Digitalisierung hat zu einer Veränderung vieler Geschäftsabläufe geführt. Wir stellen diese in ein Modell aus drei Phasen, um die jeweiligen Treiber der Entwicklung zu illustrieren. Ziel ist dabei nicht eine Beschreibung, welche die geschehenen Veränderungen in Branchen im Nachhinein analysiert und methodisch durch empirische Auswertung validiert; Ziel ist jedoch eine Modellierung, welche die gerade geschehenden Veränderungen zu verstehen versucht, um ihnen für die Zukunft eine Richtung und visionäre Gestaltungskraft zu verleihen. Unser Narrativ der drei Phasen stellt dabei nur eine mögliche Sichtweise auf digitale Disruption dar. Andere Perspektiven sind denkbar, doch die gewählte Form eignet sich besonders gut zur Erläuterung der Motivation unserer Idee.
Phase 1: Erkenntnis-Phase
Phase 1, die wir als Erkenntnis-Phase bezeichnen wollen, ist von der Beobachtung geprägt, dass die neuen technischen Möglichkeiten der Informations- und Kommunikations-Technologie bestimmte, uns wohlbekannte Prozesse beschleunigen und effizienter machen können. In der Folge werden diese Beschleunigungen auch eingesetzt.
In der Kommunikation wird beispielsweise Email genutzt und im Unterricht die Verteilung von Lehrmaterialien über PDF. Die neueren Unterstützungsformen der Technologie sind aber noch nicht bekannt, noch nicht implementiert oder noch nicht gesellschaftlich etabliert. Die über Email weit hinausgehenden Metaphern von Lebenslinien oder Status-Meldungen, wie wir sie heute von Facebook oder Twitter her kennen, sind noch nicht erfunden, auch die vielfältigen digitalen Lehrformen sind noch nicht angedacht. Das Ende der Phase 1 wird eingeläutet, sobald die technologische Unterstützung bisheriger Geschäftsprozesse so gut erfolgt, dass deren Grenzen deutlich werden.
Phase 2: Prozessbildungs-Phase
In Phase 2, die wir Prozessbildungs-Phase oder Phase der Intermediäre nennen, verändern Ideengeber die bestehenden Abläufe so, dass sie besser mit der neuen Technologie zusammenspielen.
Wir betrachten als Beispiel wieder die Kommunikation von Personen mit anderen Personen, Gruppen und Unternehmen. Die dem Brief nachgebildete Email wird durch neue Metaphern ergänzt, die keine Entsprechung oder Vorbilder in klassischen Technologien haben. Es entstehen soziale Netze (wie Facebook, Google+), Kurznachrichten- und Status-Dienste (wie Twitter), Kooperationsplattformen (wie GoogleDocs, Etherpad, Overleaf) und andere. Diese neuen Formen spezialisieren sich schließlich immer weiter in Portale, welche die Prozesse ganz bestimmter Lebenslagen und Bedürfnisse analysiert haben und optimal unterstützen wollen. Charakteristische Beispiele sind hier Uber, AirBnB, Tinder, Slack oder Github.
Die entstehenden Lösungen skalieren und werden weltweit angeboten. Da sie grundsätzlich leicht zu kopieren sind, behaupten sie sich gegen Konkurrenz meistens durch Lock-In-artige Mechanismen und ihre Monopolstellung, die sich aus der Rolle als enabling intermediaries ergibt. Netzwerk-ökonomisch machen mehrere Facebooks, Ubers, AirBnBs oder Tinders auch wenig Sinn, denn das Ziel ist die one stop platform auf der sich eben alle Freunde, Fahrgelegenheiten, Übernachtungsmöglichkeiten oder Flirtpartner kontaktieren lassen.
