1 Einleitung

Im Zeitalter der Digitalen Transformation des öffentlichen, privaten und wirtschaftlichen Lebens erfährt der wirtschaftsinformatorischen Forschung eine wichtige Bedeutung diesen Wandel zu erklären und zu gestalten. Dennoch bestimmt auch die Debatte zur Praxisrelevanz von Forschungsergebnissen und die wissenschaftliche Qualität von innovativen Praxisarbeiten den aktuellen Diskurs. Digitale Innovationsprojekte (im weiteren Verlauf als „DIP“ abgekürzt) im Gesundheitswesen gelten innerhalb dieses Wandels als wesentliche Triebkraft (Laurenza et al. 2018). Ihre Projektergebnisse sind typischerweise Kombinationen aus integrierten Versorgungsmodellen und innovativen Systemlösungen (Digitale Artefakte) unterschiedlicher Form und Ausprägung. Diese Ergebnisse ähneln in ihrer Art den Resultaten gestaltungsorientierter Forschungstätigkeit (in der Fachwelt auch als Design Science Research tituliert) (Österle et al. 2011; Hevner et al. 2019).

Die Untersuchung von Werner (2019) unterstreicht eine Diskrepanz, die zwischen den zur Umsetzung verwendeten Forschungsmethoden und solchen, die international als publikationswürdig anerkannt sind, besteht. Während zu den tatsächlich verwendeten Forschungsmethoden Systementwicklungsansätze wie das Prototyping, Umfragen bzw. Interviews gehören, zählen zu den häufig publizierten Forschungsmethoden die konzeptuelle Deduktion als auch die quantitativ/qualitativ-empirische Forschung (Werner 2019).

Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass sich die Relevanz und Bedeutung von rein wissenschaftlich entwickelten Methoden für die Forschungsergebnisse marginalisieren. Nicht umsonst gilt die Evaluation von Design Science-Kontributionen abseits von konstruierten Szenarien, als zentrale Herausforderungen der Wissenschaftsgemeinschaft (Frank 1998; Venable et al. 2012). Beispielsweise werden in DIP im Gesundheitswesen häufig genannte Forschungsmethoden (Prototyping und qualitativ-empirische Forschung) angewendet (Fichman et al. 2014). Die mangelnde Anerkennung solcher Forschungsergebnisse führt jedoch nur zu einem schwachen Transfer bzw. Verschränkung praxisorientierter Forschung und akademischer Verwertung. Als Resultat erhalten Erkenntnisse aus DIP im Gesundheitswesen nur schwerlich Einzug in die Wissenschaft. Hingegen ist gerade die Auseinandersetzung mit Defiziten, welche die Umsetzung von DIP im Gesundheitswesen betreffen, für die Forschung und Praxis unerlässlich bspw. zur Untersuchung neuer Versorgungsmodelle und Erforschung theoretischer Erklärungsansätze.

Innerhalb von DIP entsteht neben explizitem Wissen häufig auch implizites Wissen, welches durch Externalisierung (Otto and Österle 2010) für die Organisation und Durchführung von Nachfolgeprojekten bedeutend sein kann. Insbesondere spielen der Umgang mit implizitem sowie explizitem Wissen und dessen Aufbereitung eine wichtige Rolle für die Reichweite und letztlich auch für die Implikationen die aus Forschungs- und Praxisprojekten erwachsen. Der vorliegende Beitrag widmet sich diesen Themen und stellt die Fragen

  1. 1.

    Wie kann Wissen aus praxisorientierten Konsortialprojekten im Gesundheitswesen systematisch erfasst und explizieren werden?

  2. 2.

    Wie kann das gewonnene Wissen für zukünftige DIP im Gesundheitswesen aufbereiten werden?

Ziel des Beitrags ist die Stärkung der Präsenz von DIP innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion und Verbesserung der Akzeptanz ihrer Erkenntnisse innerhalb wissenschaftlicher Publikationen. Hierzu wird im vorliegenden Beitrag der aktuelle wissenschaftliche Diskurs zusammengefasst und eine Typologie von Wissensbeiträgen von gestaltungsorientierten Projekten vorgestellt. Mit ihrer Hilfe sind eine systematische Klassifizierung und Beschreibung von DIP sowie der dazugehörigen Wissensbeiträge möglich. Anhand von drei Fallbeispielen wird zudem gezeigt, wie diese Systematisierung auch praktisch genutzt werden kann. Darüber hinaus werden auf Basis der Fallbeispiele Archetypen für den Wissensbeitrag innerhalb Digitaler Gesundheitsinnovationen skizziert.

