1 Einleitung

Bei Hugo Loetschers (1929–2009) zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung wohlwollendFootnote 1 aufgenommenem Debütroman Abwässer. Ein Gutachten (1963) handelt es sich, je nachdem, welchen Status man Loetscher selbst zuweist, um ein zentrales, mit Sicherheit aber erst in den Folgejahren und durch Retrospektiven auf Loetschers Werk an Bedeutung gewinnendes Werk der schweizerischen Nachkriegsliteratur. Diese Periode wird im heutigen Bewusstsein beinahe vollständig von den Romanen Max Frischs und den Theaterstücken Friedrich Dürrenmatts besetzt gehalten. Loetscher, etwas jünger als die genannten Riesen des Schweizer Kanons, fügt sich mit Abwässer nicht ganz in deren Traditionen ein. Im Gegensatz zu Frischs Erzählerfigur Stiller findet sich beim Ich-Erzähler der Abwässer das Thema der identitätssuchenden Introspektion nicht, Loetschers Werk wird im Gegenteil inzwischen standardmäßig als nach außen gerichtete, weltinteressierte Literatur avant la lettre verstanden.Footnote 2 Und im Gegensatz zu Dürrenmatts Texten jener Zeit ist Abwässer nicht an grotesker Überspitzung der conditio humana durch die Mittel des Absurden interessiert. Typisch an Abwässer für die schweizerische Literatur jener Periode ist allerdings, dass Loetscher nicht aus der Sicht des persönlich vom Weltkrieg Betroffenen schreibt, sondern, wie Dürrenmatt, mit satirischen und, wie Frisch, mit parabelhaften Zügen (Andorra 1961) allgemeinere politische Position gegenüber einem Land bezieht, das mit weitgehend unversehrtem Städte- und Selbstbild aus dem Weltkrieg hervorging. Typisch daran ist, dass die auch nach dem Krieg sehr intakte Mittelstandsgesellschaft der Schweiz mit ihrer ‚sauberen‘ Oberfläche satirischer Kritik unterzogen wird. Große thematische Verwandtheit besteht etwa zu Dürrenmatts Theaterstück Herkules und der Stall des Augias (als Hörspiel 1954 ausgestrahlt, die spätere Bühnenfassung wurde 1963 uraufgeführt): „Zur Metapher der Kanalisation als der unsichtbaren Kehrseite des gesellschaftlichen Lebens gab es bei DÜRRENMATT und FRISCH motivliche Parallelen“ (Pezold 2007, S. 249).

Glaubt man der Entstehungsanekdote, die Loetscher wiederholt erzählt hat, entstand der Roman nach einem Blick in eine offene Baugrube mit freigelegten Abwasserrohren, die ihm die grundsätzliche, aus der öffentlichen Sichtbarkeit verbannte, tiefergehende Gleichheit der Gesellschaft offenbarte:

Von überall führten die gleichen rostigen Rohre zu einem Sammelkanal, und von allen Rohren stieg der gleiche muffige Gestank hoch.

Dem Beobachter [Loetscher spricht in dem Text von sich in der dritten Person, TL] wurde klar, daß hier keiner dem andern was vormachen konnte: ob Politiker oder Bibliotheksbesucher, ob Polizist oder einer, der von der Polizei gesucht wurde, sie alle trafen sich hier unten brüderlich in der Produktion von Abwässern. Unser Autor entdeckte eine demokratische Welt. (Loetscher 1988, S. 23)

Alle Menschen sind vor dem Abfluss gleich: Die Welt des Untergrunds wird hier als die eigentlich gleichberechtigte und ‚demokratische‘ bewertet, womit das zentrale Reizwort der schweizerischen Nationalidentität in Mitleidenschaft gezogen ist. Demokratie, die politische Grundtugend der Schweiz, findet sich, so die satirische Spitze, am besten abgebildet in ihren Abwasserkanälen. Hier kündigt sich die politische Dimension des Textes an, auf die ich später zu sprechen komme.

Doch zunächst zum Inhalt des Romans: In Abwässer berichtet ein namenlos bleibender, autodiegetischer Erzähler von seinen Erlebnissen als Inspektor der städtischen Abwässer. Er tut dies in einer bestimmten Form: nämlich derjenigen eines Gutachtens, das eigentlich die Funktion haben soll, die Anforderungen an den Nachfolger auf seiner Stelle zu formulieren. Dieses Gutachten wurde in der Erzählwelt von der Regierung in Auftrag gegeben, die gerade erfolgreich eine gewaltsame politische Revolution vollzogen hat. Der Inspektor schreibt aber kein nüchternes Gutachten. Zwar sinniert er mit technischem Vokabular über den Nutzen der Abwasserkanäle für die Gesellschaft. Er spricht hingegen nicht eigentlich über die fachlichen Befähigungen, die ein Nachfolger mitbringen müsste, sondern eher darüber, wie dessen Charakter beschaffen sein sollte. Diese Charaktereigenschaften des idealen Abwasserinspektors malt er mit abschweifenden, mäandernden Anekdoten aus seiner eigenen Biographie aus. Nach und nach wird klar: Wirklich in das Amt passt aus Sicht des Inspektors nur er selbst. Mit dieser Empfehlung, einer (doppelbödigen) Unterordnung des Individuums als funktionales Rädchen im Kollektiv und einer soziopolitischen Apotheose der gegenüber den Machtverhältnissen gleichgültigen (neutralen?) sanitären Anlagen endet der Roman:

Ich hoffte, Ihnen mit diesem Gutachten zu zeigen, daß ich den beruflichen Kenntnissen und meinem Leben nach einen brauchbaren Inspektor der Abwässer abgäbe. Welche Zukunft auch immer beginnt, welche Ordnung auch geschaffen wird – Abwässer werden die lichteste Zukunft und das gerechteste Morgen hervorbringen, und es braucht jemand, der diese Abwässer ableitet und deren Kanäle inspiziert. Ich glaube nicht an das Individuum, aber daran, daß es einen ihm entsprechenden Platz einnehmen kann, den möchte ich nicht verlieren. Darf ich mich um meine eigne Nachfolge bewerben? Ich stelle mich zur Verfügung. (A 157 f.)Footnote 3

Hugo Loetscher selbst hat für seinen Debütroman Abwässer. Ein Gutachten wiederholt einen relativ einfachen Deutungsansatz gegeben: Es gehe um den allegorischen Hinweis darauf, dass die Schweiz, für ihre Sauberkeit bekannt, trotz dieser nicht unschuldig sei, denn „wir sind nicht unschuldig, sondern gewaschen“ (Loetscher 1988, S. 24), oder wie ein Berufskollege des Inspektors an anderer Stelle sagt: „[J]e sauberer eine Gesellschaft sich gebe, um so größer sei der Durchmesser der Abzugsrohre“ (A 36). Damit ist eine allegorische Lesart des Romans vorgespurt, die das Thema vielleicht als allgemein-menschlich, nicht nur auf die schweizerische Nachkriegsgesellschaft bezogen, ausweisen kann. Dass Loetscher später öfter darauf hingewiesen hat, es handele sich bei der Stadt im Roman eben nicht um seine Geburtsstadt Zürich (vgl. Loetscher 1988, S. 28 f.), sondern um „irgendeine Stadt, vielleicht sogar das Modell einer Stadt, sicherlich die Stadt einer industrialisierten Gesellschaft“ (Loetscher 1988, S. 24), ist zwar fiktionstheoretisch sicher korrekt, allerdings muss ein Text, der sich im Jahr 1963 mit dem falschen Verständnis der eigenen Unschuld auseinandersetzt, sich gegenüber der deutschen Vergangenheit als ausgesprochen helvetisch ausnehmen.

