1 Einleitung

Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wurden unilateral Handlungsformen in der europäischen Sicherheitspraxis rehabilitiert, die paradigmatische Gewissheiten einer als normativen Ordnung zu denkenden Friedensarchitektur erschüttern. Veritable Zweifel an lange als verlässlich befundenen Wissensbeständen sind auch innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung zu vernehmen, deren Schlussfolgerungen jedoch mitunter irritieren. Um neue politische Realitäten adäquat adressieren zu können, so prominente Stimmen um John Mearsheimer (2022) und im deutschsprachigen Raum Herfried Münkler (2022), müssen eingeholte Konzepte der Sicherheitskooperation und einer auf Normen basierten Ordnungsbildung vorerst verabschiedet und realistischen Begriffsapparaten wieder stärkere Beachtung geschenkt werden. Dabei überrascht die voreilige Bereitschaft, mit der ohne erkennbaren Zwang auf konzeptuelle Möglichkeitsfelder der Konfliktforschung verzichtet wird, die damit Gefahr läuft, Konsequenzen dieses Krieges auf die Rehabilitierung jeweils präferierter Denkschulen zu verkürzen. Wo realistische Verweise auf axiomatische great-power-politics die Attraktivität der eigenen Theoriebrille bekräftigen, ignorieren sie wesentliche Aspekte dieses Krieges. Tatsächlich rekurriert Russland wie schon zur Krim-Annexion auf ein System historisch-kulturell begründeter Rechte im „nahen Ausland“ (Schaller 2018), welche die Interpretation und das Formulieren auch völkerrechtlich bekleideter Ansprüche, inklusive ihrer militärischen Eskalation, anleiten (Lawrow 2022a; Joint Statement 2016: §§ 2,6). Eine wesentliche Herausforderung des Angriffskrieges liegt somit darin, dass Russland in Emulation des westlichen Schutzbegriffes eine eigene Formel für als legitim befundene Gewaltausübung aufstellt. So werden extraterritoriale Schutzansprüche russischer Volksgruppen sowie ein exklusives Vorbehaltsrecht zur Inanspruchnahme historischer Rechte proklamiert. Während die Art der Durchführung u. a. bei China Widerspruch auslöst, stoßen Grundprinzipien dieses Ordnungsdenkens auf Resonanz und lassen bereits jetzt die reziproke Vergewisserung eines sich stabilisierenden Rechtskreises erkennen. Der Angriffskrieg ist so der gewaltvolle Ausdruck eines sich verfestigenden Gegenmodells zur liberalen Ordnung, in dessen Zentrum der Raumbegriff im Völkerrecht an die Stelle souveräner Staaten als seine primären Rechtssubjekte tritt. Damit ist aber nicht ein Widerspruch gegenüber Normen per se das handlungsanleitende Paradigma dieses Krieges, sondern die Disruption je eigenständiger Rechtskreise mit unabhängigen Wahrheiten und Rationalitäten. Auch wenn der Krieg zeigt, dass die Autorität positivierter Normen und Institutionen an der Willkür partikularer Ordnungsvorstellungen zerbrechen kann, ist das Erforschen jener Normensysteme, denen sich Russland selbst in aggressiver Form verschreibt, unerlässlich.

Dieser Beitrag lokalisiert ein Forschungsdesiderat in der situationsangemessenen Reformulierung künftig intensiver beanspruchter Konzepte, welche die performative Wirkung solcher Norm- und Ordnungsvorstellungen als Weltbilder ernstnehmen muss. Dafür ist die Konfliktforschung gefordert, das Operieren mit einem homogenen Rationalitätsbegriff und auf Intentionalität konzentrierten Normverständnissen zu erweitern und Handlungsdynamiken jenseits geteilter Standards angemessenen Verhaltens neu auszuloten. Denn unter der Bedingung sich verfestigender Gemeinschaften mit gegenläufigen Grundprinzipien (Marxen 2022, S. 2) und je eigenen Wirklichkeitshorizonten, fehlt es an der Bedingung kollektivierter Rationalität und Konformität, wenngleich daraus keine Anarchie folgt. Die Konfliktforschung muss einem Paradigma der Disruption begegnen, in dem schon die Wahrnehmungen der Situation in distinktiven Staatengruppen auseinanderlaufen.