Dieser Beitrag gliedert sich wie folgt: Der Einleitung folgen die Grundlagen zu Digitalen Innovationen und deren Verknüpfung mit dem Gesundheitswesen in Abschn. 2. In Abschn. 3 wird der aktuelle Stand der Forschung zu Wissenstypen in der Wirtschaftsinformatikforschung zusammengefasst und das „Design Science Research Grid“ als Systematisierungsansatz für DIP vorgestellt. Anschließend werden im Rahmen einer Fallstudie, drei Projekte aus der Integrierten Versorgung beschrieben. Es folgt eine exemplarische Systematisierung von Wissensbeiträgen und die Ableitung von potentiellen Wissenstypen (Abschn. 4). Der Beitrag endet mit einer kritischen Diskussion und gibt einem Ausblick auf künftige Forschungsvorhaben.

2 Digitale Innovationen im Gesundheitswesen

Bei einer Digitalen Innovation handelt es sich um eine Produkt‑, Service- oder Geschäftsmodellinnovation, die an den Einsatz von digitaler Technologie geknüpft ist. Eine Digitale Innovation kann einerseits als Mittel im Innovationsentwicklungsprozess betrachtet werden und andererseits als Ergebnis. Das Phänomen der Digitalen Innovation umfasst neue digitale Technologien, die Digitalisierung von Informationen, die digital ermöglichte Generativität und ein Innovationsmanagement mit einer größeren Reichweite von Innovationen über Unternehmensgrenzen hinweg (Yoo et al. 2010).

Digitale Innovationen haben in den vergangenen Jahren verstärkt Einzug in vielen Bereichen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens erhalten und stellen eine treibende Kraft für Transformationsprozesse dar. Während Digitale Innovationen sich in anderen Branchen früh verbreiteten und sich weiterhin rasch entwickeln, bleibt der Einsatz von digitalen Technologien im Gesundheitssektor nach wie vor hinter seinen Möglichkeiten zurück. Ein Grund dafür ist in der Schwierigkeit zu sehen, ein solch komplexes, historisch gewachsenes und hoch reguliertes System wie das Gesundheitssystem durch digitale Technologien mit kurzen Produktlebenszyklen abrupt, spürbar und nachhaltig zu verbessern. Trotz der komplexen Rahmenbedingungen bleibt der Handlungsbedarf bestehen.

In Anbetracht der alternden Gesellschaft, der Zunahme multimorbider Krankheitssituationen sowie dem anhaltenden Fachkräftemangel sind innovative Ideen zur Neuausrichtung des Gesundheitssektors gefragt. Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung hat die Bundesregierung einen wesentlichen Schritt dazu beigetragen. Es setzt u. a. stärkere Anreize für die Integration von Digitalen Innovationen in der Versorgung sowie in der Versorgungsforschung und adressiert insbesondere unterversorgte oder strukturschwache Gebiete. Das kürzlich verabschiedete Digitale Versorgungsgesetz schließt sich dieser Bewegung an und fördert u. a. die Einführung Digitaler Innovationen in den Gesundheitsmarkt.

Die Gesetzgebung hat grundsätzlich den Handlungsbedarf ihrerseits erkannt, die Freisetzung der vielseitigen Potenziale Digitaler Innovationen zu beschleunigen. Neben der Erprobung bzw. Etablierung von neuen zeitgemäßen und bedarfsgerechten intersektoralen Versorgungsmodellen ermöglichen sie auch die Verbesserung der Versorgungsqualität (Herrmann et al. 2018). Sie können über den gesamten Leistungserbringungsprozess hinweg integriert werden. Im Bereich der Prävention fördern digitale Anwendungen bspw. mehr Bewegung oder eine gesündere Ernährung. Im Rahmen der Diagnostik können sie der Entscheidungsunterstützung der Ärzte dienen oder auf Ebene der Therapie mit Hilfe von Medikationsplänen Unterstützung leisten. Ebenfalls sind Digitale Innovationen im Zuge der Rehabilitation, indem Virtual Coaches eingesetzt werden, denkbar. Um die benannten Potenziale auszuschöpfen, bedarf es wiederum einer stärkeren Verzahnung der einzelnen Versorgungssektoren. Derzeit agieren die einzelnen Sektoren und Fachdisziplinen zumeist unabhängig voneinander und die Patientenzentriertheit steht nicht im Vordergrund ihrer Aktivitäten. Dabei bedarf insbesondere die Versorgung multimorbider und chronischer Krankheitsbilder eine unterbrechungsfreie und aufeinander abgestimmte Behandlung, da bei Mehrfacherkrankungen häufiger Komplikationen auftreten als bei Routineprozeduren (Matusiewicz et al. 2017).

