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Notes
- 1.
Vgl. zum Beispiel das jährlich stattfindende Bremer Erzählfestival „Feuerspuren“, das in einem von Migration geprägten Stadtteil mit Hilfe von mehrsprachigen Erzählungen neue Verbindungen zwischen den Bewohner_innen stiftet und die mit der Mehrsprachigkeit verbundene Stimmen- und Perspektivenvielfalt in der ganzen Stadt und darüber hinaus hörbar machen will (vgl. http://www.feuerspuren.de/).
- 2.
Die Bedeutsamkeit von Geschichten für die kindliche Entwicklung wurde aus einer psychoanalytischen Perspektive von Bruno Bettelheim (1903–1990) beschrieben, der in seiner Studie Kinder brauchen Märchen (2009) die Wichtigkeit von Märchen für die Entwicklung der kindlichen Seele betonte, indem er darauf aufmerksam machte, dass Märchen dem kindlichen Denken und Fühlen entsprechen und den Abbau von Ängsten und inneren Konflikten fördern würden (vgl. vom Orde 2012).
- 3.
Vgl. zum Begriff der Kontingenz die Überlegungen Norbert Rickens (vgl. 2004), der u. a. betont, dass Kontingenz nicht nur auf die logische Andersmöglichkeit, sondern auch auf die existenzielle Endlichkeit und Begrenztheit menschlichen Lebens verweist. Insbesondere Rickens Reflexionen zur Perspektivität und konstitutiven Sozialität menschlicher Praxis versuchen wir mithilfe unserer Ausführungen zu konkretisieren.
- 4.
Zum Erwerb der Erzählfähigkeit im Kindesalter vgl. Becker (2011).
- 5.
Dass das Erzählen nicht nur dem Zeitvertreib und der Bewältigung von Angst diene – wie Koschorke mit Verweis auf Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos (1990) anführt –, verdeutlicht der Hinweis, es handele sich bei dieser Deutung um eine koloniale Strategie, einer „primitiveren Entwicklungsstufe der Menschheit“ und fantastischen Naturmächten rationale Erklärungen entgegenzusetzen. Weiter habe das Erzählen auch nicht die Aufgabe Trost und Sicherheit zu spenden, schließlich seien ganze literarische Genres dem Grauen und Schrecken gewidmet (vgl. 2012, S. 10 f.).
- 6.
Erziehende zeigen sich darüber hinaus im Zeigen selbst als Zeigende (vgl. Prange 2005, S. 78 f., 2002, S. 118) und haben dementsprechend, mit Arendt gesprochen, eine Verantwortung – und hiermit erhält die Operative Pädagogik eine ethische Unterfütterung –, dem Zeigen „eine gute Form zu geben“ (ebd., S. 163). Norbert Ricken schlägt darüber hinaus in seiner Rezeption Pranges vor, die Intersubjektivität des Zeigens zu akzentuieren und das Zeigen als ein Adressierungs- und Konstitutionsgeschehen aufzufassen, indem er dem Zeigen das Anerkennen als pädagogische Grundform des Handelns zur Seite stellt (Ricken 2009, S. 121 ff.).
- 7.
Auf dieses Wechselspiel von Öffnung und Schließung weist auch Maike Weißpflug in ihrer Auseinandersetzung mit Koschorke in ihrer inspirierenden Betrachtung des Erzählens bei Arendt hin (vgl. 2014, S. 219).
- 8.
Während sich die „Arbeit“ in der Reproduktion der biologischen und alltäglich verzehrten Lebensgrundlagen erschöpft, bringt das „Herstellen“ dauerhaft bestehende Gegenstände hervor, die sich als „Gebrauchsgegenstände“ (als Tisch oder Hammer) nur langsam abnutzen oder als „Kunstwerk“ über Generationen Bestand haben. Das „Handeln“ schließlich bezeichnet die politische Tätigkeit des Menschen, die für Arendt darin besteht, etwas Unvorhergesehenes tun zu können, andere damit anzustecken und auf diese Weise zu einer Erneuerung des politischen Gemeinwesens beizutragen (vgl. 2002, z. B. S. 16 f.).
- 9.
Arendt versteht unter „Welt“ zum einen die materielle Infrastruktur einer „Dingwelt“ (2002, S. 16), bestehend aus Gegenständen in Form von Werkzeugen, Technik, aber auch Architektur, innerhalb derer Menschen ihre unterschiedlichen Aktivitäten entfalten können. Zum anderen verweist „Welt“ auf einen immateriellen Zusammenhang, ein „Bezugsgewebe“ (2002, S. 225) kultureller Deutungen (bspw. in Form geteilter Erinnerungen im Sinne eines „kollektiven Gedächtnisses“ (Halbwachs)), die diese Aktivitäten in einen sinnvollen Zusammenhang bringen und ihnen auf diese Weise Bedeutung beimessen lassen (vgl. Loidolt 2018, S. 98 f.).
- 10.
Arendts Konservatismus ist im Zusammenhang mit ihrer klaren Zuordnung der Erziehung in den traditionell dem weiblichen Geschlecht zugewiesenen privaten Bereich insbesondere aus feministischer Perspektive heftig kritisiert worden (vgl. Benhabib 1998, S. 215, 220 sowie Torkler 2015, S. 31–34). Wir halten diese Einwände politisch für plausibel, erachten Arendts Theorie – wie übrigens auch viele ihrer Kritiker_innen – jedoch für komplex genug, die in Arendts Schriften zum Teil vertretenen „Fehlurteile“ im Weiterdenken ihrer Theorie zu revidieren. Die in diesem Beitrag vorgelegt Re-Lektüre von Arendts Erziehungsverständnis im Licht des Erzählens verstehen wir als Schritt in diese Richtung.
