Nach mehr als einem Jahr Pandemie ist die Digitalisierung dort angekommen wo sie die Wirtschaftsinformatik bereits seit langem gesehen hat: als zentrales Element von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Notwendigkeit des Social Distancing war der wichtigste Treiber, der zwar in unseren Methoden und Vorgehensmodellen nicht explizit vorgesehen war, jedoch als Diffusionsmechanismus für Informationssysteme durchaus nicht unbekannt ist. Wenn Unternehmensleitungen oder staatliche Stellen die Nutzung der Systeme „verordnen“, dann bedeutet dies einen wesentlichen Unterschied gegenüber einem liberaleren nutzengetriebenen Vorgehen. Können beispielsweise Steuer- oder Zollerklärungen nur noch elektronisch oder in Papierform nur mit einer Gebühr erfolgen, dann ist nach dem „Go Live“ ein starker Anstieg bei der Nutzung der elektronischen Variante zu erwarten. Offensichtlich müssen die Lösungen dann auch vorhanden sein und funktionieren.

Bezogen auf die Pandemie lässt sich überlegen, wie eine vergleichbare Situation noch vor 10 oder 20 Jahren, ohne die heute verfügbaren Digitalisierungsangebote, verlaufen wäre. Zu dieser Zeit waren zahlreiche, der heute wie selbstverständlich vorhandenen Technologien nicht gleichermaßen gegeben: dies betrifft die Hardware mit den ubiquitären mobilen Geräten, die Bandbreite der Breitband- und Mobilfunk-Kommunikationsnetze, die Ressourcen im Cloud Computing oder schlichtweg die Verfügbarkeit von Geräten zur multimedialen Kommunikation, wie etwa Kameras und Mikrofone. Ebenso sind mit Videoconferencing‑, Social-Media‑, E‑Commerce- oder E‑Payment-Plattformen heute softwareseitige Voraussetzungen gegeben, die ihrerseits erheblich von der Pandemie profitiert haben. Dies reflektieren nicht zuletzt die jüngsten Ergebnisse von Big-Tech-Konzernen wie Alphabet und Microsoft, deren Gewinne im ersten Quartal 2021 um 162 % (Alphabet) bzw. 31 % (Microsoft) bei Umsatzzuwächsen von 34 % (Alphabet) bzw. 16 % (Microsoft) gegenüber dem Vorjahresquartal gestiegen sind (Langer 2021). Weitere Beispiele von Unternehmen wie Zoom, Delivery Hero, Paypal und natürlich Amazon zeigen in eine ähnliche Richtung.

1 Ein „neues Normal“ in vielen Lebensbereichen

Einen wesentlichen Vorteil der Informationstechnologie (IT) bildet die Möglichkeit, die Informationsebene in allen Anwendungsgebieten unabhängig von den betroffenen Gütern, Zwecken oder Nutzern abzubilden. Dies hat sich während der Pandemie in den meisten Lebensbereichen gezeigt und dort zu einem „neuen Normal“, also zu einer von der Digitalisierung geprägten Normalität, geführt. Es illustriert, dass Digitalisierung einen Vorgang bezeichnet, der von einem Ausgangs- zu einem Zielzustand führt. Als erstes Beispiel sei der stationäre Einzelhandel angeführt, der mit der Pandemie lange bekannte Digitalisierungsmaßnahmen wie etwa die Synchronisierung von Online- und Offline-Geschäft, die Einführung einer digitalen Warenwirtschaft oder die Unterstützung bargeldloser Zahlungsmedien nun in anderer Weise priorisiert. Heute gehören selbst für kleinere Einzelhändler Onlineshops sowie digitale Services wie Zustellung und Bezahlung ebenso zu den „Basics“ wie die Kundenansprache über soziale Medien. Selbst kleinere Weinbauern haben neue überregionale Angebote entwickelt wie etwa Online-Verkostungen, die eine Zustellung von Proben in Verbindung mit gemeinsamen (Online-)Verkostungsterminen umfassen. Schwieriger war es im Tourismusbereich, in dem Hotels ihre Zimmer alternativ als Arbeitsräume anboten und Restaurants sich auf Essensabholungen sowie -auslieferungen umstellen mussten. Auch hier finden sich heute zunehmend attraktive digitale Angebote in denen Restaurants ihre Speisekarten online einstellen, aber auch mit Liefer- und Bezahldiensten kooperieren. Es wird spannend zu sehen, wie die künftigen hybriden Formate aussehen werden, denn die Pandemie hat auch Grenzen der Digitalisierung und Stärken der physischen Präsenz aufgezeigt.