3 Gestaltungswissen in Digitalen Innovationsprojekten

3.1 Grundlagen des Gestaltungswissens

Forschungsseitig lässt sich die Wirtschaftsinformatik über zwei verschiedene Ziele erklären: dem Erkenntnisziel und dem Gestaltungsziel (Becker et al. 2003). Beide Ziele fokussieren auf die Generierung von Wissen. Dabei ist die Form des resultierenden Wissens jedoch für beide Ziele unterschiedlich. Das erste Ziel fokussiert die Erzeugung beschreibenden Wissens (deskriptives Wissen). Deskriptives Wissen trägt dazu bei, Phänomene unterschiedlicher Natur durch Beobachtung, Klassifikation, Messung oder Katalogisierung zu begreifen. Infolgedessen lassen sich daraus Erkenntnisse in Form von Naturgesetzen, Prinzipien und Theorien ableiten. Ein Gestaltungsziel adressiert die Entwicklung von Gestaltungswissen (präskriptives Wissen). Im Gegensatz zum deskriptiven Wissen bezieht sich das präskriptive Wissen darauf, wie bestimmte Probleme gelöst (z. B. technische Regelwerke) oder bestimmte sozio-technische Systeme entwickelt werden können (z. B. Systemanforderungen, Architekturkonzepte). Das präskriptive Wissen kann seinerseits in Lösungsdesignentitäten und Lösungsdesignwissen unterteilt werden. Unter Lösungsdesignentitäten versteht man Artefakte wie Modelle und Methoden, aber auch Artefaktinstanzen, Designprozesse und Artefaktentwicklungsprozesse. Lösungsdesignwissen kann in Form von technologischen Regeln, Wissen zur Realisierung von Entitäten (Anforderungen, Prinzipien, Merkmale) sowie Wissen für Designprozesse (Methoden, Techniken) festgehalten werden (Drechsler and Hevner 2018).

Beschreibendes und gestaltendendes Wissen stehen in einem engen Zusammenhang. Deskriptives Wissen unterstützt beispielsweise bei der Problemdefinition als auch bei der Umsetzung von Gestaltungszielen. So können identifizierte Verhaltensweisen von Nutzern (deskriptives Wissen) bei der Beschreibung von Gestaltungsregeln für Mensch-System-Interaktion berücksichtigt werden (Drechsler and Hevner 2018).

In Abgrenzung zu dem Wissen aus der allgemeinen Wissensbasis der Wirtschaftsinformatik steht das Wissen, welches aus einzelnen Projekten stammt. DIP im Gesundheitswesen bilden dabei einen konkreten Typ von Projekten, die als spezifischen Problemraum den Einsatz digitaler Lösungen im Gesundheitswesen adressieren. Wissen aus solchen Projekten wird im folgenden Projektwissen genannt und weist ein eher zeitweiliges, nicht bzw. nur im Projektkontext erprobtes hochspezifisches Wesen auf. Dieses Wissen umfasst die Projektergebnisse als auch die Erfahrungen und impliziten Erkenntnisse der einzelnen Stakeholder.

Wissen aus Innovationsprojekten kann sowohl in deskriptives als auch in präskriptives Wissen transformiert werden. Diese Transformation erfolgt durch die systematische Gestaltung von Artefakten und der darauf aufbauenden Evaluation von Gestaltungsergebnissen (March and Smith 1995). Darüber hinaus gibt es weitere Wissensquellen, aus denen das Wissen für DIP gewonnen werden kann, z. B. aus dem eigenen Erfahrungsschatz oder aus der Zusammenarbeit in Konsortien und kreativen Tätigkeiten. Der Bereich des Projektwissens enthält Wissen über den Problem- und Lösungsraum eines Projekts. Kenntnisse über den Problemraum umfassen das Wissen um Zusammenhänge, die Problemidentifikation und Gütekriterien. Die Entwicklung solchen Wissens ist dabei nicht immer direkt durch methodische Planung generierbar, sondern ergibt sich auch aus dem nicht vollständig vorhersehbaren Projektverlauf. Beispielsweise kann eine für ein konkretes Problem geschaffene Softwarearchitektur durch eine nachträgliche Generalisierung für eine Problemklasse aufbereitet und als wiederverwendbares Konstrukt der Wissensbasis zurückgeführt werden. Hierbei muss das Generalisierungs-potential erkannt, das entstandene Projektwissen expliziert und transformiert werden. Dabei ist die Generalisierung sowohl des Problems als auch der Lösung notwendig (Drechsler and Hevner 2018).

