Vor deutlich mehr als einer Dekade wurde der Beginn der so genannten vierten industriellen Revolution eingeläutet. Auch wenn diese noch im vollen Gange ist, etabliert sich bereits der begriffliche Nachfolger „Industrie 5.0“ (I5.0). Aber kann es jetzt schon eine neue industrielle Revolution geben? Nein, sicherlich nicht, jedoch sehr wohl eine Evolution, die das noch lange nicht abgeschlossene ergänzt und neben den technologischen Innovationen den Menschen stärker in den Mittelpunkt rückt. So hat Anfang 2021 die Europäische Kommission in einem Kurzdossier den Begriff geprägt und mit dem Zielbild einer nachhaltigen, menschenzentrierten und resilienten Europäischen Industrie verknüpft: „Industry 5.0 recognizes the power of industry to achieve societal goals beyond jobs and growth to become a resilient provider of prosperity, by making production respect the boundaries of our planet and placing the wellbeing of the industry worker at the centre of the production process.“ (Europäische Kommission 2021, S. 14)

Der sich in I5.0 abzeichnende „Shift“ weg von einer dominant technologiegetriebenen hin zu einer auch menschenzentrierten Betrachtung lässt eigentlich vermuten, dass das Thema damit näher an die Wirtschaftsinformatik rückt. Einen Ausschnitt dessen, was die angewandte Forschung in der Wirtschaftsinformatik und in verwandten Fächern aus diesem Konzept gemacht hat, zeigt das vorliegende Schwerpunktheft und der Prozess seiner Entstehung. Zunächst zu Letzterem.

Tatsächlich muss man feststellen, dass Beitragsvorschläge und Einreichungen (mit Ausnahme des Einführungsbeitrags) oftmals nur auf eine der verschiedenen Facetten von Industrie 5.0 ausgerichtet waren. Viele der Vorschläge wurden mit der Anfrage verbunden, ob die Beitragsidee wohl ins geplante Schwerpunktheft passen könne und in der Tat war dies meist nur bei großzügiger Auslegung des thematischen Vorschlages zu bejahen. Was sagt uns das über Industrie 5.0?

Die unter dem Begriff zusammengefassten Entwicklungen sind jeweils für sich genommen relativ etabliert: In der Wirtschaftsinformatik hatte das Thema Nachhaltigkeit in und durch IT eine erste Welle der Beachtung unter dem Schlagwort „Green IT“ (siehe dazu unser HMD-Heft „Green Computing & Sustainability“ aus dem Jahr 2010) erfahren und ist aktuell zu einem Mainstream-Thema geworden (siehe auch HMD-Heft „Nachhaltige IT“ aus diesem Jahr oder „IT und Nachhaltigkeit“ aus 2021), das mit der Öffnung der Wirtschaftsinformatik in Richtung gesellschaftlicher Themen (Strahringer et al. 2023) zunehmend bedeutender geworden ist. Auch neuere Konzepte wie Twin Transformation (Graf-Drasch et al. 2023) oder Digital Responsibility (Trier et al. 2023) deuten darauf hin, dass die Nachhaltigkeitsforschung in der Wirtschaftsinformatik nunmehr einen erheblichen Stellenwert erlangt hat.

Das Thema der Menschenzentrierung ist für sich genommen sehr facettenreich, hat aber, wenn man den Teilaspekt der Kollaboration von Mensch-Maschine herausgreift, Vorläufer im Bereich der Human-Computer-Interaction. Auch in der jüngeren Robotics-Literatur der Wirtschaftsinformatik (siehe HMD-Heft „Robotics“ in 2020) spielt die Mensch-Roboter-Zusammenarbeit eine erhebliche Rolle. Ebenso ist das Thema „Hybride Intelligenz“ seit Anbeginn der KI-Diskussionen in der Wirtschaftsinformatik fest verankert. Fasst man das Thema etwas weiter, so haben wir Aspekte von Menschenzentrierung und „Menschlichkeit“ etwa in HMD-Heften wie „Faktor Mensch“ (erschienen in 2020) oder „Digitale Ethik im KI-Zeitalter“ (erschienen in 2022) diskutiert. Auch ganz grundsätzlich ist es ja gerade die Fokussierung auf Mensch und Organisation, die die Wirtschaftsinformatik von ihrer technischen Nachbardisziplin unterscheidet.

