1 Das Geschlechterverhältnis in der IT-Führungsebene

Die in den frühen 90er-Jahren zunehmende Verbreitung von Informationstechnologien (IT) über den Flugbetrieb und Finanzdienstleistungen hinaus entfachte in Wissenschaft und Praxis Diskussionen über die Notwendigkeit einer neuen Führungsrolle mit Fokus auf die IT-Belange von Unternehmen. In einer der ersten zu dieser Zeit durchgeführten Befragung der 100 größten amerikanischen Konzerne, der Fortune 100, zeichnete sich die rasant wachsende Einführung von Chief Technology Officer (CTO) Positionen ab (Adler und Ferdows 1990; Heller 1992). Heutzutage umfasst das Aufgabenprofil u. a. die Koordination und Überwachung neuer Technologieentwicklungen über verschiedene Geschäftsbereiche hinweg, das Management der internen sowie externen Technologieumgebung, die Bewertung technologischer Aspekte in wichtigen strategischen Initiativen sowie die Repräsentation von Technologie innerhalb der Geschäftsführung (Riedl und Zwettler 2010; Cetindamar und Pala 2011; Hartley 2011).

Obwohl diese Aufgabenbereiche auf den ersten Blick geschlechterneutral anmuten, bleibt der Anteil von Frauen in entsprechenden Positionen auf einem gleichbleibend niedrigen Niveau (Gorbacheva et al. 2019; Wu et al. 2021). Jüngste Zahlen zeigen, dass Unternehmen in der Besetzung von IT-FührungspositionenFootnote 1 bis heute weit von GeschlechterparitätFootnote 2 entfernt sind (Sundermeier et al. 2018; Schmitt et al. 2020): in nur 15 % der im FTSE 100 Index gelisteten Unternehmen hatte 2019 eine Frau die CTO-Position inne (CodinGame 2020). In Deutschland sind unter den 160 börsennotierten Konzernen weniger als 15 % Frauen in IT-bezogenen Vorstandspositionen zu finden (AllBright 2021).

Das beständige Ungleichgewicht der Geschlechterverteilung in CTO-Positionen ist vor allem dahingehend überraschend, als dass wissenschaftliche Erkenntnisse klare Wettbewerbsnachteile aus der Geschlechterhomogenität in der IT-Führungsspitze von Unternehmen ableiten (Gratton und Erickson 2008; Ashcraft und Blithe 2009; Woolley et al. 2010; Barker et al. 2014; Wu et al. 2021). Zahlreiche Studien zeigen etwa, dass digitale Innovationspotenziale, die Arbeitgeberattraktivität sowie das Verständnis für die Bedarfe potenzieller Kundengruppen durch wenig diverse Perspektiven einschränkt sind und dies mit finanziellen Einbußen verbunden ist (Robinson und Dechant 1997; Krishnan und Park 2005; Harris und Raskino 2007; Forbes Insights 2011; Rohner und Dougan 2012). Neben diesen ökonomischen Nachteilen ergeben sich zudem soziale Implikationen: der für Frauen erschwerte Zugang zur florierenden IT-Branche begünstigt das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern und begrenzt die Aufstiegsmöglichkeiten sowie die Stärkung der Rolle der Frau in der Arbeitswelt (Trauth et al. 2006; Annabi und Lebovitz 2018).

Auf der Suche nach Ursachen für das Geschlechterungleichgewicht in der IT-Führung hat die wissenschaftliche Debatte interessante Entwicklungen durchlaufen. Nach mehr als zwei Jahrzehnten intensiver Forschung überwiegt die Erkenntnis, dass heutzutage kaum noch strukturelle Barrieren und auch keine biologisch bedingten Unterschiede in persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten für die Beförderung von überwiegend Männern in CTO-Positionen verantwortlich sind (Ahl 2006; Sundermeier et al. 2020). In alternativen Erklärungsansätzen rücken zunehmend Stereotype, also gesellschaftlich verbreitete Überzeugungen im Hinblick auf vermeintlich (geschlechter-)typische Merkmale in den Fokus (Gupta und Bhawe 2007; Ashcraft und Blithe 2009; Chandran und Aleidi 2018; Del Carpio und Guadalupe 2021; Liñán et al. 2021). Demnach gibt es eine deutliche Diskrepanz zwischen den gesellschaftlichen Vorstellungen zum CTO-Berufsbild und dem, was als „typisch“ weiblich angesehen wird. Aus feministischen Diskursen geht hervor, dass solange die Vorstellungen zu den Merkmalen einer CTO-Position überwiegend männlich konnotiert sind, Frauen der Zugang zu notwendigen Ressourcen für die eigene Weiterentwicklung erschwert wird und sie bei Beförderungen weniger wahrscheinlich in Betracht gezogen werden (Kanze et al. 2018; Balachandra et al. 2019; Del Carpio und Guadalupe 2021).