Bis Forschende ein genaues Problemverständnis entwickelt und den Problemkontext durchdrungen haben, werden im Projektkontext mehrere Iterationen der Wissensanhäufung durchlaufen. So nutzen, produzieren (durch Ersetzen/Weiterentwickeln) und verwerfen sowohl Praktiker als auch Wissenschaftler diverse Wissenseinheiten ehe eine endgültig passfähige Lösung gefunden ist. Dieser Sachverhalt dient als Motivation bzw. Anknüpfungspunkt, sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit mit dem Bedarf der Transformation von Wissen in eine konkrete Domäne zu beschäftigen (Otto and Österle 2010). Die Anwendung von Wissen aus der Wissensbasis in die Versorgungsrealität und vice versa (Wissenstransformation) kann auf verschiedenen Wegen erfolgen und unterschiedlich dokumentiert sein (siehe Abb. 1). Beispielsweise können Systemspezifikationen (oder einzelne Bestandteile) oder auch immaterielle Ideen einzelner Forscher Gegenstand dieses Transformationsprozesses sein. Bei diesem Prozess wird jedoch nicht nur auf etabliertes Wissen zurückgegriffen, sondern auch auf ungetestetes und temporäres Wissen, welches im Rahmen von unstrukturierten, kreativen und heuristischen Verfahrensweisen erzeugt wurde. Antizipiert wird dabei, dass dieses Wissen im Zuge der Projektzusammenarbeit geschaffen und vereinzelt unter Mitgliedern geteilt wurde. Gegenüber der Außenwelt werden typischerweise die Projektendergebnisse offengelegt, nicht jedoch die Überlegungen und Erfahrungen, die bei der Erzeugung dieser eine Rolle spielen (Drechsler and Hevner 2018).

Abb. 1
figure 1

Übergang von Wissen in Digitalen Innovationsprojekten (DIP)

Es ist möglich, die Wissenstransformation aus DIP näher zu formalisieren. Hierfür kommen vier verschiedene Formen der Wissenstransformation in Betracht: die direkte Übernahme von Wissen (1), die Abstraktion (2), die Generalisierung (3) und die Analogiebildung (4). Bei der direkten Übernahme des Wissens erfolgt die Eins-zu-Eins-Wiedergabe der im Rahmen eines DIP gewonnenen Erkenntnisse. Bei der Abstraktion dagegen werden anhand gewonnener Erkenntnisse aus DIP allgemeingültige Regeln und Konzepte abgeleitet, z. B. in Form einer Referenzarchitektur aus konkreten heterogenen Architekturen. Unter Generalisierung ist die Verallgemeinerung gleichartiger Wissenseinheiten aus spezifischem Wissen zu verstehen, z. B. die Ableitung einer domänenspezifischen Referenzarchitektur. Bei der Analogiebildung wird das neuerschaffene Wissen derart aufgearbeitet, dass es in Bezug auf ein spezifisches Merkmal im Vergleich zum bestehenden Wissen als ähnlich wahrgenommen wird.

3.2 Design Science Research-Grid

DIP sind durch eine rasante Weiterentwicklung der neusten Informations- und Kommunikationstechnologien und variierende Anforderungen gekennzeichnet. Eine sorgfältige und angemessene Planung der praktischen Projektverläufe ist folglich eine beinah selbstverständliche Kernaufgabe des Projektmanagements. Bei kombinierten Forschungs-Praxis-Projekten sollten auch intendierte Forschungsergebnisse sinnvoll strukturiert und geplant werden. Vom Brocke and Maedche (2019) schlagen in diesem Zusammenhang das Design Science Research Grid vor, das aus sechs Kerndimensionen besteht (Tab. 1). Es soll Forschende bei der effektiven Planung und Kommunikation des Design Science Research-Projekts unterstützen, indem die wichtigsten Aspekte strukturiert beschrieben und abgebildet werden. Zu den sechs Kerndimensionen, die projektspezifisch gewichtet und angeordneten werden können, gehören die Problem- und Lösungsbeschreibung, das entsprechende Input- und Outputwissen sowie der Forschungsprozess inkl. Schlüsselkonzepten.

Tab. 1 Design Science Grid nach vom Brocke and Maedche (2019)

Die Problembeschreibung dient der anschließenden Identifikation möglicher Lösungen für ein konkretes Problem, welches sich in einem Problemraum mit entsprechendem Kontext (Domäne, Stakeholder, Zeit und Ort, Gütekriterien) bewegt. Das Input- bzw. Outputwissen (weiter als Wissensbeitrag bezeichnet) bezieht sich auf das genutzte Vorwissen sowie dasjenige Wissen, welches Ergebnis eines Design Science Research Projekts bzw. eines DIP ist. Wie im vorherigen Kapitel beschrieben, kommen hierfür verschiedene Wissensbasen in Frage, z. B. deskriptives oder präskriptives Wissen. Der Forschungsprozess adressiert die zur Lösung des konkreten Problems vorgesehenen und notwendigen Forschungsaktivitäten. Unterscheiden lassen sich hier bspw. Entwicklungs- und Evaluationsaktivitäten sowie Forschungsmethoden, wie Literaturrecherchen. Wesentliche Konzepte, auf die im Verlauf des Design Science Research Projekts bzw. DIP zurückgegriffen wird, bilden die Schlüsselkonzepte. Die Lösungsbeschreibung adressiert die Lösung des Problems, indem es die Form der Lösung (Konstrukt, Model, Methode, Instanz) näher spezifiziert (vom Brocke and Maedche 2019).