Den Abwässer-Roman, völlig unabhängig von Loetschers DeutungshilfenFootnote 4, bis zu einem gewissen Grad allegorisch für soziale Zustände der Nachkriegsschweiz und ihrer Gesellschaft zu lesen, liegt nahe. So tut der Ich-Erzähler dies zum Beispiel selbst, wenn er sich den „Abwasserblick“ attestiert (A 32). Dieser Blick sieht sozusagen immer die verdrängte Kehrseite gesellschaftlicher Realitäten: Der Anwalt wäre ohne Verbrecher arm, der Arzt ohne Krankheiten arbeitslos, der Pfarrer ohne Sünder nutzlos etc. (vgl. A 33–36). Dieser Blick, das Wissen um diese Wahrheiten, macht den Abwasserinspektor zwar zum vertrauten ‚Beichtvater‘ der oberen Gesellschaft – da er ihre schmutzigen Geheimnisse ohnehin kennt –, gleichzeitig aber zur persona non grata:

Es ist die Perspektive von unten, die seine Anschauung bestimmt und ihn das unscheinbare Detail überraschend und als Symbol oder Symptom größerer Zusammenhänge erkennen und sehen lässt, was gemeinhin aus dem Blickfeld gerückt wird: die Opfer und Ausgestoßenen, das Verdrängte und Vernachläßigte, das Unrecht und der falsche Flitter, die Wirklichkeit in einem umfassenderen Sinne. Ein solch „fremder“ Blick jedoch entfremdet den aufmerksamen Abwasserinspektor vom gewöhnlichen Leben und den gültigen Verhaltensnormen. Zudem macht ihn sein subterranes, mithin „subversives“ Tun bei der guten Gesellschaft verdächtig, auch wenn diese ihn gleichzeitig mit all ihren verdrängten Geschichten geradezu überhäuft. Ihm erzählen die Menschen, was sie vor sich selbst verheimlichen: Nöte, Leiden und Leidenschaften. (Mazenauer 1993, S. 406)

Diese Ambiguität des Inspektors und seiner gesellschaftlichen Positionierung wird als zentrales Motiv des Romans später noch deutungsrelevant.

2 Unzuverlässiges Erzählen in Abwässer

Denn ganz im Sinne dieser Ambiguität ist der Roman Abwässer, in Teilen, unzuverlässig erzählt. Das ist so offensichtlich, dass es erstaunt, unter der gesichteten Forschungsliteratur nur eine einzige Studie zu finden, die auf diese erzählerische Eigenheit des Inspektors überhaupt hinweist: In ihrer Untersuchung Der Neue Roman in der Schweiz (1992) fügt Rosmarie Zeller den erzählenden Abwasserinspektor ganz selbstverständlich in eine Reihe ‚lügender‘ Erzählfiguren der schweizerischen Nachkriegsliteratur ein, darunter als Vorläufer Frischs Stiller (1954) oder Otto F. Walters Herr Tourel (1962) (vgl. Zeller 1992, S. 65). Zeller führt diese Beobachtung für Abwässer nicht aus, es bleibt bei ihrer bloßen Feststellung:

Nur ein Jahr nach Herr Tourel erschien Loetschers Roman Abwässer. Ein Gutachten, welches vom Abwasserinspektor als Rechtfertigung seines Verhaltens während eines Aufstandes abgefaßt wird. Gerade weil Rechtfertigungen nicht in ein Gutachten gehören und also gegen die Regeln der Textsorte verstoßen, wirken sie verdächtig. (Zeller 1992, S. 65)

Lässt sich der Grund, dass die Forschungsliteratur diesen Aspekt noch nicht eingehend beleuchtet hat, vielleicht gerade in dieser Selbstverständlichkeit vermuten? Schien es schlicht unnötig, die Unzuverlässigkeit des Inspektors gesondert zu untersuchen, gerade weil es sich für die schweizerische Literatur der Periode um ein zeittypisches Phänomen handelt? Jedenfalls soll diesem Aspekt des Romans im Folgenden der Fokus gehören.

Ich möchte knapp skizzieren, was hier unter unzuverlässigem Erzählen verstanden wird. Den Begriff mimetischen unzuverlässigen Erzählens verwende ich so, wie Tom Kindt ihn expliziert:

Der Erzähler N in einem literarischen Werk ist genau dann mimetisch zuverlässig, wenn es als Teil der KompositionsstrategieW zu verstehen ist, dass Ns Äußerungen im Hinblick auf die fiktive WeltW auschließlich korrekte und alle relevanten Informationen enthalten; N ist genau dann mimetisch unzuverlässig, wenn es als Teil der KompositionsstrategieW zu verstehen ist, dass Ns Äußerungen im Hinblick auf die fiktive WeltW nicht ausschließlich korrekte oder nicht alle relevanten Informationen enthalten. (Kindt 2008, S. 53)

Es geht im Folgenden um mimetische (gegenüber axiologischer) Unzuverlässigkeit, also grob gesagt um die Tatsache, dass es zwischen Sachverhalten auf der Ebene der histoire und ihrer Darstellung auf der Ebene des récit Widersprüche gibt, die nicht durch genetische Fehler entstanden sind (z. B. Tippfehler), sondern Teil der besagten Kompositionsstrategie sind: Widersprüche, die, anders gesagt, einen narrativen Zweck haben. Dass die Sachverhalte der histoire aus ihrer Darstellung trotz irreführender oder mangelnder Informationen überhaupt erst rekonstruiert werden müssen, begründet einen Reiz dieses Erzählverfahrens: Man benötigt Gründe und Anhaltspunkte, um eine Inkongruenz der Darstellungsebene und der histoire-Ebene überhaupt unterstellen zu können. Deshalb wird im folgenden Abschnitt dargelegt, welche Widersprüche sich in der Erzählung des Inspektors hinsichtlich der erzählten Welt ergeben; dabei wird lange nur von der diegetischen Erzählsituation des Ich-Erzählers die Rede sein. Spannender als die Auflösung der Widersprüche auf mimetischer Ebene ist aber die Interpretation ihrer poetologisch-programmatischen Funktion, die den Schluss des Beitrags bilden wird.

Woraus ergibt sich die Unzuverlässigkeit bei Loetschers Erzähler? Es lohnt sich, sich nochmal die fiktionsinterne Erzählsituation des Romans vor Augen zu führen: Ein autodiegetischer Erzähler, der Abwasserinspektor, ist gehalten, ein Gutachten für eine gerade durch einen gewaltsamen Umsturz an die Macht gekommene Regierung zu verfassen, in der er einen Nachfolger instruieren bzw. modellieren soll. Er selbst ist für ein höheres Amt vorgesehen. Sinn und Zweck seines mäandernden Berichts ist dann allerdings, sich selbst weiterhin als Abwasserinspektor zu empfehlen und die Beförderung zu vermeiden. Durch diese heikle kommunikative Lage, in der sich der Inspektor in der Erzählwelt befindet, sind Fragen aufgeworfen, die die Struktur und den Zweck des Textes in erzählweltlicher Hinsicht betreffen: Welches Verhältnis hat der Erzähler zur alten und zur neuen Regierung? Warum verweigert bzw. fürchtet er die Beförderung? Wieso schreibt er (der Inspektor, nicht der Autor Loetscher) einen Text, der die Kriterien eines Gutachtens bei bestem Willen nur sehr partiell erfüllt?