Lediglich das Thema Resilienz hat bislang in der Wirtschaftsinformatik keine große Beachtung gefunden, wenngleich Fragestellungen der Robustheit z. B. von Lieferketten auch früher schon diskutiert wurden und Resilienzthemen im Kontext der Wirtschaftsinformatik-Literatur verstärkt in der Pandemie auftauchen (siehe HMD-Heft „Tipping Point Pandemie?“ in 2021). Insgesamt hat sich hieraus aber keine wahrnehmbare Forschungsströmung in der Wirtschaftsinformatik entwickelt. Mit diesem Befund deckt sich, dass keiner der vorgeschlagenen Beiträge einen starken Resilienzbezug aufwies.

Ist nun I5.0 aus der Perspektive der Wirtschaftsinformatik nichts anderes als die isolierte Betrachtung dreier Forschungsströmungen im selben, nämlich dem industriellen Kontext, oder verbirgt sich dahinter tatsächlich ein holistischeres Konzept, das diese Themen miteinander verknüpft oder gar verwebt und sie in Bezug setzt zu einer eher technologiegetriebenen Industriebetrachtung wie wir sie aus der Industrie 4.0-Literatur kennen? Wenn wir das Ergebnis dieses Schwerpunkheftes anschauen, muss man konstatieren, dass es uns Wirtschaftsinformatikerinnen und Wirtschaftsinformatikern bislang noch nicht gelingt, I5.0 als ein holistisches Konzept zu verstehen. Freilich gibt es auch Ausnahmen im vorliegenden Heft, z. B. wird der Einführungsbeitrag diesem Anspruch gerecht (siehe hierzu Vogel-Heuser und Bengler (2023) in diesem Heft). Man beachte allerdings, dass das Autorenteam aus den Ingenieurwissenschaften stammt. Unter den anderen Schwerpunktbeiträgen ist es am ehesten der Beitrag von Bielitz et al. (2023) zur ganzheitlichen Wandlungsfähigkeit von Produktionssystemen, dem eine holistische Betrachtung und die Verknüpfung der Themenfelder Resilienz, Menschenzentrierung und Nachhaltigkeit gelingt. Alle anderen Beiträge in diesem Schwerpunktheft fokussieren dominant einen Teilaspekt, z. B. künstliche Intelligenz als I5.0-Enabler-Technologie, ihr Zusammenwirken mit dem Menschen in Beiträgen zu hybrider Intelligenz, die Mensch-Roboter-Kollaboration usw. Ein Beitrag kommt sogar zum Urteil, dass in der untersuchten Domäne der Zusatz 5.0 noch nicht gerechtfertigt ist, allenfalls 4.1.

Die Autorinnen und Autoren unseres Heftes sollen dies nicht als Kritik an ihrer Arbeit verstehen. Vielmehr danke ich ihnen, dass sie ihre Befunde präsentiert haben, wie sie sind, ohne zwanghaft eine ganzheitliche I5.0-Brille aufsetzen zu wollen. Nur so kann es uns gelingen, einen Blick dafür zu bekommen, ob I5.0 ein Wirtschaftsinformatik-Thema ist oder werden kann. Auch meine eigene intensive Recherche nach einem geeigneten Buch, das ich im Rahmen des Schwerpunktheftes vorstellen könnte, hat mich nur zu einer sehr kleinen Auswahl geführt und die spätere Lektüre dann zu einem ähnlichen Befund: Es gibt einige wenige I5.0-Sammelbände, die Beiträge zu Nachhaltigkeit oder Menschenzentrierung oder Widerstandsfähigkeit umfassen, aber eine Verknüpfung ist auch dort in den jeweiligen Einzelbeiträgen nicht anzutreffen. Deshalb habe ich mir ein Herz gefasst, bin keinen Kompromiss eingegangen und habe erstmals ein HMD-Heft betreut, ohne eine Buchbesprechung zum Schwerpunktthema zu verfassen.

Zum Status quo bleibt mir als Herausgeberin des Heftes zusammenfassend nichts anderes, als einzuräumen, dass wir als WirtschaftsinformatikerInnen I5.0 noch nicht als ganzheitliches Konzept im industriellen Kontext durchdrungen haben, wenngleich wir uns mit Teilaspekten intensiv auseinandersetzen. Ich hoffe aber, dass genau dieser Befund und die Lektüre des vorliegenden Heftes, uns dazu ermutigt, I5.0 perspektivisch ganzheitlicher zu verstehen und entsprechend zu erforschen. Ich betrachte dieses Heft als Impuls dazu und hoffe, dass einige unter Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, diesen aufgreifen werden. Viel Zeit bleibt nicht, denn I6.0 lauert schon um die nächste Ecke (Duggal et al. 2022).

Susanne Strahringer