht ist, in dieser Krise gerade nicht kriminell zu werden. Er bezieht sich auf andere Geflüchtete, die etwa Drogen verkaufen (vgl. letztes Zitat).

Abeds Inszenierung seines sozialen Dramas nach Katz dreht sich um seinen eigenen sozialen Tod als abgelehnter Asylbewerber und den daraus hervorgehenden Groll. Was Abed braucht, ist genau das, was er gemäß den neuen Asylbestimmungen (Asylpaket II) praktisch nicht darf: einer geregelten Arbeit nachzugehen, um allmählich ein Gefühl der existenziellen Sicherheit zu erlangen. Er schätzt seine Lage als vollkommen unsicher ein und reagiert auf verschiedenen Ebenen entsprechend.Footnote 13 Die lähmende Angst, in den Ausgangskontext zurückzukommen – die Abschiebungsangst – torpediert die lobenswerten, doch wirkungslosen Versuche betreuender Fachkräfte, positive Akzente durch „neue, schöne Erfahrungen“ setzen zu wollen. Er kann einfach nicht und kommt sich unverstanden vor. Er erhält Benzodiazepin-Tabletten, die in den Massenunterkünften wie Popcorn herumgereicht werden, und die medizinische Empfehlung, sich regelmäßig sportlich zu betätigen. Zugleich wird jedoch der soziale Ausgleich, den er und andere Asylbewerber*innen bei Dauerstress benötigen, durch soziale Ausgrenzungsmechanismen und bedrückende Dynamiken behindert. Solche Dinge treiben ihn zur Weißglut. Ich selbst kenne diesen Verdruss aus meiner Tätigkeit im Feld. Während ich etwa solche und ähnliche Empfehlungen meiner ärztlichen Kolleg*innen für Patient*innen übersetze, fühle ich Widerwillen, Verdruss und ansatzweise Ekel, da ich genau weiß, dass diese Konfiguration eher eine Farce ist als eine nutzbringende Beratungssituation. Abeds Regelübertretungen – darunter fällt zum Beispiel das wiederholte Zerbrechen des Anstaltsgeschirrs – führen zu Bestrafungen durch die Institution. Das Bestrafungsprinzip ist Teil der Erziehungsmentalität der Institution, also des Impulses, Geflüchtete als grundlegend unterlegen zu betrachten und deshalb erziehen zu müssen. Dabei gehen, wie in anderen totalen Institutionen, Strafe und Belohnung Hand in Hand. Auch in Goffmans Studie sind Strafen eine Konsequenz von Regelübertretungen:

„Zum Teil bestehen diese Strafen aus dem zeitweiligen oder dauernden Entzug der Privilegien oder der Aberkennung des Rechts, sie sich zu verdienen. Im allgemeinen treffen die in totalen Institutionen verhängten Strafen den Insassen schwerer als alles andere, was er von zu Hause gewöhnt ist. […] Strafen und Privilegien sind selbst Organisationsmodi, die für totale Institutionen typisch sind. Strafen, wie schwer sie immer sein mögen, kennt der Insasse von zu Hause nur als etwas, das Tieren und Kindern zukommt; dieses behavioristische Konditionierungsmodell wird im allgemeinen nicht auf Erwachsene angewandt, da eine mangelhafte Erfüllung der Normen gewöhnlich zu indirekten nachteiligen Folgen, und keineswegs zu einer spezifischen, unmittelbaren Bestrafung führt. Und in einer totalen Institution sind Privilegien, dies muß betont werden, nicht dasselbe wie Vergütungen, Vergünstigungen oder Werte, sondern lediglich die Abwesenheit von Entbehrungen, die man normalerweise nicht ertragen zu müssen erwartet. Die Begriffe Strafe und Privileg selbst entstammen einer anderen Welt als der des bürgerlichen Lebens. […] [D]ie Frage der Entlassung aus der totalen Institution ist in das Privilegiensystem eingebaut. […] Strafen und Privilegien sind mit dem Arbeitssystem des Hauses gekoppelt. Die Arbeits- und Schlafplätze werden klar als Orte definiert, wo man Privilegien von bestimmter Art und bestimmtem Umfang erwerben kann, und die Insassen werden sehr oft und sichtbar von einem Ort zum anderen verlegt, was jeweils eine administrative Strafe oder Belohnung bedeutet, je nachdem, was sie aufgrund ihrer Kooperationsbereitschaft verdient haben. Die Insassen werden bewegt, das System bleibt starr“ (Goffman 1973: 56–57).