Diese Fragen führen zu einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber einigen auffälligen erzählerischen Details: Der Inspektor beginnt seinen Text mit einer ausführlichen, plausiblen Rechtfertigung, warum er während eines Kontrollgangs in der Kanalisation im Gegensatz zu seinem Stellvertreter den „Umsturz“ nicht bemerkt habe (vgl. A 5–7). Nach dieser Rechtfertigung häufen sich allerdings schnell kleinere Widersprüche. Als Beispiel nur ein Blick auf die Beschreibung seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft des revolutionären Lagers:

Bevor man mich entließ, untersuchte mich ein Arzt, ob an meinem Körper Spuren von Mißhandlungen festzustellen seien, was nicht der Fall war. Zwar hatte während meiner Einvernahme einer Ihrer jungen Leute ein Frottiertuch unter dem laufenden Wasserhahnen [sic] getränkt und es zu einem Schläger ausgewrungen. Nicht, daß er ihn gebraucht hätte; doch nahm ich an, meine Nerven hätten den Schlag weitergegeben, ohne daß die Haut Spuren aufnimmt. Ich wunderte mich, hatte ich doch von fortschrittlicheren Methoden gehört wie dem Elektroschock und dem Wasserstrahl. In meinem Falle aber schnitt eine Schwester vom Roten Kreuz ein Stück Heftpflaster von einer Rolle. Mit dem neuen Ausweis und dem Heftpflaster für meine geplatzte Lippe wurde ich entlassen. (A 8)

Zur Zusammenfassung des Offensichtlichen: Erst wird eine Untersuchung erwähnt, die Spuren von Misshandlungen während der Haft feststellen soll (wozu die Untersuchung, wenn das Verhör gewaltfrei ablief?), dann wird die Methode der Misshandlung beschrieben, allerdings als rein hypothetisch dargestellt (und mit einem Seitenhieb auf ihre Archaik versehen), zu guter Letzt wird eine Verletzung versorgt, die es ohne Misshandlung nicht geben dürfte und die der Arzt einige Zeilen weiter oben nicht bemerkt haben soll. Bei der Beschreibung einer anderen Kopfverletzung, die ihm bei der Verhaftung von den Revolutionären zugefügt wurde, beteuert der Erzähler erst die Unabsichtlichkeit der Tat, später in Widerspruch dazu ihre Begründetheit, schließlich fügt er mehrfach an, dass er diese Verletzungen nicht erwähne, um sich zu beklagen.Footnote 5 Warum er sie aber erwähnt, erklärt er nicht.

Unschwer ist zu erkennen: das unzuverlässige Erzählen erfüllt hier auf fiktionsinterner Ebene einen speziellen, nicht selbstverständlichen Zweck. Bei anderen klassischen Beispielen von autodiegetischem, mimetisch-unzuverlässigem Erzählen liegt eine andere Situation vor. Der Typus des miles gloriosus erzählt seine Prahlereien (sei es aus Eitelkeit oder Verblendung) einem Publikum, das diese (jedenfalls fiktionsintern) auch glauben soll; inszeniert naive Erzähler (wie im Simplicissimus oder auch kindliche Erzählfiguren wie Huckleberry Finn) erzählen eine vielleicht etwas unterinformierte Version der Ereignisse, aber eben doch ihrer aufrichtigen Wahrnehmung entsprechend; sogar Frischs Stiller, für dessen Erfindungen man verschiedene, komplexe und interpretationsbedürftige Motive ausmachen kann, scheint zunächst davon auszugehen, dass man ihm (und im Verdrängungsprozess vielleicht er sich selbst) Glauben schenken soll. Loetschers Abwasserinspektor tut etwas völlig anderes: Er erzählt seinen fiktionsinternen Adressaten eine Version der Ereignisse, von der diese wissen, dass der Erzähler weiß, dass auch sie um deren Unwahrheit wissen. Speziell reizvoll ist, dass aufgrund dieser Lage klar ist, dass der Inspektor nicht versucht, Unwissenheit über die Gewalttätigkeit des Umsturzes und die Gefährlichkeit der neuen Regierung vorzutäuschen – er weiß, dass die Regierung weiß, dass er ihr absichtlich Unwahrheiten erzählt. Insofern müssen diese Aspekte seines Berichts fiktionsintern nicht als Dezeptionsversuche, sondern als Evasions- und Beschwichtigungsmanöver gelesen werden: Der Inspektor will der revolutionären Regierung zeigen, dass er in Zukunft und nach außen eine plausible Geschichtsklitterung im Sinne der Revolutionäre vertreten kann und wird, die ihn als Zeugen politischer Morde harmlos macht. Genau in diesem Sinne muss zu der Erzählsituation des Inspektors hinzugerechnet werden, dass im Zuge des Umsturzes mehrere seiner engen Bekannten und Arbeitskollegen ums Leben gekommen sind. Darunter befindet sich Orsino, ein undurchsichtiger Aristokrat, der vor dem Umsturz die Nähe des Abwasserinspektors sucht und ihn zwischen den Zeilen über mögliche Fluchtwege durch die Kanäle ausfragt. Über die genauen Gründe von Orsinos offensichtlicher Sorge schweigt sich der Text aus, allerdings wird ohne weitere narrative Motivation explizit gesagt, dass Orsino den Jesuiten beigetreten ist (der Orden war in der Schweiz 1848–1973 verfassungsmäßig verboten). An anderer Stelle wird erwähnt, dass unter seinen Vorfahren möglicherweise ein „uneheliche[r] Sohn einer Jüdin legitimiert“ (A 67) worden sei. Orsino wird also gleich zwei völlig verschiedenen Minderheiten zugeordnet, die eine in der Schweiz verboten (und andernorts unterdrückt), die andere Opfer der nationalsozialistischen Massenvernichtung und stalinistischer Unterdrückung. Orsino begeht dann mit einem Gasherd Selbstmord, als er die Verhaftung durch die Revolutionäre befürchtet. Offensichtlicher und schwerer kann man die Zeichen nicht säen; zum unklaren politischen Profil der Umsturzregierung aber später (siehe Abschn. 4).

Des Weiteren gehört zu den Todesopfern Dietrich, ein Jugendfreund und Inspektor der Frischwasserzufuhr. Dietrich „kam auf seiner Flucht in den Abzugskanälen um“ (A 102). Ein weiterer Toter ist mit Pfleglich, dem Leiter des „Amt[s] für Wasserrecht und Gewässerschutz“ (A 120), zu beklagen – jenes Amt, in welches der erzählende Abwasserinspektor nun befördert werden soll. Der Inspektor erzählt der Revolutionsregierung diese Begebenheiten zwar mit persönlicher Betroffenheit, jedoch werden alle Aspekte, die ihn politisch kompromittieren könnten, vermieden. Er äußert sich nicht dazu, ob die Regierung Orsino wirklich internieren wollte. Er gibt der Leserschaft keinen Anhaltspunkt, der klären könnte, aus welchen Gründen Dietrich und Pfleglich dem Umsturz zum Opfer fielen, inwiefern sie als Revolutionsgegner wahrgenommen wurden oder dies waren. Auch vermeidet er die Herstellung jeder direkten Verantwortung der Revolutionsregierung für die Todesfälle: Orsino begeht wegen einer womöglich unbegründeten Befürchtung Selbstmord, Dietrich ertrinkt angeblich aus Eigenverschulden in den Abwasserkanälen, und über den Tod Pfleglichs ersinnt der Inspektor eine abstruse, die Regierung exkulpierende Version:

In einem Punkte folgte ich den jüngsten Ereignissen nicht ganz. Ich war selber dabei, als Ihre Leute in das Büro des früheren Leiters vom Amt für Wasserrecht und Gewässerschutz eindrangen, und ich sah, daß Ihre Leute diesem Leiter nichts antaten. Sondern Pfleglich sprang auf, stürzte, schlug mit der Stirne an die Kante seines Arbeitstisches, wollte sich aufstützen und zerschlug sich an der gleichen Profilkante seine Schläfe. Eine Schlagader wurde getroffen […]. Nun verstehe ich nicht, weshalb es in den offiziellen Nachrichten hieß, Pfleglich sei auf der Flucht erschossen worden. Das ist eine lügenhafte Version, die Ihnen doch zum Nachteil gereicht. Oder sollte diese Version einfach glaubwürdiger sein als die Tatsache, daß Pfleglich in seinem eigenen Körper verblutete? (A 120)

Auch hier: Der Inspektor trägt sich der Regierung durch den Vorschlag einer gemeinsamen Lüge nicht nur als harmloser Zeuge an; er signalisiert zwar einerseits sein Wissen über die Ermordung Pfleglichs, aber andererseits auch die Bereitschaft, aktiv an der Glättung der Umsturzgeschichtsschreibung mitzuarbeiten. In der Version des Inspektors freilich ist niemand mehr schuld, sie ist ‚gewaschen‘: Die Regierung hat in der neuen Version nicht geschossen und Pfleglich war nicht flüchtig – es scheint ein Anliegen des Inspektors zu sein, auch Pfleglichs Ruf für die Revolutionsgeschichtsbücher reinzuwaschen.

