1 Logistik als Wettbewerbsvorteil in Zeiten weltweiter Krisen

„Logistik ist der Prozess der Planung, Realisierung und Kontrolle des effizienten, kosteneffektiven Fließens und Lagerns von Rohstoffen, Halbfabrikaten und Fertigfabrikaten und den damit zusammenhängenden Informationen vom Liefer- zum Empfangspunkt entsprechend den Anforderungen des Kunden“ (Pfohl 2016, S. 4). Dies bezieht sich sowohl auf die Durchführung der logistischen Kernprozesse Transportieren, Umschlagen, Lagern, Kommissionieren, Verpacken und Disponieren als auch auf das erfolgreiche Management dieser Prozesse anhand der bekannten „Sieben-R-Regel“ (Schuh und Stich 2013). Sie kann grob in die Intralogistik (d. h. alle in oder an einem Standort anfallenden logistischen Prozesse) und die Transportlogistik (d. h. Güterstrom zwischen den jeweiligen Standorten oder Endkunden) unterteilt werden (Günther 2006). Mit der Industrialisierung im 18. Jahrhundert bis hin zu modernen, weltweiten Versorgungsnetzwerken ist ihre Bedeutung für die Leistungsfähigkeit von Unternehmen stetig gewachsen. In Deutschland lag der Umsatz der Logistikbranche 2020 bspw. bei rund 265 Mrd. €, mit über 600.700 Beschäftigten in 2021 (Statista 2022). In der Europäischen Union waren 2020 sogar über 10,8 Mio. Menschen in Transport und Lagerhaltung beschäftigt (Eurostat 2021). Logistik bedeutet für viele Unternehmen längst nicht mehr nur das reine Transportieren von Waren, sondern ist ein entscheidender Wettbewerbsvorteil geworden (Wegner und Wegner 2017).

Unternehmen stehen aktuell vor großen Herausforderungen. Zum einen ändern disruptive Wettbewerber und volatile Lieferanten die Märkte und Wertschöpfungsnetzwerke schneller und häufiger. Auch die Kunden selbst werden anspruchsvoller (v. a. in Bezug auf die Individualisierung und Personalisierung von Produkten, Service, Qualität und Nachhaltigkeit) und Produktlebenszyklen verkürzen sich. Privatkunden, insbesondere im Online-Handel, stellen hohe Anforderungen an Händler bzgl. der Auslieferung. Am anspruchsvollsten ist die Herausforderung im B2B Umfeld: hier spielt die Vernetzung der Systeme eine besonders wichtige Rolle. Das geht bis zur vollständigen Integration von Lieferanten in die CRM-Systeme der Produzenten, um ein nahtloses Ineinandergreifen und Lieferungen Just in Time oder auch noch Just in Sequence, bspw. in der Automobilindustrie zu gewährleisten. Verzögerungen der Lieferung haben gravierende Folgen, bis hin zur Verlangsamung oder dem Stillstand der Fertigung.

Unbeherrschbarer wirken die Faktoren einer dynamischen Umwelt, die durch weltweite Krisen (wie bspw. der Corona-Pandemie), steigende Energiekosten, Rohstoffknappheit und Naturereignisse geprägt ist, auf Unternehmen (Fawcett und Waller 2014). Wie massiv sich diese unvorhersehbaren „schwarzen Schwäne“ auf die hochintegrierten, engstens verzahnten Lieferketten auswirken, haben die verketteten Krisen seit 2019 gezeigt: Die Corona-Pandemie in Verbindung mit den weltweiten Lockdowns hat die Material- und Rohstoffversorgung ins Taumeln gebracht. Der Ripple-Effekt und die daraus resultierende Teileknappheit hat zu Engpässen in fast allen Branchen geführt (Ivanov und Dolgui 2021). Verstärkt wurde diese Problematik durch die Blockierung des Suez Kanals als zentrale Transportroute sowie Staus an und Schließung von Containerhäfen weltweit. Der resultierende Nachfrageschock sorgte für eine weitere Anspannung der Teileversorgung insb. von Halbleitern mit Folgen für eine Vielzahl an Produkten. Maschinenbauer mussten „um fehlende Teile herumbauen“ und Automobilhersteller mit ihren präzise getakteten Fließfertigungen mussten die Produktion Ende 2021 für einige Modelle sogar komplett einstellen. Volatile Energiepreise lassen sogar ganze Zweige der Rohstoffversorgung zum Erliegen kommen. Aluminium, das sowohl energieintensiv herzustellen ist als auch knappe Rohstoffe für die Produktion benötigt, war in 2022 besonders betroffen.