Strafe und Belohnung als konditionierende Maßnahmen bilden ebenso in der totalen Institution Asyl typische Organisationsmodi, da sie als zweckmäßige Instrumente zur Inferiorisierung der Insassen dienen. Durch Arbeits- und Ausbildungsgelegenheiten – im weitesten Sinne auch sportliche und spielerische Betätigung – werden Asylbewerber*innen belohnt, durch Ausschluss von jenen Maßnahmen bestraft. Sicher kommen aufenthaltsrechtliche und ganz individuelle Bestimmungen von Fall zu Fall hinzu, doch gilt sowohl in Flüchtlingsunterkünften als auch in Behörden die Inferiorisierung von Asylbewerber*innen durch Aktionen, die sich in ihrem Wesen und ihren tatsächlichen Auswirkungen mit dem Straf- und Privilegiensystem der Studie Goffmans vergleichen lassen. Dass sich Bestrafung bzw. Belohnung im Alltag der Institution stets unterschiedlich ausdrücken, gehört zur spezifischen Spielart des Systems, das eine unumgängliche Asymmetrie sozialer Interaktionen innerhalb der Institution impliziert. Die in der Institution Asyl vorherrschende Mentalität von Willkür und das daraus resultierende moralische Risiko (vgl. Fallbeispiel 5) bilden sozusagen den Motor dieser Dynamik. Prinzipiell sind Asylbewerber*innen den Institutionsregeln ausgesetzt, und zwar in einer Konstellation, in der sie nicht anders können, als die Regeln hinzunehmen, ganz gleich, wie absurd und inhuman die konkreten Effekte im Alltag anmuten (Unumgänglichkeit der Asymmetrie). Dabei gestaltet sich das Straf- und Belohnungssystem in der Institution Asyl subtiler und vielschichtiger als in der psychiatrischen Anstalt aus Goffmans Studie. Die ständige physische Verlegung in andere Unterkünfte im Sinne einer Strafe, wie im Falle Abeds („Die Insassen werden bewegt“; Goffman 1973: 57), verschlimmert bloß die individuelle Situation der Betroffenen und verbessert nichts wesentlichFootnote 14 („das System bleibt starr“; ebd.), zumal Asylbewerber*innen im Unterschied zu geisteskranken Personen in Anstalten mit hochkomplizierten bürokratischen Prozessen konfrontiert werden. Aus dieser Sicht beginnen Bestrafungen quasi vor den Regelverletzungen. Sind doch solche kontrollierenden und fremdbestimmenden Strukturen aus sich heraus „Strafen“. Es geht im Folgenden also nicht um die Frage, auf welche Art und Weise gewalttätige Asylbewerber*innen bestraft werden sollen, sondern um den gesamten affektpolitischen Kontext der Regelübertretungen während des Asylprozesses. Die ständigen Verlegungen, ob mutwillig als „Strafe“ gedacht oder nicht – zu berücksichtigen ist die Häufigkeit, mit der in der Plan- und Strukturlosigkeit des Alltags Geflüchtete wie hochbrisantes Abfallgut hin und her geschoben werden, bis sich die nächste temporäre Notlösung findet –, bedeuten mehr als den bloßen Umzug in eine neue Unterkunft. Sie demonstrieren die unumstößliche Macht des Gastgeberlandes („Herr“), das sich weigert, anzuerkennen. Letzteres lässt keinen Zweifel daran, welche Rolle und Funktion Geflüchteten im sozialen Gefüge der neuen Gesellschaft zugewiesen wird. Dies beginnt in der Institution, in der konstruierte Personenkategorien inszeniert und zelebriert werden. In diesem Zusammenhang schreibt Goffman:

„Die Rolle des Stabsmitglieds und die Rolle des Insassen umfassen alle Lebensbereiche. […] Je mehr die Institution die Annahme unterstützt, daß Personal und Insassen zwei grundsätzlich verschiedene Menschengattungen sind (wie z. B. durch Vorschriften, die den sozialen Umgang über die Personal-Insassen-Grenze hinweg verbieten), und je minutiöser das Drama des Unterschieds zwischen Stab und Insassen aufgeführt wird, desto unvereinbarer wird die Szene mit dem bürgerlichen Repertoire der Akteure und desto mehr Gefahr besteht, daß diese alten Rollen sich durchsetzen. Man kann also mit Recht behaupten, dass es eine der wesentlichen Errungenschaften totaler Institutionen sei, den Unterschied zwischen zwei konstruierten Personenkategorien zu inszenieren – einen Unterschied des sozialen Werts und der charakterlichen Moral, einen Unterschied in der Vorstellung von sich selbst und vom anderen. So drückt jedes soziale Arrangement in einer Heilanstalt den grundlegenden Unterschied zwischen einem zum Personal gehörenden Arzt und einem Geisteskranken aus; im Gefängnis zwischen einem Beamten und einem Häftling; in militärischen Einheiten (besonders in Eliteeinheiten) zwischen Offizieren und Soldaten. Darin liegt sicherlich eine wunderbare soziale Errungenschaft, auch wenn die in den institutionellen Zeremonien vorgespiegelte Gleichheit der Mitwirkenden wahrscheinlich einige Inszenierungsprobleme aufwerfen und daher persönliche Spannungen verursachen wird“ (Goffman 1973: 112).