3 Der Inspektor als ambige Figur

So eindeutig der Text an diesen Stellen unzuverlässig erzählt ist, so wenig Anlass gibt er, an dem übrigen Bericht des Inspektors zu zweifeln. Auch wenn man der digressiven, episodischen Erzählweise eine Grundtendenz unterstellen kann – sich selbst als einzig möglichen Kandidaten zur Nachfolge zu empfehlen –, erlaubt diese Tendenz wegen mangelnder Widerspruchssignale nicht, weitere Anhaltspunkte für mimetische Unzuverlässigkeit im strengen Sinn zu eruieren. Damit ist klar, dass das unzuverlässige Erzählen in Abwässer zwar nur punktuell vorkommt, dafür aber an zentralen Stellen des Gutachtens: nämlich jeweils dort, wo sich der Inspektor der Revolutionsregierung gegenüber politisch positionieren müsste. In der Erzählwelt ist das Problem des Inspektors Folgendes: Er kann sich der Revolutionsregierung aus praktischen Gründen nicht ohne Weiteres anbiedern. Erstens wäre dies nicht glaubhaft, da er – im Gegensatz zu seinem schon erwähnten Stellvertreter, der während des Umsturzes sofort an die Oberfläche geht und sich der Revolution anschließt – ja schon durch seine politische Passivität und Mangel an ‚revolutionärem Willen‘ verdächtig ist und nach der Revolution auch so behandelt wird, inklusive Verhaftung und Verhör. Zweitens müsste er bei anständiger revolutionärer Gesinnung ja dem Angebot der Beförderung nachkommen, was er aus noch zu klärenden Gründen vermeiden will. Die politische Strategie des Inspektors zur Lösung dieses Dilemmas ist, die Not zur Tugend zu machen: Ein nicht unwesentlicher Teil des Gutachtens legt dar, weshalb nur eine von Natur aus ‚verdächtige‘ Person ideal für den Abwasserposten geeignet ist: „Ich bin überzeugt, ich bin nicht aufgrund bestimmter Vorkommnisse suspekt geworden“ (A 30), „Ja, meine Herren, ich bin aus einem nicht recht faßbaren Grund nicht geheuer“ (A 31) etc. Der Grund liege darin, dass man als mit dem Schmutz der Gesellschaft vertrauter Abwasserinspektor ohnehin anrüchig werde: „Man ist als Inspektor der Abwässer verdächtig. […] Man mutet ihm ein Wissen zu, wofür er suspekt wird“ (A 41). Dies ist die fiktionsinterne Motivation, breit auszuführen, welche seiner kleineren Vergehen in den Akten der gestürzten Regierung zu finden sind, welche nicht bürgertumskonformen Verhaltensweisen (z. B. außereheliche Affären, Verlust des Wohnsitzes…) der Inspektor sich hat zu Schulden kommen lassen. Dies alles geschieht unter dem Aspekt der grundlegenden Eigenschaft, die der Inspektor dem Abwasserposten zuschreibt: der Ambiguität. Diese wird in der Argumentation des Inspektors nicht nur eine nützliche, sondern eine anzustrebende Eigenschaft für das Amt: „Ich legte Ihnen dar, daß ich zweideutig genug bin, um dieses Amt auszuüben“ (A 157). Die Ambiguität des Inspektors erstreckt sich als Motiv in alle Bereiche des Romans: Er bewegt sich einerseits in den schmutzigen, unsichtbaren und von der Gesellschaft ausgeklammerten Bereichen der Kanalisation, andererseits ist er dafür verantwortlich, diese Gesellschaft sauber und die Abwässer als Fundament einer repräsentativen Öffentlichkeit in Gang zu halten. Der Abwasserinspektor ist ambig, da er die Vermittlerfigur zwischen (allegorischer) Schmutzigkeit und Sauberkeit ist. Er stilisiert dieses Charakteristikum im Gutachten zu einer Befähigung des aufklärerischenFootnote 6 Zugriffs auf die unbequemen Wahrheiten, von denen die obere Gesellschaft den Blick abwendet. Dies wird in einer Episode anschaulich ausgeführt: Der Inspektor berichtet von eingegangenen Beschwerden über verschmutztes Frischwasser, als er noch mit Dietrich beim Frischwasseramt arbeitete. Dietrich führt als Ursache eine Stelle an, bei der Abwasser durch einen erhöhten Pegel ins Frischwasser übertritt. Der Ich-Erzähler weiß es besser:

Ich hatte die Stelle gefunden, an der das Frischwasser in das Abwasser überfloß, dieses verdünnte und auf einen Stand hob, so daß es weiter unten ins Frischwasser zurückfloß und dieses verschmutzte. Als wir im Wasseramt vorsprachen, kreuzte Dietrich sogleich auf dem Plan die Stelle an, an der das Abwasser ins Frischwasser floß; mir blieb nur übrig, weiter oben, dort, wo das Frischwasser das Abwasser verdünnt, ein Kreuz zu machen. […] Dietrich blieb bei der Frischwasserversorgung; ich trat zu den Abwässern über. (A 109)

Die Leserschaft versteht: Ursache des Verschmutzungsproblems ist das Frischwasser, ‚Schuld‘ ist, per Definition, das Abwasser. Eine Pointe der Anekdote ist, dass Menschen wie Dietrich, die sich nur ums (allegorische) Frischwasser kümmern, am Wesen gesellschaftlicher Problematiken und ihrer Ursachen vorbeischauen und deshalb zu deren Lösung nichts beitragen können. Die Kritik an diesem mangelnden Realitätssinn der (allegorischen) ‚Frischwasser‘-Fraktion ist ein Grund, weshalb Loetscher seinen Roman als „anti-ideologisch“ und „anti-utopisch“ bezeichnet hat (vgl. Loetscher 1988, S. 37).

Der Roman thematisiert auch in anderen Belangen die Problematik des Zwischenbereichs der Abwasser-/Frischwassersphäre. So ist ausgerechnet der Kanal, in dem die Flüchtenden (auch Frischwasserinspektor Dietrich) zu Tode kommen, der letzte, in dem Frisch- und Abwasser noch ungedeckt nebeneinanderfließen: Die politischen Todesfälle geschehen in einer Sphäre, die es nicht mehr geben dürfte, bzw. in der die Oberwelt (Frischwasser) zu der ansonsten isolierten Unterwelt (Abwasser) noch Zugang hat, dann dort aber wegen Unwissenheit über den eigenen verdrängten Unrat umkommt. Für denjenigen allerdings, der sich in den (allegorischen) Abwasserkanälen auskennt, sind diese in den Erzählungen des Inspektors im Gegenteil ein Zufluchtsort vor den gesellschaftlichen und politischen Unwägbarkeiten der Oberfläche: Das Verlassen der Kanalisation wird für Abwassermänner wiederholt als gefährlich dargestellt, etwa als der Inspektor von den Revolutionären am Romananfang gewaltsam an die Oberfläche gezerrt und niedergeschlagen wird, oder auch mit dem Tod des Vorgängers:

Nun starb er einen klassischen Abwassertod, völlig unerwartet. Er war aus einer Dole aufgestiegen, ein Auto überfuhr ihn. […] So lag er, der von einem wöchentlichen Kontrollgang zurück ans Licht stieg, mit seinem Oberkörper auf der Straßenkrone; die Beine staken noch in den Steigeisen, und Spuren deuteten darauf: das Blut, das seinen Körper verließ, kroch an der Wand des Einsteigeschachtes in die Tiefe. Nicht der Einstieg ist gefährlich, sondern die Rückkehr an die Oberfläche. (A 54)

All dies lässt sich wiederum allegorisch auf des Inspektors Angst vor dem Aufstieg in ein exponiertes, höheres Amt beziehen, das dem Direktor Pfleglich ja auch tatsächlich aus politischen Gründen das Leben kostet. Als zweites wichtiges Charakteristikum eines Abwasserinspektors wird deshalb dessen Gleichgültigkeit gegenüber den Ereignissen an der Oberfläche betont; so sind die Geschichtsklitterungen zu verstehen, die der Inspektor der Regierung anträgt, so ist auch zu verstehen, weshalb er darauf achtet, sich für die politischen Beweggründe seiner Freunde und Kollegen (Orsino, Dietrich, Pfleglich) als völlig blind darzustellen. Der Inspektor betont: Das „Abwasser-Inspektorat ist ja einer der wenigen Posten, die nicht nach parteipolitischem Gesichtspunkt besetzt werden“ (A 30). Das zentrale Argument des Inspektors, warum er als grundsätzlich zweideutige Gestalt in seinem Amt verbleiben muss, ist gegenüber der Revolutionsregierung eben diese völlige Parteilosigkeit, mit der die Abwässer konnotiert werden: Jede Regierung braucht sie, deshalb braucht man dort auch jemanden, der sie unter jeder Regierung in Gang hält.