Um diesen Herausforderungen entgegenzutreten, entstand im industriellen Umfeld die Vision der Industrie 4.0, in der Unternehmen durch die Werkzeuge der digitalen Transformation die Flexibilität bekommen sollen, veränderte Bedingungen zu erkennen und schnell auf die sich rasch ändernden Anforderungen der Märkte zu reagieren (Kagermann et al. 2013). Industrie 4.0 umfasst einen paradigmatischen Aspekt, der den Wandel hin zu individualisierten Produkten, Globalisierung und Verkürzung der Lebenszyklen berücksichtigt, sowie einen technologischen Aspekt, bei dem moderne Technologien, vertikale und horizontale Prozess- und Systemintegration, Entscheidungsunterstützungssysteme und cyber-physische Systeme (CPS) nahtlos zusammenwirken und Anlagen, Prozesse und Anwendungen in Echtzeit reagieren (Bischoff et al. 2015; Winkelhaus et al. 2022a). Durch Übertragung dieser „4.0-Analogie“ auf die Logistik entstand der Begriff Logistik 4.0 (Barreto et al. 2017; Winkelhaus und Grosse 2020). Viele Unternehmen sehen die digitale Transformation der Logistik als einen Haupttreiber für den zukünftigen Geschäftserfolg an, da die Effizienz und Qualität der Logistik die Lieferfähigkeit, Kundenzufriedenheit, Nachhaltigkeit und die Gesamtleistung des Unternehmens beeinflussen (Winkelhaus et al. 2022a). In diesem Zusammenhang schätzt das Weltwirtschaftsforum, dass sich durch die digitale Transformation der Logistik bis 2025 1,5 Billionen Dollar für Logistikunternehmen als Umsatz und weitere 2,4 Billionen Dollar für die Gesellschaft erzielen könnten (World Economic Forum 2016), bspw. durch stärkere Kundenorientierung, Agilität und Flexibilität durch Sichtbarkeit sowie Widerstandsfähigkeit und Risikominderung (Ben-Daya et al. 2019). Der Forschungsstrang ist jedoch noch relativ jung und für viele Unternehmen ist Logistik 4.0 eine große „Black Box“ mit vielen Unbekannten. Dieser Artikel gibt daher einen Überblick über den Stand der Forschung zur Logistik 4.0 und stellt Implikationen für die Praxis heraus.

2 Logistik 4.0: Begriff und Definition

In der Literatur wird erst seit wenigen Jahren Bezug auf den Begriff Logistik 4.0 genommen. So stellten ten Hompel und Kerner (2015) in einem der ersten Beiträge fest, dass „die vierte industrielle Revolution unweigerlich einen signifikanten Einfluss auf die Logistik der Zukunft haben wird.“ Seitdem sind verschiedene Begriffserläuterungen und Definitionen entstanden, die in Tab. 1 zusammengefasst sind.

Tab. 1 Logistik 4.0-Definitionen

Den genannten Erläuterungen gemein ist mithin die Erkenntnis, dass die Logistik im Zeitalter von Industrie 4.0 gekennzeichnet ist durch die Transformation von bestehenden Güter‑, Informations- und Finanzflüssen durch virtuelle Integration, ermöglicht mit Hilfe von digitalen Technologien entlang des gesamten Wertschöpfungsnetzwerks (Ben-Daya et al. 2019). Dies führt zu einer größeren Transparenz der Lieferkette, erhöht die Rückverfolgbarkeit von Materialien und Produkten, verbessert den Kundenservice, erhöht die Betriebs- und Prozesseffizienz und senkt die Lager- und Betriebskosten (Nantee und Sureeyatanapas 2021).

Logistik 4.0-Technologien substituieren zum einen manuelle Arbeit durch Automatisierung und Autonomisierung bzw. unterstützen diese. Zum anderen wird die Transparenz und der Informationsfluss verbessert durch Integration, Vermeidung von Medienbrüchen und Datenverfügbarkeit in Echtzeit (Winkelhaus und Grosse 2020). In Tab. 2 sind diejenigen Logistik 4.0-Technologien zusammengefasst, die in der Literatur als die wesentlichen genannt werden.