So gesehen lässt sich die Institution Asyl mehr und mehr als eine Identitäts-Zuteilungs-Maschine verstehen, die den Individuen über affektpolitisch wirksame Vorgehensweisen unterschiedliche Identitäten zuweist. Unter „affektpolitisch wirksamen Vorgehensweisen“ werden konkret jene Prozesse verstanden, die in dieser Arbeit, ausgehend von den empirisch fundierten und beschriebenen totalitären Merkmalen und Dynamiken der Institution, als „affektive Daumenschrauben“ für den zu inferiorisierenden Menschen fungieren; also all die psychopolitischen Vorgänge, die das „affektive Arrangement“ (Slaby et al. 2016; vgl. Abschn. 4.2) von einem höherwertigen „Wir“ und einem minderwertigen „Anderen“ durch das Evozieren von Affekten und den aus ihnen entstehenden Emotionen regimeartig etablieren. Die erwähnten affektiven Daumenschrauben üben im Zuge der Inferiorisierung unentwegt Druck auf die Selbstbehauptungskräfte des gefangenen Individuums aus. Es sind ausnahmslos die Selbstbehauptungskräfte und die zu ihnen gehörenden Affekte, die im Asylprozess von totalitären Spielarten der Institution angegriffen werden. Kämpferische Energien und Gefühle, mit denen die Gefangenen geltend machen könnten, was sie zukünftig in Deutschland tun, erreichen und haben möchten, also das, was sich mit Courage, StolzFootnote 15, Engagement, Beherztheit, Selbstbewusstsein und Stetigkeit umschreiben lässt, werden im Keim erstickt. Zusätzlich wird die Handlungsfähigkeit auf der physiologischen Ebene durch sedativ wirkende Arzneien ausgeschaltet. Die Institution Asyl stellt sich insofern als ein affektives Regime in Reinkultur dar.

In der beschriebenen Lage Abeds entsteht eine seltsame, zynische Stimmung: Nachdem das gefangene Individuum übermäßig lange in unterschiedlichen Massenunterkünften verweilt, wird der Asylantrag abgelehnt. Der Gefangene hat nun eine sehr begrenzte Auswahl an Handlungsoptionen, um ein Abschiebeverbot aus humanitären Gründen zu erwirken, von denen die psychische Erkrankung äußerst vielversprechend ist. Wird von Afghan*innen gemeinhin die Konsultation einer psychiatrischen Fachkraft als „westliche Masche“ abgewertet und daher mit allen Mitteln vermieden, so ist die Stigmatisierung, im Zielland der Flucht eine psychische Krankheit attestiert zu bekommen, als letzte Maßnahme, um nicht in den Flieger nach Kabul gesetzt zu werden, in höchstem Maße zynisch. Die soziale Realität besteht also darin, sich eine psychische Krankheit attestieren lassen zu müssen, die in der Heimat nicht anerkannt ist, geschweige denn behandelt werden kann, um eine Existenz als geduldeter Ausländer in Deutschland aufbauen zu können. Verrücktheit erscheint damit als affektive Währung für eine ohnehin zweifelhafte Anerkennung. Auch Abed sieht sich davon betroffen. Zusätzlich zu den Medikamenten trinkt er regelmäßig abends Alkohol, um einschlafen zu können. Das subjektive Erleben der affektiven Relationalität dieser krankhaften Dynamik bildet einen heimlichen Groll heran, der für die Lebenswelt Abeds charakteristisch wird. Die Institution Asyl erscheint in der Lebenswelt Abeds als ein multifunktioneller, stressauslösender politischer Großkörper, der durch die beschriebene offensive Dynamik eine umfassende Abwandlung des Selbst einfordert. Die Ambivalenz der Begegnung zwischen „Minderheit“ und „Mehrheit“ lässt sich als Dritter Raum begreifen, in dem sich der Diskurs als eine Erzählung vorstellt, die als Wahrheitsregime bzw. Repräsentationssystem fungiert (Castro Varela/Dhawan 2015: 227). In der kulturellen Dimension verweist dies auf Stereotype, die komplexe und inkonsistente Repräsentationsmodi bilden. Auf der Grundlage der ständigen (Re–)Produktion von stereotypem Wissen über die „eigene Gruppe“ (Mehrheit) und „die Anderen“ (Minderheit) legitimiert der dominante Diskurs seine Vorgehensweisen (ebd.). Das Stereotyp wird als eine ambivalente Form von Erkenntnis und Macht begriffen, die von deterministischen und funktionalistischen Arten des Verständnisses der Beziehung zwischen Diskurs und Macht befreit (Bhabha 2000: 98).