Um den Grundstein für ein langfristig ausgewogeneres Geschlechterverhältnis in der IT-Führung zu legen, braucht es demnach ein fundiertes Verständnis darüber, welche expliziten Stereotype im Zusammenhang mit CTO-Positionen überhaupt existieren. Dies motiviert die nachfolgende Forschungsfrage: Welche geschlechterspezifischen Stereotype sind mit der Ausübung einer CTO-Position verbunden?

In den folgenden Kapiteln werden zunächst die in Forschung und Praxis diskutierten Ursachen für die Geschlechterungleichheit in CTO-Positionen beleuchtet, um die Relevanz von geschlechterbezogenen Stereotypen aufzuzeigen. Anschließend wird das Forschungsdesign von insgesamt 12 Fokusgruppen sowie der explorative Ansatz zur Analyse der gewonnenen Daten vorgestellt. Die gefundenen Stereotype werden herausgearbeitet und anschließend in Verbindung mit verschiedenen Maßnahmen diskutiert, um den – von der AllBright Stiftung betitelten – „Thomas-Kreislauf“ in der IT-Führungsebene zu durchbrechen (AllBright 2017).

2 Erklärungsansätze für das ungleiche Geschlechterverhältnis in CTO-Positionen

2.1 Strukturelle Zugangsbarrieren und systematische Diskriminierung

Eine der Forschungsströmungen zum ungleichen Geschlechterverhältnis in der IT-Branche stützt sich auf die Kernannahmen des liberalen Feminismus, in dem Frauen und Männer gleichermaßen als sozial und ökonomisch fähig angesehen werden, die CTO-Rolle erfolgreich auszufüllen. Dass Frauen in diesem Bereich dennoch unterrepräsentiert sind, wird auf externe Faktoren wie strukturelle Benachteiligung und systematische Diskriminierung zurückgeführt. Diese Faktoren bedingen laut Theorie, dass Frauen bspw. der Zugang zu Ressourcen für die Aus- und Weiterbildung oder zu karriererelevanten, beruflichen Netzwerken verwehrt wird (Harding 1987).

Die Forschung zeigt, dass sich – zumindest in westlichen Industrieländern – heutzutage kaum bis keine strukturellen Benachteiligungen beim Zugang zu technischen Ausbildungen und Berufen mehr nachweisen lassen (Gorbacheva et al. 2019). Obwohl sich die Anzahl der Absolventinnen in den für IT-Führungspositionen relevanten MINT-Fächern im letzten Jahrzehnt verdreifachte (Ihsen 2017), verlassen jedoch mehr als die Hälfte aller Frauen innerhalb der ersten fünf Jahre die IT-Branche, um in anderen Sektoren tätig zu werden (Ashcraft und Blithe 2009; Glass et al. 2013).

Warum sich Frauen eher für den Aus- als den Aufstieg entscheiden und dem IT-Sektor den Rücken kehren, bleibt in dieser Sichtweise umstritten, da hier bisher die Betrachtung von patriarchalen Strukturen und vorherrschenden Normen in der heutigen Arbeitswelt zu kurz gekommen ist. Neuere Erkenntnisse zeigen, dass sich innerhalb des primär männlich konnotierten IT-Sektors tief verwurzelte und teils veraltete Vorstellungen von der Rolle der Frau in der Arbeitswelt halten, sodass sich diese u. a. weniger zugehörig fühlen (z. B. Armstrong und Zaza (2016)), ein Lohngefälle von 25 % zu ihrem Nachteil in Kauf nehmen müssen (Honeypot 2018) und ihnen der Zugang zu informellen Netzwerken erschwert wird (z. B. Kirton und Robertson (2018)).

2.2 Sozialisierung, Rollenbilder und Erfahrungshintergründe

Diese Erkenntnisse werden in einer zweiten ForschungsströmungFootnote 3 aufgegriffen, die auf den Grundannahmen des sozialen Feminismus basiert, wonach Frauen und Männer als unterschiedlich betrachtet werden (Harding 1987). Ihre Unterschiedlichkeit wird vorrangig auf die Sozialisierung, gesellschaftliche Rollenbilder und Erfahrungshintergründe zurückgeführt (Calás und Smircich 1996; Brush et al. 2009). Bereits in früher Kindheit werden Zuschreibungen wie „vorsichtige Prinzessin“ für Mädchen oder „unerschrockener Feuerwehrmann“ für Jungen geprägt (Chambers et al. 2018). Beispiele für derartige Unterschiede in der Sozialisierung finden sich über alle Lebensphasen hinweg.