3.3 Fallbetrachtung Digitaler Innovationsprojekte im Gesundheitswesen

Die nachfolgend beschriebenen Projekte sind den Bereichen der Integrierten Versorgung und Telemedizin zuzuordnen. Unter den Projektpartnern befinden sich Experten aus den Fachgebieten Medizin sowie der System- und Softwareentwicklung. Darüber hinaus erfolgt eine Kooperation mit den zentralen Informations- und Projektmanagementeinrichtungen der Krankenhäuser. Einige Projektpartner sind in mehreren Projekten involviert, z. B. ein Anbieter von medizinischen Fallunterlagen und das örtliche Universitätsklinikum. Im Rahmen der Multi-Fallstudie werden drei Projekte betrachtet, die als erklärende Anwendungsfälle der Untersuchung dienen. Alle drei Projekte haben die Entwicklung mindestens einer Digitalen Innovation im Gesundheitswesen für eine Integrierte Versorgungsumgebung, ihre Verbreitung in die Gesundheitspraxis und damit ihre Integration in die bestehende Informationssystemlandschaft zum Ziel.

Ein gemeinsames Ziel der Projekte ist die Etablierung einer krankheitsspezifischen elektronischen Fallakte. Nebst internen Strukturen unterscheiden sich die Projekte in der Art und Weise, wie sie von Informationssystemen betroffen sind. Außerdem werden verschiedene digitale Lösungen in diesem Zusammenhang realisiert. In den Projekten werden unterschiedliche Krankheitsbilder betrachtet. Dabei erfordert jedes Krankheitsbild für sich einen anderen Lösungsansatz und insbesondere auch andere IT-Artefakte. Im Folgenden werden die wesentlichen Inhalte der drei Projekte vorgestellt und in Tab. 2 zusammengefasst.

Tab. 2 Überblick der Fallbeispiele mit DSR-Charakter

Das Projekt STROKE zielt auf die informationelle Verbindung zwischen einer existenten eHealth-Plattform mit schlaganfallspezifischen Diensten und IT-Systemen von Hausärzten sowie Spezialisten für die ambulante Nachsorge. Hierdurch soll der Nachsorgeprozess von Schlaganfallpatienten verbessert werden, indem ein integrierter Informationsfluss zwischen Case Managern und Hausärzten ermöglicht wird. Im Mittelpunkt dieses Kommunikationsszenarios steht ein schlaganfallspezifisches Clinical Document Architecture-Dokument (CDA Schlaganfallpass), das von allen beteiligten Leistungserbringern der Nachsorge gemeinsam genutzt wird.

Das Projekt NEURO beschäftigt sich mit der Entwicklung eines Integrierten Versorgungsportals für Patienten der Multiplen Sklerose, einer chronischen neurologisch degenerativen Erkrankung. Das Hauptziel ist es, eine bessere Verbindung zwischen Fachkräften, Patienten sowie (informell) unterstützenden Pflegediensten herzustellen. So werden Patienten und Angehörige bei der Krankheitsbewältigung besser unterstützt. Portalnutzer sollen Zugang zu ihren Fallakten erhalten und individuelle, kontextsensitive Dienste nutzen können, z. B. Erinnerungsfunktionen für Medikamente, therapeutische Übungen und spezifische Fragebögen.

Das Projekt PSYCHO zielt auf eine Verbesserung der interorganisationalen Behandlung von psychotraumatologischen Patienten ab. Mit Hilfe moderner Informations- und Kommunikationstechnologien wird die Kommunikation aller Beteiligten über relativ große Entfernungen hinweg optimiert. Infolgedessen soll eine fallspezifische Dokumentation institutsübergreifend verfügbar gemacht werden. Zusätzliche Instrumente und Verfahren für ein standardisiertes Screening und eine standardisierte Diagnose werden entwickelt und bewertet.