Im Prozess der Stereotypenbildung steht die retrospektive Festlegung „der Anderen“, welche die Asymmetrie zwischen „Herr“ und „Knecht“ konsolidieren soll, im Vordergrund. Dadurch werden dem Geflüchteten primitive, minderwertige und einfältige Qualitäten zugeschrieben (Müller-Funk 2016: 212), die als Strategien diskriminatorischer Macht nicht bloß auf den rassistischen und fremdenfeindlichen Diskurs beschränkt sind, sondern ebenfalls in sexistischen und peripheren Diskursen auftauchen (Bhabha 2000: 98). Mittels der Zirkulation dieser Stereotype wird somit Macht herangebildet, die beabsichtigt, Identität festzulegen, ohne die Möglichkeit auf Veränderung zuzulassen (ebd.: 228). „Kriminelle Flüchtlinge“ sind aus dieser Perspektive betrachtet, ähnlich wie „der Delinquent“ Foucaults (Foucault 2008: 986), das Resultat der Anrufung (vgl. Abschn. 4.6) durch dominierende Machtstrukturen, in diesem Fall durch die Institution Asyl. Die Markierung des Individuums als „delinquent“ ermöglicht die Stärkung der binären Ordnung „krimineller Ausländer“, die nicht imstande seien, die Gesetze „nicht delinquenter Europäer*innen“ einzuhalten (ebd.).Footnote 16 Es findet eine Umkehrung der Schutzbedürftigkeit statt, indem eingewanderte Menschen diskursiv als Bedrohung für die Gesellschaft konstruiert werden (vgl. Grönheim 2017: 226). Durch den Rechtsverlust können geduldete Asylbewerber*innen zudem weiter hierarchisiert werden. Wer hat es sich „verdient“, einen Aufenthaltsstatus, eine angemessene Therapie und Unterkunft zu erhalten und wer nicht? Mithilfe diverser Stereotype werden Fluchtmigrierte in diesem Kontext in „gute Flüchtlinge“ (deserving) und „schlechte Flüchtlinge“ (undeserving) gespalten. Die daraus entstehenden systematischen Ungleichheiten werden durch Repräsentationsmechanismen und Narrative gerechtfertigt, die notleidende und schutzbedürftige Menschen in die genannten Kategorien einteilen (vgl. zur Deservingness-Debatte innerhalb der Sozial- und Kulturanthropologie v. a. Casati 2017; Hardy/Phillips 1999; Holmes/Castaneda 2016; Sales 2002; Walardt 2013; Wernesjö 2020). Dabei werden soziokulturelle Praktiken – allen voran die totale Institution Asyl – etabliert, die Fluchtmigrierenden einen bestimmten Status zuschreiben. Im Sinne einer Klassifikation bilden sie zwei Gruppen: eine kleine mit jenen, die „verdientermaßen“ Asyl erhalten und so Schutz und Anerkennung genießen dürfen, und eine größere, denen man den Anspruch auf Asyl abstreitet, die ihn also „nicht verdienen“, weil sie nicht vor Verfolgung geflohen seien. Um diese Sicht durchzusetzen, werden sie als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnet, als Menschen, die freiwillig und ohne Zwang allein aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimatländer verlassen hätten, um vom westlichen Wohlstand zu profitieren. Der damalige bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer äußerte etwa beim politischen Aschermittwoch 2015 den besonders bejubelten Satz: „Wir sind nicht das Sozialamt für die ganze Welt“. Damit griff er in allenfalls leicht abgewandelter Form die Wahlsprüche der AfD und NPD aufFootnote 17 und deutete an, dass die wirtschaftlichen Belastungsgrenzen vollends erreicht seien. Jegliche historischen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, entsprechende Mechanismen sowie sich daraus ergebende Verantwortlichkeiten werden ignoriert. Schuld an der Misere sollen allein die Fluchtmigrierten und Migrant*innen selbst sein, denen nur zu einem kleinen Teil die „richtigen“ Motive zugesprochen werden. Was die eigene Gesellschaft, das eigene Land zu den globalen Verhältnissen beiträgt, die den Hintergrund von Flucht und Migration bilden, wird völlig ausgeblendet. Auch hier offenbart sich eine extreme Asymmetrie, lösen doch Geflüchtete in Deutschland selbst keine Not aus. Mit ihrem Bedarf an günstigem Wohnraum, Arbeit und Schulplätzen für ihre Kinder stehen sie zwar in Konkurrenz zu Geringverdienenden, doch haben sie den bestehenden Mangel faktisch nicht verursacht – erstaunlich ist eher, dass er erst jetzt wahrgenommen wird. Die steigende Anzahl maroder Schulen, die prekären Arbeitsbedingungen sowie die Unterversorgung mit erschwinglichem Wohnraum und einer ausreichenden Anzahl an Lehrkräften wurzeln in langjährigen politischen Versäumnissen und einer gezielten Politik der Prekarisierung (Majer 2016: 28 f.). Geflüchtete wie Abed verlassen ihre Heimat aufgrund der kaum fassbaren Perspektivlosigkeit („Wenn’s klappt, klappt’s, wenn nicht, geh’ ich nach Deutschland“), die selbstverständlich ökonomische Unsicherheiten impliziert. Die Bundesrepublik Deutschland beliefert als weltweit drittgrößter Waffenexporteur autoritäre Regime und Kriegs- und Krisenregionen und trägt so direkt dazu bei, dass Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Man sollte die Augen nicht davor verschließen, dass Deutschland aktiv am Krieg in Afghanistan beteiligt ist (siehe Abschn. 3.1.1). Auch anderen „Kriegen“ schließt sich Deutschland an oder führt sie federführendFootnote 18, nicht zuletzt solchen um Rohstoffe und Absatzmärkte. Diese in Form von wirtschaftlichen Sanktionen und (multi- und bilateralen) Handelsabkommen geführten Kriege – etwa über die Welthandelsorganisation (WTO), die Weltbank oder den Internationalen Währungsfond (IWF) – zwingen sogenannte Entwicklungsländer, ihre Märkte für westliche Investoren zu öffnen und den Zugriff auf billige Rohstoffe, Ländereien und Arbeitskräfte zu gewähren. Seit den 1980ern werden Güter wie Wasser und Strom zunehmend privatisiert und sind für die breite Bevölkerung der ausgebeuteten Länder immer weniger erschwinglich. Menschen, deren Lebensgrundlagen auf diese Weise zerstört werden, fliehen, um sich und ihren Kindern eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben zu verschaffen, und geraten dann, hier angekommen, unversehens und ohne Ausweichmöglichkeit in die trickreichen Praktiken der Spaltung vertriebener Menschen in „gute“ und „schlechte Flüchtlinge“.