So wird die Rolle der Frau bis heute mit Fürsorge innerhalb der Familie assoziiert, was im Hinblick auf die Verpflichtungen als CTO häufig zu Lasten ihrer Belastbarkeit, ihres Engagements und Commitments ausgelegt wird (Ahl 2006; Gorbacheva et al. 2019). Gleichzeitig werden – teils bewusst, teils unbewusst – eher Männern die notwendigen Kompetenzen, Fähigkeiten und Charaktereigenschaften für die Übernahme einer CTO-Position zugesprochen (Zenger und Folkman 2016). Dieses Narrativ hält sich hartnäckig, obwohl zahlreiche Vergleiche zwischen Männern und Frauen in Summe mehr Unterschiede innerhalb als zwischen den Geschlechtergruppen zeigen (Gatewood et al. 2009; Hughes et al. 2012; Robb und Watson 2012). In durchdachten Vergleichsstudien schneiden Frauen im Hinblick auf die IT-Kompetenzen für Führungspositionen sogar besser ab (Zenger und Folkman 2016). Auf der Suche nach alternativen Erklärungsansätzen für die dennoch gleichbleibend geringe Anzahl von Frauen in CTO-Positionen rücken in der Wissenschaft nun vermehrt stereotypische Denkweisen in den Fokus (Ashcraft und Blithe 2009; Chandran und Aleidi 2018; Del Carpio und Guadalupe 2021).

2.3 Geschlechterbezogene Stereotype

Forschungsbestrebungen zu Stereotypen, also gesellschaftlich verbreiteten Überzeugungen bezüglich vermeintlich geschlechtertypischer Merkmale (Gupta und Bhawe 2007), greifen die Annahmen des poststrukturellen Feminismus auf. Demnach sind (angenommene) Unterschiede in der Präferenz und Veranlagung für die CTO-Rolle nicht biologisch bedingt, sondern sozial konstruiert. In dynamischen Aushandlungsprozessen auf gesellschaftlicher Ebene wird definiert, welche Attribute als typisch männlich (bzw. maskulin) oder weiblich (bzw. feminin) gelten. Soziales und biologisches Geschlecht werden dabei häufig gleichgesetzt, obwohl diese Zuschreibungen nicht in der DNA eines Menschen festgeschrieben sind – auch Männer können feminine und Frauen maskuline Züge haben (Alvesson und Billing 2009).

Laut dieser theoretischen Perspektive liegt die Ursache für die Ungleichverteilung darin, dass vermeintlich typische Attribute von Frauen bzw. Weiblichkeit nicht mit denen übereinstimmen, die CTOs gemeinhin zugeschrieben werden (Howcroft und Trauth 2008; Ridley und Young 2012). Diese Diskrepanz in den gesellschaftlichen Vorstellungen trägt dazu bei, dass sich Frauen weniger mit Führungspositionen im männlich konnotierten IT-Sektor identifizieren können, sich eher anderen Berufsfeldern zuwenden und die eigenen Erfolgschancen als gering einstufen (Martiarena 2020; Schmitt et al. 2020; Sundermeier et al. 2021). Selbst physische Gegenstände in der Arbeitsumgebung, wie etwa Science Fiction Poster, Elektronik- und Computerteile, technische Bücher und Fachzeitschriften, können die männliche Konnotation reproduzieren und Frauen eine fehlende Zugehörigkeit signalisieren (Cheryan et al. 2009). Folglich entwickeln sie weniger Interesse an der Funktionsweise von modernen Technologien, wobei dieses Interesse sogar von Männern noch geringer als von Frauen selbst eingeschätzt wird und sich damit die stereotypischen Denkweisen beider Geschlechter verstärken (Franken und Wattenberg 2019). In der Konsequenz sind Entscheidungsträger*innen (unbewusst) voreingenommen, wenn es um die Beförderung von Personen in CTO-Positionen oder die Bereitstellung von Ressourcen zur Qualifizierung geht (Trauth et al. 2006). In diesem Zusammenhang spielt auch die Unternehmenskultur eine entscheidende Rolle: nur in einem Klima der Inklusion, in dem Individuen fair behandelt, unterschiedliche Perspektiven sowie Identitäten wertgeschätzt und in Entscheidungsprozesse integriert werden, können Vorurteile nachhaltig abgebaut, Gruppenkonflikte reduziert und die Vorteile von Geschlechterdiversität gehoben werden (Nishii 2013).

Die Forschung zu geschlechterbezogenen Stereotypen findet vor allem im Gründungskontext deutlichen Anklang, da das gesellschaftliche Bild eines „Entrepreneurs“ nachweislich männlich konnotiert ist und die daraus resultierenden Implikationen als Hauptgründe für die geringe Anzahl von Gründerinnen angeführt werden (Ahl 2006; Marlow und McAdam 2013; Gupta et al. 2019; Rudic et al. 2021). Obwohl es augenscheinliche Parallelen zur IT-Führung gibt, ist der Stand der Forschung zu Stereotypen in diesem Bereich noch in einem frühen Stadium und im öffentlichen Diskurs wenig verbreitet. Diese Lücke soll nachfolgend adressiert werden.

