1 Einleitung

„Krieg und Leichen, die letzte Hoffnung der Reichen“Footnote 1 betitelt der Künstler John Heartfield eine seiner bekanntesten Collagen aus dem Wahljahr 1932, erschienen in der Arbeiter Illustrierten Zeitung (AIZ). Das Bild zeigt eine wüstenähnliche Landschaft, auf der in der unteren Bildhälfte mehrere Soldatenkörper drapiert sind. Neben ihnen liegt eine Rolle Stacheldraht. Über den Körpern thront im Zentrum des Bildes eine zähnefletschende Hyäne. Sie trägt einen Zylinder. Um ihren Hals hängt der höchste preußische Kriegsorden, dessen Inschrift Heartfield von „Pour le mérite“ zu „Pour le profit“ geändert hat. Das Anliegen der Collage ist eindeutig: Sie soll die Leser*innen der AIZ auf den Hintergrund der kriegstreibenden Wahlpropaganda der Nationalsozialisten aufmerksam machen. Die deutschen Industriellen, so die Botschaft, hätten ein wirtschaftliches Interesse an einem zukünftigen Krieg und gingen für Profit buchstäblich über Leichen.

Gleich mehrere Collagen aus demselben Jahr stellen visuell eine Verbindung zwischen dem deutschen Großkapital und dem Aufstieg der Nationalsozialisten her, mit dem Ziel, den Wahlkampf der Kommunistischen Partei zu unterstützen. So auch die Arbeit „Adolf, der Übermensch. Schluckt Gold und redet Blech“Footnote 2, die ebenfalls zuerst in der AIZ veröffentlicht wurde und kurz darauf in Großformat an den Wänden Berliner Häuser zu sehen war (Kriebel 2008). Die Collage kombiniert ein Foto Hitlers mit einer Röntgenaufnahme, die uns den Einblick in sein Inneres gewährt. Wir sehen das Rückgrat Hitlers, bestehend aus aufgetürmten Geldstücken. An der Stelle des Herzens sitzt ein Hakenkreuz. Das Bild ermahnt dazu, Hitlers Aufstieg als Resultat der finanziellen Unterstützung großer deutscher Unternehmen zu durchschauen. Mit der Technik der Montage setzt Heartfield Staat und Wirtschaft zueinander in Beziehung. Der Krieg, veranschaulicht im Schlachtfeld, und das Bild Hitlers stehen jeweils stellvertretend für den faschistischen Staat und sein Handeln; die Hyäne und die Goldmünzen repräsentieren das deutsche Großkapital.

Auch die alliierte Besatzungspolitik gründete auf der Überzeugung, dass die deutsche Wirtschaft für den Aufstieg Hitlers und seine Fähigkeit, Krieg zu führen, verantwortlich war. Sie kam nicht nur in den wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Dekartellisierung und Deindustrialisierung zum Ausdruck, sondern auch in der strafrechtlichen Aufarbeitung (Wiesen 2001). Die rechtliche Verantwortung von Vertretern der Industrie für die Führung des Angriffskrieges und die Begehung von Kriegsverbrechen sollte ursprünglich als economic case im Rahmen des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses verhandelt werden. Nachdem jedoch der einzige angeklagte Unternehmer, Friedrich Krupp, wegen Krankheit vom Verfahren ausgeschlossen worden war und die Alliierten sich von der Idee eines zweiten, ausschließlich auf die Rolle der Wirtschaft fokussierten internationalen Tribunals verabschiedet hatten, kam es schließlich zu einzelnen Verfahren der Besatzungsmächte auf der Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 (ausführlich hierzu Bush 2009; Baars 2019).

Die bekanntesten Prozesse gegen deutsche Industrielle sind jene, die von der US-amerikanischen Staatsanwaltschaft in Nürnberg geführt wurden (die so genannten Fälle Flick, Krupp und IG Farben).Footnote 3 Um die Verantwortung der Industriellen für den Angriffskrieg und für Kriegsverbrechen zu begründen, mussten die Staatsanwälte und Richter den nationalsozialistischen Staat und die wirtschaftlichen Akteure zueinander in Beziehung setzen. Was in der Fotomontage durch die Kombination von Bildelementen, Vergrößerung und mehrmaligem Abfotografieren erreicht wird – die Fusion mehrerer Elemente zu einem sinngebenden Ganzen – leisten im Strafprozess Theorien strafrechtlicher Verantwortung. Sie setzen das Beweismaterial – Dokumente von staatlich organisierter Gewalt und unternehmerischem Handeln – zueinander in Beziehung und geben dieser Beziehung eine Bedeutung. Im vorliegenden Text interessiere ich mich für die Bilder, die die Industriellenprozesse vom Zusammenhang von Staatsunrecht und Wirtschaft zeichneten. Ich analysiere, auf welche Art und Weise in den Strafverfahren Systemunrecht und unternehmerisches Handeln – Schlachtfeld und Hyäne, Geldmünzen und Hitler – zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Denn von der gerichtlichen Darstellung der wirtschaftlichen Verantwortung für die Gräuel des Krieges hing ab, welche Lehren aus der Vergangenheit für die Organisation einer demokratischen Nachkriegsordnung gezogen werden konnten. In den Industriellenprozessen, so meine These, wurden Unternehmen und nationalsozialistischer Staat auf eine Weise verbunden, die der Gewalt des totalitären Staates das Versprechen einer durch den freien Markt gehüteten Demokratie entgegensetzte.

Die Fotomontagen von John Heartfield stehen nicht nur für den Gegenstand der Verfahren, sondern verweisen auch auf meinen Analyserahmen. Sie erlauben mir, die Argumente, die ich im Laufe des Textes entwickeln werde, an dieser Stelle vorwegzunehmen. Ich möchte mit diesem Text zum Verständnis der Industriellenverfahren beitragen, indem ich die ordnungspolitischen Kämpfe erfasse, die sich in diesen Gerichtsverfahren kristallisieren. Werfen Heartfields Montagen uns zurück in die politischen Kämpfe um den Zusammenhang von Kapitalismus, Krise und Krieg in der Zeit unmittelbar vor Hitlers Machtübernahme im Jahr 1933 (Kriebel 2008), so sind die Industriellenverfahren Teil der gesellschaftlichen Debatte nach dem Zweiten Weltkrieg darüber, welche Lehren für die wirtschaftspolitische Organisation einer demokratischen Nachkriegsordnung zu ziehen sind (Abschn. 2.1).

In der expliziten Verhandlung des Verhältnisses von Wirtschaftsordnung und Demokratie liegt ein zentraler Unterschied zur aktuellen Diskussion über Strafbarkeit wirtschaftlicher Akteure für Verbrechen im Rahmen des Völkerrechts (corporate accountability) sowie Menschenrechtsverletzungen allgemein (business and human rights). Um der historischen Spezifizität Rechnung zu tragen, ist es nötig, uns den Industriellenverfahren nicht lediglich als Präzedenzfall für Unternehmensverantwortung zuzuwenden, sondern sie im Kontext der Auseinandersetzung um die wirtschaftspolitische Ordnung zu analysieren.

Unter Rückgriff auf Ansätze aus der kritischen Rechtstheorie schlage ich dazu vor, die Prozesse als bildprägende Verfahren zu betrachten. Sie produzieren Bilder der Vergangenheit, die auf die Stabilisierung der Gegenwart abzielen. Auch dies lässt sich mit Verweis auf die Montage Heartfields veranschaulichen. In Abkehr von früheren Techniken der Montage, die mit der Sichtbarkeit der Konstruktion des Bildes spielen, entwickelt Heartfield in den politischen Montagen aus den dreißiger Jahren eine Technik, in der sich die einzelnen Teile zu einem ganzen Bild zusammenfügen (Kriebel 2014; Bürger 1974; Buck-Morss 1989). Indem sie Hitler als vermeintliche Marionette in der Hand des KapitalsFootnote 4 entlarven, unterstützen sie den Wahlkampf der Kommunistischen Partei. Sie sollen eine Wahlentscheidung begründen.

Auch eine Gerichtsentscheidung muss begründet werden. Was die Collagen versuchen, visuell herzustellen, erfolgt im Urteil über Narration. Strafverfahren in Reaktion auf Systemunrecht, so auch schon Otto Kirchheimer in seiner Studie zu politischen Prozessen, zielen darauf ab, ein Bild des verbrecherischen Regimes zu zeichnen, von dem sich das Nachfolgeregime durch das Urteil abgrenzen kann (Kirchheimer 2019: 601 ff.). Wenn es ihnen gelingt, das von der Vergangenheit gezeichnete Bild als einzig mögliche Lesart der Zusammenhänge darzustellen, dann begründet ein Urteil nicht nur die individuelle Schuld, sondern verleiht auch der urteilenden politischen Ordnung Autorität (Abschn. 2.2).