2 Vom Widerspruch zur Disruption: Russlands Rehabilitierung einer völkerrechtlichen Großraumordnung

Für eine Reflexion des Angriffskrieges ist der Umstand nicht zu unterschlagen, dass Russland in der Rechtfertigung immer wieder selbst auf das Völkerrecht rekurriert und dessen Re-interpretation nicht unilateral, sondern vom Streben um Anerkennung geprägt ist. Mit der Formel einer „Spezialoperation“ emuliert Russland in einer völkerrechtlich anmutenden Konstruktion die westlich geprägte Rechtfertigungsstruktur einer Schutzverantwortung, mit der eine eigene Lesart völkerrechtlicher Fundamentalnormen in eine bekannte Form gegossen wird. Dabei wird indes das von Art. 2 Abs. 1, 2 UN-Charta garantierte „principle of the sovereign equality“ und das Selbstbestimmungsrecht der Völker in sein Gegenteil verkehrt und vom Status der Ukraine als unabhängigem Völkerrechtssubjekt gelöst. Stattdessen wird das Konzept von Souveränität auf einen Raumbegriff gemünzt und insistiert, Russland selbst sei die Partei, die in Reaktion auf Kiews Westorientierung und in Rekurs auf historische Rechte, ein Selbstverteidigungsrecht gegen die Verdrängung russischer Sprache, Kultur und der „spiritual unity“ russischer Volksgruppen geltend machen könne (Putin 2022). So übe man Schutzansprüche im eigenen Raum aus. Solche Dynamiken sind nicht neu. Neu ist die Art der russischen Bezugnahme auf das Völkerrecht mit der ein Paradigma des Widerspruchs zur Disruption avanciert.

Aus vergangenen Streitfragen grundsätzlicher Art sind der Konfliktforschung Prozesse einer Rechtfertigungspraxis vertraut, in denen Legitimationserwägungen völkerrechtliche Legalitätsfragen überlagern. Gewaltanwendung und Zwang können sich dann über ihre Anerkennung von Teilen der internationalen Gemeinschaft als rechtlich gerechtfertigter und quasi-legalisierter Rechtsakt durchsetzen (Daase 2013; Daase et al. 2012). Der Streit um die humanitäre Schutzverantwortung und ihr konflikthaftes Verhältnis zur „Grundnorm“ der Souveränität ist ein eindrückliches und aus westlicher Sicht positiv konnotiertes Beispiel, das als Errungenschaft und Komplettierung liberaler Ordnung begriffen wurde. Dass solche Prozesse trotz Kollision nicht notwendigerweise als Verletzung von Normen des Völkerrechts gelten, resultiert aus ihrer Subsumtionsstruktur, in der Legalitätswertungen anerkannter Rechtssätze indiziert werden, aber Rechtfertigungsgründe ein abweichendes Ergebnis zulassen. Der Anerkennungsfähigkeit sind dabei aber Grenzen gesteckt und sie setzt voraus, dass Legalitäts- und Legitimationserwägungen derselben Rechtsordnung und -denkens entspringen und kohärente Abwägungsgründe innerhalb dieser Ordnung darstellen. Der Gedanke der Schutzverantwortung baut so auf die Voraussetzung eines völkergewohnheitsrechtlich anerkannten erga omnes Charakter menschenrechtlicher Mindeststandards, deren Einhaltung nicht nur von der internationalen Gemeinschaft gefordert und im Zweifel selbst geltend gemacht werden kann, sondern als Verpflichtung des souveränen Staates gegenüber seiner Bevölkerung in den zwingenden ius cogens Status der Souveränität selbst eingeschrieben ist und mithin nicht abgedungen werden kann. Völkerrecht ist hier kein Sammeln legaler „Fakten“, „[as] rules or norms are not causes, but provide reasons for action“ (Kratochwil 2014, S. 57), auf dem sich ein solches Handeln gründet. Treten Handlungen hinzu, die wie die heftige Kritik Russlands und Chinas im Fall des KosovoFootnote 1 oder in LibyenFootnote 2 gezeigt haben, einem gänzlich anderen Rechtsdenken entspringen und sind Grundpfeiler der Völkerrechtsordnung zwischen divergierenden Rechtskreisen selbst umstritten (Deitelhoff und Zimmermann 2020), avanciert die Abwägungsfrage zur grundlegenden Ordnungsfrage und einer „genesis of conflict through various definitions of a situation“ (Kratochwil 1979, S. 30). Was die eine Seite als legitimen und legalen Handlungsrahmen begreift, erfasst die andere Seite als unbegründete und damit willkürliche Gewalt. Im Fall des Kosovos hatte sich Russland noch auf das traditionelle Völkerrecht berufen und, anders als westliche Staaten, ein Eingreifen als Unvereinbar mit Prinzipien des Rechts kritisiert (Russia 2008).

