Zusammenfassung
Der Ausdruck Public Health bezeichnet ein medizinisches Fachgebiet oder übergreifender den Diskurs der sogenannten Gesundheitswissenschaften. Zugleich kann man Public Health als politische Zielstellung betrachten oder auch etwas breiter: als Politikfeld. In beiden Perspektiven versteht es sich nicht von selbst, dass neben fachwissenschaftliche oder aber genuin politische Programme und Werkzeuge auch in Deutschland neuerdings eine „Public Health Ethik“ zu treten beginnt.
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Notes
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Mit dem Zusammenhang von „Diskurs“ und „Politikfeld“ knüpft dieser Beitrag an Gespräche an, die mich mit Hubert Heinelt verbinden. Es sind Gespräche to be continued – über ein an Foucault orientiertes, dennoch aber auf empirische politikwissenschaftliche Felder übertragbares Verständnisses von „Diskursen“. Daneben geht dieser Beitrag zurück auf einen Workshop „Public Health-Ethik und Public- Health-Politik“, ausgerichtet 2011 von Stefan Huster während eines gemeinsamen Fellow-Jahres am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
- 2.
- 3.
Wie nennt man Subdisziplinen, die ihrerseits aus interdisziplinären Gebieten heraus entstehen? Iuxtadisziplinär? Circumdisziplinär? Die Frage nach der Genese der Public Health Ethik bedürfte historisch genauerer Klärung und auch des internationalen Vergleichs. Ich belasse es bei der Beobachtung, dass Public Health Ethiker an großen medizinischen bzw. medizinethischen Zentren oder auch in der öffentlichen Verwaltung tätig sind, somit auch außeruniversitär sozialisiert werden, in der Medizin und dem Medizinrecht zuzuordnenden Verlagen und Journals publizieren und – zwar interdisziplinär, aber dennoch hoch spezialisiert – in erster Linie Public Health Konferenzen und medizinpolitische Debatten beliefern (nicht aber z. B. philosophische Foren). Programmatische Abgrenzungen der Public Health Ethik von Medizinethik unterlegen den Anspruch, eine gesonderte Bereichsethik zu sein (vgl. Dabrock 2002; Schröder 2007). Dass sie zudem Berufsethik sein müsse, fordert Hien (2010).
- 4.
Schröder 2007: 110: „differierende moralische Aufträge“ von Medizin und Public Health.
- 5.
Gegenüber auf der Individualebene ansetzenden Ethiken sieht sich Public Health Ethik verschärften Herausforderungen gegenüber: Public Health Maßnahmen setzen (1) bei „der Population“ an (bringen also Gemeinnutzenargumente ins Spiel), sind (2) präventiv ausgerichtet (stützen sich also in hohem Maße auf fallible Prognosen) und werden (3) das Problem der durchschnittswertorientierten Verteilung (und damit fehlender Einzelfallgerechtigkeit) nicht los.
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Unter Umständen zögern Öffentlichkeit und Politik gleichermaßen. Im Falle des Rationierungsthemas haben Ethiker – konkret: der Deutsche Ethikrat – versucht, das politische System regelrecht zum Jagen zu tragen, mittels einer Stellungnahme, die vehement verlangt, die „unbequeme Thematik offen zu diskutieren“ (Deutscher Ethikrat 2011: 5). Bisher sind Erfolge nicht erkennbar. Flankierende Beiträge aus dem Wissenschaftssystem halten das Thema aber nach Kräften unter Strom, vgl. kritisch hierzu Gehring (2011).
- 7.
Verantwortung „vom Anderen“ her lautet ein durch den Medizin- und Wissenschaftskritiker Klaus Dörner geprägtes Leitmotiv (Dörner 2002), vgl. auch die Arbeiten von Martin Schnell unter dem Vorzeichen einer Ethik der „Bedürftigkeit“ (u. a. Schnell 2002); für wissenschafts- und institutionenkritische Ansätze dieses Typs steht Pate u. a. der Ethikbegriff des Philosophen Emmanuel Levinas.
- 8.
Vgl. zur Funktion (u. a. zur Zeitpolitik) von Ethik Gehring (2006).
- 9.
Vgl. Foucault 1963; Luhmann 1988.
- 10.
Vgl. zur Unbegrenztheit als „Kernproblem von Public Health“ Kaminsky (2008: 131).
- 11.
Deutscher Ethikrat, Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung. Stellungnahme. Berlin, 27. 1. 2011: 58 [Hervorhebung pgg].
- 12.
So aber Kaminsky, a. a. O.: 135 f., ihr zufolge soll Public Health Ethik die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung „anregen und unterstützen“.
Literatur
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Deutscher Ethikrat 2011: Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung. Stellungnahme. Berlin: Deutscher Ethikrat.
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Gehring, Petra 2006: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens. Frankfurt am Main, New York: Campus.
Hien, Wolfgang 2010: Public-Health-Praxis braucht Berufsethik – Plädoyer für eine verantwortungsethische Perspektive, In: Umwelt – Medizin – Gesellschaft, S. 46–49.
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Gehring, P. (2012). Wozu braucht Public Health Ethik – und umgekehrt?. In: Egner, B., Haus, M., Terizakis, G. (eds) Regieren. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19793-7_11
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