Darüber hinaus wird an dieser Stelle das psychoanalytische Element in Bhabhas Denken mit Blick auf das Stereotyp, das er als Fetisch begreift, nachvollziehbar. Denn die Schaffung eines Stereotyps – ob „straffälliger Ausländer“, „fauler Migrant, der es nur auf die Sozialleistungen abgesehen hat“, oder „schwangere Flüchtlingsfrauen“ – führt aus der vorliegenden Perspektive nicht bloß zu einem falschen Bild „der Anderen“, das dann als Grundlage für Diskriminierungen fungiert, sondern zu einem ambivalenten Text, der aus Projektionen, metaphorischen und metonymischen Strategien, De-platzierung, Überdeterminierung, Schuld, Aggressivität und Obsession besteht (Bhabha 2000: 121). In ähnlicher Weise zeigt sich dies in dem Drang, mit dem der dominante Diskurs versucht, Geflüchtete als grundsätzlich kriminell oder gefährlich zu betrachten und zu verstehen. Bhabhas Ausdruck der „Festgestelltheit“ (2000: 97), erlaubt es, den Modus des Schauens nachzuvollziehen. Dieser „obsessive Modus“ ist ideologisch abhängig von der kulturellen, ethnischen oder historischen Festgestelltheit „der Anderen“, die unentwegt eine paradoxe Form annimmt: „[S]ie bezeichnet Starre und eine unwandelbare Ordnung, zugleich aber auch Unordnung, Degeneriertheit und dämonische Wiederholung“ (ebd.). Um jene Festgestelltheit und die damit verbundene Macht erfassen zu können, sollte ihr Wahrheitssystem de- und re-konstruiert und nicht ihre Repräsentationen – z. B. in Form des „dummen, delinquenten Ausländers“ und seiner „fortwährend schwangeren Gattin“ – einer normalisierenden Beurteilung unterzogen werden (ebd.: 98–99). Die „Andersheit der Anderen“ wird als Objekt des Begehrens und des Spottes zugleich repräsentiert. Auf diese Weise werden im Mikrokosmos der Institution Asyl Geflüchtete und deren „Andersheit“ durch die funktionale Verknüpfung von Fetischismus und Stereotyp fixiert (Festgestelltheit).

Was die erwähnte Umkehrung der Schutzbedürftigkeit Geflüchteter betrifft, ist die Stellungnahme von Ahmad F. (25) aufschlussreich. Ahmad ist ein Asylsuchender aus Sangar, einer mittelgroßen Stadt südwestlich von Kabul. Ich lerne ihn Anfang 2017 am medizinischen Zentrum des Landesamts kennen. Dort kommen wir ins Gespräch, und er teilt mir mit, dass er sich bei einer Psychiaterin vorstellen musste, um ein Attest für seinen Anwalt zu erhalten. In einem Café spendiere ich ihm einen Tee, während er mir über seine Lage berichtet.

