1 Einleitung

Wir befinden uns auf den Kaffeeplantagen von Minas Gerais in Brasilien, der größten Kaffee-Exportregion der Welt. Maria, eine Wanderarbeiterin aus dem Süden Bahias, wacht noch vor Sonnenaufgang auf. Sie kennt die Plantagenarbeit seit ihrer Kindheit. Wie viele Arbeiterinnen hier hat sie früher ihre Mutter in die Plantagen begleitet und ihr bei der Arbeit geholfen. Wenn Inspektoren kamen, haben sich die Kinder versteckt. Wie vielen anderen war auch Maria der Weg zu formaler Bildung versperrt. Heute steht sie vor der Herausforderung, Arbeit und Kinderbetreuung in Einklang zu bringen. In den frühen Morgenstunden kümmert sie sich um das Wohl ihrer Kinder, bevor sie sie in die Obhut von Verwandten oder Nachbarn gibt, die sie zur Schule bringen, da Maria bereits lange vor Schulbeginn aufbrechen muss. Sie hofft jeden Tag darauf, dass die Kinderbetreuung funktioniert, da sie andernfalls ihre Kinder mit auf die Plantagen nehmen muss, so wie früher ihre Mutter. Sie versucht das zu vermeiden, denn sie weiß, dass die Schulbildung eine Voraussetzung dafür ist, dass ihre Kinder später andere Handlungsoptionen haben.

Der Transport zu den Plantagen ist ein kollektives Unterfangen, bei dem die Arbeiterinnen auf Transportwagen klettern, die von Subunternehmern der Farmbesitzer gefahren werden. Die Fahrt selbst ist mit hohen Risiken verbunden, da die Wagen oft in schlechtem Zustand und Unfälle häufig sind. Die Arbeiterinnen haben bei Verletzungen keinen Rechtsschutz und keine Möglichkeit, Kompensationen zu verhandeln. Im Streitfall sehen sie sich daher gezwungen, ihre Arbeit als Erntehelferinnen aufzugeben und auf anderen Plantagen anzuheuern.

Nach Ankunft verbringt Maria den ganzen Tag auf den ‚Straßen‘ der riesigen Plantagen. Diese Straßen grenzen nicht nur den Bereich ab, in dem Maria für die Ernte zuständig ist, sondern bestimmen auch ihren Platz in der Turma – der Gruppe von etwa 20 Arbeiterinnen, die für einen bestimmten Bereich zuständig sind. Die persönliche Schutzausrüstung, die unerlässlich bei der Ernte ist, musste Maria selbst kaufen, was für sie eine zusätzliche finanzielle Belastung darstellt.

Durch den Arbeitstag hindurch gibt es kaum Pausen. Eine kurze Mittagspause erlaubt eine vorübergehende Stärkung, aber die Vorgesetzten raten davon ab, sich nach der Mahlzeit auszuruhen. An diesen langen Arbeitstagen macht sich früher oder später der Mangel an sanitären Einrichtungen bemerkbar. Wenn eine Möglichkeit des Toilettengangs besteht, dann ist er häufig begleitet von Angst, dass Vorarbeiter übergriffig werden, da Arbeiterinnen in dieser Situation allein sind. Erfahrungen der Isolation, Belästigung und sexualisierter Gewalt sind in den Plantagen weit verbreitet.

Während sich die maschinelle Ernte in anderen Regionen immer mehr durchsetzt, ist sie in den Bergregionen im Süden von Minas Gerais nur begrenzt möglich. Maria benutzt daher nur eine kleine, aber schwere Maschine, eine Maquininha, die sowohl höhere Effizienz, als auch Entbehrungen mit sich bringt. Maria hat sie auf eigene Kosten gemietet und muss für Wartung und Treibstoff aufkommen. Daher arbeiten viele Arbeiterinnen auch bevorzugt ohne Maquininha.

Das Wiegen des geernteten Kaffees ist einer der entscheidenden Momente für die Bezahlung, da Arbeiterinnen keinen festen Lohn erhalten, sondern nach Gewicht bezahlt werden. Für Maria ist dies regelmäßig eine Quelle von Frustration und Anspannung, da bewusste Verfälschungen der Messergebnisse an der Tagesordnung sind. Das Wiegen findet hoch oben auf einem Lastwagen statt. Der Vorarbeiter wischt dann vor dem Wiegen die überstehenden Mengen beiseite und verringert so das Gewicht der Einheit. Sich gegen solche Praktiken zur Wehr zu setzen, ist allerdings kaum möglich und gefährlich, denn wer sich widersetzt, riskiert den Vorwurf des Aufruhrs und muss mit Konsequenzen seitens des Vorarbeiters und des Arbeitgebers rechnen.

Gelegentlich entspannt sich Maria abends vor dem Fernseher. Bei den Abendnachrichten erfährt sie täglich den Preis eines Kaffeesacks auf dem Exportmarkt. Für den Kaffee, den sie erntet, verdient sie immer weniger, sodass sie sich fragt, ob sich diese Erntesaison noch lohnen wird. Gleichzeitig erfährt sie immer wieder, dass der brasilianische Kaffee bei transnationalen Unternehmen überall in der Welt verkauft und immer beliebter wird. Maria fragt sich auch stets, wo, von wem und für welchen Endpreis die Kaffeebohnen verkauft werden, die sie an ihren langen Arbeitstagen erntet.

Diese Vignette schildert einen Ausschnitt des Problems, dem wir uns in diesem Artikel widmen, nämlich der fortwährenden Reproduktion intersektioneller Ungleichheit in der Ausbeutung von Arbeit in globalen Produktionsnetzwerken (GPN). Die Erzählung gibt Elemente typischer täglicher Erfahrungen von Wanderarbeiterinnen während der Kaffeeernte in den riesigen Plantagen von Minas Gerais wieder. Der geschilderte Alltag der fiktiven Arbeiterin Maria illustriert Schlüsselaspekte einer Situation, die von mangelndem Arbeitsschutz und mehrschichtiger Diskriminierung geprägt ist.Footnote 1 Arbeiterinnen sind in diesem Umfeld aufgrund ihres Geschlechts, rassistischer Zuschreibungen und ihrer Migrationserfahrung mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Niedrige Löhne, lange Arbeitstage, die zusätzliche Belastung durch Kinderbetreuung, die Prekarität der Arbeitssituation, die körperlichen Beeinträchtigungen und die ständige Angst vor Belästigung und Gewalt durchdringen ihre Arbeitserfahrung. Die Isolation und Verletzlichkeit, die sie bei der Erledigung persönlicher Bedürfnisse wie dem Toilettengang erfahren, verstärken ihre Unsicherheit.

Auf den ersten Blick scheint die Vignette das aus feministischen, postkolonialen und marxistischen Analysen der globalen Produktion bekannte Narrativ der Ausbeutung zu bestätigen: die anhaltende sexualisierte und rassifizierte Ausbeutung von Arbeiterinnen. Das Recht kommt in diesem Narrativ praktisch nicht vor; es ist vielmehr auffällig abwesend – Maria scheint rechtlos zu sein. Wie verhält sich diese Erzählung zu dem mächtigen liberalen Diskurs über den Fortschritt des Rechts, der internationalen Menschenrechte und der Arbeitsrechte im Kontext der globalen Wirtschaft? Wie verhält sich die Vignette zum Diskurs über den sozialen Wandel durch Rechte?

In diesem Artikel möchten wir uns auf die Rolle des Rechts in dieser Situation konzentrieren und so zu einer umfassenderen Erklärung für die Beharrlichkeit des beschriebenen Problems in GPN beitragen. Hierzu möchten wir einen theoretischen Analyserahmen anbieten, der sich auf zwei gegensätzliche Formen der Rechtsmobilisierung stützt, die wir als rechtliche Landnahme und als Rechtskämpfe bezeichnen. Wir argumentieren, dass das Recht eine Schlüsselrolle spielt, die neben der Logik der Kapitalakkumulation notwendig ist, um die Persistenz der prekären Arbeitsbedingungen erklären zu können. Allerdings bleibt die Wirkung des Rechts auch in GPN stets ambivalent und kontextabhängig, denn Arbeiter:innen können diese Situation gerade auch mit Bezug auf Rechtsansprüche anfechten, die durch Mobilisierung erkämpft und in unterschiedlichen Rechtskatalogen niedergeschrieben werden. Um diese Ambivalenz nachvollziehen zu können, stützen wir uns auf die umfassende Literatur zu GPN, insbesondere feministische und intersektionale Analysen, sowie auf materialistische Rechtstheorie, die wir durch Daten aus den qualitativen Interviews ergänzen. Wir interpretieren auf dieser Grundlage die vorhandenen Erklärungen für die Verbreitung und Persistenz des Problems. Zugleich weisen wir auf den potenziellen Nutzen rechtlicher Regulierungen von GPN für Arbeitnehmer:innen hin.

Der Artikel trägt erstens dazu bei, Erklärungen intersektionaler Ungleichheiten in GPN um die Rolle des Rechts zu erweitern. Dazu setzen wir uns mit Interpretationen des Rechts auseinander, die versuchen, seine Schlüsselrolle in der Konstitution und Dynamik von GPN zu verstehen und es nicht nur als reines Machtinstrument bzw. Ausdruck von Kapitalinteressen (vgl. Baars 2019), sondern auch als Konfliktfeld und Gegenstand politischer Kämpfe zu begreifen (vgl. Buckel et al. 2024). Zweitens rücken wir das Feld der globalen Produktion als wichtigen Bereich für das Verständnis von Konflikt und Gewalt stärker ins Zentrum und erweitern somit die Reichweite der Friedens- und Konfliktforschung.

Der Beitrag beginnt mit einer Bestandaufnahme der Forschung zu intersektionaler Gewalt in GPN, in der wir auch das Verhältnis unserer Perspektive zur Friedens- und Konfliktforschung darstellen. In einem nächsten Schritt schauen wir näher auf das rechtliche Terrain und arbeiten seinen ambivalenten Charakter in Bezug auf die Verfestigung oder Anfechtung von Ungleichheiten in der Ausbeutung von Arbeit heraus. Wir führen hierbei in die diametralen Begriffe der rechtlichen Landnahme und der Rechtskämpfe ein. Abschließend reflektieren wir auf Grundlage dieses Rahmens unsere einleitende Vignette und verbinden die Situation Marias mit der Rolle des Rechts und des Kaffeeproduktionsnetzwerks. Im Lichte des Themas des Sonderhefts analysieren wir auch die Funktion der transnationalen Unternehmen, die maßgebend im transnationalen Kaffeesektor sind und wesentlich die Situation Marias prägen, obwohl sie keine direkten Berührungspunkte haben.