4 Neutralitätspolitik in Abwässer?

Der Abwasserinspektor stellt sich also in der konkreten Erzählwelt in politischer Hinsicht als von allen Lagern unabhängig und deshalb in seiner Position unverzichtbar dar. Die vom Text selbst angetragene soziopolitische Allegorie wurde dementsprechend oft so gelesen, dass der Abwasserinspektor als Figuration des um den Schmutz jedes Gesellschaftssystems wissenden, deshalb gegen jedwede ideologische Vereinnahmung immunen, jeder Utopie einer problembefreiten Gesellschaft abholden Realisten erscheint. Dabei geht es um keine bestimmte Ideologie – jedes politische System, das mit Utopien und der Verdrängung seines ‚Schmutzes‘ operiert, fällt unter diese Kritik des ‚Abwasserblicks‘.

Für die Stringenz dieser Lesart spricht, dass der Text sich große Mühe gibt, eine spezifische politische Ausrichtung der Revolution im Vagen zu halten. Ihre spärliche Charakterisierung durch das Vokabular des Inspektors folgt im Text weniger den Konnotationen des Nationalsozialismus, wie der Gasherdselbstmord Orsinos nahelegt. Zeitaktueller erscheinen eher Hinweise auf die leninistisch-sozialistischen Revolutionen und den ihnen folgenden Staatssystemen wie der DDR und der Sowjetunion, wenn der Inspektor etwa den „revolutionären Willen“ (A 5) seines Kollegen erwähnt oder wenn in einem anderen Zusammenhang die „Teilung Europas“ (A 124) – 1963 unzweideutig auf die Berliner Mauer und den Eisernen Vorhang zu beziehen – zur Sprache kommt. Explizit wird der Verweis, wenn am Ende des Romans die schon zitierte „lichteste Zukunft“ (A 158) erwähnt wird. Das ist eine direkte Anspielung auf die marxistisch-leninistische Parole „Der Kommunismus ist die lichte Zukunft der Menschheit“, die so formuliert auch in dem zum Erscheinungsdatum des Romans gerade verabschiedeten Programm der kommunistischen Partei der Sowjetunion (1961)Footnote 7 zu finden war. Hier widerfährt dem Kommunismus dieselbe ironische Spitze wie im Zitat oben (Loetscher 1988, vgl. Abschn. 1) der Demokratie: Wahrhaft ‚klassenlos‘ sind Gesellschaften hinsichtlich ihrer Abwässer. Im Text fällt das Wort Revolution selten, es ist beinahe konsequent von ‚Umsturz‘ die Rede, was in der damaligen Schweiz wohl auch mit der gewaltsam niedergeschlagenen Arbeiterbewegung des sogenannten Landesstreiks von 1918 in Verbindung gebracht wurde,Footnote 8 der „schwerste[n] polit[ischen] Krise des Bundesstaates“ (Degen 2012). Die militärisch unterdrückte Generalstreikbewegung wurde noch zur Entstehungszeit von Abwässer, also Jahrzehnte später, von offizieller Seite fälschlich als Revolutionsversuch ausländischer bolschewistischer Kräfte gebrandmarkt und zur Abwertung linkspolitischer Anliegen instrumentalisiert:

Der als Revolutionsversuch gedeutete L[andesstreik] diente noch Jahrzehnte zur Stigmatisierung der Linken (Antikommunismus). Erst nach dem Jubiläum von 1968 fanden die z. T. seit den 1950er Jahren vorliegenden Forschungsergebnisse, welche die Streikführer weitgehend entlasteten, allg[emeine] Verbreitung. (Degen 2012)

Die Charakterisierung der Revolutionsregierung verweist also sowohl auf rechts- wie auch auf linksideologische Positionen und wird eher über allgemein-revolutionäre Parolen kommuniziert, von konkreten politischen Positionen der neuen Regierung erfährt die Leserschaft nichts. Gerade wegen dieser heterogenen Konnotationen, die den Umsturz weder einfach links- noch rechtspolitisch verorten, bleibt die eigentliche politische Natur des Umsturzes im Roman unspezifisch, seine Unkonturiertheit gehört eindeutig zum Programm des Romans. Ebenso, wie die Thematik der Abwässer fast durchgängig allegorisch auf die Fassade der bürgerlichen Gesellschaft, die ihren Schmutz nur verdrängt, gelesen werden kann, ist die im Text vollzogene Revolution keine bestimmte, sondern eher der gewaltsame Umsturz an sich.

Die Frage nach der politischen Vagheit des Umsturzes und seiner Funktion für den Roman ist hingegen nicht neu, und wurde etwa bei Zeller positiv gegenüber Spielarten der engagierten Literatur abgegrenzt, die in ihren Ideologien zeitlich gebunden seien:

Den „Abwässern“ wurde zum Beispiel vorgeworfen, dass die Schilderung des Umsturzes nicht konkret genug sei. Gerade weil Loetscher keine einfachen, ideologischen Erklärungen anbietet, weil er sich nicht einspannen lässt in die zur Zeit der Publikation vorherrschenden Ideologien und politischen Erklärungen, bleibt die Geschichte auch gültig, wenn Aufstände nicht mehr klassenkämpferische Ursachen haben, wenn das Links-Rechts-Schema schon längst als Erklärungsmuster ausgedient hat; denn, wie der Abwässerinspektor zu Recht feststellt: „Abwässer wird [sic] die lichteste Zukunft und das gerechteste Morgen hervorbringen.“ (Zeller 2005, S. 41)

Zu der vermeintlichen grammatischen bzw. textgenetischen Unsicherheit in dem zitierten Romantext („Abwässer wird…“) komme ich später – zunächst zu Zellers Zitat: So klar das Argument ist – die Allegorie ist zwar weniger konkret, dafür eben allgemeingültiger als zeitgebundene, engagierte Literatur –, so deutlich ist damit die Frage aufgeworfen, inwiefern es sich hier überhaupt um ein „enorm politisches Buch“ handelt, wie Loetscher (1970, S. 82) selbst formuliert hat. Denn auch die üblichen Deutungen gehen weniger politische, als vielmehr allegorisch-existentialistische Wege (das ist bei den Loetscher oft nachgewiesenen Einflüssen von Franz Kafka und Albert Camus nicht verwunderlich, vgl. exemplarisch Loetscher 1970, S. 78). Der verbreitetste Deutungsansatz besteht dabei im allgemeinen Hinweis auf die Allegorie der Abwässer als zur Lebenswelt gehörendes, konstant zu regelndes, mit Aufrichtigkeit zu behandelndes Verdrängtes der Gesellschaft: „Mit seinem Buch fordert er uns also dazu auf, das Peinliche nicht mehr zu verschweigen und es ‚sauber zu halten‘, damit unser Leben ohne ‚Verstopfungen‘ in seine Bestimmung fließen kann“ (Mizera und Sośnicka 2010, S. 66).Footnote 9 Auch die politische Dimension, die vom Roman ja nicht nur durch die Entscheidung für eine ‚Umsturz‘-Handlung, sondern auch, wie oben gezeigt, mit durchaus konkreten Anspielungen markiert wird, findet oft Erwähnung. Konsens ist, dass die Figur des Abwasserinspektors, und damit der Roman, sich in aufklärerischer Manier eben nicht von irgendeiner Ideologie und Utopie vereinnahmen lässt und aufklärerische Distanz zu ihnen hält. Dass der Roman mit diversen sehr konkreten Hinweisen auf die gegnerischen Großideologien des Kalten Krieges aufwartet, blieb in der bisherigen Forschung nicht unbemerkt (vgl. Sanders 1964; Raffaeli 2005 [2000]; Pulver 2007; Rusterholz 2017), dafür sind die Hinweise zu eindeutig:

Bedenken Sie, meine Herren […], das klassische Buch der Stadtentwässerung, Imhoffs Handbuch, liegt in einer westdeutschen und einer ostdeutschen Ausgabe vor; Papierqualität und Einband unterscheiden sich; aber in beiden Ausgaben sind genau die gleichen Zahlen angegeben für das Gefälle, das notwendig ist, damit das Abwasser geruchlos abfließt. (A 77, Hervorhebungen von TL)

Jedoch wurde dieser Aspekt relativ konsequent der allgemeineren existentialistisch-allegorischen Deutung untergeordnet.Footnote 10 Sich in diese Tradition einordnend formulierte auch Loetscher selbst:

In dem Sinne hat denn auch unser Autor, zu Selbst-Interpretation aufgefordert und dazu selber verlockt, dargelegt: es gebe in diesem Buch eine anti-ideologische und anti-utopische Stoßrichtung […]

Anti-ideologisch meinte unser Autor, weil er kein gesellschaftliches System kenne, das nicht auch seine Abwässer produziere. […]

Und anti-utopisch insofern, als der Abwässer-Inspektor nicht an einen Menschen glaubt, der eines Tages keine Abwässer mehr hervorbringt, sein Glaube gilt der Kläranlage, den Abzugskanälen, die könne man ausbauen und verbessern. (Loetscher 1988, S. 37 f.)

Als die maßgebliche Abwässer-Deutung, die die politischen Aspekte und Umstände des Romans noch konkreter einbindet, kann vielleicht diejenige des Loetscher-Experten Jeroen Dewulf gelten, der die politische Sprengkraft des Romans mit Loetschers Enttäuschung über die schweizerische Außenpolitik nach 1945 in Verbindung bringt:

Kurz nach Ende des Krieges hatte Bundesrat Max Petitpierre tiefgreifende Veränderungen in der Außenpolitik angekündigt, wobei er die traditionelle Neutralitätspolitik um drei neue Pfeiler ergänzen wollte: Disponibilität, Solidarität und Universalität […]. Um 1948 verschwanden diese Ansätze zur Erneuerung jedoch aus dem Blickfeld. […]

Auf diese Weigerung, sich kritisch mit der Neutralitätspolitik der Kriegszeit auseinanderzusetzen, reagierte Loetscher 1963 mit dem Roman Abwässer. Ein Land, das mit seiner Neutralität eine Politik der „sauberen Hände“ vortäuschte, daran zu erinnern, „je sauberer eine Gesellschaft sich gebe, um so größer sei der Durchmesser der Abzugsrohre“ [A 36], ist eine Kritik, die sich an Bissigkeit kaum überbieten lässt. (Dewulf 2013, S. 126 f.)

Tatsächlich ist es unabdingbar, das in vielen Aspekten bedenkliche Verhalten der Schweizer Regierung während und nach dem Zweiten Weltkrieg und deren nachmalige mangelnde Aufklärungsbereitschaft im Zusammenhang mit den Erlebnissen Loetschers in der Entstehungszeit von Abwässer zu sehen. Unmittelbar nach dem Krieg überwog im Sinne der sogenannten ‚Geistigen Landesverteidigung‘ der Schweiz ein positives Selbstbild. So moniert Loetscher (1985) eine idyllische Selbstwahrnehmung der Nachkriegsschweiz, die sich selbst eine ‚natürliche‘ demokratische Immunität gegen Faschismus, eine stets humanitäre Verhaltensweise und eine im Volk verankerte Prädisposition für Frieden ausstellte. Diesem Bild setzt Loetscher das nach dem Krieg nur allmählich und unter öffentlichem Druck ans Licht kommenden Fehlverhalten der schweizerischen Politik entgegen:

But a closer look at the thirties and forties reveals that neither their blood nor their passports prevented the Swiss from being predisposed towards totalitarian ideas or from making eyes at them. […]

Our humanitarian tradition was part of this image of ourselves. But the history of our policy towards immigrants in wartime, above all towards Jewish immigrants, was not a [sic] humanitarian as our tradition would like it to have been. […]

Looking back one could easily discover that our political achievements fall neither from heaven nor from the Alps. (Loetscher 1985, S. 28 f.)

Ein erster Bruch in diesem Selbstverständnis, den Loetscher beim Schreiben des Romans vor Augen gehabt haben muss, kam 1957 in der Form des sogenannten Ludwig-Berichts mit dem Titel Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Der Ludwig-Bericht stellte der offiziellen, sehr restriktiven Flüchtlingspolitik der Schweiz, die z. B. zehntausenden Flüchtenden die Aufnahme verweigerte, 1942 die Grenze schloss und Fluchthelferinnen und -helfer bestrafte, ein kritisches Zeugnis aus. Aufklärerische Bestrebungen dieser Art waren von der Schweizer Regierung aktiv unterdrückt worden,Footnote 11 speziell die vermeintliche Neutralitätspolitik hatte kurz vor der Veröffentlichung von Abwässer an Glaubwürdigkeit eingebüßt:

Noch 1951 wurde die Veröffentlichung des intern erarbeiteten Berichts zur Flüchtlingspolitik abgelehnt. Erst nach Bekanntwerden von Dokumenten aus der [deutschen] Aktenedition 1954 wurde bei Ludwig ein weiterer Bericht in Auftrag gegeben und 1957 als sog[enannter] [Carl] Ludwig-Bericht veröffentlicht. Alle Berichte der ersten Phase waren in erster Linie an das eigene Publikum gerichtet (Parlament, Parteien, Bürger). Da die Siegermächte 1945 die schweiz[erische] Haltung gegenüber den Achsenmächten kritisch beurteilten, bestand für eine Weile auch ein mehr gegen aussen gerichtetes Interesse, die Politik der Schweiz verständlich zu machen. Ein solcher Bericht wurde indes nicht realisiert.

Eine um 1960 einsetzende zweite Welle wurde erneut durch das Editionsprojekt der [deutschen] Beuteakten ausgelöst. Mit dem Bekanntwerden der Militärabsprachen mit Frankreich von 1940 (die sog[enannten] Akten von La Charité-sur-Loire) glaubte man die Neutralitätspolitik der Schweiz kompromittiert. Dem Bundesrat gelang es nicht, die Publikation dieser Akten zu verhindern, aber er konnte sie bis 1961 verzögern. (Kreis 2015b)

Wegen dieser offiziellen Bestrebungen, die Schweizer Vergangenheit ‚sauber‘ zu halten, fiel es nach 1945 der Literatur zu, den schweizerischen Aufarbeitungsdiskurs anzuführen.Footnote 12 Dies bestätigt auch der 1966 publizierte Band Die Schweiz und ihre Schriftsteller – die Schriftsteller und ihre Schweiz von Kurt Marti, der sich großenteils mit der Rolle der Literatur im Verhältnis zur Schweizer Neutralitätspolitik und ihrer Positionierung zu den sich im Kalten Krieg gegenüberstehenden Großideologien beschäftigt. Darin beschreibt Marti die verschiedenen Positionen, die der Schweiz zwischen den Großmächten des Kalten Krieges (zumindest ideell) zugesprochen wurden, wobei die kompromittierte Neutralitätspolitik einen zentralen Diskussionsanstoß bildete:

So konnte es kaum verwundern, daß die Vorschläge [Adrien] Turels und anderer, die wie er der neutralen Schweiz eine neue „Mitte“- und Vermittlerposition in der Ost-West-Spannung zudenken wollten, als Illusionismus agnesehen [sic] wurden. Jene Staaten, die auf ihre Weise eine „Mitte“ zwischen Ost und West zu finden suchten, wurden bei uns als „Neutralisten“ bezeichnet, wobei zwischen „Neutralität“ und „Neutralismus“ nicht nur völkerrechtliche, sondern subtile moralische, für Ausländer meist kaum verständliche Unterschiede postuliert wurden. Danach wäre „Neutralität“ als integre, „Neutralismus“ als suspekte Maxime zu qualifizieren. (Marti 1966, S. 39)