„Bei der Anhörung hat sich der iranische Dolmetscher die ganze Zeit eingemischt und alles verdreht, was ich gesagt habe. Er hat alles versaut. Ich sagte, dass ich von den Taliban verfolgt wurde. Aber sie glaubten mir nicht. Mein Entscheider sagte sogar während der Anhörung was von ‚Wirtschaftsflüchtling‘ […] Jetzt sagen die das bei den anderen Terminen auch immer (…), dabei kenne ich so viele, die selbst bei den Taliban mitgemacht haben und nun in Deutschland so tun, als wären sie von ihnen verfolgt worden. Die haben ihren Aufenthaltstitel bekommen. […] Ich will ja arbeiten, darf aber nicht. Und mein monatliches Geld wird immer weniger. […] Na, und jetzt wurde ich ein paar Mal beim Klauen erwischt (…). Nur kleine Dinge im Supermarkt, ich hatte wirklich kein Geld mehr am Monatsende. Beim Schwarzfahren wurde ich auch schon erwischt. Jetzt habe ich einen Anwalt. […] Der gibt mir zwar Hoffnung, aber ich weiß gar nicht, wie ich ihn bezahlen soll. Ich habe keine Ahnung, wie der Gerichtsprozess ausgehen wird. […] Die Deutschen sehen mich für immer als Kriminellen (…). Ich fühle, dass ich keine Chancen habe […].“

Ahmads Individualität wird nach vorliegender Interpretation in der Institution Asyl totalisiert und so zu ihrem „diskursiven und begrifflichen Eigentum“ (Butler 1997: 82). Seine Schutzbedürftigkeit wird vollkommen verkannt und invertiert. Er gerät in eine existenzielle Bedrängnis, die durch die unfaire Anhörung und die daraus resultierende Not, als „abgelehnter Flüchtling“ gegen die eigene Abschiebung kämpfen zu müssen, entstanden ist. Er gelangt, anders ausgedrückt, genau in die Lage, die der dominante Diskurs vor dem Hintergrund des obsessiven Modus für ihn vorgesehen hat: Ahmad steht am Rand der Gesellschaft und wird genötigt, am Ende des Monats Lebensmittel zu stehlen, um zu überleben. Die obsessive Art und Weise, wie Geflüchtete durch verschiedene Ausschließungsmechanismen als different markiert werden, etabliert die Fixierung der weiter oben erwähnten binären OrdnungFootnote 19 und darüber hinaus auch eine Spaltung unter Geflüchteten durch Neid und Missgunst gegenüber denjenigen, die einen sicheren Schutzstatus erhalten. An diesem Beispiel wird zudem ein Paradoxon der Integration deutlich: Geflüchtete werden permanent angehalten, sich anzupassen und „westliche Werte“ anzunehmen, während ihnen gleichzeitig mithilfe diskursiver Konstruktionen und Narrative eine unaufhebbare Differenz attestiert wird. Verantwortlich dafür sind maßgeblich die restriktiven Asyl- und Aufenthaltsgesetze („Asylpakete“) der Bundesregierung (vgl. Abschn. 3.2.2). Eingewanderte Menschen sollen sich einbringen, produktiv sein und arbeiten, während das Arbeitsverbot, die „Vorrangprüfung“ und unmöglich zu erfüllende Auflagen für die Erlangung einer ArbeitserlaubnisFootnote 20 gegenteilige Effekte bewirken. Auf diese Weise bildet sich der Diskurs über „faule Migranten“, die sich „ohnehin nur aus der Sozialkasse bedienen möchten“. Die diskursive Anrufung Ahmads ist widersprüchlich und bildet den Nährboden für Desintegration statt Integration. Seine gefühlte Perspektivlosigkeit („Ich fühle, dass ich keine Chancen habe“) wird zum Fundament seiner emotionalen Erfahrung des Asyls und modelliert die unterlegene Rolle („Knecht“), die er im sozialen Gefüge Deutschlands einzunehmen hat.