2 Intersektionale Ungleichheit und Gewalt in GPN: Begriffsklärung und Literaturstand

Aus Sicht der Friedens- und Konfliktforschung mag es zunächst überraschend sein, dass wir uns im Kontext eines Sonderhefts zu ‚Gewalt und transnationalen Unternehmen‘ mit intersektionaler Ungleichheit in der Ausbeutung von Arbeit befassen. Es gibt in der Friedens- und Konfliktforschung kaum systematische Analysen intersektionaler Konflikte im Arbeitsalltag oder in GPN, auch wenn konflikttheoretisch die Antagonismen zwischen Arbeit und Kapital als wesentlich und gesellschaftlich prägend anerkannt sind (z. B. Kißler 2010). Eine Auseinandersetzung findet wohl auch deshalb selten statt, da der Begriff der Gewalt in der Friedens- und Konfliktforschung oder in den verwandten Debatten der internationalen Beziehungen häufig eng definiert wird, also als Form der physischen Auseinandersetzung zwischen Gruppen oder als größerer bewaffneter Konflikt (vgl. Brunner 2018).

Der Gewaltbegriff ist damit meist reserviert für besondere Fälle der Eskalation, im Kontext der Produktion etwa die Niederschlagung wilder Streiks, Sklaven- und Zwangsarbeit oder Fälle schwerer Körperverletzungen. Wir möchten an dieser Stelle davon absehen, eine umfassende Diskussion über den stets umstrittenen Gewaltbegriff an sich zu führen (vgl. Brunner 2018). Vielmehr möchten wir erstens klarstellen, dass wir einen im Vergleich zu weiten Teilen der Friedens- und Konfliktforschung breiteren Gewaltbegriff verwenden, und zweitens, warum wir dies als Beitrag zur Friedens- und Konfliktforschung für wertvoll halten.

Wenn wir Gewalt auf physischen Zwang beschränken und sie als Randphänomen oder extremen Fall der globalen Produktion verstehen würden, die zum Beispiel bei gewaltsamer Unterdrückung von Streiks, in Gefängnisarbeit, Sklaven- und Zwangsarbeit auftaucht, würden wir die Erfahrungen aus den regulären Produktionsverhältnissen implizit abgrenzen und den Eindruck erzeugen, dass der Normalfall der Erwerbsarbeitsbeziehung gewaltfrei und das Gewaltphänomen nicht über sie, sondern in Abgrenzung zu ihr erklärbar sei. Wir würden damit Ansätzen Vorschub leisten, die besonders schwere Formen von Arbeitsrechtsverletzungen systematisch von flächendeckenden anderen Formen der Arbeitsausbeutung trennen. Diverse Analysen zeigen jedoch, dass beide Phänomene zusammengehören und Strukturmerkmale globaler Produktion sind (vgl. u. a. LeBaron und Gore 2020). Im Hinblick auf unser Interesse an der Rolle des Rechts kann eine Trennung bzw. Verengung auf bestimmte Gewaltformen auch dazu führen, dass ein starker normativer Fokus auf offensichtliche Überschreitungen von Recht, Gesetz oder der Verfassung gelegt wird, während die in eine herrschende Ordnung eingeschriebenen Formen der Gewalt, die insbesondere marginalisierte Gruppen trifft und die uns im Kontext von Arbeitsbeziehungen besonders prägend zu sein scheinen, aus dem Blick geraten, sofern sie nicht in größerem Umfang gesellschaftlich eskalieren. Um die Ursachen eskalierender Gewalt zu verstehen, ist es daher aus unserer Sicht sinnvoll, das Kontinuum unterschiedlicher Gewalterfahrungen in den Blick zu nehmen und nicht von vornherein scharfe Trennungen vorzunehmen.

Wir schlagen also vor, Formen direkter physischer Gewalt und strukturelle Formen des alltäglichen Übergriffs, Ausschlusses und der Diskriminierung nicht als zwei grundsätzlich verschiedene Phänomene, sondern als eng miteinander verwobene und sogar fließend ineinander übergehende Erscheinungsformen von Gewalt zu verstehen. Wir folgen damit auch Ideen aus der politischen Theorie, etwa von Judith Butler (2009), die betont, dass verschiedene Formen von Gewalt nicht in klar trennbare, ontologische Kategorien aufgeteilt werden können. Wir widmen uns zunächst schlicht verschiedenen Formen der einseitigen Herstellung oder Veränderung eines normativen Verhältnisses zwischen sozialen Gruppen, in dem die andere, in der Regel bereits untergeordnete Gruppe durch gezielte Handlungen benachteiligt oder schlechter gestellt wird. Eine solche Form ist in unserem Fall die Ausbeutung intersektionaler Ungleichheit als Aspekt der Arbeitsbeziehung in GPN.

Mit unserer Analyse möchten wir uns also gerade weniger auf eine mögliche physische Eskalation konzentrieren. Stattdessen widmen wir uns den sozialen Hintergründen mehrdimensionaler Gewaltformen, die insbesondere von gesellschaftlich marginalisierten Gruppen erfahren werden. Dafür halten wir es für instruktiv, eine relativ weit gefasste Konzeptualisierung von Gewalt zu verwenden, um den Blick erstens auf die verschiedenen Austragungsformen und zweitens die Unterscheidungsmerkmale zu richten, auf deren Grundlage Menschen Opfer von gruppenbezogenen Ausgrenzungen, Unterdrückungen oder Formen der (Über‑)Ausbeutung werden, die in GPN auftreten.

In den wissenschaftlichen Debatten zu globaler Produktion, Unternehmen und Gewalt können wir eine gewisse Tendenz beobachten, diskriminierende Gewalt im Unternehmenskontext vor allem in der Überschreitung bestehender Ordnungen zu lokalisieren. So war etwa der Ausgangspunkt für das Aufkommen des Forschungsfeldes zu Unternehmen und Menschenrechten die Idee, dass es globale Regulierungslücken (governance gaps) gebe und diese die Ursache für Menschenrechtsverletzungen im Unternehmenskontext seien (kritisch dazu Elliot 2021; Scheper 2022). Mit einer solchen, auf Ordnungs- oder Governancelücken konzentrierten Betrachtung verbunden ist eine starke Betonung von Konflikten im Globalen Süden, da hier häufig schwache Staatlichkeit gesehen wird oder Regulierungslücken vermutet werden, die immer wieder als Ursachen für eskalierende Gewalt, Unruhen oder einen Mangel an Verfahren zur institutionellen Verarbeitung von Konflikten ausgemacht werden.

Sproll (2020, S. 391) betont zudem, dass die Fokussierung auf Machtdynamiken zwischen Unternehmen und die Betrachtung ihrer Governance-Strukturen lange dazu geführt hat, die Arbeitsbedingungen und die Rolle der Arbeiter:innen in der Wertschöpfungsketten-Literatur zu vernachlässigen. Die ‚Arbeit‘ in den Mittelpunkt zu rücken, kann Sproll zufolge hingegen zum einen ermöglichen, „die Beschäftigten nicht nur als Produktionsfaktor, sondern als AkteurInnen zu sehen, die die Form globaler Produktionsnetze aktiv durch (kollektiven) Widerstand und Verhandlungen mitgestalten“. Zum anderen kann eine Analyse der Beschäftigungsverhältnisse die Bedingungen für menschenwürdige Arbeit in der Wertschöpfung ins Zentrum der Debatten und der Forschung zu GPN stellen (Sproll 2020; siehe auch Selwyn et al. 2020). Wir schließen uns dieser Perspektive an, denn wir sehen in unserer empirischen Forschung die Annahme bestätigt, dass die hierarchischen Beziehungen in der Produktion Orte der alltäglichen Gewalt und gesellschaftlicher Konflikte sind. Diesen Konflikten liegt nicht nur die Subordination der Arbeit mit ihren geschlechterspezifischen Merkmalen zugrunde. In vielen alltäglichen Gewalterfahrungen macht vielmehr die Überkreuzung multipler Formen der Diskriminierung und des Ausschlusses die besondere Verletzlichkeit der Arbeiterinnen aus. Auch ihre Handlungsoptionen werden dadurch mitbestimmt.

Darüber hinaus zeigen zahlreiche Untersuchungen über die Prekarisierung von Arbeitsbedingungen, geschlechterspezifische Gewalt(androhung) und Übergriffe in Fabriken oder auf Plantagen, dass diese nicht (nur) in der Überschreitung rechtlicher Ordnungen, sondern inmitten der Ordnung selbst verortet sind. Gewalt kann ohne eine deutliche Überschreitung der Rechtsordnung auftreten oder durch die bestehende Ordnung verstärkt werden (Gerstenberger 2018a, b; Scheper und Vestena 2020; Sproll 2020). Regulierungslücken scheinen daher für die Analyse eines solchen Strukturphänomens kein geeigneter Ausgangspunkt zu sein.

Die Forschung hat entsprechend die ständigen Übergänge zwischen ‚normaler Produktion‘ und physischer Gewalt gezeigt, etwa im Kontext betrieblicher Praktiken zur Verhinderung kollektiver Arbeitnehmer:innenorganisierung, der Behinderung und Kriminalisierung von Gewerkschaften oder der offensiven Unterdrückung von Streiks. Auch an die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen und den Einsatz privater Sicherheitskräfte zur Vermeidung oder Niederschlagung von Unruhen und wilden Streiks können wir hier denken – Prozesse also, die enge Verbindungen zwischen der transnationalen Organisation von Produktion und Logistik mit Militär- bzw. Polizeigewalt aufweisen (Cowen 2014) und durch die formal anerkannte Arbeitsrechte geographisch und institutionell massiv eingeschränkt werden. Geschichtlich zeigt prominent vor allem Silver (2005), wie die flächendeckende Unterdrückung von Gewerkschaften und die geographische Verlagerung von Arbeiter:innenaufständen in die globalen Peripherien Strukturmerkmale der kapitalistischen Produktion sind.