Der Umgang des „Westens“ mit dem Angriffskrieg Russlands ist indes deswegen so prekär, weil es sich nicht um einen terminologischen Disput handelt, in dem nur noch um die richtige „Sprache“ (sowohl i.S. einzelner Rechtsbegriffe als auch weiter i.S. einer Angemessenheit militärischer gegenüber diplomatischer Handlungslogik) gerungen wird. Die Invasion ist Ausdruck einer konkurrierenden Weltsicht, mit der Grundprinzipien des Völkerrechts und der europäischen Friedensordnung in gänzlich neue Zusammenhänge gestellt werden und mit eigenen handlungsbegründenden Rationalitäten einhergehen – „an internally consistent pattern of reasoning“ (Adler und Haas 1992, S. 372). Eine eingehendere Betrachtung, wie Russland das Völkerrecht in Anspruch nimmt, ist aufschlussreich. Denn neu sind nicht die abweichenden Vorstellungen Russlands; wohl aber, dass diese neuerdings nicht ausnahmslos „harmlose“ Gründe bereitstellen, etwa dafür, als Form des Widerspruchs extensiv von einem Vetorecht im Sicherheitsrat Gebrauch zu machen, womit sich bislang etwa gegen humanitäre Interventionen zur kollektiven Verantwortungsübernahme gestemmt wurde (Schaller 2018, S. 11). Russland formuliert explizit eine eigene Formel einer Gewalt- und Interventionspraxis, mit der als legitim befundene Ansprüche bis hin zum Krieg geltend gemacht werden. Dreh- und Angelpunkt einer solchen zunehmend proaktiv verfolgten Ordnungskonzeption ist der Raumbegriff, dem anstelle individueller Staaten als die primären Rechtssubjekte, der Vorzug eingeräumt wird. Marxens (2022, S. 1) Vergleich russischer Völkerrechtsvorstellung zu Carl Schmitt (1941) ist insofern eine produktive Analogie für die zugrundeliegende Konstruktion, weil ebendies eine Ordnungsvorstellung ist, die den Joint Statements Russlands und Chinas im Februar 2022 sowie im Juni 2016 „On the Promotion of International Law“ zu Grunde liegen. Bereits 2016 hatten Russland und China auf das Prinzip der Gleichheit rekurriert und das Recht aller Staaten gefordert, an der Auslegung und Fortbildung des Völkerrechts zu partizipieren (Joint Statement 2016: § 2). Gemeint war damit die Neuverhandlung grundlegender Prinzipien (2016: §§ 1–4; Lawrow 2022aFootnote 3, 2022bFootnote 4), die mit dem Vorwurf einer westlichen Deutungshegemonie die Grundlage für eine Re-interpretation schaffte. Spätestens seit der Annexion der Krim formuliert Russland die aus dem Völkerrecht des 19. und 20. Jahrhundert bekannte Idee einer völkerrechtlichen Großraumordnung mit dem „Grundsatz der Nichtintervention raumfremder Mächte“ (Schmitt 1941, S. 28). Damit einher geht einerseits die Ablehnung jeder Form raumfremder („westlich-imperialer“Footnote 5) Einmischung, selbst ideenpolitischer Art, und andererseits die Inanspruchnahme eines extraterritorialen Schutzrechtanspruches für russische Minderheiten. Der Konstruktion nach markiert dies ein exklusives Vorbehaltsrecht Russlands, welches das bloße Existenzrecht der Ukraine oder einzelner Provinzen unter den Vorbehalt ihrer russischen Inanspruchnahme stellt. Putin (2022) hat diese Vorstellung expliziert: „The name „Ukraine“ was used more often in the meaning of the Old Russian word „okraina“ (periphery), which is found in written sources from the 12th century, referring to various border territories. And the word „Ukrainian“, judging by archival documents, originally referred to frontier guards who protected the external borders.“ Souveränität meint hier keinen Völkerrechtssubjektstatus der Ukraine qua internationaler Anerkennung, sondern ist unteilbar an eine räumlich gebundene Ordnungsidee gebunden, über die Russland qua historischem Recht zu verfügen beansprucht (Putin 2021, 2022). Im Bruch zur bislang traditionellen Völkerrechtsargumentation Russlands steht die Nicht-Territorialität des angeführten Raumbegriffes. Denn verteidigt wird im Fall der Ukraine gerade nicht eine strikte Geltung ukrainischer Souveränität auf Grundlage ihres Status als unabhängiges Völkerrechtssubjekt, sondern die Geltung russisch-historischer und -kultureller Einflüsse durch die Bezugnahme auf eigene Vorrechte. Damit entzieht Russland ehemaligen Sowjetstaaten ihre Subjektfähigkeit und rehabilitiert ein im modernen Völkerrecht überwundenes, vor-westfälisches bellum justum, auf dem sich als iusta causa sodann einseitig Russland zu berufen können glaubt: Nicht ein Krieg zwischen souveränen Staaten, sondern ein Recht zum Krieg Russlands.