Tab. 2 Logistik 4.0-Technologien

Im Folgenden wird der Stand der Forschung bzgl. Logistik 4.0 und des Einsatzes der genannten Technologien in logistischen Prozessen kurz vorgestellt.

3 Stand der Forschung

3.1 Methodik und deskriptiver Überblick

Um den Stand der Logistik 4.0-Forschung zu erfassen, wurde eine Literaturrecherche in der Datenbank Scopus anhand der von Denyer und Tranfield (2009) empfohlenen Methodik durchgeführt. Die Datenbankrecherche nach wissenschaftlichen Artikeln, die den Suchbegriff „Logistics 4.0“ im Titel, Abstract oder in den Schlüsselwörtern haben, ergab insgesamt 195 Treffer. Abb. 1 zeigt, wie sich die Veröffentlichungstätigkeit zu Logistik 4.0 seit dem Jahr 2015 entwickelt hat. Auffällig ist die starke Zunahme an Arbeiten seit 2019: So wurden über 90 % der identifizierten Arbeiten in den Jahren 2019 bis 2022 publiziert, was auf eine besondere Aktualität der Themenstellung in der wissenschaftlichen Diskussion schließen lässt.

Abb. 1
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Anzahl an Publikationen zur Logistik 4.0 seit 2015

Wissenschaftliche Zeitschriften, in denen die relevanten Arbeiten (mind. zwei) zu Logistik 4.0 erschienen sind, sind in Abb. 2 dargestellt.

Abb. 2
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Wissenschaftliche Zeitschriften, in denen Literatur zur Logistik 4.0 veröffentlicht wurde (Auszug)

Wie zu sehen ist, haben die meisten Zeitschriften einen Fokus auf Logistik und sind in der Regel mathematisch/algorithmisch ausgerichtet. Daneben haben jedoch auch interdisziplinäre Zeitschriften mit einem eher allgemeinen betriebswirtschaftlichen oder technischen Fokus Arbeiten zu diesem Thema veröffentlicht. Das Interesse am Thema beschränkt sich auch nicht auf eine fachspezifische Nische, die Entwicklungen in diesem Bereich haben Auswirkungen auf verschiedenste Wirtschaftsbereiche. Zudem wurden mehr Arbeiten in Konferenzbänden (56 %) als in Zeitschriften (44 %) publiziert. Dies deutet auf die Aktualität des Themas hin, da neue Forschungserkenntnisse und technologische Innovationen häufig zunächst auf Konferenzen vorgestellt und diskutiert werden. Abb. 3 gibt einen Überblick über die in Scopus am häufigsten zitierten Artikel (sowohl Gesamtzahl der Zitate als auch in Abhängigkeit der Anzahl der Jahre, in denen der Artikel veröffentlicht ist).

Abb. 3
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Meistzitierte Artikel im Bereich Logistik 4.0

