Hintergrund und Ausgangslage
JOSEPHS® – Die Service Manufaktur ist ein offenes Innovationslabor, das als reales Geschäft gestaltet ist und in dem sich jeder interessierte Kunde zu normalen Öffnungszeiten des Einzelhandels interaktiv mit interessanten Produkten, Dienstleistungen und Lösungsangeboten von Unternehmen auseinandersetzen kann bzw. direkten Einfluss auf die weitere Entwicklung und Ausgestaltung der Leistungsangebote nehmen kann. Es wird vom Fraunhofer IIS als Intermediär zwischen den interaktiven Kunden und den Unternehmen als Anbietern betrieben. JOSEPHS® ist als längerfristige Infrastruktur angelegt und wird für zunächst drei Jahre als Pilotvorhaben realisiert.
Das Konzept setzt voraus, dass auf der einen Seite die Kunden bereit sind, ihre Meinungen und Eindrücke aber auch ihre Kompetenzen Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Auf der anderen Seite setzt es aber auch voraus, dass Unternehmen bereit sind, Kunden ihre Prototypen bereits in frühen Stadien zugänglich zu machen und Leistungsangebote interaktiv mitgestalten zu lassen. Das JOSEPHS® ist als offenes Innovationslabor eine Interaktionswelt, in der Unternehmen Produkte, Dienstleistungen und Lösungsangebote, aber auch Entwürfe, Prototypen und Geschäftsmodelle erlebbar machen können. So können gemeinsam mit Kunden bereits in frühen Stadien des Entwicklungsprozesses Lösungen entwickelt werden.
Warum jedoch sollten Unternehmen sich für die Öffnung und das Interaktionsangebot an Kunden in einer solchen Service-Manufaktur entscheiden, wenn sie doch selbst über Marketingabteilungen, Marktforschung, eigene Forschungs-, Entwicklungs- und Testlabors oder gar eigene Ladengeschäfte verfügen? Hierfür gibt es eine Reihe unterschiedlicher Argumente: Zunächst können reine E-Business-Unternehmen im JOSEPHS® eine reale Plattform nutzen und den Schritt in die „Realwelt“ erproben und initiieren. Gerade für E-Business-Anbieter, die zwar über großzahlige Datenspuren ihrer Kunden verfügen, fehlt oftmals der direkte und reichhaltige Zugang zum individuellen Kunden. In der Service-Manufaktur kann im unmittelbaren Kundenkontakt erprobt werden, welcher Grad an Interaktivität gewünscht ist und welche Kombination zwischen dem bisherigen reinen Online-Geschäft und ergänzenden Offline-Komponenten erfolgsversprechend ist. Weiterhin können im JOSEPHS® tatsächliche Kundenerlebnisse beobachtet und vermessen bzw. von Mitarbeitern der entsprechenden Unternehmen auch direkt erfahren werden. Vor dem Hintergrund dessen, dass die angebotenen Produkte und Dienstleistungen ausdrücklich Prototypencharakter haben, öffnen sich die Kunden und lassen Unternehmen an ihrer persönlichen „Kundenreise“ teilhaben.
Dies sind nur ausgewählte Aspekte, die für das Konzept der Service-Manufaktur sprechen. Durch den direkten Zugang zu realen und zufälligen („selbst selektierten“) Kunden können auch Mitarbeiter aus der Produktentwicklung oder der späteren Leistungserbringung direkt die Reaktionen von Kunden erleben, daraus lernen und Kompetenzen für die weitere Verfeinerung des Produktes oder der Dienstleistung gewinnen. Dies zahlt sich insbesondere auch für das Testen neuer Geschäftsmodelle aus. Begleitende Schulungen von Mitarbeitern durch Unternehmen im JOSEPHS® runden dieses Argument ab. Darüber hinaus können in einer auf die interaktive Entwicklung von Leistungen spezialisierten Service-Manufaktur auch spezielle Werkzeuge, Materialien, Kompetenzen aber auch Technologien bereitgestellt werden, die Unternehmen temporär nutzen und erproben können.
Das Konzept: Basiselemente, Akteure, technische Infrastruktur
Um die genannten Eigenschaften und Chancen im Pilotvorhaben JOSEPHS® umsetzen zu können, bilden Basiselemente, beteiligte Akteure und technische Infrastrukturelemente die Säulen des Konzeptes.