Damit verändert sich grundlegend die Art, wie Souveränität und der Schutzbegriff in einen Zusammenhang gestellt werden und damit die Grundpfeiler internationaler Ordnung. Im Kontrast zu Konzepten einer Schutzverantwortung, die vornehmlich in westlich geprägten Rechtsdiskursen angeführt wurden, geht es Russland nicht um humanitäre Mindeststandards oder das Vermeiden eines Genozids in einer engeren Begriffsverwendung. Auch wenn Putin und Lawrow wiederholt den Begriff des Genozides gebrauchen, wird durch die Art der Bezugnahme deutlich, dass es um die russische Sprache, mythische Verweise auf russische Geschichte und Imperialität nicht nur im territorialen Sinne geht (Putin 2022). Es ist ein russischer Großraum und deren Ordnungsidee, den zu schützen Russland als Selbstverteidigungsrecht begreift, sodass es weniger um das Ausüben von Schutzverantwortung als um Schutzansprüche gegenüber raumfremden Mächten geht und auch die zu schützenden russischen Volksgruppen als inhärenter Teil dieses Raumes definiert werden. Das ist eine Enthumanisierung des Schutzbegriffs und eine grundlegende Re-interpretation des Subjektbegriffs im Völkerrecht. Dies äußert sich in der gezielten Zerstörung ukrainischer Kulturgüter. Die Zielerklärung einer „Entnazifizierung und Demilitarisierung“ der Ukraine kann angesichts des Vorgehens Russlands entsprechend nicht als billiges Gerede abgetan werden. Solche an sowjetische Heroisierungen anknüpfenden Präfigurationen sind Ausdruck dessen, dass schon die Orientierung der Ukraine hin zu Westeuropa – nicht primär eine militärische Bedrohung – als Verletzung russischer Einflusssphären gewertet wird, deren gewaltvolle Reaktion als die Ausübung eines Vorbehaltsrechts und so „in accordance with Article 51 of the UN Charter in the exercise of the right of self-defence“ (UN-Doc.S/2022/154) beschrieben wird.