Dies zeigt sich auch bei der Büroarbeit. Noch vor zwei Jahren galt in den meisten Unternehmen das Arbeiten zuhause noch als Ausnahme und verteiltes Arbeiten erschien aus Sicht von Führung, Steuerung und Kontrolle ebenso schwierig wie für hoch interaktiven Formate, wie etwa Diskussionen und Kreativitätsworkshops. Dabei war „New Work“ im Sinne eines agilen und ortsübergreifenden Zusammenarbeitens schon lange gefordert, weil dies den heutigen Wertschöpfungsstrukturen ebenso wie den gleichberechtigten Familienstrukturen entspricht. Auch hier gab es überraschende Effekte, die auf Potenziale und Grenzen gleichermaßen hindeuten. Zahlreiche Formate, ob Arbeitstreffen, Konferenzen oder auch kreatives Projektarbeiten haben sich als möglich herausgestellt. Nicht selten war zu beobachten, dass sich der Teilnehmerkreis sogar erweitert hat, da eine größere Anzahl an Personen effizient und ressourcenschonend partizipieren konnte. Natürlich werden die physischen Büroräume künftig nicht abgeschafft und persönliche Treffen bleiben notwendig. Aber wie beim Handel sind auch hier neue Konstellationen, insbesondere hybride Konzepte, zu erwarten, wie dies bei den Büro- und Arbeitskonzepten mancher Tech- und Beratungsunternehmen bereits vor der Pandemie zu beobachten war.

2 Digitalisierung ist nicht gleich Digitalisierung

Viele dieser Entwicklungen sind nicht neu, denn E‑Commerce oder digitale Lehrformate existieren seit 10 bis 20 Jahren. Weshalb haben die digitalen oder hybriden Lösungen dann nicht bereits früher eine ähnliche Breitenwirkung erzielt und weshalb haben die Investitionen nicht bereits stattgefunden?

Vielleicht hilft uns hier der Digitalisierungsbegriff weiter. So führt die Übersetzung von Digitalisierung sowohl zum Begriff der Digitalization als auch zu jenem der Digitization. Obgleich sich beide vereinfachend als synonym begreifen lassen, so beinhalten sie doch eine Differenzierung (Legner et al. 2017; Alt 2018). Danach betrifft Digitization die technische Seite der Digitalisierung, also den Prozess der Überführung von analogen in digitale Repräsentationsformen. Die Wirtschaftsinformatik kennt das Problem, wenn eine reine Übertragung papierbasierter Prozess in digitale stattfindet. Zunächst einmal muss die Hardware und damit beispielsweise der vernetzte Computer anstatt des Faxgeräts bei den Beteiligten, etwa Gesundheitsämtern, Arztpraxen oder Schulen, zur Verfügung stehen. Ebenso müssen alle anderen Beteiligten über die entsprechende Infrastruktur verfügen. Natürlich wäre dies vor zehn Jahren bei einer bedeutend geringeren Verbreitung von Smartphones und vernetzten Geräten in kleinen Betrieben noch deutlich schwieriger gewesen, aber eine leistungsfähige digitale Infrastruktur in Schulen oder im Homeoffice war auch im vergangenen Jahr nicht überall vorhanden. Vermutlich hängt die geringe Priorisierung dieser Investitionen mit der Beharrung an bestehenden Strukturen, also an analogem Verkaufen und Unterrichten oder klassischer Büroarbeit, ebenso zusammen wie mit dem Glauben, dass Handel, Arbeit oder Bildung alleine durch den Technikeinsatz automatisch effizienter würden.

Nun sind die Investitionen in IT-Infrastruktur aber nur ein Faktor. Bereits seit Mitte der 1990er sind in der Literatur prägende Diskussionen bekannt, die mit dem Phänomen des Productivity Paradox (z. B. Brynjolfsson 1993) sowie der provokativen These „IT Doesn’t Matter“ (z. B. Carr 2003) verbunden sind. Das Paradox griff den fehlenden kausalen Zusammenhang zwischen den steigenden Investitionen in IT und der volkswirtschaftlichen Produktivität auf, während die Irrelevanz-These den mittels IT erzielbaren Wettbewerbsvorteil in Frage stellte. Ohne beide Diskussionen im Detail nachzuzeichnen, lassen sich diese auf etwas generalisierter Ebene auf die Relevanz des Anwendungskontextes zurückführen. Wie in Abb. 1 gezeigt, besteht kein direkter kausaler Zusammenhang von IT-Investitionen und davon bewirkten Nutzeffekten. Weder ergeben die Beschaffung eines Rechners noch die Lizensierung eines ERP-Systems automatisch einen Nutzen. Dennoch ist in der öffentlichen Diskussion zu häufig mit der Bereitstellung von Budgets für IT auch die Schlussfolgerung verbunden, das Problem sei damit gelöst und alles werde schneller, günstiger und „besser“.

