Hintergrund und Prinzipien
Design Thinking (DT) versteht sich als systematische Vorgehensweise zur Lösung komplexer und alltäglicher Problemstellungen. Es überführt die zunehmende Problemkomplexität aus dem Alltag unter Berücksichtigung der Benutzerbedürfnisse in einen zielgerichteten, kreativen Gestaltungsprozess (Grots und Pratschke 2009; Chasanidou et al. 2015). Dem Vorgehen liegen insbesondere drei Prinzipien zugrunde:
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Multidisziplinäre Teams: Im Rahmen von DT steht die kreative Gesamtleistung eines interdisziplinären Teams im Vordergrund. Die Teams bestehen aus Teilnehmern verschiedener Disziplinen und Hierarchieebenen (Schallmo 2017). So können verschiedene Blickwinkel und Erfahrungen in den Kreativitätsprozess eingebracht werden. Die aktive und erfolgreiche Beteiligung erfordert ein spezifisches Mindset, zu dem insbesondere Offenheit gehört. Daneben zählen Empathie, kompromissbereites und positives Denken, Kollaborationsfähigkeit und Experimentierfreude zu den wichtigsten Eigenschaften (Hilbrecht und Kempkens 2013).
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Raumkonzept: Zur Förderung der Ideengenerierung finden die Workshops in einem kreativen Umfeld statt. Dafür werden die Räume gruppenspezifisch aufgeteilt und mit den Inhalten einer sog. Design-Thinking-Box ausgestattet. Hierzu gehören bspw. Haftnotizen zur gemeinsamen Ideensammlung- und Visualisierung an Metaplanwänden sowie Bastelzubehör (Papier, Scheren, Kleber) und Legosteine. Letztere dienen dem schnellen Prototypenbau (Grots und Pratschke 2009).
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Iterativer Prozess: DT schlägt einen sechsteiligen Prozess (vgl. Abschn. 2.2) vor, der das Vorgehen systematisiert (Hilbrecht und Kempkens 2013). Es sind jedoch Iterationen möglich und vorgesehen, die den Teams erlauben, gleichzeitig verschiedene Lösungsansätze zu entwickeln und als erste Prototypen zu testen, um Feedback und Inspirationen für neue Konzepte zu erhalten (Brown und Katz 2011). Geführt werden die Teams häufig von einem Moderator, der für die Vermittlung der einzelnen Techniken sowie deren korrekte Ausführung verantwortlich ist (Hasso-Plattner-Institut 2019).
Ablauf eines Design-Thinking-Prozesses
Der Ablauf eines DT-Workshops gliedert sich in die sechs Phasen Verstehen, Beobachten, Synthese, Ideengenerierung, Prototypenbau und Testen. Nachfolgend wird der idealtypische Ablauf erläutert, der in Abb. 1 dargestellt ist.
Verstehen:
Die Inspirationsquelle eines DT-Prozesses bilden die Bedürfnisse des Menschen. Zu Beginn gilt es daher, ein fundiertes Verständnis für die Problemstellung, die Zielgruppe und ihr Umfeld zu gewinnen. Aus diesem Grund nimmt die Planung und Durchführung von Rechercheaktivitäten eine essenzielle Bedeutung in der ersten Phase des DT-Prozesses ein. Als Ergebnis der initialen Phase existiert innerhalb der Gruppe ein gemeinsamer Konsens bezüglich der Problemstellung.
Beobachten:
Da DT von einem benutzerzentrierten Fokus geprägt ist, folgt in der zweiten Phase die Durchführung von Rechercheaktivitäten im Problemkontext. Hierzu dienen insbesondere qualitative Erhebungsmethoden, mit denen Nutzungskontexte, Ziele und Hintergründe der Benutzer untersucht werden. Die Beobachtungsphase mündet in einer ersten Ergebnisvisualisierung.
Standpunkt definieren:
Auf Basis der gesammelten Informationen erfolgt in der dritten Phase die erste Synthese. Es werden die Eindrücke der Beobachtungsphase mit den Gruppenmitgliedern durch Storytelling geteilt und interpretiert. Anschließend werden die Resultate gemeinsam in der Gruppe mithilfe von Personas, die dem Standpunkt der Zielgruppe entsprechen, schematisiert. Damit ist die Eingrenzung des Problemraums abgeschlossen und es folgt die Gestaltung des Lösungsraums.
Ideen entwickeln:
Zur Erarbeitung von Lösungsvorschlägen werden anhand von verschiedenen Brainstormingtechniken Ideen entwickelt, gesammelt und geclustert. Hierbei kommen insbesondere Visualisierungen in Form von Skizzen zum Einsatz, die eine effiziente Lösungskommunikation ermöglichen. Die Ideen werden abschließend hinsichtlich der Nützlichkeit und des Innovationsgrads aus der Perspektive des zuvor erarbeiteten Standpunktes priorisiert.
Prototypenbau:
Die gemeinsam ausgewählten, priorisierten Problemlösungen werden im Prototyping schnell und iterativ umgesetzt. Da sich DT nicht ausschließlich auf haptische Produkte beschränkt, sondern auch für die Entwicklung innovativer Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle bestimmt ist, können die Prototypen in verschiedenen Formen erarbeitet werden: Es eignen sich bspw. Storytelling- und Rollenspielmethoden, um die Interaktion zwischen Mensch und nicht-haptischen Innovation darzustellen. Haptische Ideen hingegen lassen sich besonders mit den Werkzeugen einer DT-Toolbox, z. B. Pappe, Legosteinen und Knete als sog. Low-Fidelity-Prototypen umsetzen. Die entstehenden Prototypen dienen nicht gänzlich der Ideenvalidierung, sondern können als Inspiration für weitere Entwicklungszyklen betrachtet werden.