Neu ist schließlich, dass Russland verstärkt an Koordinationsformen jenseits des Westens orientiert ist. Es scheint, als habe sich ein solches Völkerrechtsverständnis als unabhängiger Rechtskreis mit eigenen „criteria of legality“ und in reziproker AbsicherungFootnote 6 mit einer Staatengruppe um China zu einer Gewissheit zementiert, deren Anerkennungsfähigkeit verfängt (UN-Doc.A/RES/ES-11/1). Der Krieg kann deswegen nicht als Akt unilateraler Priorisierung russischer Sicherheitsinteressen simplifiziert, noch in einem Paradigma des Widerspruchs an vornehmlich westlichen Auslegungs- und Gestaltungspraktiken verstanden werden. Es ist eine proaktive Konkurrenz einer Staatengruppe, die Lesarten des Völkerrechts wie auch Formen multilateraler Sicherheitskoordination betreffen und mit eigenen Rationalitäten, Wirklichkeitshorizonten und für legitim befundener Gewaltausübung einhergehen. Ihr Wirken basiert auf geteilte „practical understandings“ (Adler und Haas 1992, S. 386).

3 Whom are you talking about? Die (neue) realistische Kritik

Umso spannender erscheinen die sich häufenden Stimmen, die Konzepte normativen Handelns in Reaktion auf den Angriffskrieg für hinfällig erklären. Um den auch von NATO-Generalsekretär Stoltenberg (2022) formulierten „neuen politischen Realitäten“ gerecht zu werden, sehen realistische Vertreter die Notwendigkeit zur Abkehr von obsolet gewordenen Konzepten normativer Ordnungsbildung. Auch in der Disziplin der Internationalen Beziehungen habe man „geschlafen oder einen Traum geträumt“ und den Einspruch der Realisten zurückgewiesen (Münkler 2022). Die Voraussetzungen einer Weltordnung, die „darauf abzielte, Konflikte in Kooperation zu verwandeln“, sei fundamental in Frage gestellt und „definitiv beendet worden“ (ebd.). Russland habe spätestens mit der Annexion der Krimhalbinsel „alle Regeln, alle Werte, alle Normen hinweg[geworfen]“. Einher geht dies mit einer Kritik, die einen naiv-illusionären bis empirisch widerlegbaren Glauben an die Relevanz von Normen insinuiert, der einen klaren Blick auf die Situation versperre und handlungseinschränkend wirke. Einen entscheidenden Schritt weiter geht Mearsheimer, der nicht müde wird zu betonen, dass es keinesfalls Imperialismus sei, der sich gegenwärtig in der Ukraine zeige. Vielmehr sei klar „(…) this is great-power politics. (…) This is the way great powers behave“ (Münkler 2022). Dem Westen sei insoweit gar eine Mitschuld an der Eskalation zuzuschreiben, da dieser an einer „liberalen Illusion“ festgehalten und damit die Logiken von great-power-politics fahrlässig missachtet habe.