Die Forschung zu globaler Produktion zeigt aber auch, dass Gewalt tiefergeht, dabei verschiedene gesellschaftliche Arenen durchdringt und auch den Alltag der Massenproduktion betrifft. Wir beziehen uns hier auf die Forschung zur globalen Produktion in einem weiten Sinne und schließen damit Forschung zu Ungleichheit und Konflikt in Globalen Wertschöpfungsketten (Global Value Chains, GVCs, Marslev et al. 2022; Sproll 2020), Globalen Warenketten (Global Commodity Chains, GCCs, Fischer et al. 2021), Globalen Wertschöpfungsnetzwerken (Helfen et al. 2018) und Lieferketten (LeBaron und Gore 2020) ein. Wir verwenden in diesem Text das Konzept der GPN, da wir vor allem am rechtlichen und damit staatlich-institutionellen Umfeld der Produktion interessiert sind (Coe und Wai-chung Yeung 2019; Fischer 2020; Henderson et al. 2002).Footnote 2

In den letzten Jahren erhebt die Forschung zu globaler Produktion verstärkt den Anspruch, Konflikte und ihre politische Rolle im Rahmen der globalen Wertschöpfung weitgehender aufzugreifen und dabei vor allem geschlechterbasierte Ungleichheiten, aber auch andere Ausschlüsse systematischer zu untersuchen (Bair 2010; Bair und Werner 2011; Sproll 2022). Wir nehmen diese Entwicklung auch zum Anlass, stärker über Verknüpfungen zwischen transnationaler Produktions- mit Friedens- und Konfliktforschung nachzudenken. Besonders deutlich wird die Konflikthaftigkeit der transnational organisierten Produktion etwa bei Levy (2008), der, aufbauend auf der Hegemonietheorie von Gramsci und heterodoxen Managementtheorien, politische Kämpfe in GPN explizit in den Vordergrund stellt. Daneben haben feministische Ansätze zur globalen Wertschöpfung bzw. neuere Arbeiten der Social Reproduction Theory umfassend die geschlechtsbezogenen Ungleichheiten in der Ausbeutung von Arbeit in der globalen Produktion und Reproduktion untersucht (Fernández-Kelly 1984; Bair 2010, Sproll 2022). Die Forschung zeigt hier, dass es bei der Akkumulationslogik globaler Wertschöpfung systematisch um die ökonomische Produktion unter Ausschluss von Reproduktionsarbeit geht. In Verbindung mit kulturell geformten Geschlechternormen geht mit globaler Wertschöpfung daher auch eine Hierarchisierung der Arbeitsteilung einher. Indem die transnationale Organisation der Produktionssphäre den hohen Druck auf die flexiblen Kosten der Arbeit verschärft hat, werden hiervon Frauen ungleich stärker belastet. Die Reproduktionsarbeit erzeugt eine Doppelbelastung, bleibt aber weitgehend unsichtbar.

Perspektiven auf Intersektionalität fügen diesen Analysen weitere Dimensionen hinzu und bieten damit umfassende Erklärungen für Ungleichheitsphänomene in der Ausbeutung von Arbeit (Marslev et al. 2022; Sproll 2022). Insbesondere die fortbestehenden rassifizierten und kolonial geprägten Hierarchien sind hier als strukturelle Faktoren herausgearbeitet worden, die Prozesse der Kapitalakkumulation und die Konzentration der Profite bei transnationalen Unternehmen im Globalen Norden einerseits befördern und dabei andererseits bestimmten Gruppen von Arbeiter:innen untergeordnete Rollen in der Produktion zuweisen (Sproll 2020, S. 391; Frings 2019, S. 432).

Wir gehen davon aus, dass Unternehmenskräfte diese Formen von Zwang und Gewalt nicht hervorbringen können und auch gar nicht müssen, um sie im Rahmen profitorientierter Produktionsnetzwerke nutzbar zu machen (vgl. Tsing 2009, S. 151). Die Bedingungen für intersektionale Konflikte, die auf Basis geschlechterspezifischer und rassistischer Unterscheidungsmerkmale bestimmte gesellschaftliche Gruppen besonders benachteiligen, sind zugleich Elemente der profitorientierten Gestaltung einer transnationalen Produktionsweise. Beschäftigte in den lohnintensiven und gering qualifizierten Teilen der Produktionsnetzwerke sind von solchen Benachteiligungen offensichtlich betroffen, auch wenn sie sicherlich nicht die einzige Gruppe sind (Sproll 2020, S. 393). Nicht zufällig lagern transnationale Unternehmen lohnintensive Produktionsschritte in Bereiche aus, in der Arbeit vor allem durch migrantische Frauen oder andere in mehrfacher Hinsicht marginalisierte Gruppen verrichtet wird. Gerade globale Produktionszentren, wie die Kaffeeplantagen von Minas Gerais, spiegeln diese strukturelle Tendenz deutlich wider.

3 Warum bleibt alles, wie es ist? Zur Perpetuierung intersektioneller Konflikte in GPN

Verschiedene Analysen von GPN betonen, dass die ihnen zugrunde liegenden Praktiken nicht nur auf globalen, intersektionalen Ungleichheiten aufbauen, sondern diese auch perpetuieren (vgl. Bair und Werner 2011; Levy 2008; Sproll 2022; Scheper 2017; Scheper und Vestena 2020; Tsing 2009). Die Analyse der damit verbundenen Aufrechterhaltung dieser Ungleichheitsstrukturen scheint sich jedoch bisher im Wesentlichen auf die Analyse der Prozesse der Koordination inner- und zwischenbetrieblicher Beziehungen oder der Wettbewerbsdynamiken auf Märkten zu konzentrieren (Henderson et al. 2002; Scherrer 2022).

Um das Phänomen der Perpetuierung näher zu erläutern, werden wir zwei Forschungsstränge der von uns oben skizzierten Forschungslandschaft näher betrachten: feministische Studien zu GPN und politisch-ökonomische Reflexionen über Rassismus, die aktuell im Forschungsfeld des racial capitalism zunehmend rezipiert werden (Frings 2019; Gerstenberger 2018b; Go 2021; Melamed 2015; Mendívil und Sarbo 2022). Wir diskutieren zunächst die jeweiligen Prozesse der Hierarchisierung entlang geschlechterspezifischer oder rassistischer Unterscheidungsmerkmale, um im Anschluss die Überschneidung dieser Erfahrungen und die damit einhergehenden Herausforderungen für die Arbeiterinnen im Rückgriff auf unsere einleitende Vignette zu analysieren.

3.1 Feministische Betrachtungen

Feministische Autorinnen befassen sich seit mehr als 40 Jahren mit der Frage, wie soziale und geschlechterspezifische Unterschiede durch die internationale Arbeitsteilung reproduziert werden (siehe z. B. Bair 2010; Dunaway 2014; Elson und Pearson 1981; Fernández-Kelly 1984; Fuentes und Ehrenreich 1983; Levy 2008; Sproll 2022). Bair (2010) bietet in einer umfassenden Übersicht feministischer Analysen eine theoretische Einordnung der strukturellen Rolle der Kategorie ‚Geschlecht‘ in der globalen Produktion. Sie betont die geschlechtsspezifische Einbettung in größere kapitalistische Strukturen der Produktion (Bair 2010, S. 305) und ergänzt damit andere Ansätze, die primär die Einflüsse des kulturell geprägten Verhaltens von Managern gegenüber Arbeiterinnen im Betrieb betrachten (vgl. Salzinger 2003). Sie stellt damit auch heraus, dass Geschlecht im Kapitalismus nicht nur als soziale Konstruktion verstanden werden kann, sondern dass die Konturen dieser Konstruktion selbst durch materielle Prozesse geformt werden. Die geographische Organisation der globalen Produktion, die Fragmentierung von Produktionsprozessen und die Kategorisierungen von Arbeit, die damit einhergehen, weisen Arbeiterinnen geschlechtsspezifisch bestimmten Teilen von Produktionsnetzwerken zu oder schließen sie hiervon aus (Bair 2010, S. 224).

Salzinger (2003) verweist darüber hinaus auf den Diskurs der Entbehrlichkeit weiblicher Arbeitskraft in der Fabrik, der Vorstellungen unqualifizierter Arbeit mit kulturell geprägten Geschlechternormen verknüpft. Dieser Diskurs wird in GPN durch die Mobilität des Kapitals und den damit verbundenen Druck auf Arbeitskosten und Effizienz verstärkt. Der Mythos der Entbehrlichkeit hält die Erzählung aufrecht, dass jede:r unqualifizierte Arbeiter:in jederzeit entlassen werden kann (Bair 2010, S. 222). Frauen führen besonders häufig die Tätigkeiten durch, die als unqualifiziert gelten, und wenn sie die Fabrik verlassen, können sie die ihnen kulturell zugewiesenen reproduktiven Tätigkeiten in der Familie wieder aufnehmen. In diesem Diskurs sind also patriarchale Vorstellungen über Geschlechterrollen, die damit verbundene Definition von wertvollen Qualifikationen und die Trennung von öffentlichem und privatem Raum wichtige Einflussfaktoren für die Aufrechterhaltung geschlechterspezifischer Benachteiligungen. Zusammen tragen sie dazu bei, dass Reproduktionsarbeit und ihre fundamentale Rolle für die Kapitalakkumulation wenig sichtbar bleiben. Ohne Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege, die in der Regel in den privaten Bereich ausgelagert werden und auf der unbezahlten Arbeitszeit von Frauen beruhen, gäbe es allerdings nicht die rentablen Bedingungen der Wertschöpfung, von denen transnationale Unternehmen in hohem Maße profitieren (Fischer et al. 2021, S. 33ff.). Verschiedene Studien weisen daher auch umgekehrt auf eine spezifische Attraktivität weiblicher Arbeit für die Kapitalakkumulation hin, die auf eine kulturell geprägte Vorstellung weiblicher Produktivität zurückzuführen ist (vgl. u. a. Sproll 2020). Hier sehen wir die klare Parallele zur oben diskutierten GPN-Literatur, in der die strukturelle Ausnutzung von Ungleichheiten für Profitinteressen im Vordergrund steht.

Die Erklärungen für das Zusammenwirken von kulturell geprägten Geschlechternormen mit der strukturellen Verteilung der Reproduktionsarbeit und der Logik der Kapitalakkumulation lässt sich auf zwei Ebenen verorten: auf der Ebene des Betriebs im Verhältnis zwischen Management und Arbeiterin und auf der Ebene des weiteren Produktionsnetzwerks, also insbesondere der transnationalen Lieferbeziehungen und des internationalen Wettbewerbs.