3.4 Methodik zur Systematisierung der Wissensbeiträge

Zwischen dem von Drechsler and Hevner (2018) vorgeschlagenen konzeputellen Framework, dass die Nutzung, die Produktion bzw. den Beitrag von Wissen veranschaulicht (Abschn. 3.1), und dem Design Science Research Grid (Abschn. 3.2) nach vom Brocke and Maedche (2019) bestehen deutliche Parallelen. Am Anfang eines Innovationsprojekts steht stets die Beschreibung des Problemraums. Der Problemraum enthält in beiden Konzepten Aussagen über den Projektkontext, die konkreten Probleme und Gütekriterien. Gemäß vom Brocke and Maedche (2019) kann Inputwissen sowohl deskriptives als auch präskriptives Wissen sein. Bei Outputwissen handelt es sich um rein gestaltungsorientiertes Wissen. Dieses gestaltungsorientierte Wissen bildet die Grundlage für die Lösungsraumbeschreibung. Drechsler eand Hevner (2018) dagegen sehen Inputwissen als rein deskriptives Wissen an. Die im Rahmen von DIP verwendeten Forschungsprozesse und Schlüsselkonzepte sind bezogen auf das konzeptuelle Framework als ein Teil des Lösungsraums zu verstehen.

Anhand der vorab beschriebenen Fallbetrachtungen (Abschn. 3.3) ist das in den einzelnen DIP gesammelte Wissen mittels des Design Science Research-Grids systematisiert (siehe Tab. 34 und 5). Dabei sind insbesondere die Wissensbeiträge je DIP hervorgehoben (grau hinterlegt), aus welchen die grundlegenden Wissenstypen im nachfolgenden Kapitel resultieren. Ihre Identifikation erfolgt induktiv aus den einzelnen in den Projekten identifizierten Wissensbeiträgen (siehe Abschn. 3.5). Die einzelnen Inhalte in den projektspezifischen Design Science Research-Grids wurden durch eine Analyse der Ergebnisdokumente, Protokolle und anderer Projektunterlagen des jeweiligen Projektes ermittelt. Soweit entstandenes Wissen innerhalb der Projektdokumentation expliziert wurde, konnte dieses in das entsprechende Grid direkt übertragen werden. Implizites Wissen kann jedoch selten alleinig über den Ansatz der Projektarchäologie identifiziert werden. Daher wurden in Diskussionen innerhalb der Projektkonsortien bzw. innerhalb abgrenzbarer Gruppen die Projekte, Verläufe, Ergebnisse und bereits expliziertes Wissen reflektiert. Die theoretischen Hintergründe des Gestaltungswissens (Abschn. 3.1) sowie die innerhalb des Grids involvierten Aspekte inklusive ihrer Systematisierung (Abschn. 3.2) dienten hierbei als Moderationshilfe und lenkten die Diskussionen zur erfolgreichen Identifikation impliziter Wissensbeiträge der DIP.

Tab. 3 Design Science Research Grid für das Projekt STROKE
Tab. 4 Design Science Research Grid für das Projekt NEURO
Tab. 5 Design Science Research Grid für das Projekt PSYCHO

3.5 Wissenstypen Digitaler Innovationsprojekte im Gesundheitswesen

Anhand der Wissensbeiträge, die in den Fallstudien zusammengetragen wurden, wird im Folgenden eine Klassifikation abgeleitet. Dabei wurden die einzelnen Wissensbeiträge bezüglich vergleichbarer Eigenschaften klassifiziert und Wissenstypen zugeordnet. Die Wissenstypen sind dabei Spezialisierungen der Schlüsselkonzepte des Design Science: Konzepte, Modelle, Methoden und Instanziierungen (Drechsler and Hevner 2018). Im Ergebnis konnten sieben Wissenstypen klassifiziert werden. Dazu zählen technologische Architekturen, Spezifikationen, Digitale Versorgungsmodelle, Medizinische Fachmodelle, Integrationsmodelle, Gestaltungsempfehlungen und Methoden. Folgend werden diese Wissenstypen vorgestellt sowie die wesentlichen Charakteristika herausgearbeitet. Aufgrund ihrer Genese stehen die abgeleiteten Wissenstypen in direktem Bezug zur Domäne des Digital Health. Eine Adaption in andere Fachdomänen ist Gegenstand anschließender Forschung. Beispielsweise könnte der Wissenstyp „Digitale Versorgungsmodelle“ für die Privatwirtschaft durch einen Wissenstyp „Geschäftsmodelle“ substituiert werden.