3 Methodisches Vorgehen

Da der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über explizite Stereotype im Zusammenhang mit der CTO-Position noch in den Kinderschuhen steckt, wird ein explorativer Forschungsansatz gewählt (Edmondson und McManus 2007). Die eigens dafür erhobenen qualitativen Daten wurden im Rahmen von 12 Fokusgruppen gewonnen, die zwischen März und November 2019 durchgeführt wurden. Diese Form der Datengewinnung ermöglicht fokussierte Diskussionen zwischen unterschiedlichen Personengruppen (Morgan 1996; Kamberelis und Dimitriadis 2013). Bei der Zusammensetzung der Teilnehmenden wurde bewusst auf Diversität im Hinblick auf Geschlecht, Bildung, Alter, berufliche Erfahrungen und sozioökonomischem Hintergrund gelegt, um unterschiedliche Perspektiven einzubringen und zu diskutieren (Sundermeier et al. 2020). Da die Vergleichbarkeit der gesellschaftlichen Vorstellungen sichergestellt werden sollte, wurden die Teilnehmenden primär aus dem deutschsprachigen Raum gewonnen (vorrangig aus Deutschland sowie Österreich und der Schweiz) und die Fokusgruppen auf Deutsch durchgeführt. Eine Übersicht der Teilnehmenden findet sich in Tab. 1.

Tab. 1 Übersicht Teilnehmende in Fokusgruppen

Zu Beginn der einzelnen Fokusgruppen wurde das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Studie als „Vorstellungen, Bilder und Ideen im Zusammenhang mit CTO-Positionen“ in aller Kürze dargelegt, ohne direkt die Geschlechterthematik in den Vordergrund zu stellen. Dieses Vorgehen zielte darauf ab, die Gruppen aus 4–5 Teilnehmenden nicht direkt in eine bestimmte Richtung zu lenken, sondern zunächst offene Diskussionen über Merkmale der CTO-Position anzuregen. Im zweiten Teil der Diskussionen wurden die Teilnehmenden explizit nach ihren Perspektiven zur Rolle des Geschlechts in Verbindung mit der Erlangung und Ausübung einer CTO-Rolle gefragt. Jede Gruppe wurde von einer Moderatorin begleitet, die überwiegend als passive Zuhörerin auftrat und sich lediglich in die Diskussionen einbrachte, wenn sich diese thematisch zu weit vom Fokus der Hauptfragestellungen entfernten oder einzelne Teilnehmende nicht zu Wort kamen. Sie stellte zudem sicher, dass alle im Diskussionsleitfaden formulierten Fragen in jeder Fokusgruppe behandelt wurden und hakte in vereinzelten Fällen nach. Im Durchschnitt dauerten die Fokusgruppen 42 min.

Die Diskussionen wurden aufgezeichnet und die Audiodateien anschließend wörtlich transkribiert. Zur Analyse der Daten wurde die Software Atlas.ti verwendet, welche die iterative Aggregierung der Erkenntnisse nach Gioia et al. (2013) unterstützt. Zunächst wurden die Daten frei kodiert, bis sich sukzessive Konzepte abzeichneten (Corbin und Strauss 2012), die in weiteren Abstraktionsschritten zu sog. Themen und theoriegeleiteten Dimensionen aggregiert wurden (Corley und Gioia 2004; Clark et al. 2010; Gioia et al. 2013). Die resultierende Datenstruktur ist in Tab. 2 abgebildet. Repräsentative Zitate aus den Fokusgruppen finden sich in der nachfolgenden Darstellung der Ergebnisse.

Tab. 2 Datenstruktur

4 Ergebnisse

Insgesamt zeichneten sich drei geschlechterbezogene Stereotype, die mit der Ausübung einer CTO-Position verbunden sind, in den Daten ab. Nachfolgend werden die einzelnen Stereotype dargestellt und anhand primärer Daten aus den Interviews illustriert.