Ungeachtet dessen, dass die Attraktivität realistischer Vokabulare für die Situation des Krieges nicht in Abrede gestellt werden soll, überrascht die Vehemenz, mit der konzeptuelle Möglichkeiten zurückgewiesen werden. Das gilt umso mehr, da realistischen Einwänden der begründete Anspruch zu entnehmen ist, etablierte Konzepte auf die Reifizierung eigener Erwartungen hin zu überprüfen und zu eruieren, inwiefern diese für die komplexe Situation des Angriffskrieges adäquate Beschreibungen bereitstellen. Um das Zurückweisen von Konzepten nicht doch auf die epistemologische Ebene einer Priorisierung präferierter Metatheorien zu heben, müssten zwei eigene Ansprüche eingelöst werden: erstens müsste gezeigt werden, inwieweit der Realismus den implizierten Vorzug eines von „theoretischen Glaubenssätzen“ losgelösten Blick auf die Welt „as it really is, not as we might like it to be“ (Waltz 2022) selbst einzulösen in der Lage ist und dabei besser mit der Situation zurechtkommt. Zweitens müsste verdeutlicht werden, warum der Vorwurf der „Naivität“ explizit auf die Konfliktforschung zutrifft. Die Hürde gegenüber früheren Debatten liegt insoweit höher, als dass diese selbst kein Problem hat, zu beschreiben, wie Normensysteme sowohl zur Einhegung willkürlicher Gewalt beitragen als sie auch selbst konstituieren (Deitelhoff und Daase 2021; Jacobi und Kuntz 2020; Simon und Brock 2017; Kratochwil 1979, S. 31ff.). Noch ist nicht erkennbar, wie realistische Einwände eigene Reflexionsansprüche erfüllen. Drei Gegeneinwände drängen sich auf.

Zum einen ist der Fokus auf Normen, ebenso wie realistische Begriffsapparate, ein Beobachtungsschema (Jacobi und Kuntz 2020), dessen Nützlichkeit sich anzweifeln lässt, nicht aber dessen gefundene oder nicht-gefundene Existenz. Eine so beschriebene Praxis normativer Ordnungsbildung ist dann weder auf moralisch wünschenswerte oder normativ-politische Sollenssätze zu reduzieren noch auf intentionale Zustände und einem instrumentellen Verständnis von Recht. Das missinterpretierte Argument lautet vielmehr, dass normative Ordnungen den Hintergrund bilden, vor dem sich das Handeln auf eine resonierende Gewissheit gründet (Weltsicht) und auf eine Praxis superveniert, innerhalb der auf distinktive Weise gedacht und gehandelt wird. Normativität meint hier eine inferentielle Festlegung auf ein Aspekt-Sehen von Realität, das vorreflexiv statt intentional in Praktiken unterschiedlicher Staatengruppen gründet. Norm- und Ordnungsvorstellungen implizieren damit erst Möglichkeiten affektiven Handelns mit einer spezifischen Zweck- und Zielorientierung, sie bilden ihre vorgelagerte Grundlage: „Mein Weltbild habe ich nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommende Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide“ (Wittgenstein 1994: § 94). Normensysteme sind deswegen keine reifizierten Objekte, die von Akteuren gewählt und intentional vollzogen werden und stehen nicht im Widerspruch zu gewaltvollem Handeln. Was als rational, willkürlich oder geboten perzipiert wird, gründet relational auf einer Weltsicht: [T]hese states do not inform activity by causing it. Rather, they inform activity by determining what makes sense to people to do (Schatzki 2001, S. 57). Die Kontestationsforschung hat so unlängst den Blick auf die grundsätzliche Umstrittenheit normativer Strukturen geöffnet, die den Streit und die Konfrontation nicht zum unhinterfragten Bestandteil eines anarchischen Systems zählt, sondern zum zentralen Ort sozialer Ordnungsbildung wendet (Wiener 2014). Normen (und Regeln) „do not refer to mental states of the actor: rather they are „signals“ for a social practice.“ (Kratochwil 1979, S. 30). Erst in dem Maße also, wie ein Normbegriff in realistischer Lesart der ontologischen Rahmung mechanisch beschriebener (Kausal‑)Beziehungen untergeordnet und einem Paradigma machtorientierter Akteure entgegengestellt wird, entsteht jenes Verständnis einer gestörten Kausalbeziehung zwischen (verdinglichter) Norm und gewaltvollen Handeln. Das unterstellt eine intentional-moralische Erwartung von Normkonzepten, die nur wenig mit denen seiner Vertreter*innen gemeinsam haben. Hier gelangt das Subsumieren „fremder“ Konzepte unter eigene Ontologien zum Ausdruck, die eigene (Miss‑)Interpretationen zum Gegenstand der Kritik macht – ein Zirkelschluss. Die mühsame denn produktive Frage, ob Russland „realistisch“ oder „normorientiert“ handelt (sic!), wird damit zur Nebensächlichkeit. Denn dies ist eine Unterscheidung, die sich erst unter der Voraussetzung eines homogenisierten Begriffes von Rationalität stellt und die Konflikthaftigkeit multipler Rationalitäten und das Gewaltpotenzial normativer Ordnungen ignoriert: für russisches Handeln ist die Idee extraterritorialer Schutzansprüche und ein Raumdenken performativ, sogar eine „Wahrheit“.