Den Versuchen der Richter, ein eindeutiges Bild der unternehmerischen Verantwortung zu zeichnen, begegne ich mit einem Leseverfahren, das darauf abzielt, die Grundannahmen sichtbar zu machen, auf deren Basis über die Verantwortung der Unternehmer und gleichzeitig über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft geurteilt wird. Wie ich in der Analyse der Argumentationen in den Anklagepunkten Angriffskrieg, Sklavenarbeit und Plünderung herausarbeiten werde, projizieren die Richter die liberale Ordnung, also ein bestimmtes Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft, als normativen Standard auf die Vergangenheit. Indem sie die Existenz eines Staates mit einem Gewaltmonopol einerseits sowie einer freien Sphäre der Wirtschaft andererseits voraussetzen, verwandelten sie – und hier leihe ich mir Foucaults Worte für meine Zwecke – die „Unterscheidung zwischen Staat und Zivilgesellschaft in eine historische und politische Universalie (…), die es gestattet, alle konkreten Systeme zu untersuchen“ (Foucault 2004: 438). Folglich werden die Gründe für die gewaltvolle Verstrickung der Unternehmen in den Zweiten Weltkriegs in der Verletzung der liberalen Trennung von Staat und Wirtschaft gesehen. Heartfield ging es mit seinen Collagen darum, im Vorfeld des Krieges auf die Expansionstendenz des Kapitalismus als System hinzuweisen und für eine sozialistische Alternative zu werben. Die Industriellenverfahren hingegen machen im Nachgang den Monopolkapitalismus für den deutschen Angriffskrieg verantwortlich und stellen ihm den freien Markt als Hüter der Demokratie gegenüber. Hierin liegt die ordnungspolitische Funktion der Industriellenverfahren (Abschn. 3). In einem kurzen Fazit zeige ich die Implikationen meiner Analyse der Industriellenverfahren für aktuelle Debatten über transnationales Unternehmen und Konflikt auf (Abschn. 4).

2 Die Industriellenprozesse als bildprägende Verfahren

Die Prozesse gegen deutsche Industrielle nach dem Zweiten Weltkrieg sind erst in jüngster Zeit von der Wissenschaft wiederentdeckt worden. Die bisherige historische Forschung hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, die Verfahren in den gesellschaftspolitischen Kontext einzuordnen (Priemel und Stiller 2013; Priemel 2016), gibt aber kaum Hinweise auf die Relevanz dieser Einsichten für die aktuelle Diskussion um Unternehmensverantwortung. Die Beiträge aus der Rechtswissenschaft wiederum tendieren dazu, die Verfahren auf ihre Eigenschaft als Präzedenzfälle für eine Unternehmenshaftung im internationalen Recht zu reduzieren. Wie ich im nächsten Abschnitt ausführen werde, führt dieser Fokus dazu, dass zentrale gesellschaftspolitische Aspekte der Verfahren ausgeblendet werden. Hierzu gehört unter anderem die Frage, welche Lehren für die wirtschaftspolitische Nachkriegsordnung aus der Beteiligung der Unternehmen zu ziehen seien. Ich schlage daher im zweiten Teil dieses Abschnitts eine Analyseperspektive vor, die die Verbindung individueller Verantwortung mit ordnungspolitischen Fragen in den Blick nimmt.

2.1 Die Industriellenprozesse als Präzedenzfall

Wie ich an anderer Stelle ausführlich gezeigt habe, konzentriert sich die Literatur zu den historischen Ursprüngen des Internationalen Strafrechts aus den 1990er Jahren zunächst ausschließlich auf den Hauptkriegsverbrecherprozess und beschränkt „Nürnberg“ als Gründungsmoment des Internationalen Strafrechts auf die strafrechtliche Verfolgung militärischer und politischer Vertreter der NS-Herrschaft (Franzki 2016).Footnote 5 Prozesse gegen andere berufliche Gruppen, wie die Industriellen, gerieten dadurch in den Hintergrund (Priemel und Stiller 2013). Das erneute Interesse an den Industriellenverfahren kam zunächst nicht aus dem Internationalen Strafrecht, sondern aus dem Zivilrecht. Die seit den 1990er Jahren im Rahmen des US-amerikanischen „Alien Torts Statute“ (ATS) initiierten zivilrechtlichen Verfahren gegen Unternehmen zitierten die Nürnberger Industriellenverfahren, um Fragen der Rechtssubjektivität von Unternehmensakteuren im Internationalen Recht zu beleuchten (Lustig 2014). Heute versucht eine heterogene Gruppe von Akteuren und Institutionen unter den Stichworten „Wirtschaft und Menschenrechte“ und „corporate accountability“, zivil- und strafrechtlichen Verantwortung von Unternehmer:innen und Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen durchzusetzen. Die Prozesse gegen deutsche Industrielle sind zu einem zentralen Bezugspunkt in dieser Debatte geworden (ICJ und International Commision of Jurists 2008). Im Kontext der juristischen Auseinandersetzung über die Rechenschaftspflicht von Unternehmen dient der Verweis auf die Industriellenprozesse als Begründung, dass auch nichtstaatliche Akteure immer schon an das Völkerrecht gebunden gewesen seien. In dieser Argumentation wird die rückwärtsgewandte Logik juristischer Präzedenzfälle gleichzeitig zu einer Erzählung historischer Kontinuität (Sarat und Kearns 1999).

Das erneute rechtswissenschaftliche Interesse an den Industriellenprozessen folgt der hier skizzierten Wiederentdeckung der Verfahren in der Rechtspraxis. Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass die meisten Arbeiten unbeabsichtigt die zeitliche Logik übernehmen, die dem rechtlichen Bezug auf die Vergangenheit als Präzedenzfall zugrunde liegt. Auch sie konstruieren aus der Zeitlichkeit der juristischen Zitation – dem Präzedenzfall – eine historische Entwicklung. So wie sich die Rechtsprechung auf die Vergangenheit beruft, um eine bestimmte Rechtsauffassung zu begründen, reduziert ein Großteil der juristischen Darstellungen die Industriellenprozesse auf eine erste Instanz von „corporate accountability“ (Bohoslavsky und Opgenhaffen 2010; Kaleck und Saage-Maaß 2010; Jessberger 2010; Bush 2009; Michalowski 2013, zu den Ausnahmen siehe unten). Die rechtliche Verantwortung von Unternehmern im Internationalen Strafrecht wird in dieser teleologischen Lesart folglich zur Fortsetzung einer linearen, kontinuierlichen, wenn auch lückenhaften Entwicklung in Sachen Unternehmensverantwortung.

Infolgedessen sind diese Beiträge nicht in der Lage, die wesentlichen Unterschiede in den rechtlichen und politischen Diskussionen zu berücksichtigen, die zwischen der Strafverfolgung von Wirtschaftsakteuren nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits und der zeitgenössischen Debatte über die Rechenschaftspflicht von Unternehmen andererseits bestehen. Fokussiert die aktuelle Debatte auf individualisiertes Fehlverhalten, materialisiert sich in den Industriellenprozessen die breite gesellschaftliche Auseinandersetzung über die wirtschaftspolitischen Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie stehen ähnlich wie die Collagen Heartfields für eine Zeit, in der die Friedfertigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung begründet werden musste. Vor diesem Hintergrund plädiere ich dafür, die Straftribunale gegen deutsche Industrielle als Teil dieses Aushandlungsprozesses über das Verhältnis von Kapitalismus, Krieg und Demokratie zu betrachten. Damit nehme ich auch ihre Funktion in der Konstitution politischer und – wie wir sehen werden – wirtschaftlicher Ordnung in den Blick.

2.2 Die Vergangenheit als negative Referenz

In seiner wegweisenden Studie über politische Justiz beobachtete Otto Kirchheimer im Hinblick auf den Hauptkriegsverbrecherprozess, dass die „Abgrenzung des neuen Regimes vom alten und die Aburteilung der Politik und der Praxis dieses alten Regimes … zu den konstituierenden Akten der neuen Ordnung gehören [können]“ (Kirchheimer 2019: 607). Um als ein solches konstitutives Moment bei der Gründung politischer Autorität zu wirken, müsse ein Prozess ein eindeutiges Bild der Vergangenheit zeichnen. Juristische Verfahren erzeugen eine Vielzahl von Zeugenaussagen, Dokumenten und anderen Beweisen, die anschließend zu einem scheinbar kohärenten Bild der Ereignisse zusammengefügt werden müssen. Die von Kirchheimer den Prozessen zugeschriebene „bildprägende Wirkung“ (2019: 771) der Verfahren stellt sich dann ein, wenn sie es schaffen, fragmentarische Handlungen in ein vereinfachtes Bild der politischen Realität zu transformieren. Es ist ein totalisierendes Bild, das nur eine Lesart der Vergangenheit zulässt: „In Ausnahmefällen – so zum Beispiel beim Nürnberger Prozess – ist die Gesamtbilanz eines Regimes, das dahingegangen ist, so eindeutig, dass das vor Gericht erbrachte Bild als ein ausreichend wahrheitsgetreues Abbild der Wirklichkeit erscheinen muss“ (2019: 772).