4.1 Stereotyp I: Männliche Domäne mit Eliteabschluss als Zugangsvoraussetzung

„Also bei uns in der Münchener Startup Szene scheinen die Grundvoraussetzungen für die CTO-Position klar definiert zu sein: du bist weiß, du bist ein Mann, du bist hipp und du hast einen Abschluss von der WHU, LMU, TUM oder wie die Top-Unis nicht alle heißenFootnote 5(Investorin). Solche Vorstellungen und vergleichbare Stereotype finden sich in der Mehrheit der Fokusgruppen. Eine Professorin der Informatik schildert: „Die Vorstellung meiner Studierenden ist immer noch, dass der Tech-Bereich die Spielwiese der Herren ist. Das grenzt teilweise schon an Mobbing. Wenn sie beschreiben sollen, was einen CTO ausmacht, dann ist ihnen schon klar, dass es eher kein Supernerd ist, aber eine Frau käme ihnen da gar nicht in den Sinn“. Auch aus Sicht einer Studentin der Wirtschaftsinformatik treffen diese Beschreibungen zu, denn „als ich das Studium begonnen habe, war das eher aus Interesse und nicht wegen der Ambition für eine Führungsrolle in der IT. Die Idee ist im Studium erwacht, als wir eine wahnsinnig coole, weibliche CTO in der Vorlesung hatten. Vorher dachte ich, dafür braucht es den 1er Abschluss von sonst wo, aber sie hat gezeigt, dass das eher zweitrangig ist, wenn man bzw. Frau für Technik, Menschen und Veränderungen brennt“.

In verschiedenen Diskussionen stellte sich heraus, dass es durchaus Diskrepanzen zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmung im Hinblick auf die Erfüllung von Stereotypen geben kann. Ein Investor beschreibt in diesem Zusammenhang seine Erfahrungen mit „Absolventen der prestigeträchtigen Universitäten. Wenn sie vor uns sitzen und für eine Finanzierung pitchen, dann scheint der Eliteabschluss eine vollkommen ausreichende Qualifikation für die Besetzung der C‑Level Positionen. Aber CTO wirst du nicht, weil du programmieren kannst und eine gute Note im Fach Innovationsmanagement hattest“. Die CTO eines Startups entgegnet darauf, dass sie selbst „an einer der führenden Technik-Unis in Deutschland studiert [habe] und wir haben sehr gute Voraussetzungen mitbekommen, um erfolgreich in leitenden Positionen im IT-Bereich zu sein. Was mir eher fehlt, ist das passende Geschlecht. Toller Abschluss hin oder her, als Frau in der Männerdomäne ist es nochmal eine ganz andere Herausforderung, für voll genommen zu werden“. Ähnliche Erfahrungen teilt die IT-Abteilungsleiterin in einem mittelständischen Unternehmen: „Ich habe an der TUM studiert, war mehrere Monate in Stanfort und habe verschiedene Stationen in namenhaften Unternehmen hinter mir. Wenn wir auf Messen sind, bin ich primär eine Frau und die Achievements werden herabgewürdigt. Dann wird mir maximal die Marketingleitung zugetraut, wenn überhaupt, und ich werde regelmäßig nach meinem Vorgesetzen gefragt, wenn es um die Diskussion technischer Entwicklungen und die Implikationen für unsere Branche geht“.

4.2 Stereotyp II: Männlichkeit als Grundvoraussetzung für Effektivität der CTO-Führung

Das zweite Stereotyp, das sich in Verbindung mit der CTO-Position in den Daten zeigt, ist die Vorstellung eines männlichen Ideals für die effektive Ausgestaltung der FührungsrolleFootnote 6. Es spiegelt sich u. a. in den Erfahrungen einer CTO in einem Startup wider, die häufig mit der Frage konfrontiert wird: „Wie schaffen Sie es, sich in einer Männerdomäne durchzusetzen? Diese Frage impliziert ja immer wieder, dass ich täglich mit Behinderungen in meiner Arbeit zu kämpfen habe, nur weil ich eine Frau bin. Behinderungen gibt es durchaus, aber die sind anderer Natur. Es entspricht nicht meiner Realität, dass meine Autorität aufgrund meines Geschlechts untergraben wird. Aber die Vorstellung, dass das doch so sein müsste, hält sich hartnäckig“. Ein Student der Informatik ergänzt: „Bei CTO muss ich an so Leute wie Mark Zuckerberg denken. Die schlumpfen so in ihren Hoodies rum, weil sie keinen Anzug brauchen, um Respekt zu bekommen. Diese Männer haben die Autorität, um sich bei den Nerds durchzusetzen“. Vergleichbare Annahmen finden sich auch in den Ausführungen der Leitung (w) des Human Resource Departments eines großen deutschen Konzerns: „Wir haben gerade ein turbulentes Jahr hinter uns und nun endlich einen neuen CTO. Der alte wurde von den Geeks bei uns nicht für voll genommen und dauernd wurden seine Entscheidungen in Frage gestellt. Um da ernst genommen zu werden, musst du einiges auf dem Kasten haben, damit die Techies dich ernst nehmen und mitziehen. Als Frau musst du dich da doppelt und dreifach beweisen“.