Architekturen

Architekturen sind ein wichtiger Wissenstyp von DIP. Sie beschreiben technologische Komponenten, systematisieren ihre Rollen und setzen diese zueinander in Beziehung. In Hinblick auf Integrationsaufgaben zeigen sie die zentralen Ansatzpunkte für Abstimmungsbedarf innerhalb eines Konsortiums auf und vermitteln Arbeitsaufgaben. Im Sinne eines Wissenstyps können Architekturen als Referenz für ähnliche Projekte dienen, insbesondere wenn damit Fragen des Datenschutzes, der Entkopplung von Komponenten und Verteilung von Arbeitsaufgaben vorgedacht sind. Typische Wissenschaftsgebiete zur Veröffentlichung von Architekturen sind die Informatik, Wirtschaftsinformatik und Medizinische Informatik. Hierbei bietet sich insbesondere das Forschungsgebiet der Referenzarchitekturen und Informationssystemmodellierung an.

Typisierte Wissensbeiträge: WS2, WN4, WP7.

Spezifikationen

Spezifikationen beschreiben in detaillierter Form, wie konkrete Systembestandteile einer Architektur ausgestaltet sein sollten. Sie verlassen Betrachtungen von Architekturen und wenden sich dem Entwurf einer konkreten Lösung zu. Eine Spezifikation kann im Gesundheitswesen sowohl fachbezogen (z. B. Spezifikation eines digitalen Schlaganfallpasses) als auch technologisch (z. B. FHIR-Profil zum Austausch von Fragebögen) beschrieben werden, wobei die Grenzen fließend sind. Häufig sind Spezifikationen im Bereich Digital Health mit dieser Aufgabe konfrontiert, eine adäquate Balance zwischen medizinischen Fachmodellen und technologischen Detaillierungen zu finden. Die Veröffentlichung von Spezifikationen kann im Kontext von Standardisierungsgremien im Bereich der Medizinischen Informatik erfolgen. Auch wird die konkrete Implementierung von Standards im Kontext von Fallstudien in diesem Bereich veröffentlicht.

Typisierte Wissensbeiträge: WS1, WN2, WP4, WP6.

Digitale Versorgungsmodelle

Ein Digitales Versorgungsmodell beschreibt ähnlich den Geschäftsmodellen in der Privatwirtschaft die zentralen und logischen Funktionsweisen innerhalb eines definierten Leistungsgeflechts von Akteuren. Typischerweise beschreiben sie eine idealisierte und koordinierte Versorgung für den Patienten über verschiedene Leistungserbringer hinweg. Digitale Versorgungsmodelle heben hierbei die Verwendung von digitaler Technologie zur Leistungserbringung hervor, fassen das Leistungsgeflecht und Leistungsversprechen sowie die zentralen Geschäftsprozesse zusammen. Im Kontext der vorgestellten Fallstudien werden drei verschiedene Versorgungsmodelle abgebildet. Die typischen Forschungsgebiete zur Veröffentlichung von Versorgungsmodellen finden sich im Bereich der Versorgungsforschung, im Bereich von Public Health sowie in der Gesundheitsökonomie und der gesundheitsorientierten Betriebswirtschaftslehre.

Typisierte Wissensbeiträge: WS4, WN3.

Medizinische Fachmodelle

Medizinische Fachmodelle beschreiben strukturelle (z. B. semantische Repräsentationen) oder dynamische (z. B. Patientenpfade) Aspekte des Versorgungsszenarios. Sie dienen als visuelle und zugleich (semi-)formale Repräsentation medizinischer Sachverhalte. Sie können sowohl durch Fachexperten zum Aufbau eigener Versorgungsmodelle als auch durch IT-Spezialisten zur Herleitung von Spezifikationen verwendet werden. Medizinische Fachmodelle können im Bereich der Medizin bzw. der medizinischen Dokumentation als auch in der medizinischen Informatik veröffentlicht.

Typisierte Wissensbeiträge: WP1, WP2.

Integrationsmodelle

Integrationsmodelle beschreiben sowohl methodisch als auch strukturell, wie Partner im Bereich der Digitalen Versorgungsmodelle miteinander fachliche als auch technologische Zusammenarbeit praktizieren können und wie diese Zusammenarbeit initiiert werden kann. Die Veröffentlichung solcher Wissensbeiträge kann im Teilgebiet Enterprise Integration im Wissenschaftsbereich der Wirtschaftsinformatik, in der Medizinischen Informatik sowie in der Versorgungsforschung erfolgen.

Typisierte Wissensbeiträge: WN5, WN3.

Gestaltungsempfehlungen

Gestaltungsempfehlungen können sowohl Digitale Versorgungsmodelle als auch medizinische Technologien adressieren. Sie leiten aus dem Kontext eines solchen Modells bzw. einer solchen Technologie Empfehlungen für die fachliche und technische Ausgestaltung ab. Dabei berücksichtigen sie das organisationale Umfeld und beteiligte Stakeholder (z. B. User Interface-Nutzungsprinzipien für bestimmte Patientenkohorten). Sie können auch aus konkreten Implementierungen resultieren. Je nach Ausprägung lassen sich diese in allen Bereichen des Gesundheitswesens als auch der Informatik einbringen.