Das Konzept sieht zunächst vier zentrale Basiselemente vor: Zum einen ist bereits das Ambiente bzw. die Inneneinrichtung von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, Kunden zur Interaktion und Mitwirkung an Wertschöpfung einzuladen. Seriosität als Vertrauensgrundlage auf der einen Seite, verbunden mit einem werkstattähnlichen Charakter auf der anderen Seite bilden die Basis. Sie können helfen, Kunden zur Interaktion zu animieren, Hürden zum konstruktiven Ausprobieren und Mitgestalten zu überwinden sowie detaillierte Rückmeldungen durch Kunden zu ermöglichen. Ein weiteres wichtiges Element ist die Kooperation des „erklärungsbedürftigen“ Ortes interaktiver Wertschöpfung mit einem Partner ohne „Erklärungshürde“. Hierzu bieten sich gastronomische Partner (Coffee Shop, Bar, Restaurant) in besonderer Weise an, da sie zum Verweilen einladen. Aber auch Buchhandlungen, Designerläden oder selbst Kaufhaus-Umgebungen haben das Potential, als Partner dazu beizutragen, die Erklärungshürde zu überwinden. Im Pilotvorhaben JOSEPHS® wurde die Partnerschaft mit einem Coffee Shop im Eingangsbereich gewählt. Dies unterstützt den Interaktionscharakter der Service-Manufaktur und bietet Raum für Kommunikation. Als dritter Bestandteil ergänzt ein Konferenz- oder Workshop-Bereich den Kern der Service-Manufaktur. Dies erlaubt die Durchführung interaktiver Spezialformate und reichhaltiger Veranstaltungsangebote. Es erlaubt und unterstützt die Kommunikation der Interaktionsangebote selbst, aber auch die Kommunikation notwendiger Voraussetzungen (z. B. „Wie funktioniert 3D-Printing?“) oder die Kommunikation über Interaktionsergebnisse (z. B. „Was bedeuten die Erkenntnisse aus der Interaktion für die teilnehmenden Unternehmen?“). Der vierte Bestandteil bildet schließlich das Herz- und Kernstück der Service Manufaktur: die Werkstatt. Dort findet Interaktion zwischen Kunden und Unternehmen statt. Dort werden Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle getestet, verfeinert oder von Grund auf neu entwickelt. Hierzu sind für jedes Unternehmen feste Bereiche vorgesehen, in denen Prototypen bereitgestellt und Interaktionsformate durchgeführt werden können. Es ist wichtig, diese Bereiche je nach Anforderungen der Unternehmen flexibel umbaubar und anpassbar auszugestalten.
Das Konzept sieht insgesamt fünf zentrale Akteursgruppen zur Realisierung dieses Ortes interaktiver Wertschöpfung vor, welche Hand in Hand zusammenwirken: (1) die interaktiven Kunden, die dort „selbst selektiert“ teilnehmen, sich einbringen und das Konzept mit ihrem Wissen und Können erst möglich machen, (2) die Unternehmen, die in der Service-Manufaktur Werkstattbereiche buchen, um gemeinsam mit den interaktiven Kunden Prototypen zu entwickeln und zu evaluieren, (3) das Management und Personal der Service-Manufaktur, welches dafür sorgt, dass JOSEPHS®; als Ort interaktiver Wertschöpfung den Unternehmen und Kunden zu jeder normalen Ladenöffnungszeit zur Verfügung steht, (4) der/die Partner der Service-Manufaktur, die dazu beitragen, die „Erklärungshürde“ zu überwinden sowie (5) die Wissenschaftler, die das Konzept inhaltlich fundieren, begleitend evaluieren und auf Basis der in der Kundeninteraktion gewonnenen Daten Erkenntnisse für Wissenschaft und Wirtschaft ableiten.
Das Fraunhofer IIS als Intermediär und Betreiber des JOSEPHS® als Ort interaktiver Wertschöpfung stellt allen beteiligten Akteuren auch eine breite Palette von technischen Infrastrukturelementen zur Verfügung: Hierzu gehören neben den in professionellen Workshop-Umgebungen gewohnten Technologien auch Technologien für das Tracking von Kundeninteraktionen sowie die Messung von Kundenerlebnissen oder das Testen von Produkt- und Dienstleistungsangeboten. Hierzu zählt beispielsweise die Möglichkeit, technologiebasiert und zugleich anonymisiert Emotionen in der Kundeninteraktion zu erkennen, zu verfolgen und diese bestimmten Phasen bzw. Erlebnisabläufen zuzuordnen und zu analysieren. Verbunden mit der anonymisierten Erfassung von Daten zur Verweildauer von Kunden an bestimmten Interaktionsbereichen oder auch zum Laufweg durch die Service-Manufaktur und der damit verbundenen Priorisierung von Anlaufstellen und Interaktionspunkten, können wertvolle Rückschlüsse für die Gestaltung und Weiterentwicklung von Produkten und Dienstleistungen gewonnen werden.