Ebenso operieren auch Mearsheimer und Münkler mit reifizierten „Glaubenssätzen“ machtpolitischer Rationalität und auch sie subsumieren diese nicht, wie zuvor kritisiert, aus einer problemorientierten Analyse der Situation. Vielmehr fassen sie den Fall unter bestehende Theorieparadigmen, insbesondere konkreten Vorstellungen über die Natur internationalen Handelns. Damit nehmen sie kategoriale Setzungen vor, wie die, das russisches Handeln in ahistorische Muster einer great-power-politics einzuordnen ist. Das ist insoweit problematisch, wie damit der entscheidende Erkenntnisbereich theoretisch fixiert wird: Was russische Großraumpolitik und die Grundprinzipien einer solchen Weltsicht ausmachen und welche Handlungsoptionen hier als sinnvoll eingestuft werden mögen, wird durch realistische Erwartungen ersetzt. Das verhindert eine Reflexion, mit der Neues ebenso unbeachtet bleibt wie relevante Schattierungen, etwa der Umstand, dass Russland mit einer (kulturellen!) Westorientierung der Ukraine mehr Probleme zu haben scheint als mit einem NATO-Beitritt Finnlands. Mit einer Homogenisierung von Rationalitäten bleibt also ein Umgang mit der Herausforderung unerreichbar, wie sich künftige Dynamiken zwischen divergierenden Gemeinschaften mit je eigenen Wahrheitshorizonten erforschen lassen. Realistische Situationsbeschreibungen mit realistischen Begriffen zu verifizieren, verfährt theorie- statt problemorientiert. Damit handeln sich aktuelle realistische Stimmen die Unfähigkeit ein, dezidiert russisches Handeln verstehen und beurteilen zu können.

Hier bleiben realistische Beiträge hinter ihren eigenen Möglichkeiten zurück. Denn dass auch sie den nötigen Komplexitätsaufbau leisten könnten, diesen Schritt bislang aber zu Gunsten einer spezifischen Lesart nicht bereit sind zu gehen, zeigt der Kontrast zweier Spielarten bei Carr und Mearsheimer. Während Carr ([1945] 2001, S. 209) insistiert, es sei in Reflexion auf Transformationen des Staatensystems „our task (…) to explore the ruins of our international order and discover on what fresh foundations we may hope to rebuild it“, gelangt Mearsheimer (2018, S. 228) zu dem eindimensionalen Ergebnis, dass „the United States will have little choice but to adopt a realist foreign policy“. Wo Mearsheimer durch theoretische Kondensierungen Zusammenhänge reduziert, eröffnet Carr die Möglichkeit, neue Rahmenbedingungen zu verstehen. Auch der Realismus ist mithin gut beraten, eine Reflexion seiner Wissensbestände voranzutreiben, wenn die geäußerte Kritik primär eigene Reifizierungen trifft.