Die durch Mechanismen der Stereotypisierung aggregierten Angriffe der Institution Asyl auf die Selbstbehauptungsenergien des Individuums werden als Versuch interpretiert, die potenziellen Widerstandsressourcen gefangener Individuen zu brechen (vgl. Goffman 1973: 92) und sie durch die Zirkulation der Stereotype als „minderwertig“ zu stigmatisieren. Dem liegt eine bestimmte anthropologische Grundannahme über das Wesen des „Anderen“ zugrunde. Anders ausgedrückt offeriert die Institution Asyl in ihrer totalitären Natur lediglich ein gewisses Spektrum an Interpretationsschemata für die Sicht auf eingewanderte Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen. Die Infantilisierung etwa, die bereits als eine totalitäre Facette der Institution aufgezeigt wurde, stellt eine von Grund auf asymmetrische Konstellation unhinterfragt als „normal“ dar und etabliert zugleich unsichtbar und effektiv die gesellschaftlichen Spielregeln. Diese spiegeln sich auch im Prinzip der Fragehoheit wider und prägen die Lebenswelten meiner Kontakte und darüber hinaus die gesamte Anatomie der Institution Asyl entscheidend mit. In seiner Narration (Katz III), inszeniert Abed seinen Groll und gleichsam seine Resignation über die Ungerechtigkeit im Ankunftskontext. Die Unterbringung, seine Ablehnung, die totalitären Facetten im Alltag seiner Lebenswelt und der Druck, nur als psychisch Kranker den Aufenthalt zu erlangen, stellen enorme Kränkungen dar, die gleichsam die Verkennung seiner Person seitens des Aufnahmestaates abbilden. Der Verlust seiner bisherigen Identität (Selbstauflösung) und die Zuweisung einer neuen als „Verlierer“ im Zielland der Flucht prägen seine „ontologische Verunsicherung“ bestimmend aus. Affekte und affektive Bezugnahmen bilden in diesem Prozess mitunter diejenigen Komponenten, die dem gefangenen Selbst zur Transformation seiner Identität verhelfen. Abeds Emotion des Grolls, wenngleich sie destruktiv und für seinen Aufenthalt unvorteilhaft sein mag, fungiert als Wegbereiter und Ausdrucksmittel seiner neuen Identität als „straffälliger Ausländer“. Mittels seines dissozialen und aggressiven Verhaltens lanciert er eine pervertierte Form der Anerkennung, die ihm konsequent verweigert wurde. Die Verkennung Abeds bildet, mit Katz gedacht, die Resonanz seiner sozialen Interaktionen (Katz II) im Ankunftskontext ab und wird so zum Initiator seines spezifischen sozialen Dramas. Sein Bedürfnis nach Anerkennung bleibt unbeachtet. Abeds affektive Bezugnahmen auf die totalitäre Umgebung erreichen nach und nach eine solche Intensität, dass er sie deutlich als Gefühle registriert, die eine leibliche Erlebensdimension – eine Emotion – konstituieren, die er wiederum mit neuen Akteur*innen und Phänomenen im Ankunftskontext in Beziehung setzt. Abeds Groll ist als ein Zusammenspiel leiblicher Empfindungen mit komplexen Konzepten zu begreifen, die dieselben Empfindungen entstehen lassen, sie beeinflussen und kanalisieren (Röttger-Rössler 2016: 5–6). Die Emotion des Grolls stellt demgemäß ein komplexes, dynamisches Bezugsgeschehen, also einen relationalen Prozess (Röttger-Rössler 2004) dar und keinen individuellen, innerlichen Zustand. Mit dem vorliegenden transpersonalen Emotionsverständnis kann die Lebenswelt Abeds jenseits der starren Verankerung im Individuum sowie der Strukturierung durch gesellschaftliche Diskurse und Normierungen (Röttger-Rössler 2016: 6; Scheve 2016: 13) nachvollzogen werden. Abed passt sich der von der Institution zugewiesenen Identität als „Verlierer“ an und fordert so die Anerkennung ein, die ihm bis jetzt als Subjekt – und nicht nur als Asylbewerber – versagt blieb, wenngleich die erzwungene Anerkennung höchst unwillkommen ist. Das heißt, der Mensch schlittert, obwohl es mit der ihm zugewiesenen Rolle ganz und gar unzufrieden ist, unter Einsatz seiner Emotionen in genau diese Identität hinein. Was sich paradox anhört, kann als eine alternative Form der Anerkennungsfindung gedeutet werden, wobei Affekte sozusagen als ein Regulationsinstrument für Anerkennung fungieren. Abed wird zur Figur des gekränkten Flüchtlings, der nicht bloß seine unterlegene Rolle als Ausgebeuteter und Ausgeschlossener in seiner Abhängigkeit von Anerkennung in Kauf nimmt, sondern zudem noch die Rolle des dissozialen, nicht integrierbaren Ausländers spielt. Diese Bewegung kommt einer Selbstunterwerfung gleich, doch bleibt keine andere soziale Existenz für ihn übrig. Die Anerkennungstheoretikerin Judith Butler, die in ihren Beiträgen die Frage, welches Leben überhaupt anerkennbar ist, in den Mittelpunkt stellt, bemerkt in diesem Zusammenhang:

„Fraglos ist es zu einem Zeitpunkt wohl besser, in einer Situation versklavt zu sein, die Verkümmerung und Missbrauch bedeutet, als gar nicht versklavt zu sein und damit die Bedingungen des Seins und Werdens zu verlieren“ (Butler 2005: 63).

Butler zeigt die Entwicklung des Menschen auf, der dazu genötigt wird, sich an genau jene Normen zu binden, die ihn auf die niedrigste soziale Stufe der Gesellschaft gestellt haben. Die Deplatzierung und Inferiorisierung wird in diesem Zuge zur Bedingung der Existenz des Subjekts (Herrmann 2013: 16). Insbesondere die Vulnerabilität Abeds kann mit Butler nachvollzogen werden.