3.2 Racial capitalism

In den letzten Jahren hat die Forschung zu den Kontinuitäten kolonialer Ausbeutung und Enteignung von Arbeitskraft durch Versklavung und Rassifizierung in GPN neue Relevanz erfahren. Rassifizierung wird, wie bei Doris Liebscher (2022, S. 11), als Prozess der Hierarchisierung anhand rassistischer Unterscheidungsmerkmale verstanden, der RaceFootnote 3 als „generationell weitergegebene, in menschliche Körper eingeschriebene und natürliche Ungleichheit von Menschen“ impliziert (Liebscher 2022, S. 10). Rassifizierungsprozesse und ihre Rolle bei der Aufrechterhaltung von Diskriminierung sowie Verfestigung von Hierarchien zwischen Arbeiter:innen finden sich ebenfalls auf mehreren Ebenen der Produktionsnetzwerke.

Die Literatur zu racial capitalism blickt einige Jahrhunderte in die Geschichte zurück und stellt analytisch den Zusammenhang zwischen Versklavung und der Expansion einer globalen Produktionsweise fest, die auf der Ausbeutung der Arbeitskraft einer bestimmten Klasse basiert und zugleich Prozesse der Entmenschlichung dieser Gruppe voraussetzt, um sich die Erträge ihrer Produktion und die Ressourcen ihrer Territorien aneignen zu können (Frings 2019, S. 433; Go 2021, S. 43). Ein zentraler Beitrag dieser Debatte für unsere Diskussion besteht darin, die Verflechtung zwischen kapitalistischer Wertschöpfung und Überausbeutung durch rassistische Enteignung sichtbar zu machen. Kommen wir in die Gegenwart zurück, finden wir urbane und landwirtschaftliche Produktionsstätten, in denen weiterhin Situationen der „modernen Sklavenarbeit“ bzw. Zwangsarbeit, Menschenhandel und Schuldknechtschaft nachgewiesen werden (Berg et al. 2020; LeBaron und Gore 2020). Internationale Organisationen schätzen die Zahl der 2022 von Formen moderner Sklavenarbeit betroffenen Menschen auf etwa 50 Mio. weltweit, davon sind 28 Mio. von Zwangsarbeit und 22 Mio. von Zwangsehen betroffen (Internationale Arbeitsorganisation 2022). Trotz Bemühungen durch Staaten und internationale Institutionen um protektive Gesetzgebung basieren viele Produktionsnetzwerke auf der Überausbeutung von SchwarzenFootnote 4, indigenen und anders ethnifizierten Personen. Makroökonomische Studien erklären die Kontinuität dieser rassistischen Bedingungen für die Wertschöpfung mit der historischen Aufteilung der Arbeit und des Aufbaus industrieller Kapazitäten sowie der Initiativen zur Ausbildung von Arbeitskräften im Globalen Norden, während im Süden Entwicklungsinitiativen nicht von denselben konjunkturellen Bedingungen profitieren konnten, um gerechtere Arbeitsbedingungen in der Produktion zu gewährleisten (Scherrer 2022, S. 271ff.).

3.3 Zwischenfazit: intersektionale Ungleichheiten und Konflikte in GPN

Die feministische Literatur hat uns bereits gezeigt, dass GPN weiterhin eine kulturell geprägte männliche Dominanz reproduzieren, die materielle Auswirkungen für die Wertschöpfung und vor allem die Arbeitsbedingungen von Frauen in den Produktionsstätten hat. Der Hinweis der rassismuskritischen Literatur auf die Kontinuität kolonialer und rassifizierender Produktionsdynamiken in der globalen Wirtschaft bringt eine weitere Dimension in die Diskussion über Gewalt und Konflikt in der Produktion.

Führen wir diese Überlegungen zurück zu unserer Geschichte über Maria und die Arbeiterinnen in der Kaffeeplantage in Brasilien, so stellen wir fest, dass ihre besondere Verletzlichkeit auf mehr als nur einer Dimension der Benachteiligung basiert. Sie sind Arbeiterinnen, Migrierte, Schwarze, Frauen, Mütter, Personen ohne formale Schulbildung. Viele ihrer Familienmitglieder und ihre Kinder arbeiten auf denselben Plantagen. Die Gewalt, die sie tagtäglich erleben, ist permanent, wenn auch für Außenstehende nicht immer offensichtlich: Sie reicht von der untergeordneten Position dieser Arbeiter:innen als Tagelöhnerinnen über die ständige Bedrohung durch sexualisierte Gewalt bis hin zum fehlenden Rechtsschutz. Die Arbeiterinnen auf den Plantagen haben für ihre kollektive Interessenvertretung nur wenig Anbindung an Gewerkschaften, vor allem, da sie häufig informell beschäftigt sind. Viele haben keinen Arbeitsvertrag und verfügen nur über wenige Informationen über nationale und internationale Arbeitsrechte und -standards.

Die Erklärungen der Reproduktion von intersektionaler Ungleichheit sind also in der Forschung durchaus umfassend vorhanden. Gleichzeitig bleibt die Frage, ob und wie die Situation durch politische Maßnahmen verändert werden kann, oder wiederum, warum sie so stabil ist. In der auf problemlösende Policies gerichteten Forschung rückte der Fokus in den letzten Jahrzehnten auf internationale Arbeits- und Menschenrechte. Wir sehen auch die bereits umfassende internationale Anerkennung von Arbeits- und Menschenrechten im Unternehmenskontext, die auch Maria zugesprochen werden. Die Debatte um Wirtschaft und Menschenrechte mit ihren jüngsten Entwicklungen hin zu nationalen Lieferkettengesetzen weist auf diese zunehmende Anerkennung und ihre wachsende Verankerung in der Regulierung von GPN hin, vor allem in Europa (vgl. Schilling-Vacaflor und Lenschow 2023; Scheper 2017). Gleichzeitig sind historisch-materialistische Theorien des Rechts der Auffassung, dass das Recht keine vollständige Lösung des Problems darstellen kann, da es selbst wesentlich Ausdruck bestehender Machtverhältnisse ist (Baars 2019).

Um die Stabilität des Problems der intersektionalen Ungleichheiten in GPN besser zu verstehen, widmen wir uns im Folgenden näher der Rolle des Rechts. Wir vermeiden es dabei, die globale Produktion lediglich als einen Raum undurchdringlichen und unausweichlichen Zwangs zu verstehen, der schlicht durch das Recht manifestiert wird. Das Plädoyer, Konflikte (Scheper und Vestena 2020) und die Arbeitsverhältnisse (Sproll 2020) ins Zentrum der Debatten zu GPN zu rücken, erfordert aus unserer Sicht auch, die Widerständigkeit der Arbeiter:innen und ihre Handlungsfähigkeit in Betracht zu ziehen. Beschäftigte wehren sich ständig gegen Ungleichheiten und greifen auf verschiedene Strategien für die Anerkennung und Durchsetzung ihrer Rechte zurück, auch ohne unmittelbaren Bezug auf das positive Recht.

4 Das Verhältnis zwischen intersektionaler Gewalt und Recht in GPN

Die Analyse der Rolle des Rechts bei der Entstehung oder Lösung von Konflikten und Gewalt in der globalen Produktion ist bisher eher marginal, sie wird aber zunehmend sichtbarer Gegenstand der Forschung (Cutler und Lark 2022; Lorenzen 2022). Während der Staat lange primär als „Beobachter“ der Wertschöpfung betrachtet wurde (Mayer und Phillips 2017), wurde das Recht meist als „exogener Faktor“ (The IGLP Law and Global Production Working Group 2016) oder „ethische Kraft“ (Coe und Yeung 2019) und nicht als Hauptarena der Konflikte in GPN behandelt. Mayer und Phillips (2017) machen einen wichtigen Schritt in die Richtung einer Differenzierung dieser Analyse, indem sie die aktive Rolle des Staates bei der Gestaltung von Wertschöpfungsprozessen typologisch in fördernde, regulierende und verteilende Governance-Funktionen einteilen. Sie bauen damit auf Gereffi und Mayer (2006) auf, die betonen, dass Märkte bestimmte Formen der Governance erfordern.

Wir halten diesen analytischen Schritt für produktiv. Allerdings beschränkt sich die Rolle des Staates aus unserer Sicht nicht auf Funktionen, die sich vollständig als Governance beschreiben lassen. Zumindest erscheint uns dieser Begriff nicht eindeutig genug, um die politischen und damit auch konfliktiven Prozesse innerhalb von GPN zu erfassen. So wirkt vor allem hierbei das Recht nicht nur moderierend im Zusammenspiel von staatlichen und transnationalen Regulierungstätigkeiten, sondern auch konstituierend für transnationale Produktionsverhältnisse. Transnationale Unternehmen entstehen erst als Rechtspersonen und die rechtliche Kodifizierung von Eigentum und Unternehmenspraxis verleiht diesen Verhältnissen Existenz, insofern sie überhaupt erst als Rechtskonstrukte eine Beständigkeit in der Wirklichkeit erhalten (Baars 2019; Pistor 2021).Footnote 5 Cutler und Lark (2022, S. 720, eigene Übers.) argumentieren angesichts der Rolle rechtlicher Einhegung von GPN, dass das Recht versteckte Kosten für die globale Produktion mit sich bringt, die sich „in Bezug auf seine konstitutiven Auswirkungen auf die Verteilung von Macht (Wertschöpfung, Zuweisung von Rechten und Verantwortlichkeiten), Transparenz, Beteiligung und letztlich Rechenschaftspflicht“ manifestieren. Transnationale private Verträge und die damit ermöglichte rechtliche Absicherung von Transaktionen in Produktion, Logistik und Distribution sind zentrale Voraussetzungen für das alltägliche Funktionieren komplexer GPN. Gleichzeitig zeigt die Forschung in den industriellen Beziehungen und über die Organisierung kollektiver Interessen von Arbeiter:innen, dass nationale und transnationale rechtliche Instrumente immer wieder für das Erkämpfen menschenwürdiger Arbeitsbedingungen mobilisiert werden (McCann 1994). Wir halten diese beiden Formen des Rückgriffs auf das Recht in kapitalistischen GesellschaftenFootnote 6 für wesentlich und wollen dies im Folgenden anhand von zwei Ansätzen der materialistischen Rechtskritik näher erläutern.