Dass sich solche Eindrücke auch bei Entscheider*innen von Unterstützungsprogrammen widerspiegeln, zeigt das Beispiel eines Startups, welches sich „für [namenhaftes Inkubationsprogramm] beworben [hat] und zum Auswahlgespräch eingeladen [wurde]. Der Pitch lief gut, aber die gesamte Diskussion spielte sich nur zwischen der Jury und unserer CTO ab. Wie sie denn das Tech-Team anführen wolle? Wie sie denn damit umgehen würde, wenn jemand sie nicht ernst nehmen würde? Wie sie sich denn als einzige Frau fühlen würde? Wir waren denkbar schlecht auf diese Fragen vorbereitet, denn wir hatten bis da noch gar kein Problem erkannt“. Die in diesen Beschreibungen suggerierte Vorstellung eines männlichen Ideals für die Führung von Mitarbeitenden in der CTO-Position bestätigt sich auch in den Erfahrungen einer HR-Verantwortlichen: „Wenn wir Kandidaten für Führungsjobs in der IT suchen, frage ich immer nach persönlichen Vorbildern in vergleichbaren Positionen und was diese unter Führungsaspekten so interessant machen. In der großen großen Mehrheit der Fälle werden Männer genannt, übrigens auch von Frauen“.

4.3 Stereotyp III: CTOs werden (als Männer) geboren, nicht gemacht

Zuletzt zeigen die Daten, dass eine frühe Förderung der für die Ausübung einer CTO-Position notwendigen Kompetenzen und Interessen primär bei Männern angenommen wird: „CTOs werden die Grundvoraussetzungen für so eine Stelle doch direkt mit in die Wiege gelegt: die Eltern fördern das Technikinteresse, als Teenager tun sie nichts anderes als zu programmieren und starten dann mit viel Vorwissen in irgendein Techie-Studium. In meinem Umfeld wurden da vor allem die Jungs gefördert und wir [Frauen] starten erst im Studium, programmieren zu lernen und ein Grundverständnis für technische Abläufe zu entwickeln. Da kann man doch kaum noch aufholen und ich kenne auch nur eine Frau, die sich gegen die anderen durchsetzen konnte und nun CTO ist“ (Studentin Wirtschaftsinformatik). Die Vorständin eines mittelständischen Unternehmens entgegnet darauf: „Gute CTOs können beides: Technik und Management. Ich kenne durchaus auch einige Quereinsteiger, aber die Weichen für die Position werden sehr früh gelegt. Meine zwei Söhne waren früher jedes Wochenende auf Lan-Parties, meine Tochter wollte lieber Reitstunden. So war das Umfeld. Ich sehe durchaus kritisch, dass sich die Interessen ihrer Kindheit heute auch in ihren Berufen widerspiegeln, und frage mich, welchen Einfluss ich hätte nehmen können, um ihnen breitere Perspektiven aufzuzeigen. Einer meiner Söhne ist CTO, meine Tochter hat diese Karriereoption nicht mal annährend in Betracht gezogen“.

Im Gegensatz zu besagter Tochter berichtet eine promovierte Wissenschaftlerin aus der Informatik, dass sie bestrebt ist, auf eine derartige Position hinzuarbeiten, aber „mir wird schon suggeriert, dass ich nicht dem Musterbild eines CTOs entspreche. Im Karrierecoaching wurde mir nahegelegt, dass ich mich nicht zu sehr verausgaben und auch andere Optionen im Hinterkopf behalten soll. Aber mal ehrlich: ist es wirklich so, dass alle Jungs in leitenden IT-Positionen bereits im Kindergarten Geeks waren und programmieren konnten, bevor sie Schreibschrift gelernt haben?“ Ein Gründer, selbst CTO im eigenen Unternehmen, antwortet darauf: „Also bei mir im Team kann wahrscheinlich jeder besser programmieren als ich, darauf kommt es nicht in erster Linie an bei dem, was ich täglich tue. Wenn ich mir mein Umfeld aber so anschaue, dann sind die CTOs in der Regel schon eher smarte Jungs aus sehr gutem Hause. Der Einfluss der Eltern darüber, was beruflich so geht, scheint mir nicht unerheblich bei dieser Berufswahl“.