„Wo gesellschaftliche Kategorien eine anerkennungsfähige und dauerhafte Existenz gewährleisten, werden diese Kategorien, selbst wenn sie im Dienst der Unterwerfung stehen, oft vorgezogen, wenn die Alternative darin besteht, überhaupt keine soziale Existenz zu haben.“ (Butler 2001: 24)

Simplifizierende Vorstellungen eines Gegensatzes von Subjekt und Macht werden damit verworfen. Die totale Institution Asyl ist so gesehen keine absolute Machthaberin, die explizit außerhalb des gefangenen Menschen liegt. Vielmehr ergibt sich aus der Dependenz von Subjekt und anrufender Macht (siehe Abschn. 4.6) eine Anfälligkeit für (soziokulturelle) Normen seitens des gefangenen Menschen, die er nicht selbst hervorgebracht hat. Auch Abed ist gezwungen, als Preis für seine Existenz in Kategorien und Begriffen zu denken, die nicht seinem Selbst entspringen. Demgemäß manifestiert sich seine Handlungsmacht als Konsequenz seiner Unterwerfung. Er ist sowohl das Ergebnis einer ihm vorausgehenden Macht als auch selbst ein Element der Machtausübung. Subjekt und Macht sind daher nicht getrennt voneinander zu verstehen. Nichtsdestotrotz sind Faktoren der Machtausübung seitens der Institution Asyl nicht leichtfertig von der Hand zu weisen. Sie bewirken letztlich im transitiven Sinn die Hervorbringung des Subjekts (Subjektivation) (Butler 2001: 18). Grundlegend im Prozess der Subjektivation ist das Herr-Knecht-Verhältnis aus Hegels Anerkennungsdenken. Die Herr-Knecht-Figur wurde zum prägenden Motiv der Sozialphilosophie, bei Jean-Paul Sartre als Blickverhältnis, bei Jacques Lacan als imaginäres Übertragungsverhältnis, bei Frantz Fanon als Beziehung zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten (Herrmann 2013: 69), bei Axel Honneth als Kampf um Anerkennung, bei Judith Butler als Frage nach den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit das Subjekt überhaupt anerkannt werden kann (Anerkennbarkeit), bei Emmanuel Levinas im Antlitz des Anderen und bei Charles Taylor in der Politik der Anerkennung. Taylors Perspektive ist nebenbei bemerkt ebenfalls geeignet, die Selbstunterwerfung des gefangenen Subjekts nachzuvollziehen, denn er macht am Phänomen der politischen Verkennung deutlich, wie sozial ausgegrenzte und als minderwertig betrachtete Subjekte ein ebenso inferiores Bild ihrer selbst zurückspiegeln (Taylor 1992). Mit diesem unterlegenen Bild können sie sich zwar nicht identifizieren, sind aber dennoch imstande, eine abnorme Form der Anerkennung zu erlangen. Dies impliziert, dass das Subjekt ausschließlich mithilfe der authentischen Anerkennung anderer – rekognitive Abhängigkeit genannt (Herrmann 2013: 208) – Selbstverwirklichung erlangen kann. Gleichsam ist dies der Grund, weshalb Menschen nicht ausschließlich als körperlich, sondern als symbolisch verletzliche Wesen zu begreifen sind. Dissoziales Verhalten und Anpassungsstrategien der Mimikry seitens der Asylbewerber*innen sind im Lichte dieser Interpretation als Anerkennung der verweigerten Anerkennung zu verstehen. Auch wenn die asylrechtliche Ablehnung des Geflüchteten in der vorliegenden Studie eine klare Verkennung darstellt, bedeutet sie in dieser Interpretation nichtsdestoweniger die elementarste Form der Anerkennung. Dieses „Paradoxon der Entmenschlichung“ beschreibt Avishai Margalit ebenfalls mit Bezug auf Hegels Herr-Knecht-Verhältnis dergestalt, dass Demütigung die Menschlichkeit des Gedemütigten voraussetzt (1996: 137). Das heißt, der Akt der Demütigung, Zurückweisung, Missachtung oder Verkennung erfordert immer schon aus Prinzip, dass es sich bei der verkannten Person um einen Menschen handelt. Die in der Institution erfahrene Missachtung ist gleichbedeutend mit der Selbstentfremdung des verkannten Subjekts. Anerkennung und Verkennung sind so gesehen keine entgegengesetzten Pole, sondern ein und derselbe Prozess. Dabei kommt Affekten und den aus ihnen jeweils erwachsenen Emotionen (in den hier betrachteten Fallbeispielen ganz unterschiedlich) mitunter die zentrale Rolle zu, dem Hinnehmen der aufgezeigten paradoxen sozialen Dynamik der Verkennung Ausdruck, Leben und Sinn zu verleihen. Affekte und Emotionen sind symbolisch gesprochen das Triebwerk dieser Dynamik, mit dessen Hilfe sich die Identität des gefangenen Menschen im Ankunftskontext zu modellieren beginnt.