In diesem Zusammenhang erinnert uns Shoshana Felman daran, dass ein Gerichtsprozess in der Regel als Suche nach Wahrheit angesehen wird. Technisch gesehen aber, so Felman, sei er eine Suche nach einer Entscheidung, einer endgültigen Klärung (Felman 2002: 55). Durch das Urteil verwandelt das Gericht dieses Bild der Vergangenheit in etwas, das Peter Fitzpatrick in einem anderen Kontext und in Anlehnung an die Arbeiten von Kathleen Davis als den Mechanismus der „universellen negativen Referenz“ beschrieben hat (Fitzpatrick 2013: 46; Davis 2008). Die Vergangenheit als negativer Bezugspunkt erfüllt hierbei die Funktion der Letztbegründung der neuen politischen Ordnung. Diese ist richtig, weil sie das Gegenteil der gewaltvollen Vergangenheit ist. Die Vergangenheit ist das, was die Gegenwart nicht ist – und umgekehrt (vgl. auch Bevernage 2010; Meister 2011).

In der Herausbildung von transitional justice als eigenem Forschungsfeld ist die Funktion der Vergangenheit, als negative Referenz zu dienen, zu einer zentralen Aufgabe von Strafverfahren geworden. Wurde anfangs vor allem auf die mögliche Gefahr hingewiesen, die von einer strafrechtlichen Verurteilung für demokratische Transitionsprozesse ausgehe (Orentlicher 1991b; Nino 1991; Orentlicher 1991a; Kritz 1995), nimmt ein Großteil der Literatur inzwischen an, dass strafrechtliche Aufarbeitung wesentlich für eine gewaltfreie Zukunft sei (Überblick bei Carvajalino und Davidović 2023). Die Aufarbeitung der gewaltvollen Vergangenheit, in Kombination mit der Zuschreibung rechtlicher Verantwortung, so die Annahme, trage dazu bei, rechtstaatliche Strukturen zu stärken und zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.

Dieser Wechsel von einer analytischen Perspektive auf politische Verfahren hin zu einer normativen deutet sich bereits in Kirchheimers Werk an (2019: 772). War die Legitimation politischer Ordnung durch politische Gerichtsverfahren bei ihm zunächst Gegenstand einer kritisch-analytischen Untersuchung und von grundsätzlicher Skepsis gegenüber dem modernen bürgerlichen Staat gezeichnet, scheint Kirchheimer in der Reflexion über den Hauptkriegsverbrecherprozess die Legitimierung einer normativen Ordnung zu wünschen (Ertür 2022). Ein zentrales Problem dieser Perspektive auf Gerichtsverfahren in Reaktion auf Systemunrecht ist, dass sie das (normative) Ziel des liberalen Rechtsstaats voraussetzt und damit den analytischen Blick darauf verliert, auf welche Weise politische Ordnung in strafrechtlichen Verfahren verhandelt und legitimiert wird (Franzki und Olarte Olarte 2013; siehe auch Salehi 2023). Ich schlage daher eine Lesart der Industriellenprozesse vor, die darauf fokussiert, wie diese Verfahren in die ordnungspolitische Debatte intervenieren. Welche Bilder zeichnen sie von der Beteiligung der Unternehmen an den Gewalttaten des nationalsozialistischen Regimes (Vergangenheit als negative Referenz) und welche Lehren für eine gelungene Verbindung von Demokratie und Wirtschaft lassen sich mit ihnen begründen? Mit diesem Zugang möchte ich die bildprägende Wirkung der Verfahren wieder analytisch wenden.

Wie Kirchheimer selbst gut genug wusste, gelingt es politischen Prozessen nicht unbedingt, klare Bilder der Vergangenheit zu zeichnen, die als „ausreichend wahrheitsgetreues Abbild der Wirklichkeit erscheinen“ (Kirchheimer 2019: 772) und somit dazu dienen könnten, souveräne Ansprüche zu begründen. Stattdessen bleibt die juristische Montage, die zeitlichen, räumlichen und konzeptionellen Abgrenzungen, mithilfe derer in den Verfahren ein Bild von der Gewalt früherer Regime gezeichnet wird, sichtbar. Sie scheitern häufig in ihrem Bestreben, die einzelnen Teile langfristig sinnstiftend zu einem Ganzen zusammenzufügen und ein kohärentes Deutungsangebot zu machen. Noch einmal Kirchheimer: „Erfolgreiche Photomontage kann verblüffen und die gewünschte Sofortwirkung erzielen. Die Zerreißprobe der Zeit besteht ein Bild aber nur, wenn es die Ganzheit des Geschehens einfängt“ (Kirchheimer 2019: 610).

Wie wir sehen werden, tauchen die Risse im Bild dort auf, wo das im Verfahren gesammelte Material über die Vergangenheit sich nur schwer mit den bestehenden juristischen Kategorien erfassen lässt. Sie ermöglichen einen Blick auf die Konzepte und Annahmen, entlang derer Richter die Vergangenheit organisieren. Unter diesen Umständen schaffen es die im Gerichtsverfahren produzierten Bilder der Vergangenheit nicht, die anvisierte politische Ordnung – hier: den liberalen Rechtsstaat – als die einzige Antwort auf die Gewalt der Vergangenheit erscheinen zu lassen. Vielmehr entwickeln die Bilder der Vergangenheit eine kritische Kraft, die die Kontingenz derjenigen Normen sichtbar macht, anhand derer die Gerichte eine „klare Grenze zwischen unerträglichen Gräueln und der legitimen politischen Eigenentscheidung“ ziehen (Kirchheimer 2019: 663).

3 Staat und Wirtschaft in den Industriellenverfahren

Wir assoziieren diese Grenzsetzung in Gerichtsverfahren in Reaktion auf Systemunrecht häufig mit der Unterscheidung zwischen systematischen Menschenrechtsverletzungen durch den Staat – Folter, Verschwindenlassen, Vertreibung – und der zulässigen Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols. Im Fall der Industriellenprozesse betrifft die Verbindung von individueller Verantwortung und staatlicher Politik, wie wir im Laufe der Analyse sehen werden, aber noch eine zweite Grenze – die zwischen erlaubtem Wirtschaften und einer friedenfördernden Wirtschaftsordnung einerseits und unzulässigen Formen des Wirtschaftens andererseits. Die Verfahren sind damit Teil der gesellschaftlichen Debatte über die wirtschaftspolitischen Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg. Um die wirtschaftspolitischen Implikationen der juristischen Argumente in den Verfahren besser nachvollziehbar zu machen, ist es sinnvoll, sich diese Debatte kurz anzuschauen.

Die existierende Literatur hat die Industriellenprozesse in erster Linie in den Kontext der US-amerikanischen Debatte gestellt. So argumentieren Doreen Lustig (2020; 2011a; 2011b), Kim Priemel (2012a; 2012b; 2013b; 2013a), und Grietje Baars (2019) auf unterschiedlichen Ebenen, dass die amerikanische Haltung gegenüber der deutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem vor dem Hintergrund der Antitrust-Debatte in den USA und des Sherman Acts von 1890 zu verstehen ist. Die Verfahren gegen Industrielle wurden als Teil der Dekartellierungsstrategie verstanden (Bevans 1971; Baars 2019: 145 ff.). Mit aufkommender Systemkonkurrenz standen die US-amerikanischen Ankläger sowie die Richter vor der Herausforderung, die Verfahren gegen die Unternehmer auf eine Weise durchzuführen, die ihre Schuld am Angriffskrieg sowie an weiteren Verbrechen bestätigte, ohne dabei eine wirtschaftliche Beteiligung an Kriegen oder die kapitalistische Wirtschaftsordnung per se zu diskreditieren. Sie beschrieben folglich die Verwicklung der deutschen Industriellen in die begangenen Verbrechen als Ausdruck eines, so Priemel, „schiefgelaufenen Kapitalismus“, des Monopolkapitalismus (Priemel 2013a: 94; siehe auch Wiesen 2001). Der Monopolkapitalismus und der daraus resultierende Einfluss der Industriellen war dabei in den Augen der Staatsanwaltschaft und der Richter nicht das Ergebnis einer inhärenten Logik des Kapitals an sich, sondern eines besonderen Zusammenspiels und Arrangements zwischen Staat und Wirtschaft (Priemel 2012b; Lustig 2020: 114 f.). Wenn Kartelle problematisch sind, weil eine totalisierende Wirtschaft einem totalen Staat diene, so die Annahme, könne nur eine selbstregulierende Wirtschaft in Einklang mit demokratischen Grundsätzen stehen.