Die Verknüpfung des CTO-Berufsbildes mit einer sehr frühen Förderung der notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten, die vorrangig bei Männern stattfindet, hat unmittelbare Folgen für (angehende) CTOs. Eine geschlechterbezogene Bewertung entscheidet mitunter über den Zugang zu wichtigen Ressourcen, wie das Beispiel einer CTO in einem neugegründeten Startup zeigt: „Es gab mal einen VC [Venture Capitalisten], der uns nicht finanzieren wollte. Also es gab mehr als den einen, aber dieser eine hat offen zugegeben, dass es an mir lag. Er sagte, dass mir als Frau die biologische Veranlagung für die CTO-Rolle fehlt und er mich eher in weicheren Themen sieht. Wir waren alle etwas perplex, aber er erklärte uns noch, dass es ja nun kein Zufall sein kann, dass es keine weiblichen CTOs geben würde. Seine Erklärung dafür: „CTOs are born, not made“.“

Insgesamt zeigen diese Ergebnisse, dass die verbreiteten stereotypischen Vorstellungen einer CTO-Position einen stark präskriptiven Charakter haben (Eckes 2008). Sie weisen der Führungsrolle nicht nur bestimmte Eigenschaften zu und beschreiben damit ein neutrales Bild, vielmehr betonen sie die erwartbare Überlegenheit und Norm des männlichen GeschlechtsFootnote 7. Dass Frauen eine entsprechende Unterordnung in der Gesellschaft erfahren und der Wunsch, dies zu ändern, ist Ausgangspunkt und Kernmotivation von feministischen Theorien (Calás und Smircich 1996). Auf dieser Basis werden die Ergebnisse im Folgenden diskutiert und Handlungsoptionen abgeleitet.

5 Diskussion und Handlungsoptionen

Die zuvor dargestellten Analyseergebnisse haben eine Reihe von Implikationen, die sowohl für Forschung als auch Praxis im Hinblick auf die Besetzung und Entwicklung von CTO-Positionen relevant sind.

Erstens zeigen die Ergebnisse deutlich, dass es verschiedene Stereotype – also gesellschaftlich verbreitete Überzeugungen – gibt, welche die CTO-Rolle mit männlichen und privilegierten Eigenschaften in Verbindung bringen. Diese Erkenntnis zahlt auf neuere Forschungsbestrebungen ein, alternative Erklärungsansätze für das ungleiche Geschlechterverhältnis in der IT-Führung zu generieren. Dabei ergeben sich direkte Parallelen zur Forschung im Gründungskontext, dessen männliche Konnotation nachweislich zur vergleichsweise geringen Anzahl von Gründerinnen beiträgt (Ahl 2006; Gupta et al. 2009; Balachandra et al. 2013). Analog führt die verbreitete Vorstellung eines männlichen Ideals dazu, dass sich Frauen weniger mit einer CTO-Position identifizieren können. Zusätzlich werden sie mit Vorbehalten Dritter konfrontiert, die über ihre Beförderung, Qualifikation und die Bereitstellung von Ressourcen entscheiden. Um diesen Implikationen entgegenzuwirken und langfristig ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis zu erreichen, braucht es zunächst ein realistischeres Bild von der CTO-Position. Die Verbreitung eines solchen kann durch die gezielte Sichtbarmachung „stereo-untypischer“ Vorbilder gelingen. Die Erhöhung der Diversität in diesem Zusammenhang kann zunächst auf die Geschlechterdimension abzielen, sollte aber im Verlauf auf weitere Facetten, wie bspw. sozialer Hintergrund, Bildung und Erfahrungen, erweitert werden. Unternehmen sind für die Sichtbarkeit diverser Rollenvorbilder in CTO-Positionen ein wichtiger Katalysator, aber das Aufbrechen von Stereotypen – also die Veränderung gesellschaftlicher Überzeugungen – braucht Zeit (Gupta et al. 2009). Parallel dazu können (soziale) Medien einen wichtigen Beitrag leisten, die Arbeitsweisen, Erfahrungen und Hintergründe verschiedener CTOs mit unterschiedlichen Führungsansätzen aufzuzeigen.

Zweitens bilden die Erkenntnisse aus der Studie einen Gegenpol zum gängigen Narrativ, dass Frauen nicht im gleichen Maße wie Männer über die notwendigen Kompetenzen, Fähigkeiten und Erfahrungen verfügen, um eine CTO-Position angemessen auszufüllen. Förderprogramme für Frauen, die ihre vermeintlichen Schwächen adressieren, bedienen lediglich das Argument der weiblichen „underperformance“. Stattdessen braucht es einen offenen Diskurs über und eine Sensibilisierung für die Macht von Stereotypen auf Karriereentscheidungen im Zusammenhang mit der CTO-Rolle. In der Wissenschaft wird dazu ein notwendiger Perspektivwechsel diskutiert, welcher impliziert, dass weniger Fokus auf „fix the women“ als vielmehr „fix the system“ gelegt wird (Trauth et al. 2006; Jennings und Brush 2013). Anstatt also als Unternehmen einseitige Programme für Frauen in der IT aufzusetzen, die der gesamten Belegschaft suggerieren, dass es nur an dieser Stelle auszugleichende Defizite gibt, braucht es eine Sensibilisierung für (verzerrte) gesellschaftlichen Vorstellungen, die alle Geschlechter miteinbezieht. In der Praxis geht damit die Herausforderung einher, dass sich vorrangig Frauen von Weiterbildungsangeboten mit derartigen thematischen Schwerpunkten angesprochen fühlen. Um tatsächliche Veränderungen anzustoßen, bedarf es eines Bewusstseins dafür, dass Geschlechterfragen gleichermaßen alle betreffen. Dennoch sind nicht allein die Unternehmen in der Verantwortung entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Ebenso notwendig sind wichtige Impulse in der schulischen und universitären Ausbildung. Neben der zuvor diskutierten Relevanz von diversen Vorbildern in CTO-Positionen, braucht es auch hier eine Sensibilisierung für die Existenz von Stereotypen. Explizite Stereotype zu benennen und deren weitreichende Wirkung aufzuzeigen, ist ein erster Schritt, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Überzeugungen im Zusammenhang mit Jobprofilen generell und IT-bezogenen Positionen im Speziellen verzerrt sein können.