4.1 Rechtsmobilisierung zur Verfestigung der bestehenden Ordnung: rechtliche Landnahme

Materialistische Rechtstheorien erforschen strukturelle Machtasymmetrien, Ungleichheiten und Konflikte in kapitalistischen Gesellschaften. Mit der Übersetzung des Konzepts der „Akkumulation durch Enteignung“ (Harvey 2005) oder „Landnahme“ (Dörre 2017a, b) für die Rechtstheorie arbeitet Guilherme Gonçalves (2019) heraus, wie das Recht permanente gewaltsame Prozesse der kapitalistischen Expansion ermöglicht und legitimiert. Anstatt das Recht als Äquivalent zur Wertform zu begreifen, die die Zirkulation von Waren durch die Verträge befördert (Paschukanis 2003, S. 109), unterstreicht Gonçalves in Anlehnung an Rosa Luxemburg vielmehr die Funktion des Rechts als Mittel zur Ausübung einer wiederkehrenden „ursprünglichen Gewalt“ (Gonçalves 2019, S. 110). Das Recht schaffe die Bedingungen für die Kommodifizierung nicht-kommodifizierter Räume, Gruppen und Waren, die erst aufgrund der rechtlichen Gewalt in die globale Produktion entlang der Logik des Tauschs und der Subsumtion des Rechts integriert werden. Ein geschichtlich anschauliches Beispiel ist die rechtliche Ausgestaltung der Enclosure-Bewegung in Großbritannien, also der privaten Einhegung von ehemals gemeinschaftlich genutztem Land (vgl. Marx und Engels 1988). Aus neuerer Zeit können wir etwa an die rechtliche Konstruktion internationalen geistigen Eigentums, von Wertpapieren oder digitalen Waren denken, die erst durch die rechtliche Kodifizierung als tauschbare Dinge entstehen (vgl. Pistor 2021). Der gleichsetzende Effekt des Rechts, der materiell unterschiedliche Subjekte als gleiche Rechtssubjekte in Verbindung setzt, ist für Gonçalves (2019, S. 110) von den Prozessen der rechtlichen Landnahme „systematisch untrennbar“. Ein Moment bedingt das andere, denn die rechtliche Gewalt spielt sich in Räumen „außerhalb“ der Wertform ab, insofern die Landnahme das dem „Äquivalententausch implizite Gleichheitsprinzip missachtet“, dessen Durchsetzung aber formell anstrebt.

Bei der rechtlichen Landnahme verkehren sich die allgemeinen Prinzipien der Rechts- und Wertformen in ihr Gegenteil. Eigentumsrechte werden zur „Aneignung fremden Eigentums“, Warentausch wird zur Grundlage der Ausbeutung, und Gleichheit vor dem Gesetz wird zur „Klassenherrschaft“, d. h. zur Dominanzform (Gonçalves 2019, S. 112). In Anlehnung an diesen Ansatz haben sich die Forschungen bisher den wenig expliziten Formen der Akkumulation durch Enteignung gewidmet. So haben Costa und Gonçalves (2020) die Bedeutung des internationalen Anleihensystems und der Finanzialisierung für die Schaffung von Räumen für die kapitalistische Expansion untersucht. Für die Autoren manifestieren sich die Widersprüche zwischen rechtlicher Gewalt und universellem Gleichheitsprinzip, also der Basis des modernen Rechts, in Form von Kontinuitäten der ursprünglichen Gewalt, sei es durch Kolonialpolitik und Kriege oder Gewalt gegen lokale sozial benachteiligte Bevölkerungen, die als „gefährliche Klassen“ vor allem in den Peripherien der großen Städte im globalen Süden gebrandmarkt werden.

In Anlehnung an die Systematik von Gonçalves (2019) lassen sich drei idealtypische Dynamiken der rechtlichen Landnahme in GPN herleiten. Die erste ist die symbolische Abwertung des „Anderen“. Das Recht diktiert Formen der Enteignung, die sich nicht nur durch physische Gewaltanwendung, sondern durch die Normalisierung patriarchaler und rassifizierender Lebensentwürfe manifestieren. Diese verstetigen sich ebenfalls in sozialen Diskriminierungsprinzipien in der globalen Produktion. Als paradigmatisches Beispiel können wir hier die historische Entstehung transnationaler Konzerne als Unternehmen kolonialer Ausbeutung nennen. Im rechtlichen Konstrukt des transnationalen Konzerns als Rechtsperson werden Eigentum und Unternehmung getrennt. Das Instrument der beschränkten Haftung gilt dabei als wesentliche Säule für die Aufrechterhaltung von inter- und transnationalen Asymmetrien in der Produktion (vgl. Saage-Maaß 2021, S. 35). Auch das ‚Abschirmen‘ des Vermögens einzelner Unternehmensteile vom Zugriff innerhalb eines Konzerns lässt sich als historisch gewachsenes, rechtliches Instrument zur Absicherung von Reichtum und Position verstehen (vgl. Baars 2019, S. 55f).

Die zweite Dynamik ist die Privatisierung der Commons und der gemeinsamen Güter. Bei Costa und Gonçalves (2020) geht es hierbei um die Enteignung von Gemeinschaften durch Vertreibung und Besitznahme von Territorien durch Unternehmen, die durch die Finanzialisierung und Verbriefung internationaler Investitionen unterstützt werden. Zwangsräumungen und die ländliche Konzentration im Globalen Süden sind Phänomene, auf die in der kritischen Literatur zu GPN bereits verwiesen wird (Fischer 2020; Fischer et al. 2021). Sie verschärft die Ausbeutung prekärer Arbeiter:innen. Enteignet von ihrem ursprünglichen Lebens- und Arbeitsraum, müssen sie ihre Arbeitskraft unter prekären Bedingungen auf dem Markt zur Verfügung stellen. Die Etablierung von Sonderwirtschaftszonen, die gewaltsame Aneignung von Land für Plantagen oder Bergbauprojekte sowie die Abgrenzung städtischer Gebiete mit besonderen Sicherheitsvorkehrungen legen fest, welche Bevölkerungsgruppen sich in welchen Räumen bewegen dürfen. Dies stellt nicht nur einen rechtlich legitimierten Eingriff in die Bewegungsfreiheit dar, sondern erschwert auch die Möglichkeiten der kollektiven Arbeitsorganisierung.

Die dritte Dynamik ist mit der zweiten eng verbunden und bezieht sich auf die Prozesse der Disziplinierung von Arbeiter:innen als Arbeitskraft. Die Kapitalakkumulation erfordert die Ausbildung der Fachexpertise und Internalisierung eines Arbeitsethos (Dörre 2017a). Darüber hinaus sind Kontrolle und Kriminalisierung von Widerstand zentrale Voraussetzungen für eine ungestörte Produktion und Kapitalakkumulation (Thünken et al. 2020). Das Strafrecht und der politische Einsatz seiner Instrumente gegen organisierte Arbeiter:innen und ihre Vertreter:innen werden in diesem Zusammenhang ein entscheidendes Moment der kapitalistischen Wertschöpfung. Die Angst, Repressalien zu erleiden, wenn sie Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen anprangern, erschwert es den Arbeiter:innen, sich gegen ausbeuterische und gewalttätige Bedingungen zu organisieren, wie uns die Arbeiterinnen auf der Kaffeeplantage in Brasilien ebenfalls berichteten. Das Strafrecht oder die bloße Androhung der Kriminalisierung sind gängige Instrumente, die gegen Beschäftigte eingesetzt werden, ein Trend, der sich nach der Covid-19-Pandemie nicht nur im globalen Süden verstärkt hat (Scheper und Vestena 2020).

Die Debatte um rechtliche Landnahme bietet also eine dreidimensionale Folie für die Analyse idealtypischer Verläufe in der globalen Wirtschaft, die eine auf Akkumulation durch Enteignung basierende Wertschöpfung ermöglicht. In Anlehnung an dieses Modell schlagen wir vor, die drei Momente, die den Prozess der Kapitalakkumulation durch rechtliche Gewalt gleichzeitig prägen, als Ansatzpunkte für eine Kritik der Rolle des Rechts in Wertschöpfungsprozessen zu verstehen. Der Ansatz der rechtlichen Landnahme trägt dazu bei, die repressive Rolle des Rechts durch Prozesse der Disziplinierung, Aneignung und Kriminalisierung näher zu beleuchten. Er ergänzt damit traditionelle materialistische Ansätze um ein Verständnis der Reproduktion von Dominanzverhältnissen durch Recht in der globalen Wirtschaft, das über die hierarchische Arbeitsteilung hinausgeht.

In Anbetracht der höchst umstrittenen Natur von Ungleichheiten, die immer wieder von Arbeiter:innen, ihren Netzwerken und Gewerkschaften nicht zuletzt auch durch rechtliche Mittel angefochten werden, scheint uns aber diese Perspektive auf das Recht allein unzureichend zu sein, da sie das strategische Potenzial und die Umstrittenheit des juristischen Terrains unterbelichtet lässt. Auch wenn das Recht Gewaltformen in der globalen Produktion reproduziert, beziehen sich Arbeiter:innen stets auf die Grammatik der Menschen- und Arbeitsrechte sowie seine Instrumente, um prekären Bedingungen, Ausschlüssen und Gewalt in der Produktion entgegenzuwirken. Dieser zweiten Dimension des Rechts wollen wir uns im nächsten Abschnitt widmen.

4.2 Rechtsmobilisierung zur Anfechtung der bestehenden Ordnung: Rechtskämpfe in GPN

Mit Rekurs auf das Recht skandalisieren tagtäglich Arbeiter:innen und transnationale aktivistische Netzwerke die strukturellen Machtasymmetrien in GPN und versuchen, diese Hierarchien zu verschieben (vgl. Saage-Maaß 2021).Footnote 7 Die rechtssoziologische Forschung zur Rechtsmobilisierung ist eben von diesen Erfahrungen geprägt. Historisch ist sie entstanden, um Mobilisierungen des bestehenden Rechts für die Abschaffung von Diskriminierungen und damit einhergehenden sozialen Ungleichheiten, wie im Beispiel des Civil Rights Movement in den USA oder des Kastensystems in Indien, zu ergründen (Kaleck 2018; Kannabiran 2012). Politische Kämpfe der feministischen Bewegung, von Umweltaktivist:innen und indigenen Völkern haben die Grundlage für eine Tradition gelegt, die die Bedingungen für eine produktive Verflechtung politischer und rechtlicher Kämpfe untersucht (vgl. u. a. Fuchs 2019). Die Forschung hat einerseits gezeigt, dass die rechtlichen Ergebnisse von Klagen strategische Rechtspositionen für sozial benachteiligte Gruppen sichern können. Durch sein Selbstverwirklichungspotential speichert das Recht Argumentationsfiguren vergangener Auseinandersetzungen, die in späteren Rechtskämpfen zum Vorteil von bisher schwächeren Gruppen genutzt werden können (Buckel und Fischer-Lescano 2007). Andererseits hat die rechtssoziologische Forschung zur Rechtsmobilisierung auch darauf hingewiesen, dass ein juristischer Erfolg nur bedingt das Ziel einer kollektiven Mobilisierung sein sollte. Denn rechtliche Entscheidungen sichern Rechtspositionen nur vorläufig und werden stets Gegenstand von weiteren Auseinandersetzungen (vgl. Pichl 2021; Vestena 2022). Darüber hinaus warnt die feministische Kritik des Rechts vor dem ambivalenten Charakter von Rechtserfolgen: Auch wenn Frauen, die häuslicher Gewalt oder Diskriminierung in der Arbeit ausgesetzt sind, Schutz durch rechtliche Instrumente angeboten wird, perpetuieren sich in der rechtlichen Verarbeitung dieser Konflikte zweigeschlechtliche Hierarchien durch Zuschreibungen und Verfestigungen von Geschlechterrollen (vgl. Holzleithner 2008).