Ähnliche Argumente in Bezug auf den Markt als Organisationsmechanismus für die Demokratie – und auf seine Vereinbarkeit mit der Demokratie – begegnen uns auch in einer Debatte, die in der bestehenden Forschung zu den Industriellenprozessen bisher nicht aufgegriffen wurde: in den ordoliberalen Studien über den NS-Staat und dem von ihnen beeinflussten Programm der sozialen Marktwirtschaft, welches die Wirtschaftspolitik der CDU ab 1949 prägte. Die Bedeutung des ordoliberalen Denkens für die Legitimation des deutschen Staates nach dem Zweiten Weltkrieg wurde unter anderem von Michel Foucault in seinen Vorlesungen zur Geburt der Biopolitik hervorgehoben (2004).Footnote 6 Foucault interessiert sich für den in Deutschland entstandenen neuen Liberalismus, denn dieser markiert für ihn einen wichtigen Wandel im liberalen Denken. Die Ordoliberalen hätten den Wirtschaftsliberalismus radikalisiert, indem sie die zentrale Aufgabe des Staates darin sähen, den Markt zu ermöglichen. Der Markt werde so zum Organisationsprinzip nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für den Staat. Mit der sozialen Marktwirtschaft, so Foucault, entdecke der Staat sein Existenzrecht neu: „Die Geschichte hatte den deutschen Staat verneint. Künftig wird die Wirtschaft in der Lage sein, seine Selbstbehauptung zu ermöglichen“ (Foucault 2004: 126).

Die Relevanz dieser Debatte für ein Verständnis der Industriellenprozesse liegt hier nicht in der Kausalität: Weder ist nach gegenwärtigem Forschungstand davon auszugehen, dass sie die juristische Argumentation der US-Amerikaner wesentlich beeinflusst hat, noch waren die Verfahren ausschlaggebend für den Verlauf der deutschen Debatte.Footnote 7 Vielmehr lässt sich vor dem Hintergrund der ordoliberalen Theoriebildung die ordnungspolitische Dimension der juristischen Argumentation besser begreifen. Denn der Theoriewechsel innerhalb des Wirtschaftsliberalismus wurde in Opposition zum sogenannten „Kollektivismus“ des NS-Staates systematisiert, ein Aspekt, den Foucault nur am Rande erwähnt. So formulierte bereits 1942 Wilhelm Röpke, der Kampf gegen den Kollektivismus werde „nur dann greifbare Erfolgsaussichten haben, wenn es gelingt, das liberale Prinzip in einer Weise zu reaktivieren, die für alle offenkundigen Schäden, Versagenssymptome und Fehlentwicklungen des Liberalismus und des Kapitalismus befriedigende Lösungen anbietet, ohne damit die innere Struktur des marktwirtschaftlichen Wettbewerbssystems und die Funktionsfähigkeit unserer Wirtschaft in Frage zu stellen“ (Röpke 1942). Wenn, um Foucaults Formulierung zu übernehmen, die Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg die Selbstbehauptung des deutschen Staates ermöglichte, so bezog das angestrebte Verhältnis zwischen Wirtschaft und Staat seine Legitimation wiederum aus der Wirtschaftsordnung des Nationalsozialismus als negativer Referenz.Footnote 8

Die Allgegenwärtigkeit der gesellschaftlichen Debatten um die wirtschaftspolitischen Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg zeigt sich im ersten Satz der Eröffnungsrede von Telford Taylor, dem Leiter der Staatsanwaltschaft im ersten der drei Industriellenprozesse, dem Fall Flick. Es lohnt sich, Taylor ausführlich zu zitieren, weil er, wenn auch unfreiwillig, die ordnungspolitische Diskussion zum Ausdruck bringt:

„The responsibility of opening the first trial of industrialists for capital transgressions of the law of nations imposes on the prosecution, above all things, the obligation of clarity. The defendants owned and exploited enormous natural and man-made resources and became very wealthy, but these things are not declared as crimes by the law under which this Tribunal renders judgment. The law of nations does not say that it is criminal to be rich, or contemptible to be poor. (…) The defendants were powerful and wealthy men of industry, but that is not their crime. We do not seek here to reform the economic structure of the world or to raise the standard of living. We seek, rather, to confirm and revitalize the ordinary standards of human behavior embodied in the law of nations.“ (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952d: 31)

Wie ich im Folgenden zeigen möchte, passiert in den Industriellenverfahren genau das, was Taylor vorgibt, nicht zu tun. Die klare Trennung zwischen wirtschaftspolitischen Ordnungsfragen („Reform der Wirtschaftsstruktur“) und strafrechtlich relevantem Verhalten („gewöhnlichen Standards menschlichen Verhaltens“), die Taylor anstrebt, ist überhaupt nicht möglich. Weil das internationale Strafrecht in seinen Ursprüngen „auf einem Gemisch aus kollektiven und individuellen Vorstellungen von Verantwortung“ basiert, impliziert bei Systemverbrechen die Beurteilung der (Un‑)Rechtmäßigkeit des individuellen Verhaltens notwendigerweise eine Beurteilung des institutionellen Kontextes (Simpson 2007: 71).Footnote 9 Bei der Bestimmung der individuellen Schuld werden bei der Beurteilung der Verantwortung der Industriellen also immer Annahmen über ihr Verhältnis zum nationalsozialistischen Staat getroffen. Die von Taylor erwähnten „gewöhnlichen Standards menschlichen Verhaltens, die im Völkerrecht verankert sind“ werden dabei nicht bestätigt, sondern überhaupt erst geschaffen. Das Urteil ist ein performativer Akt, der sich als einfache Feststellung tarnt. Der Richter gibt vor, lediglich eine bestehende Unterscheidung anzuwenden, die er aber im Moment der Urteilsfindung erst herbeiführt (Ertür 2022).

Im Folgenden analysiere ich im Detail die rechtliche Argumentation in den drei Anklagepunkten, die uns in den Industriellenverfahren begegnen: die Beteiligung am Angriffskrieg, Sklavenarbeit und Plünderung. Meine Lektüre fokussiert sich dabei auf den performativen Akt des Urteils. Ich suche Antworten auf die Frage, auf welche Weise die Unterscheidung zwischen legaler Wirtschaftsaktivität im Krieg einerseits und illegalem Wirtschaften andererseits getroffen und begründet wird – und welche Annahmen über eine gute wirtschaftspolitische Ordnung dahinterstehen. Die Konzepte und Annahmen, anhand derer die Verfahren die unternehmerische Tätigkeit rechtlich einordnen, werden in den Momenten erkennbar, in denen Fragmente der Vergangenheit die Sinnhaftigkeit eben dieser Konzepte in Frage stellen. Dies passiert insbesondere dort, wo die Beweismaterialien das staatliche Gewaltmonopol sowie, damit verbunden, die Existenz einer freien Sphäre der Wirtschaft eher als liberale Vorannahme und ordnungspolitische Norm erscheinen lassen, denn als adäquate Beschreibung der Vergangenheit.

3.1 Angriffskrieg: Zwischen Behemoth und Leviathan

Die Historikerin Elizabeth Borgwardt zeigt sich fasziniert von der Tatsache, dass das, wofür „Nürnberg“ in der heutigen Debatte im Internationalen Recht steht, nämlich individuelle Verantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, „für unsere historischen Akteure in Echtzeit kaum zu erkennen gewesen“ sei (Borgwardt 2010: 630). Das zentrale Anliegen des Chefanklägers im Internationalen Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher, Robert H. Jackson, bestand in erster Linie darin, den von Deutschland geführten Angriffskrieg zu ächten. Diese Ächtung fand auch ihren Weg in die Industriellenprozesse. Die Staatsanwaltschaft warf den Angeklagten, sowohl der IG Farben als auch der Firma Krupp, die „Planung, Vorbereitung, Einleitung und Durchführung von Angriffskriegen und Invasionen in andere Länder“ vor (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952a: 14; 1952c: 10). Der Vorwurf der individuellen Tatbegehung wurde durch eine Anklage wegen Verschwörung ergänzt. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, als Anführer, Organisatoren, Anstifter und Komplizen an der Ausarbeitung und Durchführung eines gemeinsamen Plans oder einer Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden teilgenommen zu haben.

Josiah Dubois, der Anfang 1947 zum Team der Staatsanwaltschaft stieß, um das Verfahren gegen die IG Farben zu leiten, erinnert sich in seinen Memoiren an ein Gespräch, das er vor seiner Reise nach Nürnberg mit Mickey Marcus, einem Oberst aus der Kriegsverbrecherabteilung des Kriegsministeriums, geführt hatte. In diesem Gespräch schlug Dubois vor, dass die Staatsanwaltschaft nicht unbedingt nachweisen müsse, „dass es ihnen Spaß machte, Stecknadeln auf einer Landkarte herumzuschieben. Aber nehmen wir an, wir könnten zeigen, dass sie weitaus mehr Macht hatten als jeder General im Feld“ (DuBois 1952: 20). Laut Dubois lehnte Marcus die Anklage von Industriellen als Kriegsverbrecher ab, indem er erklärte, „wenn ich Richter wäre, würde ich wissen wollen, wie man einen Krieg Männern anlasten kann, die nicht einmal in der Armee oder im Außenministerium waren.“ (DuBois 1952: 20). Mit dieser Aussage benannte Marcus eine zentrale Herausforderung, mit der sich die Staatsanwaltschaft bei der Anklage des Angriffskrieges konfrontiert sah: Die Anklage musste ein Narrativ schaffen, welches das Gericht sowie die deutsche und internationale Öffentlichkeit von der Verantwortung von Privatpersonen für die Herbeiführung des Krieges überzeugen konnte.