Der Konsens zu Loetschers Abwässer ist, wie oben skizziert, dass der Roman sich mittels des Inspektors mit dem ‚Abwasserblick‘ in die Tradition der skeptischen schweizerischen Nachkriegsliteratur als klarsichtige Kritik der behinderten Aufklärungsarbeit des Schweizer Staates einerseits, und unparteiische Stellungnahme zu den Auswüchsen jeder Ideologie andererseits einordnet – so geht auch Marti im gerade zitierten Band vor:

Hugo Loetscher hat in seinem Gutachten „Abwässer“ (1963) die städtische Zivilisation aus der Perspektive eines Abwässerinspektors geschildert. Die künstliche Unterwelt der Städte ist wurzellos, von geradezu völkerverbindender Gleichförmigkeit. Wenn Berns Stadtväter mit denjenigen Moskaus ins Gespräch kommen, so ist die Erörterung von Abwässer- oder Kehrrichtproblemen für sie interessanter und ergiebiger als die Diskussion ideologischer Probleme (das steht nicht bei Loetscher, sondern sagte Klaus Schädelin in einem mündlichen Bericht über die Moskaureise des Berner Gemeinderats). (Marti 1966, S. 82)

5 ‚Neutralismus‘ in Abwässer?

Aber wie passt die allegorische Lesart des Abwasserinspektors als aufklärerischen Ankläger der ihre Schuld verdrängenden Gesellschaft und der suspekt ideologischen Politsysteme zusammen mit der hinsichtlich der fiktionsintern motivierten, politisch höchst aufgeladenen, unzuverlässigen Erzählstrategie des Romans? Zur Rekapitulation: Der Abwasserinspektor äußert sich mit Bedacht nicht zur politischen Haltung der Toten oder zu der Verantwortung der Regierung für ihren Tod, wobei seine Beteuerung von politischer Gleichgültigkeit weit über eine reine Neutralität oder auch nur Passivität hinausgeht: Er bietet der Revolutionsregierung geschichtsklitternde, verharmlosende Zeugnisse des gewaltsamen Umsturzes an. Dies tut er fiktionsintern mit einer komplizenhaften Lüge; der Roman bedient sich mit klaren Widersprüchen im Erzählhergang klassischer Signale unzuverlässigen Erzählens, um diese Stellen zu markieren. Buchstäblich erklärtes Ziel des Inspektors ist des Weiteren, die Abwässer als von Politik und Gesellschaft abgeschotteten Zufluchtsort für sich zu bewahren und auf keinen Fall in ein höheres Amt erhoben zu werden, da er die Macht des weniger exponierten Amtes ohne die Verantwortung des höchsten Postens genießt. Für Letzteres wird er von Pfleglich explizit abgemahnt, als der Inspektor fragt:

„Wozu Rang, wenn ich Macht verliere?“ Da wurde Pfleglich scharf: „Das ist bloße Teufelsklugheit.“ Da ich ihn herauslocken wollte, blieb ich stumm. „Das ist Teufelsmanier, die zweithöchste Stelle einzunehmen, Einfluß auszuüben, die letzte Verantwortung aber noch oben abgeben.“ (A 136 f.)

Pfleglich unterstellt dem Inspektor (schon vor dem Umsturz) also, eine Art Teufelspakt mit seinem zurückgesetzten Posten eingegangen zu sein; allerdings bezahlt Pfleglich später dann auch die Prominenz seines Amtes mit dem Leben. Und obwohl der Abwasserinspektor gegenüber der Revolutionsregierung rechtfertigen muss, warum er jeder anfragenden Person vor dem Umsturz Auskünfte über mögliche Fluchtwege durch die Kanäle gegeben hat (vgl. A 6 f.), was immerhin als aktiver humanitärer Einsatz gewertet werden könnte, sterben die Flüchtenden in den Kanälen zu Dutzenden; der Inspektor ist offensichtlich nicht aktiv an den Fluchtmanövern beteiligt oder interessiert.

Mit diesen von figuralen Fremd- und impliziten Selbstcharakterisierungen nahegelegten Bewertungen der Verhaltensweise des Inspektors möchte ich auf Folgendes hinaus: Zugespitzt gesagt verhält der Abwasserinspektor sich wie eine Karikatur der vielgescholtenen schweizerischen Neutralitätspolitik, die – in ihrer negativsten Ausformung – zu einer Politik des Wegschauens und des stillschweigenden Kooperierens mit extremistischen Kräften, rechts- und linksfaschistischen Regimes, werden kann (vgl. Abschn. 4). Der Inspektor ist somit keine klassische Eulenspiegelfigur, die als narrenfreier Außenseiter spöttisch auf die schmutzige Unterseite der Gesellschaft aufmerksam macht – er ist selbst eine der von den Normen des Romans kritisch bewerteten Ausformungen einer Politik, die unter dem Mantel der Neutralität ethisch höchst bedenkliche, pragmatische Evasionsmanöver zur Selbst- und Wohlstandserhaltung betreiben. Er ist nicht ausschließlich ein Vertreter realitätsnaher, aufklärerischer Neutralität, sondern er ist, um mit dem oben bei Marti angeführten Schnödewort jener Periode zu reden, ein Neutralist.

Dazu passt auch die oben in Zellers Zitat schon erwähnte einschneidende textgenetische Auffälligkeit des Textes: „Abwässer wird [sic] die lichteste Zukunft und das gerechteste Morgen hervorbringen“. In den frühen Auflagen des Romans steht tatsächlich die, sollte Abwässer im Nominativ stehen, grammatikalisch inkorrekte Wendung „Abwässer wird…“, sie wird so auch in zahlreichen einschlägigen Studien zitiert (neben Zeller 2005 z. B. Pezold 2007; Krättli 2012). In neueren Romanauflagen findet die Wendung sich korrigiert: „Abwässer werden…“ (A 157).Footnote 13 Grammatikalisch inkorrekt wäre die Originalkonstruktion auf jeden Fall, wenn Abwässer in der ursprünglichen Formulierung Subjekt ist. Grammatikalisch korrekt wäre die Singularkonstruktion nur dann, wenn schon der Romantext hier über seinen eigenen Titel spricht, im Sinn von „[Der Roman] Abwässer wird die lichteste Zukunft […] hervorbringen“. Das ist mit Hinblick auf die nicht metafiktionale Textkonstruktion, die kritische Positionierung gegenüber den post-leninistischen Politsystemen und der nachmaligen grammatischen Anpassung aber unplausibel. Vielmehr scheint die Originalformulierung und ihre Änderung auf eine wunderbare grammatische Zweideutigkeit hinzuweisen, die der Abwasserinspektor in seinem Schlussplädoyer unterbringt, die noch nirgends interpretatorisch fruchtbar gemacht wurde: In der Formulierung „Abwässer werden die lichteste Zukunft und das gerechteste Morgen hervorbringen“ ist völlig offengelassen, ob die Abwässer Subjekt oder Objekt sind.Footnote 14 Das korrespondiert stark mit der ambigen, aber auch der neutralistischen, sich aus allem ‚Politischen‘ heraushaltenden, Position des Abwasserinspektors.