3.2 Forschungsschwerpunkte in der Transportlogistik 4.0

In der Transportlogistik lag ein Schwerpunkt bisheriger Forschungsarbeiten auf dem Internet der Dinge und wie über Sensoren und drahtlose Netzwerke integrierte Logistiksysteme entwickelt werden können, in denen eine Echtzeit-Verarbeitung und umfassende Analyse von Informationen entlang des gesamten Wertschöpfungsnetzwerks möglich ist (Song et al. 2021). Viele Arbeiten haben sich dabei bspw. mit dem automatisierten Informationsaustausch zwischen Endgeräten oder der RFID-Technologie befasst, mit der ein automatisches und berührungsloses Identifizieren und Lokalisieren von Objekten und Sendungsdaten möglich ist (Kirch et al. 2017). Daneben existieren Arbeiten, die sich mit der Nutzung von Sensoren zur Sendungsverfolgung befassen. So wurden bspw. intelligente Ladungsträger entwickelt, die eine Überwachung der Position und des Zustands der Ware während des Transports in Echtzeit erlauben (Ding et al. 2021). In diesem Zusammenhang wurde die Notwendigkeit von geteilten Computerressourcen (Cloud Computing) hervorgehoben, über die mittels Sensoren erfassten Daten gespeichert, abgerufen und ausgewertet werden können. Eine auf Cloud Computing basierende intelligente Logistik-Informationsplattform kann in Echtzeit und dynamisch auf die erfassten Informationen reagieren und an alle Beteiligten weitergeben (Ding et al. 2021). Über Big Data-Analyseverfahren können die erfassten großen und komplexen Datenmengen zur Entscheidungsunterstützung aufbereitet und ausgewertet werden (Song et al. 2021), was auch eine Abschätzung von zukünftigen Ereignissen erlaubt (Prädiktive Analytik) (Schoenherr und Speier‐Pero 2015). Daneben wurden auf Künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen basierende Algorithmen entwickelt, die bspw. die Touren- und Routenplanung verbessern können (Woschank et al. 2020). Des Weiteren wurden Verfahren entwickelt, mit welchen sich optimale Routen für den Warentransport mit Hilfe von Flugdrohnen bestimmen lassen, bzw. wie Flugdrohnen sinnvoll auf der letzten Meile bspw. in Kombination mit einem Auslieferungsfahrzeug eingesetzt werden können (Macrina et al. 2020). Als mögliche Lösung für den Fachkräftemangel und hohe Energiepreise in der Transportlogistik wird zudem das autonome Fahren untersucht. Beim sog. Platooning können mehrere Fahrzeuge in geringem Abstand hintereinander mit Hilfe eines Steuerungssystems von einem Menschen geführt werden (Kim et al. 2022). Daneben existieren verstärkt Arbeiten, die sich mit der Bündelung des städtischen Güterverkehrs und der geteilten Nutzung von Logistikanlagen (City-Logistik 4.0) befassen (Ferrari et al. 2022). Einige Autoren sehen in der Vision des Physical Internet, einem „offenen, standardisierten, weltweitem Güter-Transportsystem, basierend auf physischer, digitaler und operativer Interkonnektivität durch Protokolle, Schnittstellen und Modularisierung“ (Zsifkovits und Woschank 2019, S. 44) den wichtigsten zukünftigen Entwicklungspfad der Transportlogistik 4.0 (Pan et al. 2021). Schließlich gibt es Arbeiten, die Logistik 4.0 unternehmensübergreifend untersuchen. Hier werden v. a. der digitale Zwilling einer Lieferkette und simulationsbasierte Analysen von Wertschöpfungsnetzwerken in Verbindung mit der Nutzung von 5G und Blockchain in der digitalen Lieferkette als vielversprechende Forschungsrichtungen zur Erhöhung der Resilienz, d. h. der Widerstandsfähigkeit und Flexibilität einer Lieferkette gegen unerwartete Ereignisse, angesehen (Ivanov und Dolgui 2021).

3.3 Forschungsschwerpunkte in der Intralogistik 4.0

In der Intralogistik 4.0 liegt der Forschungsschwerpunkt auf der Unterstützung oder der Substitution menschlicher Arbeit mit Hilfe von digitalen Technologien oder Automatisierung innerhalb sozio-technischer Systeme (Winkelhaus et al. 2021). So wurde zum einen untersucht, wie Pick-by-voice, -light, oder -vision (bspw. mit Datenbrillen) Systeme in der Intralogistik, v. a. bei Lager und Kommissioniertätigkeiten den Menschen unterstützen können (Glock et al. 2021). Diese papierlosen Informationssysteme unterstützen größtenteils die kognitiven Kompetenzen des Menschen und reduzieren den Such- und Quittierungsaufwand erheblich, was zu einer schnelleren Bearbeitung und verringerter Fehlerquote führen kann (Setayesh et al. 2022). Für die physische Unterstützung des Menschen wurden bspw. körpergetragene Exoskelette untersucht, mit denen das Risiko für Belastungsverletzungen des Rückens bei manueller Materialhandhabung verringert werden kann (De Looze et al. 2016; Glock et al. 2021). Der Forschungsbereich, der sich mit der kognitiven und physischen Unterstützung des Menschen mit Hilfe von Technologien befasst, kann der Literatur unter dem Begriff „Operator 4.0“ zugeordnet werden (Cimini et al. 2020).