Abb. 1
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Zusammenhang von IT-Investitionen und Nutzen (Wigand et al. 1997, S. 159)

Dies ist mitnichten der Fall, denn weder genügt es, Faxdokumente durch elektronische Dokumente zu ersetzen, noch erschließt das Ersetzen von traditionellen papiergebundenen Skripten in der Bildung durch auf Lernplattformen bereitgestellte PDF-Dateien den Nutzen des Online-Unterrichts. Herausfordernd ist es auch, wenn analoge Ausgangslösungen fehlen und Lösungen wie Warn-Apps oder Impfportale neu zu konzipieren sind. Wenn sich hier der Blick zunächst auf die Technik richtet, z. B. auf die dezentrale App mit starken Datenschutzrestriktionen, dann führt dies häufig zu Nutzungsproblemen, weil wichtige Funktionen nicht gegeben sind, den Anwendungszweck zu wenig erfüllen und/oder den Nutzer hilflos davorstehen lassen. Ebenso wird eine Umstellung auf Heimarbeit nicht funktionieren, wenn Unternehmen den Mitarbeitern „lediglich“ mobile Hardware und VPN-Zugänge bereitstellen, aber weiterhin am analogen Führungsstil festhalten.

Hier kommt der zweite Digitalisierungsbegriff, die Digitalization, zum Tragen. Gegenüber der Informatik-nahen Digitization entspricht sie dem Wesen der Wirtschaftsinformatik. Danach sind digitale Technologien so einzusetzen, dass sie neue Chancen eröffnen, und ihren Nutzen nicht allein in Effizienz- sondern auch und insbesondere in Effektivitätsvorteilen sehen, wobei neben quantitativen auch qualitative Verbesserungen Berücksichtigung finden. Die Frage, wie digitale Technologien Werte (im Sinne von wertvollen Verbesserungen) oder Wettbewerbsvorteile generieren, zählt zum Selbstverständnis der Wirtschaftsinformatik. Sie verbindet diese strategisch-geschäftliche Gestaltung mit der fachlich-organisatorischen Ausrichtung an Prozessen und erst dann mit dem Einsatz von Informationstechnologien. Dabei bietet die Wirtschaftsinformatik ihre besondere Sicht auf das Informationssystem an. Während die Informatik darunter primär Hard- und Softwaresysteme versteht, umfasst das Informationssystem der Wirtschaftsinformatik zusätzlich die Aufgaben, beispielsweise in Organisationen oder auch Märkten, sowie den Menschen, die jeweils und gemeinsam in Wechselwirkung mit den technischen Innovationen stehen. Dabei hat mit der Verfügbarkeit digitaler Geräte in der Gesellschaft die Berücksichtigung sozialer Faktoren an Bedeutung gewonnen. Es ist zu berücksichtigen, ob Menschen die Technik mehr oder weniger gerne nutzen und Freude oder Sorgen damit empfinden. Idealerweise unterstützen die digitalen Lösungen dabei, das Lehren, Lernen und Forschen oder die Geschäftstätigkeit in Unternehmen, auf Märkten sowie auch für jeden Einzelnen und dessen Leben, möglichst „angenehm“ zu gestalten. Diese Zielzustände in Struktur- oder Ablaufmodellen zu erfassen, zu dokumentieren und schließlich in die zukünftige Realisierung und Nutzung eines Informationssystems zu überführen, ist eine Kernaufgabe der Wirtschaftsinformatik.