- 11.
In ihrem Aufsatz Wahrheit und Politik schreibt Arendt: „Die politische Funktion des Geschichtenerzählers, der Geschichtsschreiber wie der Romanschriftsteller, liegt darin, daß sie lehren, sich mit den Dingen, so wie sie nun einmal sind, abzufinden und sie zu akzeptieren“ (2016c, 367 f.).
- 12.
Eine solche auf historisches Erzählen verweisende Interpretation wirft zwangsläufig die Frage auf, ob sie lediglich für faktuales, nicht aber für das im Zusammenhang dieses Texts noch bedeutsamere fiktionale Erzählen Gültigkeit beanspruchen kann (diese Deutung wird durch Arendts Unterscheidung von „einer wirklich gesehenen und einer nur erfundenen Geschichte“ (2002, S. 231) genährt). Insofern „Kunstwerke“, zu denen fiktionale Texte ja gerechnet werden müssen, aber ebenfalls menschliche Erfahrungen, ihre „Fähigkeit, zu denken und zu sinnen“ (ebd., S. 203) zur Grundlage haben, sollte diese Unterscheidung für unseren Zusammenhang ihre Bedeutsamkeit verlieren: Fiktionale Texte gewinnen ihren Stoff ebenfalls aus dem realen Leben und sind in ihrer Verstehbarkeit damit ebenfalls abhängig von historischen Entwicklungen.
- 13.
Arendt wendet sich mit dieser Verschränkung konservativer Erziehung und erneuernder Politik – die ja auch die Trennung der Bereiche von Erziehung und Politik impliziert – gegen reformpädagogische Erziehungsvorstellungen, die im Interesse des „Wohl des Kindes“ (2016a, S. 268) deren Befreiung von der „Unterdrückung durch die Erwachsenen“ (ebd.) voranzutreiben bzw. auf dem Wege der Erziehung unmittelbar politische Veränderungen herbeizuführen versuchen.
- 14.
Die Politische Bildung stört sich keineswegs an Arendts verkürzten Überlegungen zur Anbahnung politischer Handlungsfähigkeit in der Erziehung und bezieht Arendts Konzept politischen Urteiles in ihre – die theoretische Kohärenz strapazierende – Diskussion unterschiedlichster Urteilskonzeptionen mit ein (vgl. Detjen et al. 2012).
- 15.
TED Talks sind kurze, didaktisch aufbereitete Präsentationen eines Themas durch eine_n Expert_in vor einem physisch anwesenden Publikum, die über eine Videoplattform einem weltweiten Publikum zur Verfügung gestellt werden. Adichies Rede wurde zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels bereits über 15 Mio. mal abgespielt (vgl. https://www.ted.com/talks/chimamanda_adichie_the_danger_of_a_single_story).
- 16.
Die Schulbuchanalyse zu „Weihnachten in Europa“, die Irina Grünheid und Paul Mecheril (vgl. 2017) vorgelegt haben, zeigt, dass diese Schemata natürlich nicht allein durch literarische Erfahrungen geprägt werden, sondern – neben eigenen Erfahrungen – auch bspw. Gegenstand von in- und exkludierenden Thematisierungen in institutionellen Kontexten wie der Schule sind.
- 17.
Anhand der nigerianischen und europäischen Geistlichen, die im Roman in der Kirche und Schule beschrieben werden, werden die Kolonialgeschichte Nigerias und ihre komplexen Verflechtungen mit katholischer Missionierung thematisch.
- 18.
Igbo bezeichnet sowohl eine der größten Bevölkerungsgruppen Nigerias (vor allem im Südosten) sowie eine der am meisten gesprochenen Sprachen im Land.
- 19.
Arnd-Michael Nohl weist in einem aktuellen Beitrag darauf hin, dass Erziehung „neben reflektierten auch durch habituierte und spontane Intentionen in Gang gebracht werden [könne]“ (2018, S. 121). Dass Adichie selbst eine eigene Interpretation ihrer Praxis des Erzählens liefert, die unsere These stützt – und zugegebenermaßen unsere Interpretation inspiriert hat – ist somit keineswegs eine notwendige Voraussetzung, um von der Pädagogizität ihrer Erzählung zu sprechen. Genau darauf weist das Motiv einer Pädagogik im Verborgenen in ästhetischen Gegenständen und Praktiken hin.
- 20.
Adichie beschreibt die Mächtigkeit von Geschichten mit dem Igbowort „nkali“: „It’s a noun that loosely translates to ‚to be greater that another.‘ Like our economic and political worlds, stories too are defined by the principle of nkali. How they are told, who tells them, when they’re told, how many stories are told, are really dependent on power“ (09:50).
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Otzen, A., Hilbrich, O. (2019). „The Danger of a Single Story“ – Ästhetisch-pädagogische Zugänge zur menschlichen Pluralität in Anlehnung an Chimamanda Ngozi Adichie und Hannah Arendt. In: Bach, C. (eds) Pädagogik im Verborgenen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21891-1_14
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