Zum anderen wurde untersucht, wie manuelle Prozesse und Tätigkeiten in der Intralogistik durch Automatisierungstechnologien substituiert werden können, um operative Kosten zu senken und Produktivität sowie Servicelevel zu erhöhen. Im Bereich des innerbetrieblichen Materialtransports wurde dafür untersucht, wie fahrerlose Transportfahrzeuge als flexible und autonome Fördermittel eingesetzt werden können, bzw. wie sich dadurch operative Planungsverfahren (bspw. für die Routenführung) ändern (Custodio und Machado 2020). Daneben existieren Arbeiten, die vorschlagen, die unproduktive Wegezeit im Lager bei der Kommissionierung durch kleine mobile Roboter zu reduzieren, inkl. der dafür benötigten Planungs- und Optimierungsmethoden. Diese Roboter, die u. a. als „Kiva System“ bekannt wurden, können ganze Regale zu den Mitarbeitenden in stationären Arbeitszonen transportieren, die dann die Entnahme der geforderten Artikel aus dem Regal vornehmen (Azadeh et al. 2019). Des Weiteren haben Autoren vorgeschlagen, nicht nur das manuelle Bewegen durch das Lager und das Transportieren der Waren durch Roboter in der Intralogistik zu substituieren, sondern bspw. den kompletten Kommissionierprozess. Dies kann mit autonomen mobilen Lagerrobotern erfolgen (Fragapane et al. 2021). In sog. hybriden Kommissioniersystemen hingegen teilen sich autonome mobile Lagerroboter und menschliche Kommissionierende die Arbeitsaufgaben kollaborativ, was zu Kosten- und Flexibilitätsvorteilen gegenüber rein manuellen oder automatisierten Systemen führen kann (Winkelhaus et al. 2022b). Wie in der Transportlogistik gibt es auch in der Intralogistik Untersuchungen zum Einsatz von intelligenten Ladungsträgern (wie bspw. der iBin® der Firma Würth), die über verschiedene Sensoren Informationen erfassen und somit manuelle Such- und Erfassungstätigkeiten unnötig machen (Zhang et al. 2016). Daneben können über autonome Flugdrohnen sowohl der manuelle innerbetriebliche Materialtransport als auch die arbeitsaufwendige manuelle Inventur im Lager substituiert werden (Spurk et al. 2022). Schließlich gibt es auch technologische Auswirkungen auf die Logistikimmobilien. So können bspw. intelligente Beleuchtungssysteme in der Intralogistik nicht nur Energiekosten einsparen, sondern auch zu operativen Prozessverbesserungen führen (Füchtenhans et al. 2021).

4 Implikationen für die Praxis

Der Überblick zeigt, dass das relativ junge Themengebiet der Logistik 4.0 v. a. in Bezug auf die eingesetzten Technologien in den letzten Jahren bereits intensiv erforscht wurde. Es lässt sich jedoch festhalten, dass die Implementierung der Logistik 4.0 in der Praxis bei weitem nicht so stark vorangeschritten ist. Der Branchenverband bitkom hat bspw. über 500 Unternehmen befragt, welche digitalen Technologien bzw. Anwendungen diese in der Logistik einsetzen. Im Jahr 2017 setzten 20 % der befragten Unternehmen intelligente Container, 19 % fahrerlose Staplersysteme, 16 % Lagerroboter, 8 % Datenbrillen und 2 % KI ein (Bitkom 2017). Drohnen wurden noch gar nicht verwendet. 2019 waren dann bei 56 % der Unternehmen Sensortechnologien, 21 % fahrerlose Staplersysteme, 17 % Datenbrillen, 17 % Lagerroboter, 6 % KI, 4 % Blockchain und immerhin 2 % Drohnen im Einsatz (Bitkom 2019). Während Lagerverwaltungssoftware in vielen Unternehmen verwendet wird (74 %), sind elektronische Frachtbegleitdokumente nur bei 24 % der befragten Unternehmen verfügbar (Bitkom 2019). Eine aktuelle Befragung des führenden Fachverbands für Materialfluss und Logistik in den USA zeichnet ein ähnliches Bild, wie in Abb. 4 dargestellt (MHI 2022). Jedoch gab ein Großteil der Befragten Unternehmen an, in den kommenden Jahren verstärkt in Logistik 4.0-Technologien investieren zu wollen, da 88 % der befragten Unternehmen die Digitalisierung in der Logistik grundsätzlich als Chance ansehen. Gleichzeitig empfinden 74 % dies hingegen auch als sehr große Herausforderung (Bitkom 2017). Diese steigende Bereitschaft zu Investitionen in Logistik 4.0-Technologien wird u. a. damit begründet, so besser die durch die Corona-Pandemie verursachten Herausforderungen und Störungen bewältigen zu können (Michel 2021). Trotz dieser geplanten Investitionen zeigen die Daten, dass der Grad der Digitalisierung bei vielen Unternehmen weiterhin gering ist. In einer aktuellen Umfrage wird sogar berichtet, dass in der Intralogistik der Anteil an papierbasierten und manuellen Prozessen im Jahr 2021 höher war als im Jahr 2020 (Michel 2021). Die hohen Investitionskosten werden von Managern im Allgemeinen als das größte Hindernis für die Umsetzung von Technologie-Implementierungen angesehen, aber auch die Integration sowie der Mangel an qualifizierten Mitarbeitenden (bitkom 2019).