3 Tipping Point in und durch Wirtschaftsinformatik

Was bedeutet dies im Kontext des Tipping Point? Zum einen können Wirtschaft und Gesellschaft lernen, dass die Sicht der Wirtschaftsinformatik auf die Digitalisierung – im Sinne der Digitalization – nicht die unwichtigste und vielleicht sogar eine zielführende darstellt. So wurde mit der Pandemie digitales Zusammenleben, Zusammenwirken oder Zusammenarbeiten von der Kür zur Pflicht. Damit stellte der erwähnte Transformationszwang der Pandemie eine Chance dar, denn menschliche Barrieren, tradierte Einstellungen und Präferenzen wurden überdacht. Obgleich keine Zeit für einen kulturellen Wandel vorhanden war, sollten im neuen Normal gute digitale Lösungen entstehen, die Chancen für Organisationen, auf Märkten und in der Gesellschaft eröffnen. Hier können die Methoden der Wirtschaftsinformatik helfen, die Gestaltungselemente, wie Technik, Organisation, Geschäftsmodell und Nutzeranforderungen aufeinander abzustimmen. Insbesondere die gestaltungsorientierte Wirtschaftsinformatik ist nicht nur in Pandemie-Zeiten ein guter, relevanter und notwendiger Berater. Sie strebt nach kreativen – sinnhaften und neuen – Lösungen für Informationssysteme und damit für wirtschaftliche Anwendungskontexte, in welchen Informationen verarbeitet werden sowie Kommunikation und/oder Kooperation stattfindet (Robra-Bissantz und Strahringer 2020).

Neben der Chance für eine größere Breitenwirkung der Wirtschaftsinformatik ergibt sich eine weitere Chance. So kann die Pandemie einen Tipping Point für einen Perspektivenwechsel für das Fach selbst bedeuten. Infolge der seit Jahrzehnten dominierenden Fokussierung auf die betriebliche Informationsverarbeitung steht bei den Methoden der Wirtschaftsinformatik weiterhin der Unternehmensbezug stark im Vordergrund. Mit der Digitalisierung der gesamten Gesellschaft, die pandemiebedingt einen weiteren Schub erfahren hat, bilden Individuen immer stärker einen integralen Bestandteil der digitalen Lösungen, sodass Gestaltungsmethoden diesem Wechsel von der Unternehmens- zur Nutzersicht entsprechen müssen (z. B. Brenner et al. 2014). Mit einer nutzer- anstatt einer unternehmensbezogenen Sichtweise stellen sich für die Wirtschaftsinformatik zunehmend wichtige Fragen wie etwa:

  • Wie gelingt es, nicht-technikaffinen Nutzerinnen und Nutzer die Chancen ebenso wie Herausforderungen der Digitalisierung von neuen digitalen Prozessen und Geschäftsmodellen für die vielfach hybriden Szenarios des neuen Normal zu vermitteln?

  • Wie und mit welchen Methoden gelingt ein konsequent an den Menschen in ihren unterschiedlichen Rollen ausgerichtetes Design von Anwendungssoftware – vom komplexen ERP-System bis zur einfachen App?

  • Wie fließen angesichts des Paradigmenwechsels die anwendungsbezogenen Anforderungen und Wünsche in die Systemgestaltung ein? Neben Modellierungswerkzeugen, wie BPMN oder UML, besteht hier Bedarf an intuitiven, lebensnahen und niedrigschwelligen Ansätzen.

  • Wie entsteht eine „Digital Literacy“ in der Gesellschaft? Neben Individuen betrifft dies vor allem kleinere Unternehmen wie etwa Arztpraxen, Gastronomie-Unternehmen, aber auch Lehrpersonal. Ein (Wirtschafts-)Informatikstudium kann hier nicht immer als Voraussetzung erforderlich sein.

  • Wie können auch wenig technikaffine Personen das Handeln vernetzter Informationssysteme nachvollziehen? Idealerweise ist ihnen bekannt, was mit ihren Daten geschieht, aber bereits die Integrationszusammenhänge der Systeme zu überblicken, gelingt auch Fachleuten aufgrund der fehlenden Einblicke „hinter die Kulissen“ bzw. in die Systeme derzeit höchstens partiell.

Zusammenfassend steht das Fach Wirtschaftsinformatik vor spannenden Zeiten. Denn wie das neue Normal für Stadt, Handel, Arbeit, Bildung und viele Beispiele mehr zeigen: eine Rückkehr zum Prä-Corona-Zustand wird nicht stattfinden. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, den Tipping Point als Chance für die menschenzentrierte Gestaltung der privaten und beruflichen Lebenswelten zu verstehen – als einen Prozess, der Lösungen nicht vorschreibt, sondern in dem die Beteiligten in Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam daran mitwirken.