Angesichts dieser Kontingenz halten wir es für produktiv, das Recht als Arena für die Artikulation kollektiver Interessen zu verstehen, die wiederum stets widersprüchlich ist. Das Recht dient strategisch der Austragung politischer Auseinandersetzungen, indem es als Plattform für die Gewinnung von Zuspruch für eine politische Position genutzt werden kann. Rechtskämpfe sind selten der Endpunkt politischer Auseinandersetzungen. Sie ermöglichen neue Zugänge, das Erproben neuer Argumentationslinien und die Entwicklung neuer Strategien (vgl. Lobel 2004; Buckel 2008).

Hegemonietheoretische Interpretationen des Rechts haben sich dabei vorwiegend solchen Projekten gewidmet, die über das Recht versucht haben, gegen Dominanzverhältnisse und Ungleichheiten vorzugehen, darunter auch gegen die Hierarchien und Machtasymmetrien in der globalen Wirtschaft. Unter dem Konzept der Rechtskämpfe wird vor allem der Widerstand mittels des Rechts hervorgehoben (Buckel et al. 2024, S. 26). Es ist in dieser Perspektive aber nicht ausgeschlossen, dass das Recht immer wieder auch für herrschaftsstabilisierende Ziele genutzt wird, wie wir im Hinblick auf die rechtliche Landnahme ausgeführt haben oder wie aktuelle Forschungen zu autoritären Tendenzen im Recht ebenfalls verdeutlichen (Austermann et al. 2022). Zudem zeigt die rechtssoziologische Forschung zu Anti-Diskriminierungsgesetzen in den USA, wie sich das Recht auch verändert, wenn es in Compliance-Abteilungen großer Unternehmen ‚umgesetzt‘ wird (vgl. Edelman 2016). Rechtsvorschriften werden auch innerhalb großer Organisationen zum Gegenstand von Auseinandersetzungen (z. B. Nachhaltigkeitsabteilung vs. Compliance) und unterliegen Auslegungskämpfen, deren Ergebnis sich wiederum in das Recht systemisch einschreibt. Edelman spricht hier von einem mehrdeutigen Prozess der Verrechtlichung von Unternehmen einerseits und der Managerialisierung des Rechts andererseits. Es gibt außerdem empirische Hinweise darauf, dass vergleichbare, inkrementelle Veränderungsprozesse des Rechts, vor allem im Bereich arbeitsrechtlicher Standards, auch in GPN stattfinden (Fransen und LeBaron 2019; Monciardini et al. 2021), doch ist hier weitere Forschung notwendig.

Das Recht als politisches Instrument ist also durch die Ambivalenz gekennzeichnet, dass es sowohl zur Machtverfestigung dient, als auch Grundlage und Mittel für Machtanfechtungen darstellt. Wir sehen genau in der Betonung dieser Ambivalenz des Rechts einen analytischen Mehrwert für die Untersuchung von Konflikten und Gewalt in GPN. Die eigene Logik des Rechts, die auf dem Gebot der Gleichheit für alle basiert, bringt hier zumindest als Versprechen des Rechtsstaates eine Möglichkeit der Mobilisierung für alle hervor. Auf die universellen Prinzipien, die in die Grammatik des Rechts eingeschrieben sind, können sich daher auch Akteur:innen mit wenigen Ressourcen zur Vertretung ihrer Interessen beziehen, um dadurch ihre strategischen Positionen in breiteren politischen Auseinandersetzungen zu verbessern (Buckel und Fischer-Lescano 2007).

Die strategische Nutzung des Rechts ist allerdings anspruchsvoll. Die Technokratie der Rechtsexpertise und -sprache erschwert den Zugang zum Recht für Laien (Vestena 2022, S. 235ff). Akteur:innen mit wenigen Ressourcen, unter ihnen Arbeiter:innen, sind auf die Unterstützung durch engagierte Anwält:innen, NGOs und Gewerkschaften angewiesen. Diese haben wiederum nicht immer die notwendigen Ressourcen, um Arbeiter:innen in ihren Kämpfen zu unterstützen oder werden ihrerseits im Kontext fehlender rechtsstaatlicher Garantien marginalisiert (Buckel et al. 2024). Vor dem Hintergrund historischer Landnahmeprozesse sind sie auch bereits mit umfassenden Ausgrenzungen und potenzieller Kriminalisierung durch das Recht konfrontiert. Wenn sie aber die notwendigen Ressourcen mobilisieren können, so kann das Recht mit Rekurs auf die damit verbundene politische Legitimität von rechtlich gesicherten Positionen neue Handlungsspielräume eröffnen. Das Regelwerk der internationalen Menschen- und Arbeitsrechte hat in den letzten Jahren die Front für die rechtliche Anfechtung von Ungleichheiten erweitert und die kollektive Mobilisierung im Rahmen von Kampagnen für die Einhaltung sozialer Standards in der globalen Wirtschaft verstärkt (vgl. Zumbansen 2021, S. 5). In den letzten Jahren etabliert sich mit dem Aufkommen von nationalen Sorgfaltspflichtengesetzen und der Lieferketten-Richtlinie der EU (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD) ein rechtlich verändertes Terrain, das Ergebnis von Mobilisierungen ist, die stets auf den universellen Anspruch der Menschenrechte auch gegenüber mächtigen Wirtschaftsakteuren verwiesen haben und die eine neue Dynamik in die Rechtskämpfe entlang transnationaler Lieferketten gebracht haben (Lorenzen 2022; Scheper et al. 2023). In diesen neuen Gesetzen zeigt sich zum einen, dass die Rechtsmobilisierung sowohl innerhalb des bestehenden Rechts Veränderung bewirken kann als auch die Grenzen des Rechts verschieben kann. So etablieren heutige Lieferkettengesetze, wie sie bereits in Deutschland und Frankreich existieren, eine gesetzliche Sorgfaltspflicht, die noch vor wenigen Jahren im Rahmen der Diskussionen um ein sich entwickelndes internationales Soft Law als eine lediglich durch ‚gesellschaftliche Erwartungen‘ bestimmte Verantwortung bezeichnet wurde (United Nations Human Rights Council 2008, § 54). Zum anderen zeigen die Gesetze auch beispielhaft, dass die Rechtsmobilisierung nicht einseitig stattfindet, sondern stets Gegenstand gesellschaftlicher Kämpfe ist. So sind in die Lieferkettengesetze in umfassender Weise auch Interessen von Unternehmensverbänden eingeschrieben (vgl. hierzu Scheper, im Erscheinen).

5 Anhaltende intersektionale Ungleichheiten auf dem rechtlichen Terrain der GPN

Unser theoretischer Analyserahmen konzentriert sich auf die Gegenüberstellung von rechtlicher Landnahme und Rechtskämpfen als die beiden Seiten der Rechtsmobilisierung: Auf der einen Seite sehen wir die institutionelle Kodifizierung von materiellen Bedingungen der Kapitalakkumulation, auf der anderen Seite betonen wir die Eigenlogik des Rechts, die immer wieder politische Interventionen im oder durch das Recht ermöglicht.

Wir möchten den Nutzen dieses Rahmens in diesem letzten Abschnitt plausibel machen, indem wir unsere theoretischen Überlegungen anhand der einleitenden Vignette rekapitulieren. Da eine umfassende empirische Analyse der rechtlichen Situation von Maria den Rahmen des Artikels überschreiten würde und es uns hier vorwiegend um die Verdeutlichung unseres Analyserahmens geht, beschränken wir die Erläuterungen auf einige zentrale Punkte. Diese Punkte betonen vor allem die Perpetuierung von Ungleichheit durch das Recht. Unser Ausgangspunkt der Vignette über eine Situation ausgeprägter Benachteiligung einer Arbeiterin gibt unserer Betrachtung notwendigerweise diese Tendenz. Wir reflektieren anschließend, inwiefern wir dennoch auch die Dimension der Rechtskämpfe – die Mobilisierung des Rechts gegen herrschende Machtverhältnisse – für einen relevanten Aspekt halten. Wir gehen hierfür abschließend kurz auf die derzeitigen politischen Mobilisierungen und institutionellen Entwicklungen im Feld ‚Wirtschaft und Menschenrechte‘ ein, die primär von der Hoffnung geprägt sind, gerade durch das Recht Ermächtigungen von Menschen gegenüber transnationalen Unternehmen zu erreichen. Unser Rahmen betont dabei den politischen Charakter dieser Entwicklungen: Neue Gesetze in diesem Feld sind kein Ende einer politischen Auseinandersetzung, sondern eine Verschiebung auf einem weiterhin umstrittenen rechtlichen Terrain.