Seit Beginn der Vorbereitung des economic case in Nürnberg bemühten sich die Ankläger, ein Konzept zu finden, welches die politische Verantwortung der Industriellen für die Kriegsführung erfassen und in eine Form der juristischen Verantwortung übersetzen konnte (Bush 2009). Die deutschen Kartelle stellten schließlich den argumentativen Ansatzpunkt da, mit dem die Anklage versuchte, die einzelnen Industriellen mit der Entscheidung zur Kriegsführung in Verbindung zu bringen. Leo Drachsler hatte hierzu den sogenannten „institutionellen Ansatz“ ausgearbeitet. Drachsler zufolge könnten die Industriellen als eine einzige Organisation behandelt werden, als dritte Säule der Macht im NS-Staat neben der Partei und dem Militär (Bush 2009: 1158). Wenn man die Komplizenschaft der Industrie als Organisation bei der Verschwörung zur Kriegsführung nachweisen könne, müsse man nur den einzelnen Angeklagten mit dieser dritten Säule in Verbindung bringen.

Der Einfluss von Franz Neumanns Analyse des nationalsozialistischen Staates in „Behemoth“ (1994 (1942)) bei der Formulierung dieser Strategie ist inzwischen gut dokumentiert (Perels 2001; Lustig 2011b). Franz Neumann hatte Deutschland nach dem Sieg der NSDAP im Jahr 1933 verlassen, zunächst nach Großbritannien und dann in die Vereinigten Staaten, wo er bis 1942 mit Max Horkheimer und anderen am exilierten Frankfurter Institut für Sozialforschung arbeitete. 1943 begann Neumann, für die US-Regierung zu arbeiten, und zwar in der Forschungs- und Analyseabteilung des Office of Strategic Services, wo er Berichte über das nationalsozialistische Deutschland erstellte. Neumann hatte das Buch 1942 fertig gestellt und in erweiterter Form 1944 veröffentlicht. Seine Studie über „Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944“, so der Untertitel, fand unter seinen Kolleg*innen weite Verbreitung.

Neumanns zentrale These war, dass das Wesen des Nationalsozialismus nicht mit der üblichen Vorstellung vom Staat als einer einzigen zentralisierten politischen Macht, wie etwa in Hobbes’ Leviathan, erfasst werden könne. Die (national)sozialistische Verfassungstheorie, so Neumann, räume eindeutig ein, dass nicht der Staat die politische Macht vereinige, sondern dass es mehrere koexistierende politische Mächte gebe, deren Vereinigung nicht institutionalisiert, sondern nur personalisiert sei (Neumann 1994 (1942): 467). Diese koexistierenden Mächte waren nach Neumann die Partei (NSDAP), die Wehrmacht, die Staatsbürokratie und die Industrie, die jeweils nach eigenen Gesetzen funktionierten. Da es im Nationalsozialismus an der für einen Staat notwendigen Vereinheitlichung der politischen Macht fehle, könne das Reich nur als Unstaat, als Behemoth, definiert werden.

Unter den verschiedenen Kommentaren zum Verhältnis zwischen Neumanns Analyse des Nationalsozialismus und der Anklagestrategie bei den Industriellenprozessen ragt die Arbeit von Doreen Lustig heraus (Lustig 2011b). Sie macht nicht nur deutlich, wie Neumanns Analyse des Nationalsozialismus die Anklagestrategie prägte, sondern nimmt auch Neumanns Idee des Nicht-Staates ernst. Sie zeigt, dass weder die Staatsanwaltschaft noch die Richter Neumann bis zum Schluss folgten. Neumanns Säulenmodell wurde zwar von der Staatsanwaltschaft übernommen und in den „institutionellen Ansatz“ übersetzt. Letzterer beschrieb die unabhängigen Machtblöcke, bevor er die Personen identifizierte, die sie miteinander verbanden. Die Staatsanwaltschaft gab jedoch die Idee eines Staates als zentralisierter Institution nicht auf. Sie hielt an der Vorstellung fest, dass die politischen Institutionen das Gewaltmonopol ausübten und den Ort der Entscheidungsfindung darstellten. Folglich musste sie noch immer den Einfluss der wirtschaftlichen Akteure auf die Entscheidungsfindung der Partei, in den Krieg zu ziehen, nachweisen, wenn sie deren Verantwortung für den Angriffskrieg geltend machen wollte.

Im Fall IG Farben konzentrierte sich die Anklage dazu auf ein Treffen zwischen Hitler und Vertretern der deutschen Industrie im Februar 1933, in dem Hitler zu Spenden an die NSDAP aufgerufen hatte (Lindner 2020). Die Anklage bringt von Schnitzler, den Vertreter der IG Farben auf dieser Versammlung, mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten in Verbindung. Von Schnitzler habe nach seiner Rückkehr von der Versammlung den anderen Vorstandsmitgliedern der IG Farben berichtet, was er gehört hatte. Die IG Farben spendete daraufhin 400.000 Mark für Hitlers Wahlkampf – die größte Einzelspende eines der auf dem Treffen vertretenen Unternehmen. Die Zahlung erfolgte am 27. Februar 1933. Am nächsten Tag wurde das Reichstagsgebäude in Brand gesteckt. Noch am selben Tag verkündeten Hitler und sein Kabinett unter dem Vorwand des Brandes eine Verordnung, mit der die verfassungsmäßigen Freiheitsgarantien außer Kraft gesetzt wurden (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952a: 124).

Was Heartfields Arbeit „Hitler schluckt Gold und redet Blech“ in einem Bild zum Ausdruck bringt, versucht die Anklage in einer narrativen Verbindung mehrerer Ereignisse zusammenzubringen, die Kausalität suggeriert: Ohne die finanzielle Unterstützung der IG Farben wäre Hitler nicht an die Macht gekommen. Darüber hinaus betont die Anklage das Interesse der IG Farben am Angriffskrieg, welches in einer gemeinsamen Kriegsverschwörung zum Ausdruck gekommen sei. Laut Anklage sei der Angeklagte Krauch das Bindeglied zwischen der zentralen Planung der Kriegsindustrie und der Produktion der IG Farben gewesen. Er war in dem von Göring neu geschaffenen Amt für deutsche Roh- und Kunststoffe mit der Leitung der Forschung und Entwicklung betraut worden (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952a: 18–38). Etwas anders erfolgte die Argumentation im Fall Krupp. Hier beschrieb die Anklage zwei verschiedene Kriegsverschwörungen, eine „Krupp-Verschwörung“ und eine „Nazi-Verschwörung“, die erst später in einer gemeinsamen Entscheidung, den Krieg zu führen, zusammengelaufen seien (Priemel 2012a: 408; Lustig 2011a: 1000).

In beiden Fällen gelang es der Anklage nicht, die Richter zu überzeugen. Sie erklärten die Angeklagten des Angriffskrieges für nicht schuldig. Die Staatsanwaltschaft konnte ihrer Ansicht nach nicht beweisen, dass die Angeklagten Einfluss auf die Politikgestaltung hatten. In Übereinstimmung mit dem Urteil im Hauptkriegsverbrecherprozess argumentierten beide Urteile, dass die Aufrüstung als solche kein Verbrechen sei und dass nur die „Auftraggeber“ für Verbrechen gegen den Frieden zur Rechenschaft gezogen werden könnten, nicht aber die „Mitläufer“. Das Farben-Tribunal stellte fest, dass die Beweise nicht zeigten, dass einer von ihnen wusste, in welchem Umfang die allgemeine Aufrüstung geplant oder wie weit sie zu einem bestimmten Zeitpunkt fortgeschritten war (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952a: 1119). Im Fall Krupp hielt das Tribunal fest, dass die Angeklagten „Privatpersonen und Nichtkombattanten waren (…). Keiner von ihnen hatte ein Mitspracherecht bei der Politik, die ihre Nation in einen Angriffskrieg führte; auch war keiner von ihnen in diese Politik eingeweiht. Keiner von ihnen hatte irgendeine Kontrolle über die Kriegsführung oder über eine der Streitkräfte“ (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952c: 449).

Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Gericht setzten in beiden Fällen die Existenz eines modernen Staats voraus, dessen zentrale Eigenschaft es ist, erfolgreich das Monopol der legitimen Gewalt für sich zu beanspruchen. Industrielle wurden per definitionem in die Privatsphäre verwiesen. Daraus folgt für Lustig, dass „nur eine enge Verbindung zur Politik eine strafrechtliche Verantwortung begründen“ könne (Lustig 2011b: 1001). Die Vorstellung des Staates als monolithischer Macht, so Lustig weiter, reflektiere aber nicht notwendigerweise die tatsächliche Fähigkeit des bürokratischen Apparats zur Machtausübung (Lustig 2011a: 968). Diese Ex-ante-Annahme der Trennung von Staatsapparat und Wirtschaft wird in den juristischen Argumenten, die die Verantwortung der Industriellen für Sklavenarbeit sowie Plünderung und Enteignung betreffen, im Folgenden noch deutlicher werden.

3.2 Sklavenarbeit: Notstand und moralische Entscheidung

Im November 1946 schlug Drexel A. Sprecher, Mitglied der US-Staatsanwaltschaft und oberster Stellvertreter von Telford Taylor, vor, einen separaten „Sklavenarbeitsprozess“ zu führen. Dieser Fall sollte zusätzlich zu den Flick‑, Krupp- und Farben-Prozessen geführt werden, um die Abhängigkeit der NS-Wirtschaft von der Zwangsarbeit zu belegen. Sprecher schwebte nach eigener Aussage ein Fall vor, der die Grenzen zwischen Staat und Unternehmen überschreiten sollte. Zusammen mit anderen Plänen für weitere Prozesse, die sich mit den wirtschaftlichen Dimensionen des Zweiten Weltkriegs befassen sollten, wurde Sprechers Vorschlag jedoch gestrichen, als die US-Regierung signalisierte, dass sie die Militärtribunale so schnell wie möglich abschließen wollte (Bush 2009: 1170–1171). Stattdessen wurden die Angeklagten in allen drei Industriellenprozessen wegen Sklavenarbeit angeklagt.

In der folgenden kurzen Darstellung der juristischen Argumentation in Bezug auf die Anklage der Sklavenarbeit konzentriere ich mich auf die Urteilsbegründungen der Richter, insbesondere die Rolle, die der Notstand hierbei einnimmt. Um die Frage zu beantworten, inwiefern die Angeklagten aus einem Notstand heraus gehandelt haben könnten, mussten die Richter dazu Stellung beziehen, ob und inwieweit die Angeklagten über den Einsatz der Sklavenarbeiter frei entscheiden konnten. Wie wir sehen werden, setzten die Richter auch hier das staatliche Gewaltmonopol als gegeben voraus. Sie zeichneten das Bild eines totalitären Staates, der nicht nur die Menschenrechte, sondern auch die Regeln des freien (Arbeits‑)Marktes systematisch verletzt hatte.

Das Flick-Tribunal war das erste, das über die individuelle Verantwortung der Unternehmer für den Einsatz von Sklavenarbeit entschied. Die Angeklagten waren wegen der Deportation von Arbeiter*innen und wegen „Tod, unmenschlicher Behandlung und Leiden der Arbeiter während ihrer Beschäftigung in den ihnen unterstellten Unternehmen“ angeklagt worden (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952b: 54–55). Das Flick-Tribunal akzeptierte die Notstands-Verteidigung als Entschuldigung für den Einsatz von Sklavenarbeit, wenn bestimmte Kriterien erfüllt waren. Die Richter argumentierten, dass nur dann eine strafrechtliche Verantwortung für den Gebrauch von Sklavenarbeit angenommen werden könne, wenn die Staatsanwaltschaft beweisen könne, dass die Angeklagten selbst die Initiative ergriffen hätten. Im Einklang mit dieser Argumentation wurden zwei der Angeklagten, Weiss und Flick, für schuldig befunden, weil sie aktiv um russische Kriegsgefangene geworben hatten, um eine selbst festgelegte Produktionsquote für Güterwagen erfüllen zu können. In ähnlicher Weise argumentierte auch das Farben-Tribunal (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952a: 1179).

Sowohl das Flick- als auch das Farben-Tribunal stellten somit Umstände fest, unter denen sich die Angeklagten nicht auf Notstand berufen konnten. Diese Umstände erwiesen sich jedoch als die Ausnahmen, die die Regel bestätigten. In den meisten Fällen, so das Flick-Tribunal, konnten die Angeklagten nicht frei handeln und hatten daher nicht die Möglichkeit einer freien Entscheidung, die Voraussetzung für strafrechtliche Verantwortung. Das Reich sei durch seine Heerscharen von Vollzugsbeamten und Geheimpolizisten immer „präsent“ gewesen, bereit, sofort in Aktion zu treten und brutale und unmittelbare Strafen gegen jede Person zu verhängen, die irgendetwas tat, was als Behinderung oder Verhinderung der Durchführung von Regierungsverordnungen oder -dekreten ausgelegt werden konnte (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952b: 1201). Der totalitäre Staat äußert sich hier in der Kontrolle und Überwachung der wirtschaftlichen Sphäre.

Auch im Prozess gegen die IG Farben erklärten die Richter ausdrücklich, dass es Aufgabe der Staatsanwaltschaft sei, eine „Initiative zu beweisen, die geeignet ist, [dem Angeklagten] die ansonsten festgestellte Einrede des Notstands zu nehmen“ (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952a: 1195). Von den 25 Angeklagten wurden fünf gemäß dieser Anforderung für schuldig befunden. Das Gericht urteilte, dass die Angeklagten Dürrfeld, Ambros, Bütefisch, Krauch und Ter Meer die strafrechtliche Verantwortung für den Einsatz von Sklavenarbeitern in den Werken Auschwitz und Fürstengrube trugen, da es sich dabei um rein private Projekte handelte, die von der IG Farben betrieben wurden und bei denen die damit verbundenen Funktionäre der Farben erhebliche Freiheiten und Möglichkeiten zur Initiative hatten (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952a: 1186).

Angesichts der Tatsache, dass der Verweis auf einen Notstand bei Flick und Farben relativ leicht akzeptiert worden war, erwarteten die Angeklagten im Fall Krupp, dass die Anklage wegen Sklavenarbeit von ihrem Gericht in gleicher Weise abgewiesen werden würde. Sie irrten sich. Im Fall Krupp betonten die Richter, dass „Notstand“ nicht pauschal geltend gemacht werden könne, sondern eine Bewertung der Verhältnismäßigkeit stattfinden müsse. Es müsse unterschieden werden zwischen dem Leid, dass der Angeklagte hätte ertragen müssen, wenn er sich den Anordnungen widersetzt hätte, einerseits, und dem Leid, das die Arbeiter tatsächlich hatten ertragen müssen, andererseits. Selbst wenn man davon ausgehe, dass als Folge des Widerstands gegen die Reichspolitik Krupp die Kontrolle über sein Werk und die Beamten ihre Positionen verloren hätten, könne man nicht zu dem Schluss kommen, dass ihr Handeln gerechtfertigt sei (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952c: 1445).

Es gibt also keine einheitliche Rechtsprechung zum Notstand im Zusammenhang mit den Sklavenarbeitsvorwürfen. Gemeinsam ist allen drei Fällen jedoch, dass die Richter vom Gewaltmonopol des Staates ausgehen, mit dem er das Sklavenarbeitsprogramm auch gegen den Willen der Unternehmer durchsetzen konnte (Lustig 2020). Damit projizieren sie die liberale Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre auf die Vergangenheit und machen sie zu einem normativen Maßstab. Der Verweis auf einen Notstand der angeklagten Unternehmer, wie er in Flick und Farben akzeptiert wurde, legt nahe, dass diese Freiheit und die daraus abgeleitete Verantwortung in dem Moment aufhört, in dem der Staat in die private Sphäre der Wirtschaft, in Entscheidungen über Produktionsvolumen und Arbeitsverhältnisse eingreift. Die Wirtschaftsakteure, so wird behauptet, können nur dann für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden, wenn dieser Freiheitsbereich durch den Staat gewährleistet ist. Die juristischen Argumente zur unternehmerischen Verantwortung für Sklavenarbeit legen nahe, dass der Nationalsozialismus mit der festgelegten Produktionsquote und der vorgeschriebenen Zwangsarbeit die Bedingung für die Übernahme juristischer Verantwortung aufgehoben hat. Was diese Entscheidungen als liberal entlarvt, ist nicht so sehr die Tatsache, dass den Wirtschaftsakteuren (im Gegensatz zu den Militärs) die Einrede des Notstands zugestanden wurde (vgl. hierzu Baars 2019), sondern die Art und Weise, wie diese Entscheidungen begründet wurden. In den Urteilen wird der totalitäre Staat nicht nur deshalb als totalitär definiert, weil er die körperliche Unversehrtheit von Millionen von Menschen verletzte, sondern weil er die Unabhängigkeit der wirtschaftlichen Sphäre verletzte.