Weshalb spielte dieser Befund in der bisherigen Forschungsliteratur zu Abwässer keine Rolle? Allem voran ist der Abwasserinspektor vom Text durchaus als Sympathieträger gesetzt, oder wird, wie ein Blick auf die Forschungsliteratur zeigt, rundweg als solcher wahrgenommen. Das lässt sich mit den diversen Empathieangeboten, den scharfsinnigen Beobachtungen, der menschenfreundlichen Haltung und unterhaltsamen Erzählweise des Inspektors erklären. Dass dieser Sympathieträger daneben auch kritisch zu bewerten ist, geriet durch den mangelnden Fokus auf seine erzählerische Unzuverlässigkeit bisher nicht in den Blick. Ironischerweise ist der einzige Beitrag, der den Abwasserinspektor als verwerflich handelnden ‚Neutralisten‘ sieht, eine zeitnahe soziologische Studie (Gross und Kohli 1967). Die Verfasser kritisieren, dass der Inspektor alle Ereignisse und politischen Veränderungen in der ‚Oberwelt‘ als letztlich gleichbleibend und folgenlos darstelle, womit er zu einem Abbild des Mitläufertums werde: „Dieser Bewusstseinsfilter, der, was kommt, auf diese Weise teilt, macht unsern Inspektor zum idealen Mann jeder Regierung. Und nicht nur als Abwässermann“ (Gross und Kohli 1967, S. 100). Es wird eine Korrespondenz der Haltung des Abwasserinspektors und seines Autors Loetschers suggeriert, was durch den soziologisch-ideologiekritischen, an Erzählverfahren (geschweige denn Unzuverlässigkeit) nicht interessierten Ansatz der Studie erklärt werden kann. Loetscher ein Neutralist? Auch mit dieser Deutung wird dem Roman angesichts seines unzuverlässigen Erzählverfahrens kaum Rechnung getragen.

Zweifelsfrei lässt sich festhalten, dass die haltungslose Neutralitätspolitik des Inspektors erzählstrategisch direkt mit seinem unzuverlässigen Erzählverfahren verknüpft ist. Der Hauptgrund, dass das im Roman so gelesen außerordentlich kritisch, jedenfalls nicht als vorbildlich dargestellte Verhalten des Inspektors in der Forschung keine rechte Beachtung fand, ist deshalb plausibel durch die Tatsache erklärbar, dass dieses unzuverlässige Erzählen und seine Funktion zwar mitunter bemerkt (vgl. Zeller 1992), aber nicht eingehender analysiert wurde. Ohne den Fokus auf dieses Erzählverfahren wurden diese der Figur gegenüber kritischen Aspekte von der allgemein-allegorischen Lesart und der Sympathielenkung schlicht überdeckt.

6 Fazit: Abwässer als Ausdruck moralischer Verunsicherung

Das Fazit soll im Versuch bestehen, den bisher übersehenen Befund fruchtbar zu machen, dass der Roman durch funktional eingesetztes, unzuverlässiges Erzählen nahelegt, den Abwasserinspektor nicht nur, aber auch kritisch und nicht einfach in vorbildlicher Souveränität gegenüber ideologischer Vereinnahmung zu sehen. Dies soll allerdings komplementär und ergänzend, nicht in scharfer Abgrenzung oder Gegenrede zu den oben skizzierten Deutungen geschehen. Dabei sei festgehalten, dass die bisherigen Deutungen, die den Inspektor auch als positive Figuration einer solchen sachlichen, unideologischen Haltung sehen, plausibel und gut begründbar sind. So wurde etwa darauf hingewiesen, dass der Inspektor sich zwar gegenüber der Revolutionsregierung neutral gibt, aber einige wenige, konkret politische Hinweise gibt: Er empfiehlt der Regierung zum Beispiel, unbedingt Mitglied des „International Sewage Institute[s]“ und der „International Industrial Wastes“ (A 50) zu bleiben, da Verschmutzungsprobleme nur in internationaler Zusammenarbeit zu bewältigen seien: „Der englische Vorschlag, jedem Land, entsprechend der Einwohnerzahl, der sogenannten Abwasserlast, eine Minimalverschmutzung internationaler Gewässer zuzugestehen, hält nicht mehr an“ (A 50). Dieser konkrete Seitenhieb auf englischen Isolationismus und seine Parallelen zur schweizerischen Außenpolitik ist über ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen von Loetschers Debüt aktueller denn je, die allegorische Lesart liegt auf der Hand: „Das Abwasserproblem könne nur auf internationaler Ebene gelöst werden. Er sieht die Probleme bereits im Kontext der Globalisierung“ (Rusterholz 2007, S. 326). Den Abwasserinspektor auch als Vertreter einer internationalen, unideologischen Sachpolitik zu sehen, ist als Lesart des Romans also relativ unkontrovers. Trotzdem: Das durch den Fokus auf sein unzuverlässiges Erzählen aufgeworfene Problem des Inspektors als ‚Neutralisten‘ muss in diese Darstellung eingebunden werden. Trotz seiner überaus zahlreichen Selbstkommentare und Deutungsangebote hat auch Loetscher selbst auf diesen Aspekt offenbar nirgends eigens aufmerksam gemacht (nicht, dass dies Loetschers Aufgabe gewesen wäre). Allerdings hat er in einem anderen Zusammenhang seine Sicht des zwiespältigen Verhältnisses der Schweiz zu ihrer Nachkriegsgeschichte auf den Punkt gebracht:

We are not free to choose the grounds for our bad conscience; they simply reveal themselves – and they did it in 1945, a crucial year.

In Europe, destroyed by World War II, a small country like Switzerland was left totally intact. An island of peace. A miracle. […]

Reality is less mysterious. We took advantage of circumstances which we were not responsible for, and we took advantage of a policy of neutrality whose arrangement we were responsible for: a combination of intent and luck. But when he is lucky man is shocked and asks himself: Why me? […] (Loetscher 1985, S. 26)

Das beschreibt das Verhalten und die Haltung des Abwasserinspektors deutlich genauer, als die ihm von der bisherigen Kritik und Forschung bisher zugesprochene aufklärerische Klarsicht und Souveränität gegenüber der grundsätzlichen Anrüchigkeit jedweder Ideologie. Der Abwasserinspektor ist zwar tatsächlich bemüht um die Lösung von Problemen, die jenseits und unabhängig von politischen Ideologien bestehen und gelöst werden müssen, und er ist bemüht um eine neutrale Haltung, die diese Lösungen möglich macht – das entspricht, platt allegorisch, ungefähr der Rolle, welche einige der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg gern zuweisen wollten (vgl. etwa das Zitat zu Adrien Turel, Abschn. 4). Diesen Optimismus mahnend und entsprechende weichzeichnende nachmalige Idealisierungen anprangernd, wird durch die Unzuverlässigkeit und das bedenkliche Verhalten des Inspektors gleichzeitig markiert, dass der Roman sich der Gefahr, mit dieser Haltung in den ‚Neutralismus‘ abzugleiten, vollauf bewusst ist.

Mein Vorschlag ist entsprechend, den Roman Abwässer in beiderlei Hinsicht ernst zu nehmen: Einerseits und wie bisher als Plädoyer für eine realitätsnähe (nicht unrealistisch utopische), unideologische, nach internationalen Interessen ausgerichtete politische Haltung, andererseits als Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit, oder präziser: einer zeitgenössischen Verunsicherung hinsichtlich der ideologischen und realpolitischen Ursachen, Möglichkeiten und Perspektiven der schweizerischen Neutralität, im Sinne des unbehaglichen „Why me?“ des obigen Zitats. Loetscher, der sowohl die schweizerische Selbstidealisierung wie auch das von ihm sogenannte ‚negative Jodeln‘ (vgl. Loetscher 1991), also die Tendenz der schweizerischen Nachkriegsliteratinnen und -literaten, das idyllische Selbstbild ihres Landes so schlecht zu machen wie möglich (vgl. dazu auch Dewulf 2012), stets als undifferenziert ablehnte, präsentiert mit Abwässer also weniger die aufklärerische Haltung des Inspektors als rein positive Erkenntnis einer neutralen, transideologischen Politik, sondern verweist auf die dieser Haltung inhärente Anlage zur Korruption. Der Roman erweist sich so nicht nur als Haltungsempfehlung eines allgemeinen Humanismus, sondern eher als Ausdruck einer moralischen Verunsicherung, als Aufarbeitungs- und Selbstbeschreibungsversuch einer Literatur, die nach dem unversehrten Überstehen des Zweiten Weltkriegs im Ost-West-Konflikt überhaupt erst eine tragfähige Basis für ihre moralische Positionierung finden muss.