Die Realisierung
Mitte des Jahres 2014 eröffnete das JOSEPHS® des Fraunhofer Instituts IIS in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbes. Innovation und Wertschöpfung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Pilotvorhaben in der Nürnberger Innenstadt. Die Pilotierung bietet die Möglichkeit, erste Erfahrungen mit der Umsetzung des Konzepts in der Praxis zu sammeln und die dahinterstehende Vision auf ihre Alltagstauglichkeit hin zu untersuchen. JOSEPHS® befindet sich in zentraler Innenstadtlage und ist als staatlich gefördertes und von Unternehmen ko-finanziertes Forschungsprojekt zunächst für eine dreijährige Laufzeit als Pilotvorhaben angelegt. In dieser Zeitspanne wird die gesamte Bandbreite an Einsatzmöglichkeiten der Service-Manufaktur mit wechselnden Unternehmenspartnern erforscht und die Umsetzung des Geschäftsmodells unter Realbedingungen getestet.
In einem Zeitraum von etwa drei Monaten finden im JOSEPHS® unter einem Themendach jeweils mehrere Innovationsprojekte gleichzeitig statt, bei denen Unternehmen auf unterschiedliche Art mit interaktiven Kunden zusammenarbeiten. Zum Auftakt stand JOSEPHS® unter dem Motto „kreativ mit Hand und Fuß“. Damit sollte von Beginn an deutlich gemacht werden, dass die Aktivitäten in der Service-Manufaktur über das bloße Nachdenken und Sprechen hinausgehen und zu wirklicher und bodenständiger Mitwirkung einladen. Die folgenden Themenwelten führen diesen Gedanken in verschiedenen Varianten fort, wobei der Schwerpunkt auf den eigenen Gestaltungsmöglichkeiten der Besucher liegt. Dazu gehören die Anfertigung von Modellen im 3-D-Druck, die Entwicklung eigener bildlicher oder räumlicher Designs und die spielerische Auseinandersetzung mit neuen Lösungen, etwa im Wettbewerb um die am besten ausgeführte Leistung.
Die Unternehmenspartner für die Themenwelten sind unterschiedlicher Herkunft. Auf der einen Seite handelt es sich um Unternehmen, die bereits auf dem Markt etabliert sind und zum Teil bereits eine beträchtliche Größe erreicht haben. Auf der anderen Seite sind auch viele junge Unternehmen vertreten, deren Leistungsspektrum noch nicht weit ausdifferenziert ist. Einen besonderen Schwerpunkt bilden solche Unternehmen, die bisher nur online aktiv sind und den Ausbau ihres Geschäfts durch Niederlassungen und andere Vertriebswege vor Ort erweitern wollen. Dazu gehören beispielweise Anbieter von individuellem Schmuck oder Schuhdesign. Je nach Interessenlage des einzelnen Unternehmens werden die Kunden auf unterschiedliche Weise in den Innovationsprozess integriert. Dabei wird im aktuellen Pilotierungsstadium der Service-Manufaktur großer Wert auf die persönliche Ansprache durch geschultes Personal gelegt. Innovation soll nicht durch Quantität, sondern vor allem durch Qualität der Interaktion vorangetrieben werden. Auf die Besucherzahlen lässt sich vor allem auf zweierlei Weise Einfluss nehmen: zum einen durch das Angebot des gastronomischen Partners, zum anderen durch zusätzliche Aktivitäten und Initiativen im Veranstaltungsraum, die jeweils spezifische Zielgruppen anziehen.