Hier zeigen sich die Parallelen zur ordoliberalen Analyse. Die Geschichte hat nicht nur „Nein“ zum totalitären Staat gesagt, der den Rechtsstaat außer Kraft gesetzt hat, sondern auch zu einem totalitären Staat, der gegen die Regeln des Marktes verstoßen hat. Mit der Art und Weise, wie der nationalsozialistische Staat und die deutsche Wirtschaft zueinander in Bezug gesetzt werden, verorten die Urteile die Ursache für die Gewalt im Staat, der mit seinen Produktionszielen und der Anordnung von Zwangsarbeit eine ansonsten vermeintlich gewaltfreie Produktion gewaltvoll macht. Diese Deutung des Zusammenhangs steht damit in Kontrast zu den Collagen Heartfields, in denen suggeriert wird, dass der Krieg (auch) auf das im System angelegte Profitstreben der Unternehmen zurückzuführen ist.Footnote 10

3.3 Kriegswirtschaft: Plündern, Enteignen und „normale Geschäftsvorgänge“

In allen drei Fällen – IG Farben, Krupp und Flick – erhob die US-Staatsanwaltschaft Anklage wegen Plünderung und Enteignung in den besetzten Gebieten. Die Richter folgten in keinem der Fälle vollständig der Anklageschrift. Vielmehr unterschieden sie zwischen legalen, weil freiwilligen, Transaktionen und solchen Vertragsabschlüssen, die durch Zwang zustande gekommen und daher als Plünderung zu qualifizieren seien. Die von den drei Tribunalen zur Begründung dieser Unterscheidung eingeführten Kriterien werfen ein weiteres Licht auf die zugrundeliegenden Annahmen über das Wesen des NS-Staates. Wie wir sehen werden, schrieben die Richter auch hier dem Staat das Gewaltmonopol zu und setzen die Wirtschaft als einen Bereich der freien (weil vermeintlich freiwilligen) Interaktionen voraus, der potenziell durch die Präsenz des totalitären Staates ausgehebelt wird. Auch hier wird der freie Markt zum Gegenteil von Gewalt stilisiert.

Der Tatbestand der Plünderung und Enteignung war bereits im Hauptkriegsverbrecherprozess verhandelt worden. Dort kam das Tribunal zu dem Schluss, dass die von Deutschland besetzten Gebiete ohne Rücksicht auf die örtliche Wirtschaft und in Folge einer bewussten Planung und Politik für die deutschen Kriegsanstrengungen rücksichtslos ausgebeutet wurden. Aber erst im Fall Flick hatte ein Tribunal zum ersten Mal über die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Privatperson für diese Eigentumsdelikte zu entscheiden. Diese betrafen, wie das Tribunal ausführte, Otto Steinbrincks Aktivitäten zur Leitung der Kohle- und Stahlproduktion in den westlichen Gebieten, die Flick-Verwaltung des Rombach-Werks und die Besetzung und Nutzung der Vairogs- und Dnjepr-Stahl-Werke im Osten. Die zentrale Frage, über die das Tribunal im Hinblick auf den Tatbestand der Plünderung und Enteignung zu entscheiden hatte, war, unter welchen Umständen Geschäfte während des Krieges nach Internationalem Recht rechtmäßig waren.

Das zentrale völkerrechtliche Regelwerk zur Plünderung war das Haager Abkommen von 1907. Zweck der Artikel 45 bis 56 des „Übereinkommens über die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges“ sei es, so die Richter, das Privateigentum und die Wirtschaft des besetzten Landes zu schützen (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952b: 1203–1204). Ein Verstoß gegen diese Artikel sei nur dann zu bejahen, wenn die lokale Wirtschaft – über die im Haager Übereinkommen vorgesehenen Ausnahmen hinaus – tatsächlich geschädigt werde. In Bezug auf die Anschuldigungen gegen Otto Steinbrinck konnten die Richter keine „vorsätzliche Diskriminierung der lokalen Wirtschaft“ feststellen (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952b: 1210–1212). Das Tribunal begründete diese Feststellung damit, dass er in seiner Verwaltung bestrebt gewesen sei, den Fluss von Kohle und Stahl zwischen den Industrien in diesen Ländern in Kriegszeiten so wenig wie möglich zu stören.

Die Anklage im Prozess gegen Vertreter der IG Farben sah in der Plünderung und Enteignung von Privateigentum einen doppelten Straftatbestand. Es habe sich zum einen um einen Angriff auf das Privateigentum der jeweiligen Eigentümer und zum anderen um ein Verbrechen gegen die Wirtschaft des besetzten Landes gehandelt. Unter diesem Gesichtspunkt könne eine solche Transaktion auch dann als Verbrechen gegen die lokale Wirtschaft und damit als Plünderung angesehen werden, wenn sie von den Parteien auf freiwilliger Basis vereinbart worden sei. Die Richter teilten jedoch die Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht. Das Urteil im IG-Farben-Prozess bietet eine detaillierte Interpretation der Straftatbestände Plünderung und Enteignung im Sinne der Haager Übereinkommen. Die Richter resümieren: „Wir suchen vergeblich nach irgendeiner Bestimmung in der Haager Landkriegsordnung, die die pauschale Behauptung rechtfertigen würde, dass Privatpersonen aus der Nation des militärischen Besatzers keine Verträge über Eigentum in besetzten Gebieten abschließen dürfen, wenn die Zustimmung des Eigentümers tatsächlich frei gegeben wurde“ (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952a: 1135–1137). Vielmehr komme es darauf an, ob ein Kaufvertrag aus freier Entscheidung oder unter Zwang zustande gekommen sei. Zu der Frage, wie festgestellt werden kann, ob eine Vereinbarung unter Zwang zustande gekommen ist, führt das Gericht aus, dass „die bloße Anwesenheit des militärischen Besatzers“ als Indiz nicht ausreiche. Vielmehr müsse belegt werden, „dass ein ansonsten scheinbar legales Geschäft aufgrund der Ausübung von Druck nicht freiwillig abgeschlossen wurde“ (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952a: 1134–1136).

Zwar argumentierte das Farben-Tribunal in Bezug auf den Tatbestand der Sklavenarbeit, dass die Anwesenheit des Staates einen Notstand begründet, sofern keine individuelle Initiative nachgewiesen wird. Die Auswirkungen der vermeintlich allgegenwärtigen Präsenz des NS-Staates auf die Vermögenstransaktionen wurden jedoch anders beurteilt. Nach Ansicht des Gerichts musste in jedem Einzelfall geprüft werden, ob die Anwesenheit der Besatzungstruppen den Schluss zuließ, dass die Zustimmung (der französischen oder belgischen Geschäftspartner) nicht frei erteilt wurde. Dies wurde in den meisten Fällen bejaht, nur für Rhone-Poulenc stellte das Gericht fest, dass es sich bei der „Übertragung von Eigentum um normale Geschäftsvorgänge“ gehandelt habe (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952a: 1150).

Auch hier stützten die Richter ihre Argumentation auf die Grundannahme, dass der NS-Staat das faktische Gewaltmonopol innehatte und dass grundsätzlich eine private Sphäre existierte, in der die Einzelnen noch frei handeln konnten. Die private Sphäre wurde vom totalitären Staat dort tangiert, wo der Staat versuchte, in die Wirtschaft einzugreifen, indem er Geschäftsabschlüsse mit der Androhung physischer Gewalt erzwang. Wie Doreen Lustig in Anlehnung an Ernst Fraenkels Analyse des nationalsozialistischen Staates als „Doppelstaat“ treffend formuliert: „The prerogative, and thus unlawful, behavior of the state, was identified with its unlawful influence on the private sphere, rather than the absence of a rule of law in the occupied areas.“ (Lustig 2011b: 1042).

3.4 Totalitärer Staat und freie Wirtschaft

Zu Beginn dieses Abschnitts habe ich Taylors Worte aus dem Eröffnungsplädoyer in Flick zitiert, mit denen er andeutete, dass die einzige Aufgabe des Tribunals darin bestehe, „die gewöhnlichen Normen menschlichen Verhaltens, die im Völkerrecht verankert sind, zu bestätigen und neu zu beleben“. Das Zitat, so habe ich angedeutet, verkennt die performative Arbeit der Industriellenprozesse. Indem diese bestehende Normen des Völkerrechts anwenden und damit die Grenze zwischen illegalen und legalen unternehmerischen Handlungen ziehen, setzen sie diese Grenze auch immer wieder neu. Welches sind also diese „gewöhnlichen Normen menschlichen Verhaltens“, die in der Beurteilung der gewaltvollen Vergangenheit zum Ausdruck kommen? Und was sagen sie über das (angenommene) Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus aus?