In den meisten Branchen befinden wir uns derzeit in der Phase 2 und entdecken gerade die dieser Phase innewohnenden Probleme: Lösen die Intermediäre ihre Aufgabe gut, so generieren sie aufgrund ihrer Machtposition rasch enorme Profite, ganz ähnlich wie die Wissenschaftsverlage. Sie dominieren den Markt durch ihre Kenntnis unserer Daten, Profile und Präferenzen und verursachen damit Fragen nach Datenschutz und Privatheit. Sie verwenden diese Kenntnis zur weiteren Steigerung eigener Profite und können sich dabei dieser Daten bedienen. Die aktuellen Debatten über den Missbrauch von Persönlichkeitsprofilen auf Facebook durch die Firma Cambridge Analytica und die möglichen Folgen für den amerikanischen Wahlausgang 2016 finden sich derzeit in den Schlagzeilen.
Für die später folgende Anwendung dieses Modells ist es wichtig, von der jeweiligen Rolle der Intermediäre etwas zu abstrahieren, denn die genauere Bedeutung variiert hier sehr stark. So sind die Funktionen als content gatekeeper in sozialen Netzen, bei Zwischenhändlern und Vermittlungsplattformen (wie Uber und AirBnB) und bei Wissenschaftsverlagen bei genauerer Betrachtung unterschiedlich. Insbesondere tritt bei Verlagen zusätzlich noch die Funktion der Vermittlung von Begutachtungen hinzu.
Brauchen wir Intermediäre?
Die Frage liegt daher nahe, ob die gesellschaftliche Machtposition der Intermediäre gerechtfertigt ist, ob sie reguliert werden kann und muss, und ob andere, dezentrale Organisationsformen ihre Aufgabe übernehmen können.
Technisch ist die Frage seit langem positiv beantwortet. Friendica, Diaspora, Identica, Libertree, Mastodon, Movim, Twister und Galaxy2 sind nur einige der dezentralen digitalen sozialen Netze, die als Alternative zur Nutzung bereitstehen. Der geringe Bekanntheitsgrad und die noch geringere Verwendung dieser Systeme lässt Nachteile oder Probleme vermuten. Hier können insbesondere zwei Bereiche genannt werden: Wertschöpfung und Vertrauen.
Das Problem Wertschöpfung
bedeutet, dass es diesen dezentralen Systemen an Anreizen für die skalierbare Bereitstellung der Dienstleistung in hohem Komfortgrad mangelt. Betrieb, Beratung, Fehlersuche und Weiterentwicklung der meisten dieser Systeme geschieht ohne stabile Geldflüsse und reduziert sich daher oft auf freiwillige Beiträge von Enthusiasten. Damit fehlen die Mittel für eine Bekanntmachung, für das Marketing und Branding, für systematische Benutzerstudien, für das Übersetzen in viele Fremdsprachen und etliche andere Formen des Un-Nerding, damit diese Dienste den Mainstream erreichen.
Das Problem Vertrauen
bedeutet, dass es diesen Systemen an stabilen Mechanismen zum Aufstellen und Einhalten von Community-Standards mangelt. Das Problem ist vielschichtig und tiefliegend, es wurde aus mehreren Blickwinkel bereits erfolglos in Angriff genommen. Wir beschreiben einige Ansätze.
Aus algorithmischer Perspektive benötigt das Aufstellen und Einhalten von Community-Standards die Programmierung verteilter Konsensus-Algorithmen, um im Konfliktfall die unterschiedlichen Sichtweisen der einzelnen Teilnehmer einer gemeinsamen Abstimmung zuzuführen. Solche Verfahren sind in der Informatik zwar bekannt, sie führen aber auf verschiedene Probleme (Shen et al. 2009). Viele Ansätze haben quadratische Kommunikations-Komplexität und sind daher für größere Knotenzahlen nicht praktikabel. Zusätzlich lassen sich nach dem Brewerschen CAP-Theorem von den drei wünschenswerten Anforderungen CAP (C = Konsistenz, A = Verfügbarkeit, P = Überstehen von Netz-Partitionen) maximal zwei realisieren (Brewer 2000), (Gilbert und Lynch 2002). Eine technische Lösung scheint also – vorerst – zu entfallen.