Abb. 4
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Umfrage zu Logistik 4.0-Technologien, die 2022 bereits im Einsatz sind bzw. mit deren Einsatz zukünftig geplant wird (MHI 2022)

Die erfolgreiche Transformation zu einer Logistik 4.0 verspricht Unternehmen jedoch verschiedene Chancen. So werden oftmals Kostenreduzierung, höhere Prozesseffizienz, kürzere Lieferzeiten, geringere Fehlerquote, hohe Kundenzufriedenheit, bessere Planungsmöglichkeiten durch Echtzeit-Sichtbarkeit und Transparenz, faktenbasierte Entscheidungsunterstützung, besseres Risikomanagement sowie bessere Arbeitssicherheit, -ergonomie und ökologische Nachhaltigkeit als Vorteile der Logistik 4.0 genannt (Ben-Daya et al. 2019; Winkelhaus und Grosse 2020; bitkom 2019). Großes Entwicklungspotential wird zudem bei digitalen Plattformen und Services und für neue Geschäftsmodelle gesehen. Hierzu zählen bspw. die Integration der Lagerhaltung in ERP-Systeme. Vollautomatische Bestellprozesse lassen Lieferanten bspw. die Kanban-Lager bestücken, so dass die C‑Teile für die tägliche Produktions- und Montagearbeit nicht ausgehen. Auch Verbrauchsmaterialien und Verschleißteile können in der Lagerverwaltung mit Mindestbeständen hinterlegt und automatisch nachbestellt werden, wenn der Bestand unter dieses Niveau sinkt. Dies vereinfacht die Prozesse im Unternehmen und bietet Kundenbindung und Absatzmöglichkeiten für die Hersteller, die solche Systeme frühzeitig auf den Markt bringen. Den größten Nutzen erweisen Systeme, die Teile und Servicetechniker schon vorausschauend allokieren, um die Verfügbarkeit von Maschinen möglichst hoch zu halten. Vorausschauende oder präventive Instandhaltung sind vor Allem auch eine logistische Herausforderung. Profitieren können Kunden von Maschinenbauern, bis hin zu Fluggesellschaften. Das Condition Monitoring „Skywise“Footnote 1 des Herstellers Airbus bspw. erkennt während des Fluges, wenn Teile ausgetauscht werden müssen und initiiert den Serviceeinsatz am Zielflughafen inkl. Bestellung der benötigten Teile und des entsprechend qualifizierten Personals für den Einsatz. Allerdings lässt sich auch beobachten: Manche eindrucksvolle Idee geht am Markt vorbei. Services, wie bspw. „Carload“, bei dem Handwerkerfahrzeuge über Nacht wieder mit Teilen und Material befüllt wurden, haben sich nicht etablieren können und auch für das Bestellen von Standardprodukten per Knopfdruck scheint der Bedarf zu gering: Weder der Trumpf Easy Order ButtonFootnote 2 hat sich für die Nachbestellung von Werkzeugen direkt von der Maschine aus etablieren können noch dessen Vorbild der Amazon Dash ButtonFootnote 3. Beide Produkte wurden wieder eingestellt.