Typisierte Wissensbeiträge: WN1, WN6, WP5.

Methoden

Im Zuge von Projekten im Bereich der Digitalen Innovation werden verschiedene Vorgehen zur Entwicklung neuer Artefakte eingesetzt (z. B. Anwendung von Fokusgruppen zur Erhebung einer konsentierten einrichtungsübergreifenden Aktenstruktur). Die Formalisierung und Generalisierung dieser methodischen Herangehensweisen zu einem wiederverwendbaren Wissensbeitrag können durch Digital Health Projekte adressiert werden. Solche Methoden können sowohl in der Wirtschaftsinformatik, Medizinischen Informatik als auch der Versorgungsforschung veröffentlicht werden.

Typisierte Wissensbeiträge: WS3, WN7, WP3.

4 Kritische Würdigung und Ausblick

Im vorliegenden Beitrag wurde untersucht, welche Konzepte und Ansätze der aktuelle wissenschaftliche Diskurs zur Systematisierung von Wissensbeiträgen in gestaltungsorientierten Projekten bereithält. Hierfür wurden zunächst das Design Science Research-Grids nach vom Brocke and Maedche (2019) eingeführt und die Rolle von deskriptivem und präskriptivem Wissen innerhalb der Forschung erörtert. Da Praxisprojekten oftmals die Struktur fehlt, ihre Innovation(en) und Resultate in geeigneter Form in generalisierbares präskriptives Wissen zu überführen, bietet dieses Grid einen guten Moderationsrahmen zur Analyse und Explikation von Wissen innerhalb solcher Praxisprojekte. Dies bedarf aber ebenso Sensibilität innerhalb der Projektorganisation für eine frühzeitiges Erheben der Informationen sowie der notwendigen Kommunikation innerhalb des Projektkonsortiums.

Die durchgeführte Fallstudie illustriert anhand von drei DIP, wie eine solche Systematisierung aussehen kann. Sie zeigt aber auch auf, dass insbesondere die Generalisierung der Artefakttypen insoweit herausfordernd ist, als dass die Innovationshöhe eines DIP nicht automatisch aus der Grid-basierten Beschreibung hervorgeht und sich im Vergleich zum Problem-Lösungsraum weniger gut darstellen lässt.

Die Explikation von präskriptiven Gestaltungswissen wird jedoch wesentlich aufgewertet und in eine einheitliche Struktur gebracht, sodass dieses leichter von ähnlichen Projektkonstellationen als Input(wissen) verwendet werden kann. Gleichzeitig verbindet sich damit die Herausforderung, dass zur Kommunikation des Wissensbeitrags (Output) generalisierte Wissenstypen genutzt werden sollten. Dadurch können die Lösungen auch für problemähnliche Konstellationen einen Beitrag liefern. Die vorgestellten Wissenstypen können als Konkretisierungen klassischer Artefakttypen innerhalb der gestaltungsorientierten Forschung betrachtet werden. Ihre Reichweite und Gültigkeit sind aufgrund ihrer induktiven Ableitung limitiert auf die zugrundeliegenden Kontexte des Forschungs- und Entwicklungsbereichs Digital Health. Bei den vorgestellten Wissenstypen handelt es sich somit um keine abgeschlossene Menge. Vielmehr zeigt der Beitrag, wie entstehendes Wissen systematisiert werden kann und wie ein entsprechender Wissenstyp gekennzeichnet ist. Wenngleich die Wissenstypen induktiv entstanden sind, können sie doch als Referenz und Legitimation für Forschungsziele dienen.

Aus wissenschaftlicher Sicht können die Wissenstypen außerdem dazu beitragen, Digital Health-Projekte zu klassifizieren. Mit dem Tupel von Problemraum, Wissenstyp und angewandtem Versorgungsmodell können typische Archetypen verbunden werden, welche wiederum als Muster für ähnliche Projekte herangezogen werden können. Ebenfalls ist ihre Nutzung zur Evaluation von bestehenden Implementierungen möglich.

In anschließenden Untersuchungen sollte der vorgeschlagene Ansatz weiter erprobt und seitens der Fachanwender kritisch evaluiert werden. Hierbei sollte insbesondere untersucht werden, innerhalb welcher Phasen eines Umsetzungsprojektes bereits welche Informationen aufzunehmen sind. Unabhängig davon sollte auch analysiert werden, wie bestehende Entwicklungsmethoden z. B. Agile Softwareentwicklung mit dem Anspruch einer systematischen Wissensexplikation in Einklang gebracht werden können.