Die fehlende technische Lösung könnte durch organisatorische Maßnahmen gewährleistet werden. In der politischen Theorie wie in der Praxis mancher Informatik-Großprojekte ist das Modell des benevolent dictator bekannt, einer wohlwollenden aber mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Integrationsfigur, welche den erwünschten Konsens im Interesse aller herbeiführt. Das Konzept scheint in manchen Bereichen erfolgreich, wie man etwa am Beispiel von Linus Torvalds beim Linux-Projekt sehen kann. Es ist aber fraglich, ob der Ansatz generell funktionieren kann, wie etwa die Geschehnisse um Cambridge Analytica und die bisherigen Reaktionen von Facebook und Marc Zuckerberg dazu zeigen.
Phase 3: Demokratisierungs-Phase
Die Blockchain-Technologie hat mit ihrer ersten Anwendung, dem Bitcoin, eindrücklich bewiesen, dass sie beide Problembereiche praktisch lösen kann. Auch wenn in der noch sehr jungen Technologie der crypto currencies viele offene Probleme bestehen, so können zwei Beobachtungen festgehalten werden, die Lösungen für die Probleme aus Abschn. 2.3 anbieten. Die Blockchain erlaubt eine dezentrale Verrechnung entstandener Wertschöpfung in Form von Crypto-Token; diese können gänzlich ohne zentrale Instanzen oder Intermediäre gebildet und direkt, Peer-to-Peer ausgetauscht werden. Das Aufstellen und Einhalten von Community-Standards geschieht durch die Mehrheit der Betreiber von Blockchain-Knoten. Diese Mehrheit wird dabei zuverlässig und manipulationssicher gebildet und gewichtet, wobei die jeweiligen Blockchain Varianten nach Hashleistung (proof-of-work), Einsatz (proof-of-stake) oder externer Autorisierung (proof-of-authority, private Blockchain) unterscheidenFootnote 4. Für die praktische Gewähr, dass die Blockchain-Technologie diese beiden Probleme tatsächlich stabil löst, ist kann als empirisches Argument die Marktkapitalisierung der Kryptowährungen von über 250 Mrd. € genannt werdenFootnote 5, ist sie doch eine relativ hohe bounty oder ein hoher stake für ihre Fähigkeiten.
Wir stehen derzeit jedoch noch am Beginn dieser Entwicklung. Der Bitcoin zeigt mit über 1500 anderen Währungen, wie man sich ein dezentrales Währungssystem ohne Notenbanken vorstellen könnte. Man mag das Konzept einer Welt belächeln, in dem die Nationalbanken durch Millionen dezentraler Mining-Knoten ersetzt werden, doch es gibt einen wichtigen Fingerzeig, wie spannende Entwicklungen aussehen könnten. Auf ähnliche Weise könnte man von einem dezentralen Uber, Tinder oder AirBnB träumen: Eine dezentrale Suchmaschine schwingt sich nach Peer-to-Peer-Art von Knoten zu Knoten und findet Partner für Autofahrten, Flirts oder Übernachtungen. Die Regeln des Handelns, die sich die Teilnehmer und Communities in freier Übereinkunft und ohne regulierende Intermediäre mit Eigeninteressen selber geben, werden durch Smart Contracts beschrieben und durch die Blockchain gewährleistet. Es ist zwar völlig unklar, welchen Anklang diese Nerd-Träume von einer Blockchain-Gesellschaft in unserer Gesellschaft haben werden, die technologischen Bausteine für ihre Umsetzung stehen jedoch bereit.
In die Demokratisierungs-Phase sind grundsätzlich auch andere Peer-to-Peer Technologien einzuordnen. Diese führen aber meist zu praktischen Problemen. Zu nennen sind beispielsweise unfaire Nutzungsformen (etwa das sogenannte free loading), die Übernutzung geteilter Ressourcen (also die tragedy of the commons) oder Sybil-Attacken. Letztere führen durch die massive Erstellung gefälschter digitaler Identitäten zu einem nicht repräsentativen Bild von der Gemeinschaft. Die Blockchain-Technologie nimmt derzeit eine Sonderstellung ein, da sie viele dieser Probleme zu lösen verspricht und das bei Kryptowährungen praktisch erfolgreich unter Beweis stellt.