Wenn wir Marias marginalisierte Position in der Gesellschaft betrachten – als Schwarze, Arbeitsmigrantin, mit kaum anerkannten Arbeitsqualifikationen und geringer formaler Bildung – könnten wir diese Ausgangslage intersektionaler Ungleichheit in der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft zunächst als ein primär sozio-kulturelles Phänomen beschreiben: Maria wird in einer historisch gewachsenen patriarchalen und postkolonialen Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht benachteiligt. Ergänzen können wir dies durch einen anderen Erklärungsansatz, der die Notwendigkeiten der Kapitalakkumulation in den Vordergrund rückt, wie wir oben umfassend erläutert haben. Dann würden wir vor allem die besonderen materiellen Bedingungen betonen, einschließlich der von uns erläuterten Mythen der weiblichen Produktivität, der Entbehrlichkeit und des Ausschlusses der Reproduktion aus der ökonomischen Sphäre, und damit die besonderen Voraussetzungen für die (Über‑)Ausbeutung von Marias Arbeitskraft. Beide Erklärungsansätze sind hilfreich, um Faktoren der intersektionalen Gewalt zu verstehen. Beide können jedoch die Stabilisierung und die Persistenz dieser Situation nicht vollständig erklären. Dies ist aber deshalb wichtig, da angesichts der formalen Gleichheit vor dem Gesetz sowie grundlegender internationaler oder nationaler Arbeitsrechte und Gewerkschaftsfreiheiten, die heute etabliert sind, sich durchaus die Frage stellt, warum die Benachteiligungen so starr sind und welche Wege für ihre Anfechtung erfolgversprechend sein könnten. Um die Reproduktion dieser Verhältnisse weiter zu ergründen, haben wir die Bedeutung der Ambivalenz des Rechts als ergänzendes analytisches Element vorgeschlagen.

Diesem Rahmen folgend, suchen wir zunächst nach Elementen des historischen, rechtlichen Landnahmeprozesses. Dies erfordert die historische Rekonstruktion der rechtlichen Bedingungen, die Marias Situation vorausgehen. Welche rechtlichen Konstrukte kodieren die wesentlichen Bedingungen, unter denen Unternehmen aus der Situation der Arbeiterin anhaltend Profit generieren können und unter denen Maria selbst mehr oder weniger handlungsfähig in Bezug auf das Angebot oder die Aushandlung des Werts ihrer Arbeitskraft gegenüber Unternehmen ist?

Diesem Gedanken folgend können wir einige Aspekte unserer Vignette hinsichtlich ihrer rechtlichen Voraussetzungen rekapitulieren. Zunächst stellen die Institution des transnationalen Unternehmens und die Struktur des Produktionsnetzwerks wesentliche Kontexte zur Erklärung des Phänomens der anhaltenden intersektionalen Gewalt dar. Ebenso lassen sich die intersektional ungleiche Arbeitsteilung im Kaffeeproduktionsnetzwerk, die Prekarität und Informalität der Arbeit, die Existenz des unbezahlten Anteils der (Reproduktions-)arbeit, die geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung sowie die Phänomene der Wanderarbeit, der Zwangs- und Kinderarbeit in einen unmittelbaren Bezug zum historisch gewachsenen Recht mit seinen spezifischen Grenzen stellen.

5.1 Transnationale Unternehmen als handlungsmächtige Treiber des Netzwerks

Wie in der Sektion zu rechtlicher Landnahme eingeführt, können transnationale Unternehmen als ein rechtliches Konstrukt verstanden werden – oder als eine rechtliche ‚Imagination‘ (vgl. Bakan 2019) –, das bzw. die der Herausbildung von Produktionsnetzwerken und der damit verbundenen Kalkulation von Eigentums‑, Profit- und Risikoabwägungen vorausgeht. Da das Produktionsnetzwerk selbst eine Heuristik darstellt, können wir es aber durchaus als ein Konglomerat von rechtlichen Konstrukten und ökonomischen Praktiken in einem Kontext geographischer, sozialer und kultureller Diversität verstehen (Tsing 2009; Scheper 2022). Dies ist durch umfassende Prozesse der rechtlichen Landnahme strukturiert, etwa durch internationales Handelsrecht, Eigentumsrechte und damit verbundene ökonomische Prozesse globaler Arbeitsteilung (Saage-Maaß 2021).

Für die Bedingungen, unter denen die transnationale Wertschöpfung entlang des Produktionsnetzwerks stattfindet, spielt die Deterritorialisierung der Produktion, die damit verbundene rechtliche Fragmentierung und die weitgehende Unabhängigkeit der einzelnen Unternehmen entlang des Netzwerks eine Schlüsselrolle. Die rechtliche Trennung von Eigentum und unternehmerischer Tätigkeit bzw. Verantwortung erlaubt gleichzeitig die weitere Konsolidierung der unternehmerischen Macht, die durch Zentralisierung und Oligopole auf dem internationalen Kaffeemarkt vor allem auf Käuferseite der transnationalen Konzerne in OECD-Staaten liegt. Diese Machtkonzentration schafft starke Abhängigkeiten unter den Lieferanten in Minas Gerais und trägt damit zur Ausbeutung Marias bei. Sie selbst hat in dieser Struktur keinen Zugang zu Informationen darüber, wer auf welche Weise von ihrer Arbeit profitiert. Darüber hinaus ermöglicht die weit verbreitete Straflosigkeit der transnational agierenden Unternehmen (Guamán 2019), dass die Ausbeutung von Marias Arbeitskraft und die damit verbundenen Arbeitsrechtsverletzungen ohne nennenswerte Konsequenzen fortbestehen können.

Bei den Abendnachrichten erfährt sie täglich den Preis eines Kaffeesacks auf dem Exportmarkt. Für den Kaffee, den sie erntet, verdient sie immer weniger, sodass sie sich fragt, ob sich diese Erntesaison noch lohnen wird. Gleichzeitig erfährt sie immer wieder, dass der brasilianische Kaffee bei transnationalen Unternehmen überall in der Welt verkauft und immer beliebter wird. Maria fragt sich stets, wo, von wem und für welchen Endpreis die Kaffeebohnen verkauft werden, die sie an ihren langen Arbeitstagen erntet.

Für diese Strukturen sind transnationale Unternehmen im Kaffeesektor weiterhin auf bestimmte rechtliche Bedingungen angewiesen, um ihre Geschäftsmodelle aufrechtzuerhalten und weiterhin vergleichsweise kostengünstige Kaffeebohnen aus Regionen wie Minas Gerais zu beziehen. Ausgehend von der Literatur über globale Wertschöpfungsketten und globale Warenketten sowie den Erkenntnissen über die geschlechtsspezifischen wie rassifizierten Muster der Ausbeutung von Arbeit in GPN können wir weitere wichtige Mechanismen aufzeigen, für die das Recht wesentlich verfestigend wirkt.

5.2 Intersektional ungleiche Arbeitsteilung

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung innerhalb globaler Produktionsnetzwerke führt häufig zu einer beruflichen Segregation, bei der Frauen vor allem in schlecht bezahlten und prekären Positionen tätig sind. Diese Segregation wird durch rassistische Dynamiken noch verschärft. Frauen wie Maria arbeiten in der Regel in der saisonalen Ernte, manchmal seit ihrer Kindheit, und haben keinen Zugang zu besser bezahlten Positionen im Kaffeesektor oder in anderen Sektoren.

Maria, eine Wanderarbeiterin aus dem Süden Bahias, wacht noch vor Sonnenaufgang auf. Sie kennt die Plantagenarbeit seit ihrer Kindheit. Wie viele Arbeiterinnen hier hat sie früher ihre Mutter in die Plantagen begleitet und ihr bei der Arbeit geholfen. Wenn Inspektoren kamen, haben sich die Kinder versteckt. Wie vielen anderen war auch Maria der Weg zu formaler Bildung versperrt.

5.3 Informalität und Prekarität

Informelle und prekäre Arbeitsverhältnisse sind in den als unqualifiziert geltenden Teilen des Kaffeenetzwerks weit verbreitet, wobei marginalisierte Gruppen in informellen und schlecht bezahlten Positionen überproportional vertreten sind. Die rechtlichen Bedingungen, die flexible Beschäftigungspraktiken und die schwache Durchsetzung von bestehenden Arbeitsrechten sowie des damit verbundenen Arbeitsschutzes tragen zur Perpetuierung von Informalität und Prekarität bei, die Arbeiterinnen wie Maria erleben.

Die Arbeiterinnen haben bei Verletzungen keinen Rechtsschutz und keine Möglichkeit Kompensationen zu verhandeln.

(…) Die persönliche Schutzausrüstung, die unerlässlich bei der Ernte ist, musste Maria selbst kaufen.

(…) Durch den Arbeitstag hindurch gibt es kaum Pausen.

(…) Sich gegen solche Praktiken zur Wehr zu setzen, ist allerdings kaum möglich und gefährlich, denn wer sich widersetzt, riskiert den Vorwurf des Aufruhrs und muss mit Konsequenzen seitens des Vorarbeiters und des Arbeitgebers rechnen.

5.4 Unbezahlte Arbeit und Reproduktionsarbeit

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung geht über den formellen Arbeitsplatz hinaus und umfasst auch unbezahlte Reproduktionsarbeit, wie Kinderbetreuung und Haushaltspflichten. Die rassistische Dynamik überschneidet sich mit der geschlechtsspezifischen und belastet Frauen wie Maria zusätzlich, da mit ihr besondere Erwartungen bezüglich der Erbringung von Reproduktionsarbeit einhergehen (einschließlich eigener Erwartungen, etwa ihren Kindern ein besseres Leben unter bestehenden Bedingungen ermöglichen zu können). Die rechtlichen Rahmenbedingungen erkennen diese Arbeit oft nicht an bzw. werten sie durch eine formale Gleichberechtigung unter formal Beschäftigten nicht entsprechend auf, wodurch rassistische und geschlechtsspezifische Ungleichheiten verfestigt werden.

Sie hofft jeden Tag darauf, dass die Kinderbetreuung funktioniert, da sie andernfalls ihre Kinder mit auf die Plantagen nehmen muss, so wie früher ihre Mutter. Sie versucht das zu vermeiden, denn sie weiß, dass die Schulbildung eine Voraussetzung dafür ist, dass ihre Kinder später andere Handlungsoptionen haben.

5.5 Geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung

Frauen in den Kaffeeplantagen sind verschiedenen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung ausgesetzt. Gesetzliche Mechanismen im Zusammenhang mit der Sicherheit am Arbeitsplatz, der Verhinderung sexueller Belästigung und effektive Beschwerdemechanismen müssten das besondere Ausgesetzsein in den Plantagen berücksichtigen, um einen wirksamen Schutz für Arbeitnehmerinnen wie Maria zu gewährleisten. Hier bleibt aber das Recht oft unerreichbar für Arbeiterinnen, selbst wenn es formal existiert. Auch hier steht die Annahme formaler Gleichheit zwischen Arbeiterin und Arbeitgeber einer faktischen Unterlegenheit und starken Abhängigkeit gegenüber.