4 Wirklichkeitsperzeptionen und das Herstellen von Konvergenzen: Europäische Ordnungspraxis jenseits kollektiv geteilter Standards

Ein Forschungsdesiderat der Konfliktforschung liegt damit in der situationsangemessenen Reformulierung künftig intensiver beanspruchter Konzepte, welche die Performativität disruptiver Ordnungsvorstellungen unter der Bedingung sich verfestigender Staatengruppen mit eigenen Grundprinzipien und Wahrheitsperzeptionen adressieren. Schatzkis „practical intelligibility“, der „state of affairs that action makes sense to someone to do“ (Schatzki 2001, S. 55) bietet einen skizzenhaften Hinweis auf die Art der geforderten Wissensbestände. Sie umfassen weniger das Ausmachen psychologisierter Absichten oder Motive, die unzugänglich bleiben, als die Rekonstruktion praktischer Handlungsgründe (Kratochwil 2018, S. 414) in den Zusammenhängen der Weltsicht einer Staatengruppe.

Erstens ist die Konfliktforschung gefordert, Wirklichkeitsperzeptionen der jeweiligen Staatengruppen und Praktiken über ihre relationale Bedeutung in Weltsichten zu reflektieren und konzeptuell zugänglich zu machen. Hier ist zu rekonstruieren, in welchen Kontexten und mit welchen Handlungsformen re-interpretierte Grundpfeiler wie ein verschobener Völkerrechtssubjekt-Begriff einhergehen. Was sind die neu zu erwartenden Möglichkeiten mit denen Handlungsformen in neuen Zusammenhängen performt werden? Die Festlegung Russlands auf die Legitimität von Schutzansprüchen im nahen Ausland, erschließt sich so etwa nur aus ihrer inferentiellen Beziehung zu einem am Raumbegriff geknüpften Souveränitätsverständnis, muss sich darin aber künftig nicht erschöpfen. Solche distinktiven Denk- und Handlungsweisen zugänglich zu machen, eröffnet der Konfliktforschung eine intelligible Verständlichkeit, die situationsgerechte Erwartungen stabilisieren. Dazu gesellt sich zweitens die Hauptherausforderung, Interaktionen zwischen divergierenden Gemeinschaften jenseits geteilter Verhaltensstandards oder Rationalitäten in den Fokus zu rücken, um Möglichkeiten der Irritation von Wirklichkeitsperzeptionen zu eröffnen. Dafür sind Schattierungen zu rekonstruieren, die Aufschluss darüber bieten „what is and is not acceptable in a practice“ (Schatzki 2002, S. 83f.) der jeweiligen Staatengemeinschaften. Soweit nicht erwartbar ist, dass Russland durch Sanktionen oder Verhandlungen die Grundfesten eines Raumdenkens aufweicht, sind Unterscheidungen zwischen unverrückbaren Aspekt-Wahrnehmungen von Realität einerseits sowie verrückbaren andererseits, ein elementarer Anknüpfungspunkt für ansonsten verbleibende Reaktionsmöglichkeiten. Hieraus lassen sich schließlich konvergente Handlungsfelder ausmachen. Dabei geht es nicht um gemeinsame Standards, sondern um solche Grenzziehungen des Handelns, die trotz Divergenz in den verschiedenen Gemeinschaften noch als zustimmungsfähig perzipiert werden. Dazu gehört zu rekonstruieren, inwieweit auch eine Staatengruppe um China mit familienähnlichen Grundprinzipien darauf einen Einfluss nimmt oder doch die von Russland offerierte Formel „legitimer“ Gewalt- und Interventionspraxis als eigenen Standard anerkennt und zementiert. Solche Wissensbestände sind praktisch und gegenstandsbezogen. Sie stecken (Un‑)Möglichkeiten und Erwartbarkeiten dessen ab, wie sich eine Praxis europäischer Ordnungsbildung gestaltet und von welcher Art künftige Streitlinien sein werden, die durch kontradiktorische Situationsdefinitionen selbst geprägt werden. Die Konfliktforschung ist dabei gefordert, konzeptuelle Möglichkeiten bereitzustellen, die mit dem Paradigma gefestigter Disruption zurechtkommen.