Wie meine Lektüre der juristischen Argumente zur Verantwortung der Industriellen für den Angriffskrieg, die Sklavenarbeit und die Plünderungen in diesem Abschnitt zeigt, war ein zentrales Kriterium für die Bestimmung der (Un‑)Rechtmäßigkeit des Verhaltens der Unternehmer das allgemeine Verhältnis zwischen dem NS-Staat und seiner Wirtschaft. Sie stellten rechtswidriges Verhalten dort fest, wo der NS-Staat die (liberale) Trennung von Staat und Wirtschaft missachtet hat. Die Tatsache, dass die Industriellen diese besondere Anordnung der politischen Ökonomie ausnutzten, machte sie zu weniger ehrenhaften Geschäftsleuten, war aber nicht das zentrale Problem. Wie das Gericht in der Rechtssache Flick unmissverständlich feststellte: „To covet is a sin under the Decalogue but not a violation of the Hague Regulations nor a war crime“ (N.M.T. und Nuernberg Military Tribunals 1952b: 1210). Auch in Bezug auf die Anklagepunkte Sklavenarbeit sowie Plünderung und Enteignung weisen die Tribunale darauf hin, dass die wirtschaftliche Begründung der Verbrechen dort zu finden ist, wo der Staat versucht, seine eigenen Interessen, nämlich die Erhöhung der Kriegsressourcen, in der wirtschaftlichen Sphäre durchzusetzen. Es war die Androhung physischer Gewalt, die die Eigentumsgeschäfte in den besetzten Gebieten in ein Kriegsverbrechen verwandelte. Doch gerade das Vorhandensein der Androhung physischer Gewalt war gleichzeitig Grund genug, in manchen Fällen Notstand in Betracht zu ziehen.

In ihrer Auseinandersetzung mit den Industriellenprozessen kommt Grietje Baars zu dem Schluss, dass die Prozesse gegen deutsche Industrielle die „ökonomische Dimension“ des Zweiten Weltkriegs „weggezaubert“ hätten. Weil sie das Ökonomische aus der Logik der Staatsverbrechen ausschließen und weil die wenigen verurteilten Industriellen relativ schnell durch eine Amnestie wieder in die deutsche Wirtschaft integriert wurden, müssen die Industriellenprozesse ihr zufolge als „kapitalistische Siegerjustiz“ qualifiziert werden (Baars 2019). Auch ich komme zu dem Schluss, dass die Industriellenprozesse ein Bild der Vergangenheit zeichnen, welches darauf abzielt, die freie Marktwirtschaft zu legitimieren. Sie erreichen dies aber nicht, wie von Baars suggeriert, indem sie die wirtschaftliche Dimension der Verbrechen auf magische Weise ausblenden. Vielmehr wurde das Verhältnis von nationalsozialistischem Staat und deutschem Großkapital einer bestimmten politökonomischen Lesart unterzogen, die dem totalitären Staat den Markt als Sphäre der Freiheit entgegensetzt.

4 Fazit: Die Aktualität der Industriellenverfahren

Die Collagen, mit denen John Heartfield auf die Verquickung von Aufstieg der Nationalsozialisten und den Interessen des deutschen Großkapitals hinwies, sollten im Jahr 1932 auf die – in den Augen der Kommunistischen Partei – wahren Gründe für die deutschen Kriegspläne hinweisen. Sie wollten die wirtschaftlichen Gründe hinter der Staatspolitik sichtbar machen und damit nicht nur einzelne Industrielle, sondern den Kapitalismus insgesamt als kriegstreibende Kraft diskreditieren. Auch die Industriellenprozesse, so haben wir gesehen, mussten zur Feststellung der individuellen Schuld der Angeklagten beide Bereiche – die deutsche Wirtschaft und den nationalsozialistischen Staat – zueinander in Verbindung setzen. Anders als die Collagen von Heartfield zeichneten die Verfahren gegen deutsche Industrielle aber ein Bild der Vergangenheit, das in der Verletzung der liberalen Trennung von Staat und Wirtschaft die Gründe und Ursachen des Zweiten Weltkriegs sieht. Hierin liegt die ordnungspolitische Funktion der Industriellenverfahren. Sie zielen darauf ab, den liberalen Rechtsstaat, und das meint auch die freie Wirtschaft, zu legitimieren, indem sie „eine Form der Schematisierung“ universalisieren, die wiederum einer „bestimmten Technologie der Regierung zu eigen ist“ – nämlich dem Liberalismus (Foucault 2004: 438).

Mit der hier vorgelegten Analyse der Industriellenprozesse als bildgebende Verfahren habe ich versucht, die Gerichtsverfahren aus dem linearen Narrativ herauszulösen, in das ein Großteil der rechtswissenschaftlichen Literatur sie eingebunden hat. Während die Literatur zu „Nürnberg“ aus dem Internationalen Strafrecht und der transitional justice die wirtschaftliche Dimension der Verfahren zunächst lange ausgeblendet hat, reduziert die spätere Literatur, bis auf wenige Ausnahmen, die Verfahren auf Präzedenzfälle für die individuelle, rechtliche Verantwortung von Unternehmern im Internationalen Recht. Diese Literatur vernachlässigt damit die Verhandlung politischer Ordnung, die in den Verfahren stattfand, und beraubt damit die Industriellenprozesse ihres kritischen Potentials. Dieses besteht unter anderem darin, die Besonderheiten und die Kontingenz der gegenwärtigen Diskussion um Unternehmensverantwortung wahrnehmbar zu machen. Der hier vorgeschlagene Analyserahmen ist sensibel für die gesellschaftlichen Kämpfe, die sich in den Industriellenverfahren herauskristallisieren. Wie die Collagen John Heartfields werfen auch die Industriellenverfahren den Blick in eine Zeit, in der das Verhältnis von Kapitalismus und Faschismus, und damit auch das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie, grundsätzlich verhandelt wurde. Welche Relevanz hat dieser Blick auf die Verfahren für aktuelle Debatten zur rechtlichen Aufarbeitung von Vergangenheit sowie zur Unternehmensverantwortung? Was bedeutet es, die Industriellenprozesse zu aktualisieren, sie in die Gegenwart hineinzuholen?Footnote 11

Die Relevanz der Verfahren besteht zunächst in der Erkenntnis, dass das Internationale Strafrecht nicht nur deswegen ein liberales Projekt ist, weil es auf die Etablierung individueller Verantwortung abzielt. Wir können, mit Foucault gesprochen, den Liberalismus als eine Regierungslogik verstehen, die sich durch „die Einrichtung und die Organisation der Bedingungen, unter denen man frei sein kann“ (Foucault 2004: 97) auszeichnet, eine Logik, die ihre Hinweise aus der politischen Ökonomie nimmt und sich um die Frage dreht, wie man die Regierung in Bezug auf die Gesellschaft (und ihre Wirtschaft) begrenzt. Vor diesem Hintergrund betreffen die Prozesse, die sich mit der Verantwortung wirtschaftlicher Akteure für staatlich unterstützte Gewalt befassen, einen zentralen Punkt liberaler Ordnung. Allgemein befassen sich Prozesse im Zusammenhang mit staatlichen Systemverbrechen mit der Ausdehnung von Staatsgewalt, der Allgegenwart des Staatsapparates und der Suspendierung individueller Freiheiten. Sie sollen einen Bruch zwischen einer gewalttätigen Vergangenheit und einer demokratischen (gewaltfreien) Gegenwart vollziehen. In den Industriellenverfahren verlaufen diese Grenzen zwischen dem „verbrecherischen“ Vorgängerstaat und dem neuen „guten, demokratischen“ Staat zweifach. Sie markieren nicht nur die Opposition zwischen willkürlicher staatlicher Gewalt und einem demokratischen Rechtsstaat, sondern unterscheiden auch jene Interaktionen zwischen Wirtschaft und Staat, und jene Formen des Wirtschaftens, die als akzeptabel angesehen werden, von denen, die als gewaltvoll angesehen werden. Diese Unterscheidung erfolgt entlang liberaler Kriterien. Indem der Markt als (gewalt)freie Sphäre gesetzt wird, wird die Gewalt kapitalistischer Produktionsverhältnisse ausgeblendet.

Darüber hinaus ist die hier präsentierte Analyse der Industriellenverfahren relevant für aktuelle Debatten zur Verantwortung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen (business and human rights und corporate accountability). Wenn in diesen Debatten die Industriellenprozesse als juristischer Präzedenzfall herangezogen werden, um den extremen Formen von Gewalt zu begegnen, die die gegenwärtigen Erscheinungsformen des Kapitalismus prägen, ist es zunächst wichtig, sich daran zu erinnern, dass diese Prozesse Teil einer umfassenderen Bemühung waren, den Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zu verurteilen, sondern zu retten. Vor diesem Hintergrund regt uns die Analyse dazu an, danach zu fragen, welche Ordnungsvorstellungen dem juristischen Diskurs zu „Business and Human Rights“, wie er zum Beispiel auch im Lieferkettengesetz institutionalisiert ist, zugrunde liegen. Was bedeutet es, über das Verhältnis von Unternehmen, Wirtschaften und (Staats‑)Gewalt alleine in Form von Menschenrechtsverletzungen nachzudenken? Und welche anderen Konzepte stehen uns zur Verfügung, um das Verhältnis von Unternehmen und (Staats‑)Gewalt zu fassen?