Wenn eine Möglichkeit des Toilettengangs besteht, dann ist er häufig begleitet von Angst, dass Vorarbeiter übergriffig werden, da Arbeiterinnen in dieser Situation allein sind.

5.6 Wanderarbeit, Kinderarbeit und Zwangsarbeit

Wander‑, Kinder- und Zwangsarbeit sind im globalen Kaffeeproduktionsnetzwerk ebenfalls verbreitet, und Frauen tragen oft die Hauptlast dieser ausbeuterischen Praktiken. Rechtliche Mechanismen, die Migration, Anwerbung und Arbeitsrechte regeln, berücksichtigen jedoch die geschlechtsspezifischen und rassistischen Dimensionen der Ausbeutung meist nicht.

Maria, eine Wanderarbeiterin aus dem Süden Bahias, (…)

(…) Wie viele Arbeiterinnen hier hat sie früher ihre Mutter in die Plantagen begleitet und ihr bei der Arbeit geholfen.

(…) Sie hofft jeden Tag darauf, dass die Kinderbetreuung funktioniert, da sie andernfalls ihre Kinder mit in die Plantagen nehmen muss.

Wir könnten die rechtliche Landnahme an dieser Stelle auf der Ebene nationaler Institutionen weiterdenken, wollen es jedoch bei einigen Stichworten belassen, um den Rahmen der Betrachtung nicht zu sprengen: Hierzu gehört etwa die schlechte Schulbildung, die trotz des Rechts auf Bildung für alle die de facto bestehenden Barrieren für sozial marginalisierte Gruppen widerspiegelt. Ebenso gehört dazu die Unsichtbarkeit von Marias Doppelbelastung, da weder ihre Reproduktionsarbeit (Kindererziehung, Arbeit im Haushalt etc.), noch ihre Arbeit in der Kaffeeproduktion aufgrund des fehlenden Arbeitsvertrages formal erfasst wird. Infolgedessen wird Maria schlecht bezahlt, muss lange Arbeitszeiten in Kauf nehmen und hat keinen Schutz für ihre Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Darüber hinaus wird ihre Benachteiligung durch den fehlenden Zugang zu einer wirksamen gewerkschaftlichen Organisation und kollektiven Vertretung weiter verschärft.

Durch die Analyse der historisch gewachsenen rechtlichen Bedingungen können wir also beginnen, die zugrundeliegenden Mechanismen zu entschlüsseln, die Marias Situation aufrechterhalten. Es wird deutlich, dass das Recht durch unterschiedliche strukturierende Prinzipien der globalen Wirtschaft und des transnationalen Unternehmens zum Fortbestehen dieser Bedingungen beiträgt.

5.7 Rechtliche Mobilisierung gegen intersektional ungleiche Ausbeutung in GPN?

Diese historisch ungleiche Prägung des Rechts – und eben nicht die Annahme von Regulierungs- oder Governancelücken – sollten wir somit auch zum Ausgangspunkt nehmen, um über Möglichkeiten der Mobilisierung des Rechts im Hinblick auf die Verbesserung von Marias Situation nachzudenken. Damit kommen wir zur Rekapitulation der zweiten Dimension unseres Rahmens, die sich in unserer Erzählung über Maria nicht erkennen lässt, denn sie hat das Recht nicht für eine Verbesserung ihrer Situation nutzen können, wobei während der Interviews in Minas Gerais häufig Unzufriedenheit mit den Zuständen ausgedruckt wurde. Wenn wir darüber hinaus den Diskurs um Rechte in transnationalen Lieferketten und Produktionsnetzwerken und im weiteren Sinne um ‚Unternehmen und Menschenrechte‘ in den letzten Jahrzehnten betrachten, so entsteht ein anderes Bild des Rechts, als das einer reinen Machtverfestigungsmaschine. Das Recht wird hier vor allem als Lösungsweg für Maria und andere gesehen, als Weg zu ihrer Ermächtigung und zur Realisierung von Ansprüchen gegenüber Arbeitgebenden und sogar transnationalen Unternehmen im Produktionsnetzwerk. Allein in Deutschland hatten sich in der ‚Initiative Lieferkettengesetz‘Footnote 8 zeitweise mehr als 130 zivilgesellschaftliche Organisationen zusammengeschlossen, um zur Verabschiedung eines rechtlichen Instrumentariums zu mobilisieren, das gegen eine übermäßige Ausbeutung von Menschen und Natur durch transnationale Lieferketten eingesetzt werden kann.

Diese Formen der Mobilisierung folgen offensichtlich einem Versprechen des Rechts, nämlich dem Gebot der Gleichheit aller vor dem Recht, und der Möglichkeit, dies in rechtlichen Institutionen gerade auch gegen übermächtige transnationale Konzernnetzwerke zu erstreiten. Aber unser Rahmen erfordert hier eine differenzierte Betrachtung: Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die international als eine normative Vorlage für die gegenwärtige Institutionalisierung nationaler Lieferkettengesetze zu sehen sind, sowie die Lieferkettengesetze selbst sind eben keine abschließenden Antworten und rechtlichen Lösungen für ein vermeintlich außerrechtliches Problem. Vielmehr sind sie Meilensteine in der rechtlichen Auseinandersetzung selbst bzw. Zwischenergebnisse der Mobilisierung für und um das Recht aus unterschiedlichen Perspektiven. So können wir etwa das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz hinsichtlich diverser Elemente der Rechtsmobilisierung durchaus als Ergebnis von Rechtskämpfen für Menschen wie Maria betrachten. Diese Norm enthält aber gleichzeitig viele Zugeständnisse an bestehende Verhältnisse – sie ist Bestandteil eines Konfliktfelds. Auch ist das Gesetz vor allem durch Akteur:innen im Globalen Norden verhandelt und institutionalisiert worden und damit nicht frei von Vorwürfen neo-kolonialer Regulierung. Auch nach Inkrafttreten des Gesetzes im Januar 2023 sind die Auseinandersetzungen um die vielen unbestimmten Rechtsbegriffe und die Rechtspraxis entlang transnationaler Lieferketten zahlreich und unentschieden. Wie sich Marias Situation durch diese Entwicklungen ändern wird, ist eine offene Frage. Allerdings können wir durchaus beobachten, dass in den letzten Dekaden inkrementelle Veränderungen im Bereich der Regulierung von Arbeitsrechten und sozialen Standards in der globalen Wirtschaft festzustellen sind, wie zum Beispiel im Rahmen der Bekämpfung moderner Sklavenarbeit oder der transnationalen Verantwortung von Unternehmen in globalen Lieferketten (LeBaron und Gore 2020; Berg et al. 2020), die jüngst durch die CSDDD der EU rechtlich konkretisiert und gegenüber bestehenden nationalen Lieferkettengesetzen erweitert wurde (vgl. z. B. Gustafsson et al. 2023). Wir möchten diese Entwicklungen unterstreichen und vor allem auch zu weiterer Forschung aufrufen, um die derzeitigen Verschiebungen und Dynamiken im Feld ‚Wirtschaft und Menschenrechte‘ als Teil von Rechtskämpfen um die Ausgestaltung globaler Wertschöpfungsprozesse zu verstehen.

6 Fazit

Der Fall von Maria verdeutlicht, dass das Recht die grundlegende Problematik der intersektionalen Ungleichheiten in GPN nicht allein verursacht, aber durchaus eine hervorgehobene Rolle bei der Reproduktion und Verfestigung dieser Situation spielt. Intersektionale Gewalt und Ungleichheit in GPN sind keine Phänomene an den Rändern oder jenseits der rechtlichen Ordnung, sondern sie sind vielmehr Ausdruck dieser Ordnung.

Bisher fehlt es an einer umfassenden Betrachtung der politischen Rolle des Rechts im Kontext transnationaler Konflikte um Arbeit und Produktion. Unser Artikel trägt dazu bei, diese Lücke konzeptionell zu schließen, indem wir die Ambivalenz und Umstrittenheit des Rechts in den Mittelpunkt rücken. Ausgehend von einem weiten Verständnis von Gewalt und Konflikt aus Sicht der Friedens- und Konfliktforschung haben wir hierfür die Forschung zu globaler Produktion und Wertschöpfung in einen Dialog mit der materialistischen Rechtstheorie gebracht. Unsere so systematisierte Betrachtung des Falls von Maria als Ergebnis weitgehender rechtlicher Landnahmeprozesse ermöglicht uns ein besseres Verständnis ihrer Situation – nicht als schlichtes Scheitern oder als Abwesenheit von Recht, sondern auch als Ergebnis von konstituierenden rechtlichen Dynamiken der globalen Wirtschaft. Gleichzeitig haben wir abschließend auf die laufenden juristischen Auseinandersetzungen – die Rechtskämpfe – um Lieferkettengesetze und eine stärkere juristische Mobilisierung im Namen von Arbeiterinnen wie Maria hingewiesen, die bestehende Grenzen zwischen unterschiedlichen Ausprägungen des Rechts (insbesondere zwischen internationalem Soft Law und nationalen Gesetzen) verschoben haben. Sie haben das Potenzial, die Situation der Kaffeearbeiterinnen in Minas Gerais in Zukunft zu verbessern, aber ihre Auswirkungen sind noch offen.

Das Recht wird nur dann sichtbar zu einem Kampfplatz, wenn es entsprechend mobilisiert wird, um Veränderungen in bestehenden Machtverhältnissen zu erzeugen. Gerade mit Blick auf die umfassenden historischen Prozesse, die heutigen GPN vorausgehen, ist dies besonders anspruchsvoll und ressourcenaufwendig. Trotzdem sind entsprechende Mobilisierungen gegenwärtig gesellschaftlich zu beobachten. Sowohl die Erfahrungen der Pandemie und die damit einhergehenden Engpässe bei der Lieferung zahlreicher Güter, als auch die Verabschiedung und das Inkrafttreten des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes und der europäischen CSDDD spiegeln gesellschaftliche Auseinandersetzungen wider, denen eine Betrachtung des Rechts weder als reine Institutionalisierung von Machtverhältnissen, noch als idealisierter Rettungsanker gegen wirtschaftliche Ausbeutung gerecht zu werden scheint. Gerade die Ambivalenz des Rechts ist es, die wir daher hervorgehoben haben, um seine politische Rolle in den Debatten um anhaltende intersektionale Ungleichheiten in GPN zu diskutieren.