Zentraler Aspekt der Pilotierung ist aber vor allem auch die Erforschung und Weiterentwicklung des geeigneten Medienmix für die Einbindung interaktiver Kunden. Experimentiert wird in der aktuellen Phase primär mit einfachen vor Ort verfügbaren Technologien statischer und mobiler Natur. Mit einem einfachen Fraunhofer-Tablet und einer spezifischen JOSEPHS®-App lassen sich Lokalisierungstechnologien von Kunden ausprobieren und evaluieren, ohne die eigene Identität preiszugeben. Kunden sind eingeladen, nächste Schritte des Technologieeinsatzes selbst vorzuschlagen und mitzugestalten. An die Stelle des Akzeptanzstiftens für vorgegebene Technologieangebote tritt so die schrittweise Erweiterung der Möglichkeiten nach Kundenanforderungen und Experimentierfreudigkeit. Die Begleitung in der Welt des Web 2.0 folgt dem gleichen Muster. Bislang geht die Begleitung nicht über eine einfache Webseite (www.josephs-service-manufaktur.de) und eine niedrigschwellige Facebook-Nutzung hinaus. Die Möglichkeiten der Community-Etablierung, Mitglieder-Generierung und bewussten Online-Offline-Interaktion werden gemeinsam mit den Partnern und interaktiven Kunden erschlossen, erprobt und begleitend evaluiert.
Erste Erkenntnisse über Kundeninteraktion
Wie erwartet zeigte sich schon in der ersten Themenwelt, dass durch die Service-Manufaktur neue Räume zur Kundeninteraktion erschlossen werden. Der Austausch mit den Besuchern des JOSEPHS® beschränkt sich nicht auf die Besprechung einzelner Kundeninteressen und Bedarfe, sondern führt in der überwiegenden Zahl der Fälle zu einem weiteren Nachdenken über die Gestaltung und Entwicklung neuer Dienstleistungen. Dabei bringen sich die Besucher auf ganz unterschiedliche Weise in den Innovationsprozess ein.
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Eine außerordentlich hohe Zahl der Besucher zeigt besonderes Interesse für das Geschäftsmodell der Unternehmen sowie die Zielsetzung der Innovationsaktivitäten. Es geht ihnen nicht nur um die Ausgestaltung der Wirkungsweise und des Nutzens einer Dienstleistung oder eines Produkts; darüber hinaus wollen sie auch das anbietende Unternehmen verstehen. Im JOSEPHS® werden damit im Rahmen der Innovationsprozesse weitreichende Beziehungsmuster zwischen Kunden und Unternehmen aufgebaut, die strukturbildend für die folgenden Transaktionen sind.
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Die Besucher legen in der Service-Manufaktur auch Alltagsprobleme offen, die über die von den Unternehmen angebotenen Lösungsansätze hinausgehen. So verwiesen in der ersten Themenwelt viele Besucher auf Probleme mit ihren Schuhen, die zahlreiche Ansatzpunkte zur Entwicklung neuer Lösungen boten, mit denen die Unternehmen ihr Leistungsportfolio erweitern können. Innovation findet somit auf allen Ebenen statt: von einzelnen Objekten und Teilaspekten der interaktiven Dienstleistung oder den dahinter liegenden Produkten bis hin zur Geschäftsstrategie der Unternehmen.
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Während sich die Besucher des JOSEPHS® beispielsweise mit Individualisierung von Schuhen und Schmuck auseinandersetzen, entwickelten sie außerdem weitere Varianten für die Lösungsgestaltung, die in den vorhandenen Konzepten nicht vorgesehen waren. Sie befassten sich also nicht nur mit der Ausprägung von Merkmalen, sondern wirkten selbst bei der Bestimmung der Merkmale mit, in denen sich die Individualität der Produkte und der damit verbundenen Beratungsleistung ausdrücken sollte.
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Weiterhin zeigt sich, dass die Gegenwart verschiedener Unternehmen im Raum die Besucher anregt, über Kombinationsmöglichkeiten und Verkettungen unterschiedlicher Leistungen nachzudenken. Die Innovationsprozesse in der Service-Manufaktur betreffen damit auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Unternehmen, insbesondere durch die gemeinsame Ansiedelung am gleichen Ort.
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Darüber hinaus geht die hochsensible Einschätzung von Tracking-Technologien mit einer generellen Offenheit der Kunden gegenüber anonymisierten Formen der Interaktionsverfolgung einher. Selbstbestimmte Einbringung der Kunden sowie ein vertrauenswürdiger und verantwortungsvoller Technologieeinsatz von Seiten des Intermediärs, der notfalls auch die Wünsche der Unternehmen nach Datenerhebung einschränkt, scheinen zentral. Wo der Intermediär auch in Fragen der Datenerhebung, -auswertung und –nutzung zum Mittler zwischen Unternehmen und Kunden wird, dort kann er sich offensichtlich als Garant der Erhebung notwendiger Daten, aber zugleich als Anwalt der Persönlichkeitsrechte des Kunden etablieren.