Drittens zeigen die Daten, dass Frauen derzeit mit dem männlichen Ideal der CTO-Position „konkurrieren“. Dies impliziert, dass ihre Fähigkeiten und Kompetenzen oftmals als schlechter bewertet werden, da sie nicht dem gängigen Ideal entsprechen. Um diesen Verzerrungen in der Bewertung und Auswahl zukünftiger CTOs entgegenzuwirken, bieten sich verschiedene Maßnahmen an. Zunächst sollte die Besetzung derartiger Positionen von einem diversen Auswahlkomitee begleitet werden, das selbst unterschiedliche Geschlechter, Hintergründe, Ausbildungen und Kompetenzen abbildet. Der von der AllBright Stiftung betitelte „Thomas-Kreislauf“, bei dem Thomas bevorzugt einen anderen Thomas befördert (AllBright 2017), beruht auf der „similarity attraction theory“ (Byrne 1971, 1997). Demnach fühlen sich Menschen (bewusst und unbewusst) zu Personen mit ähnlichen Eigenschaften hingezogen. Ein divers aufgestelltes Auswahlkomitee kann diese psychologischen Mechanismen aushebeln, indem Abwägungen und Entscheidungen kritisch hinterfragt werden. Nichtsdestotrotz sind stereotypische Denkweisen allgegenwärtig, sodass sich kaum jemand davon freisprechen kann. Aus diesem Grund sind zunächst die Sichtbarmachung und im nächsten Schritt die Entwicklung von Trainings zur Erkennung von und zum Umgang mit Stereotypen vielversprechend. Die Ausgestaltung solcher Weiterbildungsmaßnahmen sollte auch den Blick für unterschwellige Überzeugungen schärfen, einen offenen Diskurs zu deren Existenz über alle Hierarchieebenen hinweg ermöglichen und damit zu einer inklusiveren Unternehmenskultur beitragen.

6 Zusammenfassung

Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass es die Sichtbarmachung, Reflexion und Adressierung von Stereotypen in Verbindung mit der CTO-Position braucht, um die Weichen für ein ausgewogeneres Geschlechterverhältnis in der IT-Führung zu stellen. Die Vorstellung eines männlichen, privilegierten Ideals hat Einfluss darauf, welche Personengruppen sich mit CTO-Positionen identifizieren können und Zugang zu notwendigen Ressourcen für ihre Qualifizierung und Beförderung erhalten. Die hier diskutierten Maßnahmen sollen erste Schritte zu einem offenen Umgang mit vermeintlich geschlechtertypischen Merkmalen der CTO-Rolle aufzeigen und dazu beitragen, dass bei der Sensibilisierung alle Geschlechter miteinbezogen werden.

Trotz großer Sorgfalt in der Konzeption und Umsetzung dieser Studie geht das empirische Design nicht ohne Limitationen einher, welche bei der Interpretation der Ergebnisse zu beachten sind und den Weg für zukünftige Forschung ebnen. Zunächst wurden die Daten im deutschsprachigen Raum von ausschließlich gut gebildeten und weitestgehend privilegierten Personen gewonnen. Dies schränkt die Generalisierbarkeit der Aussagen über Ländergrenzen und soziale Schichten hinweg ein. Auch die Datenanalyse wurde von Personen mit einem solchen Profil durchgeführt. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass Personen mit anderen Erfahrungshintergründen und Blickwinkeln noch weitere Stereotypen identifiziert hätten. Zuletzt bleibt eine Diskussion in Gruppen mit dem Risiko verbunden, dass bestimmte stereotypische Vorstellungen nicht offen kommuniziert werden, da es sich um sensible Themen handelt, die bislang keinen breiten Diskurs erfahren.