Testen:
In der Testphase werden die Prototypen in Gesprächen mit Menschen aus der Zielgruppe, wie z. B. Kunden, evaluiert. Die zuvor entwickelten Artefakte werden dafür zunächst den Befragten vorgestellt. Ziel ist es, die abstrakten Prototypen durch das Einholen von Feedback zu verfeinern oder ihre Problemlösungsfähigkeit gegen weitere Alternativen abzuwägen (Grots und Pratschke 2009; Hasso-Plattner-Institut 2019).
Ansätze zur Virtualisierung des Prototypings in Design-Thinking-Prozessen
Bisherige Forschungsarbeiten identifizierten Herausforderungen bei der Erstellung und Kommunikation von Prototypen sowie der Dokumentation von DT-Projekten. So stellt die Prototypenerstellung unter Zuhilfenahme der DT-Toolbox bspw. für Erstbenutzer häufig eine Überforderung dar. Zudem kann der soziale Druck innerhalb von DT-Gruppen die kreative Leistungsfähigkeit beeinträchtigen (Carlgren et al. 2016). Im Hinblick auf die Präsentation der erarbeiteten Prototypen ist es problematisch, dass sich Mitglieder der Zielgruppe häufig nicht am selben Ort wie das DT-Team befinden (Schallmo 2017). Schließlich wurden die hohen Dokumentationsaufwendungen, die im Zuge der Erarbeitung verschiedener Lösungswege auftreten, im Rahmen vergangener DT-Projekte kritisiert und bereits durch die Entwicklung digitaler Dokumentationswerkzeuge adressiert (Hofer et al. 2019).
Spezifische virtuelle Ansätze zur Unterstützung von DT-Prozessen hingegen sind bislang nicht vorhanden. Dabei ermöglicht VR eine neue Form des Rapid-Prototypings, die bspw. in der Fabrik- und Arbeitsplatzgestaltung eingesetzt wird. Besonders im Vergleich zu papierbasierten Ansätzen können durch die erzeugte, realitätsnahe Immersion und die intuitiven Eingabemodalitäten Prototypen in virtuellen Welten effizient gestaltet werden. Benutzer profitieren außerdem von einem höheren Erlebnis- und Aktivierungsgehalt bedingt durch die Interaktivität der Technologie (Janßen et al. 2016). Ferner stellt die vereinfachte Möglichkeit zur Versionierung, Speicherung und Externalisierung von Prototypen ohne Medienbrüche einen weiteren Vorteil dar (Jasnoch et al. 1995).
Zur Identifikation von Ansätzen für die Virtualisierung des Prototypings in DT-Prozessen wurde im Dezember 2019 eine Marktanalyse in den beiden renommiertesten digitalen Vertriebsplattformen für immersive Softwareangebote, dem Oculus Store (2019) sowie dem Viveport (2019), durchgeführt. Hierbei wurden Suchterme wie „Design“, „Kreativität“, „Prototyping“ in deutscher und englischer Sprache verwendet. Tab. 1 stellt die zum Gestaltungsvorhaben verwandten Applikationen dar. Es wird zwischen Schreib- und Zeichnungs- sowie Modellierungsapplikationen unterschieden. Erstere bieten primär Funktionalitäten zur händischen Anfertigung zweidimensionaler Skizzen (z. B. auf virtuellen Whiteboards), während Letztere die Modellierung dreidimensionaler Prototypen unterstützen.
Tab. 1 Ergebnisse der Marktanalyse Die Ergebnisse zeigen, dass das Potential der virtuellen Realität zur Kreativitätsförderung auf dem Markt bereits durch einige Anbieter in einem anderen Kontext adressiert wird: Es wurden drei virtuelle Schreib- und Zeichnungsapplikationen zur Erzeugung zweidimensionaler Grafiken (bspw. Zeichnungen) in der Marktanalyse identifiziert. Die wohl bekannteste ist Think Space, in der mehrere Benutzer gleichzeitig an virtuellen Whiteboards zusammenarbeiten und dabei zwischen zwei verschiedenen Szenen, bspw. Wüste oder Strand, wählen können (Funly 2019). Aufgrund der zweidimensionalen Gestaltungsmöglichkeiten sind die Einsatzmöglichkeiten dieser Applikationen für DT-Prozesse allerdings begrenzt, indem sie das Modellieren von Prototypen nicht erlauben. Unter den acht Modellierungsapplikationen für dreidimensionale Artefakte existieren verschiedene Ansätze, die einerseits einen eindeutigen Unternehmensfokus haben (z. B. Insite VR, Sketchbox) und andererseits sehr spielerisch und somit konsumentenorientiert geprägt sind (z. B. in.block). Ein spezifisches DT-Tool wurde in der Marktanalyse nicht gefunden: Insbesondere die Möglichkeit zum gemeinsamen Prototyping mit den Werkzeugen einer DT-Toolbox im klassischen Raumkonzept (vgl. Kap. 2) ist nicht gegeben. Diese Lücke soll im nachfolgenden Kapitel durch die Vorstellung einer VR-Applikation für das Prototyping in DT-Prozessen geschlossen werden.