Mögliche Barrieren, die der Entwicklung zur Logistik 4.0 entgegenstehen, sind v. a. hohe Investitionskosten mit unklarem Return on Investment, Kosten für den Datenschutz sowie IT-Sicherheitsrisiken inkl. möglicher Datenmissbrauch (bitkom 2019). Daneben schrecken eine mangelnde Infrastruktur (bspw. fehlende mobile Datennetze), fehlerhafte und unvollständige Daten sowie Widerstände innerhalb des Wertschöpfungsnetzwerks und Angst vor Abhängigkeiten ab (Ben-Daya et al. 2019). Der Fachkräftemangel und der mit der Digitalisierung verbundene steigende Bedarf an höher qualifizierten Fachkräften werden zudem als große Barriere genannt (bitkom 2019). Operative Mitarbeitende entwickeln aufgrund der zunehmenden Automatisierung oftmals Ängste vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und es existieren psychosoziale Hemmnisse in Bezug auf die Nutzung von unbekannten Technologien (Neumann et al. 2021; bitkom 2019). Schließlich lassen fehlende Richtlinien und Zielvorgaben, unzureichendes Change-Management, starre Organisationen und fehlende Innovationsstrategien (Stichwort „Innovators Dilemma“) Digitalisierungsprojekte scheitern (Christensen 2013). Auch mangelhaftes Marketing oder eine falsche Preisgestaltung lassen Innovationen ins Leere laufen. In der Realität können Unternehmen aber auch an Faktoren scheitern, die nicht in ihrem Einflussbereich liegen. Hierzu zählt u. a. der wahrgenommene Nutzen beim Kunden, dessen interne Prozesse oder schlichtweg: Timing.

Auf dem Weg zur Logistik 4.0 ist es wichtig, dass das Management sich nicht einseitig auf die technologische Komponente konzentriert, sondern vor allem die Mitarbeitenden und die Auswirkungen der Technologienutzung auf diese in einem Mensch-zentrierten Ansatz berücksichtigt. So sollten bspw. alle Betroffenen in die Entscheidungen zur Technologieimplementierung einbezogen werden, wobei die potenziellen psychosozialen Auswirkungen und Einflussfaktoren der Technologieakzeptanz zu berücksichtigen sind (Neumann et al. 2021). Es liegt in der Verantwortung der Führungskräfte, Vertrauen in neue Technologien zu schaffen und die Vorteile ihrer Einführung zu kommunizieren, Veränderungen in den gewohnten Arbeitsabläufen zu managen und die Möglichkeiten der Eigenverantwortung der Arbeitnehmenden zu vermitteln. Dazu gehört auch die Bereitstellung von Informationen, Ressourcen, Unterstützung und Schulungsmöglichkeiten, die die Arbeit erleichtern und mögliche Bedenken und Risiken verringern können (Neumann et al. 2021). Dies trifft sowohl auf die Intralogistik zu, also auch auf die Transportlogistik und ganze Versorgungsnetzwerke zu.

Wie wichtig die Resilienz von Lieferketten ist, zeigen die genannten Beispiele aus den vergangenen Jahren. Dabei muss stets beachtet werden: die Belastbarkeit eines Systems geht in aller Regel zu Lasten der Kosten. Flexibilität und Effizienz sind gegensätzliche Pole auf einer Skala, die bei zunehmender Flexibilität auch die Preise und u. U. sogar die Durchlaufzeit ansteigen lässt. Es ist schwer zu beziffern, wie stark Unternehmen bereits von einer Logistik 4.0 profitieren. Der Blick in die Praxis zeigt, dass eine starke Ungleichverteilung in verschiedenen Bereichen vorliegt. Hochspezialisierte Anbieter wie Amazon oder die Automobilhersteller halten Marktbeobachter mit immer neuen, futuristischen Anwendungsfällen mit Unterstützung von KI in Atem. Demgegenüber stehen Mittelständler, die zwar, teilweise als Marktführer, hochwertige Produkte fertigen, deren interne Prozesse aber oftmals immer noch auf Excel-Tabellen und ausgedruckten Listen basieren. Der Weg ist für viele also noch weit. Es lässt sich jedoch sagen, dass der Schritt zur Logistik 4.0 lohnenswert ist. Denn sowohl eine Menschen-zentrierte Umsetzung der digitalen Transformation als auch die damit ermöglichte höhere Nachhaltigkeit und Geschwindigkeit, mit der Unternehmen veränderte Bedingungen erkennen und darauf reagieren können, werden künftig mitunter die größten Wettbewerbsvorteile sein.